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Ein Seefahrer ohne Schiff ist wie ein Fisch auf dem Trockenen. Was also beginnen, wenn man gerade den Kontakt zu Decksplanken unter seinen Füßen verloren hat, aber unvermutet eine Summe in Höhe eines passablen Lottogewinns auf seinem Konto vorfindet …? Für Achim Petersen, Nautiker und leidenschaftlicher Segler, ist das völlig klar – seine bessere Hälfte, obschon ebenfalls passionierte Seglerin und langjährige Steuerfrau, sieht das diesmal allerdings ein bisschen anders. Zumal die Herkunft des zweifelhaften Geldsegens viele Fragen offen lässt. Kompromisse zwischen diesen beiden Ansichten lassen sich nicht gerade einfach finden … gipfeln in Zwistigkeiten und Missverständnissen, einem gesundheitlichen Warnschuss, umtriebigen Versuchen, einen angemessenen Ersatz für ihr Schiff zu finden, einer Reise von einem Ende Europas zum anderen und einem nicht alltäglichen Partnertausch.
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Henning Puvogel
Roman
Texte: copyright beim Autor
Titelfoto: Autor
Verlag: Henning Puvogel
Streekmoorweg 3
26316 Varel
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
Henning Puvogel war 45 Jahre lang in seinem Beruf als Seefahrer, Nautiker und Kapitän tätig. Er fuhr von 1972 bis heute ohne Unterbrechung auf Frachtern, Spezialschiffen und Seglern zur See und lebt mit seiner Familie in Norddeutschland.
Petersen setzte das Fernglas ab und legte es zurück auf seinen rutschfesten Platz, neben den Steuerkompass im Brückenpult.
Die blaue Segeljacht, die sich in der südlichen Brise vom Vorsegel Richtung offene Nordsee ziehen ließ, kam ihm irgendwie bekannt vor. Als sie jetzt bei der roten Tonne Kurs ändern musste und ihre Plicht zeigte, sah er auch das schwer verwechselbare Profil des Skippers, der an der Pinne saß und dem schwarz-gelben Behördenschiff entgegensah.
Schnell war sie heran. Der Ebbstrom in der Außenharle schob bereits mit Macht und ließ die schräg liegenden Fahrwassertonnen gurgeln. Der bärtige Mann am Ruder hob die Hand und rief etwas herüber, als Petersen durch die offene Tür in die Brückennock hinaus trat. Keine zwanzig Meter querab passierten sie sich in dem engen Fahrwasser – er sah ins Cockpit hinunter:
„Wo geht’s hin?“
„Helgoland!“ schallte es von dort zurück. Der Skipper legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund, wobei sein Vollbart im Wege war:
“Bei dem Wind…“
Der Rest war nicht mehr zu verstehen, das Boot zog vorbei und zeigte das Heck.
Rasch, in einem spontanen Entschluss knipste Petersen den Lautsprecher zum Achterdeck ein. Blechern verzerrt, aber deutlich schallte seine Stimme übers Wasser dem schwindenden Boot hinterher:
„Dann bis heute Abend… wir liegen auch dort!“
Er sah auf dem Kamerabildschirm, wie der Mann am Ruder die Hand hob und jetzt rasch die Schot dichter nahm, als er dem Bogen des Fahrwassers bei der Barre folgen musste. Schnell kam das Boot außer Sicht.
„Helgoland?“
Der junge Steuermann am Ruder schaute fragend, überrascht – und auch ein bisschen neugierig, während er den Drehknopf der Steuerautomatik nachregelte, um das Schiff bei der Tiefenmessung möglichst genau auf dem track zu halten.
Petersen erklärte wie nebenbei, als stünde sein Entschluss lange fest:
„Können wir genau so gut liegen zur Nacht. Wir sind hier gleich fertig und haben dann noch genug Wasser, um zur Blauen Balje zu verholen und die äußeren Profile zu fahren, ehe die Tide zu weit weg fällt. Dann müssten wir ohnehin außen zurück – gegen den Strom, und uns über die Barre in den Hafen tasten… und dann in dem Schlickloch morgen früh noch drei Stunden warten, bis genug Wasser da ist und wir wieder ’raus kommen.“
Er warf seinem Steuermann einen Blick zu:
„Da können wir genauso gut die knapp zwei Stunden Fahrt nach Helgoland machen – schön mit dem Ebbstrom. Dort liegen wir gut und laufen morgen eine Stunde früher mit der Flut wieder ’runter, so dass wir rechtzeitig hier sind… können weitermachen und den Plan fertig kriegen.“
Der kantige, rot in der Sonne leuchtende Klinkerbau des Westturms der Insel kam jetzt nah heran, sie näherten sich der steinernen Buhne. Er wandte sich um, durchmaß die Brücke mit ein paar Schritten nach achtern und hieb auf die Tastatur des Messcomputers:
„Ist doch mal ein bisschen Abwechslung, auch für euch!“
Das rhythmische Klickern des Echographen, das wie ein Metronom in ihrem Rücken ertönt war, verstummte – wurde ersetzt durch das leise Summen des vorwandernden Lotstreifens. Sie mussten wenden, die Wassertiefe nahm hier rasch ab.
Der junge Nautiker am Fahrstand griff zu den Maschinentelegrafen und nahm Fahrt heraus – ging auf Handruder, um das Schiff in einer engen 180-Grad-Kurve genau auf die letzte noch zu messende Linie zu führen, die auf dem Bildschirm in Rot vor ihm lag.
Er hatte eine ganz spezielle Art, mit einem halb entschuldigenden, halb spitzbübisch amüsierten Lächeln wenig angenehme Dinge, die eventuell noch passieren könnten, anzusprechen – als könne er kaum erwarten, dass diese einträten:
„Gab auch schon mal kräftig Ärger damit, im Amt… da hinzufahren, meine ich – ganz früher mal. Hab ich aber auch nur gehört. Haben wohl einige Kollegen gute Geschäfte mit zollfreiem Schnaps und Zigaretten gemacht. Seitdem soll jede Fahrt dahin angemeldet werden und muss genehmigt…“
Petersen lachte humorlos auf.
„Das lasst man meine Sorge sein! Nehm’ ich auf meine Kappe. Bestimmen immer noch wir, wo übernachtet wird! Wenn wir hier selbstständig arbeiten sollen die Woche über, im Außendienst…“
Er warf einen Blick auf die beiden dicht an der offenen Brückentür ohne einen Flügelschlag segelnden Heringsmöwen:
„Demnächst soll ich wohl noch ’n Antrag stellen, wenn wir die Leinen loswerfen lassen… ich muss hier nicht unbedingt arbeiten, bei diesem Verein.“
Er biss sich auf die Lippen und schüttelte ärgerlich den Kopf. Eigentlich aber mehr über den letzten halb unfreiwillig herausgerutschten Satz als über irgendwelche gängelnden Vorschriften.
Er musste sich mehr vorsehen – die neue Lebenssituation, die veränderten Zukunftsaussichten ließen ihn leichtfertig werden.
„Navigatorisch ist das jedenfalls der logische Weg, und mehr Treibstoff wird auch nicht verbraucht. Das kommt alles genauestens ins Logbuch. Zollfreien Schnaps und Zigaretten könnt ihr natürlich kaufen – aber eben nicht mehr, als pro Person erlaubt.“
Er ging zum Echolot und ließ die Messung wieder anlaufen, der rote Strich des track auf dem Bildschirm wechselte seine Farbe und wurde giftgrün. Der Steuermann korrigierte den Kurs und horchte den Worten des Kapitäns nach, wie befremdet… ließ aber nur ein maliziöses Kichern folgen und warf klackend den Schalter der Selbststeuerung herum. Das Schiff war wieder auf Westkurs, das flache Ostende Spiekeroogs vor dem Bug:
„Nicht…? Na dann… kann ich ja endlich mal wieder ’ne Runde ums Oberland joggen…“
*
Die kernige Seglergestalt im gestreiften Fischerhemd, die sich die Eisenleiter am Kai herunter tastete, um das Deck der NORDEROOG zu betreten, mochte auf die siebzig zugehen. Der Vollbart graumeliert, lang und das Haar hinten zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gebunden. Der sehnige, braungebrannte Mann stieg die letzten grün veralgten Stufen herunter; unten stand Petersen schon und hob die Relingspforte aus der Halterung, um den Zugang frei zu machen.
„Bitte an Bord kommen zu dürfen… ! Moin, Achim – lange nicht gesehen…“
Er hieb klatschend in die ausgestreckte Hand.
„Schöner kann man nicht herkommen – mit so ’ner Backstagenbrise! Knapp 3 Stunden hab’ ich gebraucht. Happy hour… und kaum Querverkehr in der Elbe.“
Segeln war Hannes’ Leidenschaft, seit Jahrzehnten. Auch wenn es schon die dritte „Röde Orm“ war, die jetzt drüben im Päckchen lag. Das jungenhafte Grinsen über diesen schönen Schlag war ansteckend.
„Wo geht’s lang? Ich war ja noch nie hier an Bord… das ist ja ein richtiges Schiff, ist das…“
Wieder diese leise Ironie, die unverwüstlichen Humor verriet – die NORDEROOG war mit ihren fünfunddreissig Metern wenig größer als ein Hafenschlepper.
Er schickte sich an, die Treppe vom Hauptdeck hochzusteigen. Petersen ging voraus, überstieg das hohe Süll mit der Stufe vor dem Eingang und betrat durch die offene Nocktür die Brücke.
Er rutschte gleich in seinen luftgefederten Sessel vor dem Fahrstand, legte die Füße bequem hoch und zeigte mit einer einladenden Geste durch den geräumigen, rundum verglasten Raum – mit den Sitzbänken, den beiden Computer-Arbeitsplätzen, dem riesigen, von unten beleuchtbaren Kartentisch in der Mitte, den meterbreiten Schubladen für die Seekarten und Peilpläne darin. Die Brücke war der Hauptarbeitsplatz auf einem Seevermessungsschiff:
„Pflanz’ dich irgendwo hin – wo es dir gefällt. Ich hol uns gleich ein Feierabendbier hoch. Wir können auch nach unten in meine Kabine gehen – aber da hat man nicht eine so schöne Aussicht!“
Der andere ließ sich auf die mit grünem Kunstleder bezogene Sitzbank an der Steuerbordseite fallen.
„Nee, lass man nach – hier ist’s doch schön.“
Er sah das Handwaschbecken unterm Fenster und stand wieder auf.
„Hier kann ich mir doch sicher den Schmodder eben abwaschen…?“
Während er sich die seifigen Hände ausführlich rieb, warf er einen Blick durch die Fensterfront auf den Helgoländer Binnenhafen, wo ein Tonnenleger und das kleine blaue Forschungsschiff UTHÖRN an der Pier für die Arbeits- und Behördenschiffe lagen – auf der anderen Seite die Segeljachten in Dreier- und Viererpäckchen:
„Wie ’n Wohnzimmer mit Panoramafenstern, überm Hafen! Kannst du das einfach mal eben so im Dienst – hier ’rüberfahren… ? Hattet ihr nicht vor Wangerooge zu tun?“
Petersen nickte gleichmütig: „Wenn es grade passt…meine Sache, wo wir liegen.“
Der andere schnupperte, die Nase in der Luft:
„So einen Job möcht ich auch mal haben… und es riecht so gut von unten! Habt ihr noch kein Abendbrot gehabt?“
„Doch – alles schon erledigt. Der Chef hat Hähnchenschenkel mit frites gemacht heute – riecht man natürlich noch. Ziemlich salzig, aber gut… wieso – hast du Hunger…? Ich kann schauen, ob noch was da ist…!“
Petersen überlegte, wie lange sie sich eigentlich schon kannten. In seinem Heimatstädtchen hatte er wenig Kontakt zu einheimischen Seglern.
Genau genommen war Hannes der einzige. Es musste fast zwanzig Jahre her sein, wo der den Navigationskurs zur Vorbereitung auf den Sporthochseeschiffer bei ihm gemacht hatte. Und anschließend war er auf einem schönen Spätsommertörn in Devon und Cornwall dabei gewesen, mit Lorenz und seiner Frau Camille – als Lisa ein Jahr alt geworden war, in Dartmouth. Er hatte Anneke und ihre Kleine, die jetzt zwanzig war, damals in seinem alten Volvo nach Cherbourg mitgenommen. Von dort waren sie gestartet. -
Ewig her – als sie ihre „Jan van Gent“ noch gehabt hatten und selbstständig waren.
Nun machte er schon fünfzehn Jahre auf dem bundeseigenen Wracksuch- und Vermessungsschiff NORDEROOG seinen Job, und auch dieser Zeitabschnitt neigte sich dem Ende zu. Ihre Jacht war seit kurzem verkauft und in guten Händen gelandet – auch wenn die Ereignisse seit dem Eignerwechsel das Zeug dazu hatten, noch einmal eine ganz neue, aufregende Lebensrunde einzuleiten. Mit vielen verlockenden Möglichkeiten – die im Kopf langsam Gestalt annahmen. Oder, wenn er ehrlich zu sich selbst war, sofort danach angenommen hatten. Wenigstens in seinem. -
Jedenfalls gab es Neuigkeiten zu berichten. Und er merkte selbst, dass der ältere Seglerfreund und Haudegen jemand war, dem er solch einschneidende Veränderungen gern erzählte. Er brannte geradezu darauf – auch wenn er nicht gleich alle Hintergründe offen legen konnte.
Aber daran würde er sich, würden sie sich wohl gewöhnen müssen.
Es war schon kurios, wenn er es recht bedachte. Jetzt, wo ein Ende seines Arbeitslebens in Sicht kam, sie bei bester Gesundheit waren, ihre Kinder erwachsen wurden und ihren Weg gingen, schien die Möglichkeit gekommen, noch einmal etwas Neues anzufangen. Genau der richtige Zeitpunkt, eigentlich.
Aber dann musste man auch viel verdrängen… und nicht zuletzt die Gefährtin überzeugen. Die allerdings liebte das Meer und die Freiheit genauso wie er. So hatten sie sich schließlich kennen gelernt vor fast drei Jahrzehnten.
Aber sie ahnte vielleicht doch nicht so ganz, wie er sich die nahe Zukunft im Einzelnen vorstellte. Außerdem hatte sie einen Job – mit Kolleginnen, die ihr auch privat etwas bedeuteten. Und sie musste noch lange arbeiten, im Gegensatz zu ihm.
Es blieb eh ein reichlich fragwürdiger Nachgeschmack… denn eigentlich könnte man auch andere Dinge tun als durch die Welt zu gondeln und es sich ohne große Geldsorgen an den schönsten Plätzen Europas gut gehen zu lassen. Vielleicht sogar in Übersee, die ganz große Tour…
Gerade jetzt – wo für jeden, der nicht mit Scheuklappen durch die Gegend lief, immer deutlicher wurde, wo sie heute standen – dass sie in einer Zeit des Wandels lebten. In eine neue Epoche hinüber glitten, die einschneidender war als die der Industrialisierung.
Ein viel strapazierter Begriff: aber die Erde war wirklich zum globalen Dorf geworden… in dem alles mit allem zusammenhing, miteinander vernetzt war und obendrein sichtbar wurde, dass Ressourcen endlich, Lebensgrundlagen zerstörbar waren. Auch Ozeane und Lufthüllen.
Eine Zeit, in der Kontrollinstanzen gegen Raubbau und schrankenlose Einflussnahme immer mehr marginalisiert wurden von denen, die an Macht gewannen. In der ungehemmtes Wachstum und ökonomische Interessen, militärische Überlegenheit und weltweite Vorherrschaft wieder das Gebot der Stunde schienen – fast dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges. Diese verrückte Zeit, die es auch eingefleischten Optimisten schwer machte… es blieb nur die Hoffnung, dass es eine Phase war und das Pendel bald wieder zurück schwang. Jedenfalls, was die Chefetagen betraf… dass nicht nur Rohstoffplünderer, Kleptokraten, Spekulanten, Lobbyisten, rassistische Brandstifter und notorische Lügner, steinreich alle, oft als tumbe Marionetten der Rüstungs- und Agrarlobbys, sich die Führerschaft über wichtige Länder, halbe Kontinente erschlichen und erlogen. Mit Hilfe von Bestechung, Einflussnahme, fake news und der neuen Medien – und mit deren Unterstützung autokratisch bis diktatorisch herrschten.
Zeiten, in denen bisher unantastbar scheinende rote Linien immer bedenkenloser überschritten wurden. Zeiten, in denen lupenreine Banditen und ihre Familienclans die grünen Lungen der Erde, die allen gehörten, anzündeten und abholzten, um ihre gierige Klientel zu bedienen und dem notleidenden Volk, das von Korruption die Nase voll hatte, Sand in die Augen zu streuen. Um an der Macht zu bleiben – als gäbe es kein Morgen, als gäbe es keine indigenen Völker… als gäbe es keine Tierarten, die man nie wieder würde erschaffen können.
Zeiten, in denen beispiellose Artensterben durch Umweltgifte, Bodenversiegelung und Monokulturen eingesetzt hatten. Zeiten, in denen störende Minderheiten, Kritiker oder whistleblower überall verdrängt, vertrieben oder eingesperrt wurden.
In der auch in den hiesigen Demokratien ewiggestrige politische Strömungen wieder hervor gekrochen waren – die europäische Erfolgsgeschichte ignorierend, dass dort unter den Völkern seit siebzig Jahren Frieden herrschte nach mörderischen Kriegen. Jetzt, wo es auch um Teilnahme, ums Helfen, um Solidarität ging und sich Flüchtlinge mit ihren Familien auf den Weg machten – Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten und hofften, irgendwo neu anfangen zu können. Aus immer heißeren Regionen, die nach Kolonialisierung und Ausbeutung nun von endlosen Verteilungskriegen und Umweltzerstörung geprägt wurden.
Die Hühnerdiebe und Taugenichtse, die wegen unfertiger Einwanderungsgesetze in ihrem Kielwasser nachfolgen konnten, die es überall auf der Welt gab und die es auch in die reich gewordenen Sozialstaaten geschafft hatten… sie dienten der neuen Rechten als Beweis für die Richtigkeit ihrer kruden Verschwörungsmythen. In denen sie sich nicht entblödeten, vom geplanten „Bevölkerungsaustausch“ zu raunen… diese heimattümelnden Nationalstaatsfanatiker, für die es keinen Mensch gemachten Klimawandel gab, sonderten gebetsmühlenartig ihre kurzsichtigen und kriegerischen Wagenburg-Überzeugungen ab und waren strikt gegen jede Integration gutwilliger Einwanderer. Und erhielten dabei nie geahnten Zulauf von Menschen, die gar nicht wussten, wie gut sie es hatten. Für die der Protest gegen „die da oben“ reiner Selbstzweck war. Die nie über den Tellerrand geschaut hatten, bestenfalls in einem Urlaubsgetto vollversorgt worden waren.
Chronisch Unzufriedene mit überzogenem, durch nichts gerechtfertigten Anspruchsdenken, die sich immer als die Betrogenen sahen und sehen würden. Denen es zu liberal zuging. Die einen anderen Staat wollten mit einem starken Führer und nicht vorhatten, sich mit den komplizierten Regeln einer modernen, wehrhaften Demokratie auseinanderzusetzen. Rückwärts Gewandte, die dunkel ahnten, dass große Veränderungen im Anmarsch waren, dass sie vielleicht etwas abgeben sollten… das entfachte ihren Neid, vor allem aber ihre Wut. Und sie hatten Angst. Fürchteten sich vor der Ausbreitung fremder Religionen und deren radikalen Strömungen. Verständlich, wenn man sah, wie der reine Islam von Terroristen entstellt und missbraucht wurde – das hilflos wirkende Durchgreifen vor allem deutscher Exekutivkräfte gegen Dschihadisten, Salafisten und kriminelle Familienclans diente den verhinderten Systemveränderern, die sich selbst als „das Volk“ sahen, als weitere Bestätigung ihrer Verschwörungstheorien – auch wenn sie selbst kaum behelligt wurden.
Zeiten auch, in denen vom Westen und Osten bis an die Zähne hochgerüstete Regionalmächte endlose Stellvertreterkriege auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausfochten, um ihre Einflusssphären auszuweiten. Zeiten, in denen Technologiekonzerne aus dem Boden geschossen waren wie verführerisch glänzende Pilze und sich rasend schnell global ausgebreitet hatten – bedenkenlos auch alle dunklen Seiten der menschlichen Natur nutzend, darauf abzielend sogar. Jene Seiten, die Gaffer an Unfallstellen mit gezücktem Handy langsamer fahren ließen, um schaudernd und mitleidlos vielleicht einen Blick auf zerfetzte Körper zu werfen, deren Fotos man als erster ins Netz stellen konnte.
Als soziale Medien kamen diese Geschäftsideen aus dem silicon valley daher. Machten es möglich, dass mit riesigem technischen Aufwand millionenfach banalste, grenzdebile Kläffereien bedeutungsloser Egos, läppische oder widerliche Fotos, Mobbereien, Abartigkeiten, Todesdrohungen wie elektronisch beschmierte Klowände in einem globalen Scheißhaus des Geistes ins world wide net gestellt werden konnten – für jeden ohne Altersbeschränkung überall auf der Welt einsehbar. Und fanden schnell kaum aufspürbare Nachahmer in östlichen Ländern, die noch weit rabiater, ganz ohne Feigenblatt und unverhohlen kriminell vorgingen. Die neuen Pandemien ließen sie regelrecht aufblühen und die wenigen Eigner obszön reich werden.
Für die, die nun mit einigen Mausklicks Milliarden raffen konnten, war es ein neues Paradies. Auch für die, die sich heute Staatschefs oder Präsidenten nannten. Man konnte politisch besser denn je mitmischen – und das alles höchst lukrativ.
Schicke, junge High-Tech-Konzerne oder Versandhandel-Giganten aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten hatten sich daran gemacht, die Welt zu erobern. Darunter taten sie es nicht. Sie hatten das neue Zeitalter eingeläutet – sagenhaft erfolgreich. Mit Umsätzen und Börsenwerten, höher als das Bruttoinlandsprodukt mancher Kontinente. Mit prächtigen Schutzmänteln und knallbunten Feigenblättern. Machtzentren, die als engagierte Fortschrittsbringer daherkamen, sich überall niederließen und nirgendwo Steuern zahlten, weil ihre Anwaltbüros überall Schlupflöcher fanden. Die wahllos persönliche Daten ihrer Milliarden Nutzer abgriffen, um die Macht durch punktgenau gezielte Werbung, ausspionierte Bewegungsprofile, Konsum, damit verbundenen Transport, durch die ganze rücksichtslose Philosophie des Geldes auszuweiten und den Gedanken an die unrentable Solidarität verblassen zu lassen: The winner takes it all – alles andere waren Kollateralschäden.
In enger Komplizenschaft mit den produzierenden Konzernen des sinnlosen, umweltzerstörerischen Massenkonsums: die sich folgerichtig dort ansiedelten, wo die Menschen am ärmsten, Löhne am niedrigsten und Umweltauflagen kaum vorhanden waren.
Und gleichzeitig für jeden Bewohner der Erde, vor allem für die ärmsten, das eigentliche Problem, das alle anging und eine glasklare Überlebensfrage war, plötzlich hautnah spürbar war – viel rascher als jemals vorhergesagt: Der Klimawandel durch die Erderwärmung und die damit verbundenen Folgen. Ganze Küstenstriche brannten ab, Eisschilde schmolzen, der Permafrostboden taute auf. Der Meerespiegel stieg, messbar und sichtbar. Halbe Dörfer wurden weggespült durch nie zuvor gemessene Regenmassen, während anderswo riesige Gebiete versteppten.
Die Jugend hatte es bemerkt und stand auf, Gegenströmungen entstanden. Noch waren sie machtlos – aber sie würden irgendwann ans Ruder kommen und in die Institutionen, in die Politik… nicht alle von ihnen würden an Sachzwänge glauben und sich korrumpieren lassen.
Er sah das wandfüllende Poster vor sich, das neuerdings bei seiner Tochter Lisa im Zimmer hing.
So etwas konnten sie dort, bei der Mutter aller Umweltschutz-NGOs, da machte ihnen niemand etwas vor: Eine weiße Familie mit zwei Kindern stand da, inmitten einer Tropenlandschaft. Sie hielten sich an den Händen und sahen sich staunend im Regenwald um. Wasserfälle stürzten Felswände herab, Palmen, Lianen hingen über Dschungellichtungen, farbige Riesenblüten wuchsen am Boden, Papageienschwärme und exotische Schmetterlinge flatterten auf. Blaue Bergketten dahinter in der Ferne – wie durch ein grün umranktes Sichtfenster… das ganze Szenario war von einer mächtigen, durchsichtigen Kugel umschlossen. Einer Kugel aus hauchdünnem Glas, die das Ganze wie ein Riesenspielzeug wirken ließ. Außen spiegelten sich in ihr, halbtransparent, die Farben der Erde wieder, aus dem All gesehen – leuchtendblau und spiralig weiß, bräunlich sandfarben, blassgrün.
Aus fast unsichtbaren Sprüngen in der transparenten Hülle spritzten haarfeine Lecks im Bogen hervor. Der lebenserhaltende Flüssigkeitsspiegel war schon deutlich gesunken – abgestorbene Baumspitzen riesiger Redwoodtannen ragten oben heraus, den Blicken der staunenden Menschlein verborgen.
Von außerhalb der Kugel ragte die Hand einer schönen jungen Riesin ins Bild, einer Südseeinsulanerin. Sie heftete durchsichtige Klebestreifen auf die Sprünge dieses heiklen Zauberspielzeuges, dieses lebenden Wunderaquariums. Schere und Klebstreifenrolle lagen davor: aber überall schienen neue, kaum sichtbare Risse zu entstehen.
Schon ein irgendwie unbehaglicher Zeitpunkt, mit beträchtlichem finanziellen Aufwand unter weißen Segeln durch die Weltgeschichte zu gondeln, als sei nichts. Geringer Ressourcenverbrauch und spartanisches Hundeleben in Herrlichkeit an Bord hin oder her… wenn man sich im Spiegel noch ins Gesicht schauen wollte und nicht den „Nach-mir-die Sintflut“- oder „Wir können eh nichts machen“-Standpunkt vertrat…
Es hatte jedenfalls etwas vom Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckte. Obwohl der das ja in Wahrheit gar nicht tat, sondern die Redensart von einer optischen Täuschung herkam.
Und er wollte ja nicht mit ihrem neuen Schiff die Nähe und angesagten Heimathäfen der Megajachten und Börsengewinnler suchen. Sondern das Meer, die Ozeane, die Hafenstädte waren das natürliche Umfeld, wo er sein Leben verbracht hatte – auch beruflich. -
*
Der graubärtige Skipper warf jetzt durch die Fenster einen Blick auf seine ‚Röde Orm III’, an der gerade ein Motorboot mit zwei riesigen Außenbordern längsseits ging und dort bindfadendünne Leinen festbändselte.
Dann zog er umständlich die Pfeife und den ledernen Tabaksbeutel heraus, während der Schaum auf seinem Bierglas zusammensank:
„Darf man hier rauchen?“
„Hier raucht eigentlich keiner, von uns. Aber ich mach die andere Nocktür auf – dann zieht das so raus.“
Hannes stieß dicke Qualmwolken aus und warf ihm durch den blauen Dunst einen forschenden Blick zu. Scheinbar beiläufig stieß er hervor, die Pfeife zwischen den Zähnen:
„So – und ihr seid jetzt ohne euer Boot, hab ich gehört… nach so langer Zeit. Auch nicht schön… wie lange hattet ihr das jetzt? Zwanzig Jahre?“
Petersen nickte, nahm durch den Schaum einen Schluck aus dem Glas und wischte sich über den Mund:
„Ja, so ungefähr. Aber es ist in guten Händen gelandet – werftmäßig restauriert und soll dann weiter auf großen trail gehen. Ist im Moment in Portugal – da haben die neuen Eigner ein Häuschen und machen noch Restarbeiten, ehe sie los wollen. Über die Kapverden, Antillen und weiter in den Pazifik. Da könnte man fast neidisch werden. Fast. Na ja, mal sehen…“
Er ließ eine kleine Kunstpause folgen. Aber Hannes wusste, wie man Petersen Neuigkeiten aus der Nase zog.
„Soso – und jetzt willst du ein Wohnmobil anschaffen. Ist ja nicht viel, was man für so alte Schätzchen noch kriegt – so schön und kernig sie auch war! Vor allem, wenn sie dann erst aufwendig restauriert werden müssen…“
Er grinste harmlos und sein Rauschebart verschwand wieder halbwegs hinter blaugrauen Schwaden.
Aber nun war Petersen endlich am Zug.
„Wohnmobil…!? Neues Schiff kommt jetzt!“
Er schüttelte belustigt den Kopf, tat geheimnisvoll und freute sich in Wirklichkeit auf weitere Fragen.
„Wieder so eins, in der Größe? Angeboten wird ja einiges… aber auch viel Schrott.“
Petersen stellte behaglich sein Bierglas ab und bequemte sich, mit Einzelheiten herauszurücken. Es war ihm, als skizziere er dabei einen Kurs… über den er sich noch gar nicht so sehr im Klaren war. Ganz zu schweigen davon, was dann noch alles so zu regeln war in seiner Familie. Und in seinem Job.
„Mal schauen… vielleicht ein bisschen größer. Aber ich will kein Stahlschiff mehr. Was Pflegeleichteres – aber wertbeständig. Was man immer ohne viel Verlust wieder verkaufen kann, wenn mal was ist. Auch noch nach Jahren… eine noch nicht so alte, vielleicht auch neue GFK-Konstruktion. Wahrscheinlich was Skandinavisches. Kann einen oder zwei Masten haben… zwölf bis vierzehn Meter. Muss große und kleine Rollfock, Rollgroßsegel, Selbststeueranlage, Radar und vielleicht Bugstrahler haben. Ocean going… aber sonst möglichst wenig Technik – nicht alles hydraulisch, die Winden und so. Selbstholend reicht. Vielleicht noch eine schöne elektrische Ankerwinsch.“
Hannes schwieg und machte große Augen. Er paffte so angestrengt, dass man ein leichtes Schmurgeln aus dem Pfeifenkopf hörte, als Petersen fast andächtig innehielt und sich diesen Traum von einer Fahrtenjacht vor Augen führte. Und das unvorstellbarste war, dass sie jetzt die finanziellen Mittel hatten, sich genau dieses Schiff anzuschaffen. Kein Jahr, nachdem sie ihre geliebte, treue „Jan van Gent“ zu einem lächerlich niedrigen Preis verkaufen mussten, weil sie zu alt geworden war. Das war schon was.
Eine Weile sagte keiner etwas. Von unten aus dem Wohnbereich und der Kombüse drangen verhaltene Geräusche herauf – leises Klirren von Geschirr, das jemand aus der Spülmaschine räumte, Türenklappen und gedämpfte Stimmen aus der Mannschaftsmesse, wo der Fernseher lief.
„Da musst du ja einiges investieren. Vierzehn Meter – Mann… ich dachte immer, ihr wolltet euch irgendwann verkleinern…! Sagtest du nicht mal so was, als wir letztens bei euch waren? Ich meine, so lange hast du ja auch nicht mehr, bis deine Rente anfängt. Und eure Kinder sind ja noch nicht aus dem Gröbsten ’raus – hat Lisa nicht grade mit dem Studium angefangen? Das kostet ja alles…“
Sie wurden unterbrochen, weil jemand die Treppe heraufkam.
Der vierschrötige Bootsführer des Tochterbootes blieb auf den oberen Stufen stehen, stützte die Arme lässig auf das Geländer und musterte den Fremden auf der Sitzbank neugierig. Dann nickte er ihm einen kurzen Gruß zu und wandte sich an Petersen:
„Will nicht lange stören… wir wollten noch mal eben los zum Schiffsausrüster. Der bleibt extra länger für uns. Also – eine Stange Zigaretten und eine Flasche Schnaps pro Person sind erlaubt?“
Petersen nickte zustimmend.
„Meine Stange und die Flasche kann einer von euch nehmen. Könnt ihr nachher erst mal in meine Kabine bringen und dort pro forma auf den Tisch stellen. Ich brauche nichts.“
Der bullige Mittdreissiger tippte dankend an seine Stirn unter dem militärisch kurzen Haarschnitt, als sei dort ein Mützenschirm und drehte sich im Abgehen auf der Treppe noch einmal um:
„Wir wollten uns nachher einen Film ankucken unten in der Messe… oder will jemand was anderes…?“
Petersen winkte zustimmend.
„Macht mal. Ich gehe nachher vielleicht noch mit meinem Bekannten kurz an Land oder auf sein Boot – bin ohnehin nicht da.“
Als sie allein waren, nahm Hannes den Faden wieder auf :
„Na ja, wenn man nachher so ’ne Pension hat wie du – als Beamter beim Staat! Da gibt’s ja keine Abzüge, hab’ ich gehört.“
Petersen lachte gutgelaunt auf und korrigierte das schiefe Bild, das sein Gegenüber offenbar hatte.
„Ich und Beamter! Kannst du dir das vorstellen, Mann? Bin ich natürlich n i c h t – da hätte ich als Zwanzigjähriger hier bei der Behörde anfangen müssen! Nein, ich bin immer noch der Neue hier. Auch nach fünfzehn Jahren… außerdem kein richtiger Ostfriese, das ist auch nicht ganz unwichtig. War ja schon Mitte vierzig, als ich hier anfing. Kleiner Angestellter im Öffentlichen Dienst, mehr ist nicht als Quereinsteiger – gläsernes Gehalt! Kann jeder nachschauen – kein Geheimnis, der Tarif. Entgeltgruppe 10, Stufe fünf. Jeder VW- oder Mercedesarbeiter in Emden oder Stuttgart verdient mehr im Schichtbetrieb. Ich bin hier nur so ’ne Art Vorhandwerker – beim Amt gibt’s ja für alles diese Dienstbezeichnungen! Nicht umsonst heißen die Schipper hier auf den Behördenfahrzeugen nur ‚Schiffsführer’ wie auf ’nem Binnenkahn. Kapitäne beim Staat nennen sich ‚Seeoberkapitän’ oder ‚Seehauptkapitän’ und sitzen im Büro an Land, oder in der Revierzentrale – d a s sind Beamte! Kannte ich auch alles nicht, diesen Zirkus…“
Hannes legte die ausgerauchte Pfeife neben sich auf den Schreibtisch.
„… na, nun übertreib man nicht. ‚Seehauptkapitän’… – so was gibt’s?“
Er schüttelte grinsend den Kopf, kam aber schnell wieder zur Sache:
„Aber ’ne neue 14-Meter-Jacht, Achim – das weiß ja nun jeder, was die so ungefähr kostet! Und ’n Häuschen habt ihr ja auch noch. Hört sich an, als… hast du im Lotto gewonnen, oder was…?“
Petersen, bestens gelaunt, nahm erst mal einen Schluck Bier und schenkte vorsichtig den Rest der Flasche ins Glas, bis die Blume schön bis über den Rand hoch wuchs – mitten in den knisternden Schaum hinein ließ er die letzten Tropfen fallen:
„Noch nicht so alt, hab’ ich gesagt. Und das Häuschen ist bald bezahlt. Aber da liegst du gar nicht mal so verkehrt. Lotto hab’ ich noch nie gespielt, keiner von uns. Aber ich hatte noch ’ne größere Zahlung zu kriegen… hatte ich gar nicht so mit gerechnet. Entfernte Verwandtschaft, der ich mal geholfen hab’. Ganz früher…“
Hannes setzte ein undurchdringliches Gesicht auf, ergriff seine Pfeife, erhob sich, trat auf die Brückennock hinaus und stocherte heftig die Asche mit dem Pfeifenreiniger in Lee über Bord. Dann kam er wieder herein, nahm sein Glas und trank es im Stehen aus.
Er wirkte eine Spur desillusioniert.
„Gratuliere – unverhoffter Geldsegen ist doch immer was Schönes. Ich hab’ leider nicht so ’ne reiche Erbtante… aber ist auch nicht nötig. Ich bin ganz zufrieden so, alles gut. Aber du ohne ein Boot, und dann im Ruhestand – kaum vorstellbar! Hab’ ich schon manchmal dran gedacht, ehrlich gesagt – seitdem ich weiß, dass ihr die ‚Jan’ verkaufen musstet. Wie lange läuft dein Job denn eigentlich noch? Oder kannst du früher weg?“
Petersen rechnete kurz nach. Tatsächlich, mit diesen neuen Regelungen um das Rentenalter…
„Drei Jahre. Sogar noch mehr, wenn ich die volle Rente ohne Abstriche kriegen will.“
Er schüttelte sich unmerklich, als sei ihm ein kühler Luftzug um den Rücken gestrichen.
Der andere steckte die Pfeife weg und wandte sich um:
„Na ja – die sind auch bald vorbei, sollst mal sehen. Die Zeit läuft ja immer schneller. Und bei so ’nem schönen Job… Was ist, wollen wir noch ’rübergehen zu mir an Bord? Ein, zwei Biere müssten noch da sein bei mir in der Bilge. Ich liege allerdings als dritter im Päckchen. Ich sollte mich besser wieder blicken lassen, muss auch noch ’ne Landleine setzen… siehst ja, was da los ist. Hab’ mich da eigentlich nur kurz weggestohlen – außerdem wollen die beiden inneren Boote morgen ganz früh los, da muss ich auch mit ’raus. Der Wind soll ja drehen, auf Nordwest.“
Petersen zögerte. Noch um den Hafen herum, über die fremden Boote kraxeln… und bei Hannes an Bord konnten aus den „ein, zwei Bieren“ auch leicht ein paar mehr werden, wenn sie da in der gemütlichen Kajüte saßen und Klönschnack hielten. Und morgen musste er um sechs mit der NORDEROOG unterwegs sein, wenn sie vor Hochwasser den Tiefwasserweg queren wollten… außerdem konnte er besser hier noch ein bisschen bei den Bootsbörsen stöbern. Das war seit geraumer Zeit schon seine Lieblings-Freizeitbeschäftigung.
Es war schon auch verteufelt bequem und verführerisch, das Internet… Unfasslich, was da alles so angeboten wurde. Und wo diese Schätzchen überall lagen und hoffnungsvoll auf neue Eigner warteten, in ganz Europa verteilt – Holland, Dänemark, Schweden, Italien, Kanaren, Balearen und Pityusen, Griechenland…
Er ließ sich aus dem Sessel rutschen, schlenderte zur Tür und legte Hannes die Hand kurz auf die Schulter:
„Weißt du was – ich bleib mal besser hier. Sei nicht böse, wir müssen früh ’raus und ich hab’ noch ein paar Schreibarbeiten zu machen. Ich bring dich noch – an die Gangway, hätt’ ich bald gesagt – aber die haben wir ja gar nicht ausgebracht…! Musst du wieder fünf Meter die siffige Leiter hochsteigen, jetzt bei Ebbe… willst ein Paar Arbeitshandschuhe haben? Kannst du einfach wieder so an Deck schmeißen – oder behalten!“
Der andere winkte ab, halbwegs amüsiert über so viel Fürsorge.
Petersen blickte dem flink hochsteigenden Mann nach, steckte die Relingspforte wieder ein und winkte zum Abschied hoch, wo jetzt die Bogenlampen auf der weiß beklecksten Kaimauer flackernd angingen und die Gestalt beleuchteten, die in wiegendem Seemannsgang Richtung Oberland verschwand.
Hinter der hohen Buchenhecke, auf dem schön eingewachsenen Grundstück der Petersens tat sich was an diesem lauen Sommerabend.
Das neue Familienmitglied, die braun-gelb gescheckte Katze aus dem Tierheim, lag zusammengerollt unter dem Rhododendronstrauch und tat so, als ob sie schlief.
Auf dem Rasen davor und unter der Trauerbirke, die jetzt in voller Blätterpracht stand, tanzten Schnaken auf und ab. Dann und wann irrlichterte ein Zitronenfalter oder Kohlweissling vorbei, und hoch über dem Garten jagten Schwalben ihre Abendmahlzeit zusammen.
Die Haustür stand offen – man hörte aus der Küche und dem Wohnzimmer leise Radiomusik, gelegentlich Geschirrklappern. Jetzt erschien Lisa mit einem Tablett voller Teller, Besteck und geschnittener Baguettescheiben und stellte es auf dem Gartentisch ab.
Um die Hausecke herum tauchte Jonas auf mit zwei noch zusammengeklappten Stühlen unterm Arm, die er von der Südterrasse heranschleppte. Er ließ sie mit metallischem Klacken aufschnappen und stellte sie an den Tisch.
Petersen, vorne vorm Haus, gab seine Bemühungen, ihren uralten Rasenmäher mit dem Zugseil wie einen störrischen Außenborder zum Laufen zu bringen, nach dem zehnten vergeblichen Versuch fürs erste auf. Er schob ihn zurück in den Fahrradschuppen, wo er ihn neben der Yamaha erst einmal stehen ließ. Zündkerze neu, Luftfilter sauber – mehr konnte er jetzt nicht machen. Nachhaltige Nutzung, schön und gut – aber es gab Werkstätten, die sich um so etwas kümmerten, auch samstags… zumindest einladen und wegbringen konnte er ihn morgen. Wenn der Wagen ansprang.
Jetzt warteten angenehme Tätigkeiten, vielleicht aber auch delikatere Überzeugungsarbeiten auf ihn. Schließlich begann das erste Urlaubswochenende.
Aber erst einmal musste er den lästigen Benzingeruch an seinen Händen loswerden.
Ein winziger Mensch kroch eifrig rückwärts unter dem alten Renault hervor, der weiter vorn auf der Auffahrt stand. Er hatte einen schwarzgelben Kinderoverall an, der auf der Brusttasche den Schriftzug „Commander Rescue Team“ trug, griff nach seinem fast davon kullernden gelben Schutzhelm, den er abgesetzt hatte, lief aufgeregt auf Petersen zu und krähte begeistert:
„Achim – an deinem Auto ist ein – Kabel lose! Ein Kabel, lose! Hab’ ich eben gefunden…!“
Louis, der fünfjährige Nachbarssohn, war mal wieder ’rübergekommen und tat ebenfalls sein Bestes, den in die Jahre gekommenen Fuhrpark der Petersens technisch wieder herzurichten. Schon beim Rasenmäher hatte er fachkundig assistiert, mit dem Handfeger die Lüfterschlitze blitzblank gefegt und Petersen erwartungsvoll aufgefordert, doch jetzt einmal zu starten – was aber auch nicht viel genutzt hatte.
Zweifellos hatte er bei seinem Vater, der als Fernfahrer die DAF-Vierzigtonner fuhr und bisweilen die kurze Zugmaschine gegenüber rückwärts einparkte, um ganz früh losfahren zu können, schon ganz andere technische Probleme gelöst. Nicht nur hinterm Steuerrad den Knopf für das Dreiklanghorn des lokomotivartigen Ungetüms gedrückt, das die Fensterscheiben der Nachbarhäuser erzittern ließ.
Petersen ließ sich pflichtschuldig auf die Knie nieder und warf einen Blick unter den Wagen:
„Klasse, Mann. Gut möglich – da muss ich dann morgen mal nachgucken… kannst dir nachher zur Belohnung auch ’n paar leckere Grillkartoffeln abholen!“
Er richtete sich auf, legte dem enttäuscht schauenden Dreikäsehoch den Arm an die Schulter und schob ihn sanft um die Ecke auf den Grillplatz zu, wo Jonas jetzt die viereckige Blechschüssel mit den Holzkohlebriketts auf einen Unterbau gestapelter Klinkersteine stellte: damit die Hitze darunter den Rasen nicht noch mehr versengte, als es dieser heiße Juli ohne Regen schon getan hatte.
Anneke kam im luftigen Sommeroutfit die zwei Stufen vor der Haustür herunter. Mit beiden Händen trug sie die schwere Kristallglasschüssel aus Plymouth, gefüllt mit Obstsalat.
„Hallo, Louis… na, willst du wieder helfen? Wie gestern beim Hecke schneiden…?“
Louis nickte wortlos – jetzt aber doch ein bisschen eingeschüchtert angesichts der vier Familienmitglieder, die ihn plötzlich umgaben. Dann sah er auf seine schwarz verschmierten Finger, stülpte seinen Schutzhelm auf und verschwand in einem plötzlichen Entschluss die Einfahrt hinunter. Er schaute sorgfältig nach herannahenden Autos und wetzte über die Straße zum gegenüberliegenden Grundstück, wo er zu Hause war. -
Petersen holte sich die Kabeltrommel und den winzigen, klappbaren Reiseföhn zur Außensteckdose, schnappte sich einen Gartenstuhl und ein kühles Jever Pils. Dann machte er sich daran, die Grillpfanne anzuzünden und schön gleichmäßig durchzuglühen, indem er von Zeit zu Zeit frische Luft von allen Ecken hinein blies.
Das war sein Job, er war hier der Grillmaster. Wenn er da war.
Rote Funken stoben knisternd von den Glutnestern hoch, die sich langsam zur Mitte fraßen, und stiegen vor der dunkelgrünen Wand des Rhodostrauches empor – bildeten in der langsam einsetzenden Dämmerung einen schönen Kontrast vor den üppigen, sahnefarbenen Blütendolden, bevor sie hochwirbelnd erloschen. Es rauchte nur kurz, und bald ertönte verheißungsvolles Knacken aus der Feuerschale.
Jonas kam mit einem weiteren Gartenstuhl heran, in der anderen Hand trug er den betagten, dreibeinigen Schwenkgrill aus der Behindertenwerkstatt in Rotenhahn und stellte ihn über die Glut.
Anneke verteilte Geschirr, Schalen mit grünen und weißen mojo-Dips, noch ein langes Meterbrot und zeigte auf den schwärzlichen Gitterrost:
„Der wird erst mal gründlich abgescheuert! So lange, wie der da schon draußen steht…“
Jonas verzog das Gesicht und warf seinem Vater einen um Unterstützung heischenden Blick zu. Petersen versuchte ohne viel Aussicht auf Erfolg, diese ganz und gar überflüssige Arbeit abzuwenden:
„Den haben die Ameisen, Wespen und was weiß ich doch schon blitzblank abgefressen, seit dem letzten Mal. Kuck mal, wie der glänzt… besser geht das kaum. Und die Hitze vom Grill macht den Rest! Grillen ist doch was Rustikales, wie Zelten. Oder Urlaub auf dem Boot zum Beispiel und…“
Aber Anneke verschwand mit einem Seitenblick auf die beiden wieder im Haus und hielt es nicht für nötig, darauf überhaupt zu antworten. Jonas machte sich wohl oder übel daran, den runden Gitterrost im Haus mit Stahlschwamm und Heißwasser zu bearbeiten.
Lisa zog die Abdeckung aus Stanniolpapier vom Teller mit den vier Steaklets und den großen ovalen Kartoffelscheiben. Sie faltete die Folie sorgfältig zusammen und legte sie wieder auf das Tablett, setzte sich auf einen der Stühle und streichelte die Katze, die urplötzlich dicht neben ihr wie eine Statue am Feuer saß und mit grüngelben Augen in die Glut starrte:
„Was macht i h r denn jetzt eigentlich, Papa? In eurem Sommerurlaub, meine ich… wo wir doch kein Boot mehr haben. Fahrt ihr auch weg, irgendwohin? Wie sonst?“
Ihre Semesterferien hatten begonnen und sie war mitten in den Vorbereitungen für einen Urlaub an der französischen Biscayaküste, den sie mit zwei anderen Mädchen in einem Surfcamp verbringen wollte. Anreisen, wie schon voriges Jahr, wieder mit dem betagten Kleinwagen einer ihrer Freundinnen – Surfbretter auf dem Dach… und Jonas fuhr auch bald weg. Er machte in den Sommerferien einen dreiwöchigen Zelturlaub in einem internationalen Jugendcamp, in der Wildeshauser Geest. Wie geschaffen dazu, Schulenglisch spielerisch im Umgang mit Gleichaltrigen aufzupolieren.
Petersen erhob sich, um die Glut aufzustochern und noch einmal durchzublasen. Er sah zu Anneke herüber, die mit einem gläsernen Wasserkrug herausgekommen war und sich mit an den Tisch setzte.
„Gute Frage… das wollte ich eigentlich sowieso mit euch – ein bisschen besprechen heute Abend… ihr habt wohl mitgekriegt, dass wir vielleicht wieder ein Boot anschaffen wollen. Wir konnten ja unsere ‚Jan’ – verkaufen, an Per und Mette… und könnten jetzt zum Beispiel auch meinen Jahresurlaub nutzen, uns mal ein paar in Frage kommende Schiffe anzuschauen!“
Petersen hantierte geschäftig mit dem Föhn herum. Anneke blickte auf, weniger erfreut als überrascht.
„Natürlich nicht die ganzen vier Wochen. Aber es gibt doch ein paar – Objekte, die ich mir mal angucken könnte, ganz unverbindlich natürlich. Gar nicht so weit weg… nur um sich mal zu orientieren, was so in Frage käme!“
Sie schenkte sich einen Schluck Wasser aus dem beschlagenen Krug ein und griff in den Brotkorb.
„Davon wusste ich ja noch gar nichts. Ist das schon so konkret? Hast du da schon was gefunden, was du dir anschauen willst?“
Einen zierlichen Bissen von der Weißbrotscheibe nehmend, sah sie ihn fragend, aber zurückhaltend an.
Petersen drapierte kunstvoll mit der Spaghettizange große ovale Kartoffelscheiben auf dem Grillrost, damit ihm keine in die Glut fiel, und betupfte sie mit Olivenöl.
Dann sagte er wegwerfend:
„Ich kuck doch schon immer, weißt du doch. Schon länger. Haben wir auch mal drüber gesprochen, du… und jetzt hab’ ich – vielleicht was gefunden, das man sich mal anschauen könnte. Nach langem Suchen – das Angebot in diesen Bootsbörsen ist fast unüberschaubar und…“
Er richtete sich ächzend auf, gab dem Schwenkgrill an einer der drei Kettchen einen Schubs, dass er sich langsam drehte wie ein Karussell und wedelte zur Unterstützung seiner Worte mit der Zange Richtung Tisch, die andere Hand im durchgebogenen Rücken:
„Wir könnten zum Beispiel ’n schönen Wochenendausflug davon machen, du – an die See, nach Holland. Übernachten in einer kleinen Pension, oder im Zelt, wie früher… sind wir im Nu da. Gar nicht so weit weg von Antwerpen ist das… könnten wir sogar mit dem Motorrad fahren, über den Absperrdeich – bei dem Wetter!“
Jonas kam interessiert herangeschlendert, setzte sich und naschte mit dem großen Löffel von dem Obstsalat, was ihm einen strafenden Blick eintrug. Lisa zog die Schüssel aus seiner Reichweite zu sich her – schien allerdings nicht übel Lust zu haben, sich auch schon mal probeweise an dem bunten Inhalt zu vergreifen. Aber dann hob sie ihn doch nur noch einmal gründlich durch, um die Süße gleichmäßig zu verteilen.
Jonas nahm mit einem einzigen schnellen Handgriff um den Bauch die Katze auf, setzte sie auf seinen Schoß und begann sie zu streicheln, was sie sich schnurrend und köpfchengebend gefallen ließ:
„Wieder so was wie die ‚Jan’?“
Auch Lisa hatte jetzt große Ohren und lächelte gespannt.
Kein Wunder… die beiden waren seit frühester Kindheit mit dieser Art Seefahrt, den mehrwöchigen Ferientörns auf der Nord- und Ostsee, bestens vertraut. Ihr ganzes, noch nicht so langes Leben war ein Boot da gewesen – ein einziges.
Lisa war drei Tage alt gewesen, als Anneke sie das erste Mal mit an Bord der „Jan van Gent“ an die Nassaubrücke genommen hatte und es zu stürmisch gewesen war zum Auslaufen… und Jonas hatte friedlich im Babykorb geschlafen auf der Überfahrt von Bornholm nach Ystad.
Der gemeinsame Urlaub in den großen Ferien auf dem Schiff, Jahr für Jahr: das war immer der Höhepunkt des Sommers gewesen.
„Müssen wir mal sehen… aber wäre doch schön, wenn wir wieder gemeinsam auf dem Schiff Urlaub machen könnten, so wie früher. Wenigstens ab und zu mal! Und da wollen wir ja nicht weniger Platz zur Verfügung haben als vorher. Und es gibt auch gute Boote, die ganz wenig Arbeit machen. Nicht so viel Pflege brauchen wie unsere ‚Jan’.“
Anneke sagte nichts. Dann nahm sie sich mit verschlossenem Gesichtsausdruck die Scheibe Weißbrot wieder vor – biss aber nicht hinein, sondern bemerkte beiläufig:
„Antwerpen liegt in Belgien. Und du bist sicher, dass wir mit dem Geld wieder ein so großes Schiff anschaffen sollten…?“
„Ja – du etwa nicht…?“
Petersen war nicht ganz so überrascht von ihrer fehlenden Begeisterung, wie er tat.
Anneke nahm einen winzigen Bissen von der ovalen Scheibe, knabberte mit langen Zähnen daran und legte sie dann vor sich auf den Teller.
„Ich weiß nicht – mir geht das alles zu schnell, Achim. Jetzt haben wir grade mal ein bisschen Ruhe… ich war ganz froh darüber, ehrlich gesagt. Wir hatten doch wirklich einiges um die Ohren in letzter Zeit. Grade mit dem Verkauf – und den ganzen Reisen, die damit verbunden waren. Und das war ja nicht das einzige. Und jetzt geht das gleich nahtlos weiter… sicher, es ist unterm Strich alles gut gelaufen, wenn man so will. Auch wenn nicht alle Fragen geklärt sind – für mich jedenfalls nicht. Aber das siehst du ja wahrscheinlich anders.“
„Du meinst, mit dem – Preis, den wir bekommen haben…? Entspann dich mal, Anneke. Das ist alles gut so, niemand ist da übervorteilt worden. Das ist so sicher, wie ich hier sitze. Und jetzt können wir die Sache doch mal langsam in Angriff nehmen. Warum noch länger Zeit verlieren – jetzt ist Sommer, und wir werden beide nicht jünger…“
„Das ist es ja eben! Ich mag da gar nicht dran denken, was in zwanzig Jahren ist! Und wo sind die Jahre geblieben… sicher, es war auch schön, immer wieder. Aber weißt du noch, grade die letzte Zeit – jedes freie Wochenende, den ganzen Winter über, in der kalten Halle – nur das Schiff, das Schiff und die Arbeiten! Und jetzt wieder…! Können wir das denn sinnvoll nutzen? Was ist mit deinem Job? Da kannst du ja auch nicht morgen einfach so weg… Könnte man dieses – Geld nicht auch erst mal weglegen, auf ein Sperrkonto packen oder so was… nachher ist da doch noch was…“
„Damit es da ’rum liegt und weniger wird? Ich fass’ es ja nicht, Anneke… ist das dein Ernst? Wir leben im Jetzt und Hier! Wir sind doch noch jung! Du wenigstens… ich zwar auch, wenigstens so’n bisschen…“
Petersen nahm mangels zugkräftiger Argumente Zuflucht zu seinen Plattitüden.
„Man ist immer so alt, wie man sich fühlt – oder? Dem Glücklichen schlägt keine Stunde – und ohne Moos nix los! Wir wollen doch wieder ein Boot haben, Anneke – und das auch nutzen! Soll ich denn ’n Wohnmobil anschaffen jetzt? Dann komm ich mir wirklich vor wie so’n Opa, der noch mal…“
Er ließ den Satz halbwegs unheilvoll in der Luft hängen, schüttelte unmerklich den Kopf und stierte verdrossen vor sich hin, als stände er schwitzend im Stau auf der hitzeflimmernden Autobahn.
„Und mit meinem Job – da muss ich mal sehen… man kann auch früher gehen. Bekommt man ein bisschen weniger Geld, nachher…und ich hab’ doch schon damals die private Rentenversicherung abgeschlossen! Da gibt’s auch was.“
Anneke sagte leise, wie zu sich selbst:
„Wir haben auch ein Haus. Und Kinder, die noch lange nicht fertig sind.“
Langes Schweigen. Keine Spur mehr von entspannter Sommerabendatmosphäre, plötzlich.
Vom Grill fielen zischend Öltropfen in die aufflackernde Glut, und Petersen zog an der Kette und hängte ihn wortlos höher.
Lisa dauerte das zu lange:
„Aber Mama – wollt ihr denn gar nicht mehr segeln, im Sommer? Wie sonst immer? Und wir könnten doch auch mitkommen, wenigstens ab und zu! Und haben wir denn unseren schönen Liegeplatz nicht mehr? Wollt ihr den denn aufgeben? Dann kann doch alles so bleiben wie bisher. Das war doch immer so toll, die Geburtstage an Bord mit Schatzsuche und das…“
„Ihr seid keine Kinder mehr. Und könnt ja ohnehin nicht mehr so oft mit. Du machst ja schon länger auch ganz andere Sachen, und Jonas hat nicht mehr lange bis zum Abitur…da muss er sich ja eh noch ein bisschen ’ranhalten. Ich denk einfach daran, was für ein Stress es auch oft war! Nie ein Wochenende mal Zeit im Frühjahr, auch nicht bei schönstem Wetter… immer am Schiff arbeiten – schleifen, lackieren, Unterwasseranstrich und und und…Papa abgenervt…“
Hier hatte Jonas mal eine Frage.
„Muss das denn alles auch so oft gemacht werden, bei einem neueren Schiff? Ich dachte immer, dass Kunststoffboote viel leichter zu pflegen sind. Da kann doch nichts rosten oder so was… Papa? Das war doch bei unserer ‚Jan’ das Hauptproblem, oder?“
Die Katze sprang von seinem Schoß und schielte unauffällig hoch zu den kleinen Fleischstücken auf dem Teller. Dann leckte sie sich verlegen einmal über die gelbbraune Brust, trollte sich gemächlich zur Hecke und legte sich dort auf den Bauch – die Vordertatzen unter der Brust eingeklappt, die Augen halb geschlossen.
Die Meisen in der Birke starteten ein Schimpfkonzert, auch der Zaunkönig in der Hecke fiel warnend ein.
„Ja, sicher – der Stahlrumpf und das viele Holz. Natürlich nicht – das ist ja grade das entscheidend andere bei einem GFK-Boot! Vor allem, wenn es noch nicht so alt ist. Einmal ungiftiges Antifouling im Frühjahr aufs Unterwasserschiff draufhauen, fertig aus. Und dann ins Wasser damit – Masten stellen, Segel auftakeln, Motorölwechsel, fertig. Und dann up, up and away…bound for Graciosa… playa de las conchas. Über Lissabon und Madeira…”
Petersen sah ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Aber seine Partnerin und Ehefrau hatte alle Antennen ausgefahren:
„Mast-en? Soll das denn wieder so groß sein…? Was das kostet – dann ist das ganze Geld ja weg! Und das gehört dir doch eigentlich gar nicht…?!“
Er griff zur Zange und wendete einzelne Kartoffelscheiben, die jetzt goldgelb glänzten und an den Rändern knusprigbraun wurden. Es begann leise zu zischen.
„Doch nicht alles.“
Petersens Stimme war samtweich:
„Willst du das denn … liegenlassen? Aufs Sparbuch bringen, womöglich?“
Er pokerte hoch und ein bisschen unfair – er wusste, dass sie wusste, dass er zu solchen Aktionen durchaus fähig wäre:
„Dann lass es uns lieber Greenpeace oder Sea Sheperd überweisen – und gut ist!“
Er nahm seine halbvolle Bierflasche vom wackeligen Platz auf dem Rasen herunter und stellte sie auf den Gehwegplatten ab. Stand auf, setzte sich ihr gegenüber, wandte sich ihr ganz nah zu und versuchte, ihre Hand in die seine zu nehmen, die sie aber vorher unter den Tisch sinken ließ:
„Diesmal – wird es ganz anders. Wir sind ja nicht mehr jung und unerfahren. Diesmal denken wir auch an die Zukunft. Nautiker haben Weitblick, Anneke… so ein Boot, was mir vorschwebt – das ist eine Wertanlage, auch für lange Zeit! Das muss ich dir doch nicht erzählen… wenn man das Richtige anschafft. Man ist doch lernfähig… wir haben doch Lehrgeld bezahlt… sind nicht mehr so – blauäugig. Es gibt da große Unterschiede. Zum Beispiel zwischen einem Stahlrumpf, der in die Jahre gekommen ist, an dem viel gemacht werden muss… einem Einzelstück, das beim Bau auch noch auf einen bestimmten Eigner zugeschnitten war – custom-built sozusagen. So was ist immer ganz schwer verkäuflich, das haben wir doch nun gesehen. Kaum zu vergleichen mit einer gut gepflegten, neueren Serienjacht eines bekannten, wertbeständigen Typs. Von einer Werft, die jeder in der Branche kennt. Das ist fast wie eine Immobilie, in einer guten Wohngegend… eine Altersvorsorge auch, besser als jede Rentenversicherung!“
Er merkte, wie es fast mit ihm durchging und ruderte zurück:
„Na ja, nicht ganz vielleicht. Wir sind ja auch noch nicht alt. Eine Mobilie sozusagen – weil man damit ja überall hin… “
Er machte vage Handbewegungen, in die Ferne weisend; seine Stimme wurde leiser und erstarb. Aber niemand verzog auch nur eine Miene über sein geistreiches apercu.
Lisa und Jonas blickten unauffällig, aber unverwandt ihre Mutter an.
Anneke seufzte leise und verstimmt auf und verteilte klirrend kleine Schüsseln, in die sie Obstsalat füllte.
„Eben. Das sind Dinge, Achim – die kann man nicht so übers Knie brechen. Da werden Weichen gestellt, das weißt du auch. Ich hab jedenfalls keine Lust, mir den schönen Abend mit einem ganzen Sack voller Probleme, die wahrscheinlich demnächst am Horizont auftauchen, zu verderben… wenn du da hinfahren willst nach Holland oder Belgien oder wo das ist, dann mach das mal. Ich möchte da eigentlich lieber erst mal nicht mit… du kannst mir ja erzählen, wie das war, wenn du wieder da bist. Und dann schauen wir mal, was wir mit dem angebrochenen Sommerurlaub noch so machen können, wir beiden. Wenn noch was übrig bleibt… ich war so lange nicht mehr in der Bretagne, in Frankreich. Oder in der Normandie… ist das denn okay für dich?“
Petersen strahlte – völlig recht war ihm das.
Insgeheim hatte er sogar auf diese Lösung gehofft. Und es war von ihr kein rotes Licht gekommen – nicht direkt…
Es war ja nur ein erster Probelauf, ein Ausloten – da schadete es gar nichts, wenn sie etwaige Enttäuschungen, die auftauchen konnten, nicht so hautnah mitbekam. Und wenn alles so war, wie er sich das vorstellte, würde eben die nächste Runde Überzeugungsarbeit fällig werden. Solche Möglichkeiten, wie sie sich ihnen jetzt boten, gab es nur einmal im Leben.
Man musste ihnen aber eine Richtung geben – die Gelegenheit nicht verstreichen lassen.
Und dann würde er sie schon umstimmen. Wenn sie erst einmal auf Probefahrt dahin glitten, unter einer Wolke von Segeln, gurgelnd und rauschend, nur ein ganz klein bisschen Lage schiebend… da würde sie nicht widerstehen. Sie war auch ein Mädchen von der See. Er musste ihr das nur wieder mal vor Augen führen.
„Einverstanden, du. Wir machen das alles so, wie du sagst. Ich fahr da mal hin, ob das überhaupt was ist… Montags ist wieder jemand da, haben sie mir am Telefon gesagt. Und jetzt kein Wort mehr davon. Lisa, kannst du mal den Teller mit den Steaklets ’rüberreichen…? Die müssen jetzt drauf… Und es sind schon Röstkartoffeln fertig! Wer will welche?“
Petersen war froh, dass er aufrecht im brausenden Wind saß und nicht bei dieser Hitze im Auto schmorte – von der Sonne durchs offene Schiebedach gebraten, oder sich durch die Klimaanlage eine Erkältung holend.
Die Staus bei Amersfoort und Utrecht hatte er hinter sich gelassen.
Sonntag, kaum Berufsverkehr – nur einige schwere Lastwagen unterwegs… es schienen immer mehr Ausnahmegenehmigungen erteilt zu werden. Aber die Nachbarn fuhren diszipliniert und ein bisschen weniger schnell. Jedenfalls in ihrem eigenen Land.
Er war seit einigen Jahren dazu übergegangen, bei längeren Fahrten Ohrenstopfen zu verwenden. Die große Scheibe vorn hielt zwar einiges an Fahrtwind ab, zumal er selten schnell fuhr, aber zehn Beaufort waren es doch immer. Und der ständige Krach aus dem lauten Rauschen des Luftstroms am Helm und dem Wummern der Zylinder unter ihm war lästig nach stundenlanger Fahrt. Man merkte es erst, wenn man angekommen war – wenn der Motor schwieg und man den Helm abnahm.
Vielleicht kam daher auch das rasch wieder in vager Ferne verhallende, gelegentlich zweistimmige Pfeifgeräusch, das dann seit einiger Zeit in den Ohren auftauchte – von früheren, unbekümmerten Fahrten. Oder Konzertbesuchen in der Vergangenheit – neben Marshal-Türmen, auf denen Ian Gillans ekstatische Stimme nicht optimal ausgesteuert war.
Anneke war jedenfalls auch immer gern mitgefahren und tat es bis heute, eigentlich.
Lästig war wie immer das häufige Auftanken. Hundertfünfzig Kilometer – dann war Schluss, und die Reserve reichte nicht weit. Er sah auf den Kilometerzähler – es musste jeden Moment so weit sein.
Aha – da stuckerte der Motor schon und lief gleich darauf nur noch auf einem Zylinder. Er sah in den Rückspiegel, ließ gezwungenermaßen den Gasgriff los, worauf sie noch langsamer wurden und griff hastig unter sich, wo er den Hebel des rechten Benzinhahns nach vorn in die Reservestellung schob. Als der Motor wieder rund lief, dasselbe Spiel auf der linken Seite, damit auch diese Tankhälfte leer laufen konnte… jetzt hatte er noch zwanzig Kilometer, bis die Maschine endgültig stehen blieb.
Er warf einen schnellen Blick auf die Straßenkarte unter der Klarsichtfolie auf dem Tankrucksack und versuchte, dort ohne Lesebrille etwas zu entziffern. Sie hatten doch grade diesen kleinen Fluss überquert – wie hieß der noch, Leke – nein, Lek…
Gott sei dank, da kam ja schon ein blaues Schild voraus in Sicht, das eine Tankstelle ankündigte. Meerkerk – das war doch mal ein schöner Name. Sie schienen sich endlich der See zu nähern.
So langsam tat ihm auch das Hinterteil weh vom langen Sitzen.
*
Als er den Tank vorsichtig randvoll gefüllt und bezahlt hatte, stülpte er den Helm wieder lose über, fuhr von den Zapfsäulen weg in den Parkplatzbereich und stellte die Maschine auf der Seitenstütze ab.
Erstmal aus der schweren Jacke raus, die Hitze war drückend. Er legte Helm, Handschuhe und Nierengurt auf den kurz geschorenen Grasstreifen, nestelte den Tankrucksack auf und nahm die Wasserflasche heraus, setzte sie an und trank den lauwarmen Inhalt fast aus.
Hier war wenigstens Halbschatten durch ein paar hohe Pappeln.
Die Außentemperatur konnte sich heute ohne weiteres mit der eines Augusttages an der griechischen Ägäis messen. Nur der in der Luft liegende Geruch war nicht grade Eukalyptushain – anders auch als in Deutschland. Nicht der stechende, schon halbwegs vergorene Jauchegestank der Gülle, sondern ein milderes, sanfteres Aroma – nach frischen Kuhfladen.
Näselndes Brabbeln, dann ein fauchendes Keuchen erklang hinter seinem Rücken.
Ein endlos langes Thunderbird-Cabriolet aus den sechziger Jahren, weiß funkelnd und Verdeck offen, rollte dicht hinter ihm aus und kam schaukelnd wie ein Alsterdampfer zum Stehen. Der Fahrer trat ein weiteres Mal lustvoll aufs Gaspedal und stellte dann den Motor ab.
Die beiden jungen Männer darin befanden sich offensichtlich auf einem Sonntagsausflug.
Sie trugen weiße Leinenanzüge, Fünfziger-Jahre-Sonnen-brillen, helle Borsalinos und rauchten erst einmal in aller Ruhe ihre sonderbar unförmigen Zigaretten auf – vorn auf der roten Ledersitzbank, wobei der Fahrer ein Bein über die Tür heraushängte. Sie schienen sich gestenreich spaßige Geschichten zu erzählen, brachen zuweilen in hektisches Gelächter aus und machten sich mit Blicken und Fingerzeigen auf ihre Mitmenschen aufmerksam, was ihre Heiterkeit weiter zu steigern schien.
Gelassene Stimmung, kein Stress… als sie ausstiegen und cool grinsend, aber interessiert herüberblickten und näher kamen, sah man, dass sie stilecht zweifarbige, schwarz-weiß vernähte Halbschuhe trugen.
Petersen nickte zurück und fuhr fort, in seinem Tankrucksack zu stochern, um die offenbar ganz nach hinten gerutschte Flasche mit dem abgefüllten Motoröl herauszuziehen.
Vierhundert Kilometer – er brauchte die fünf Zentner gar nicht erst auf den Kippständer zu wuchten und kerzengrade hinzustellen, um am Sichtfenster zu sehen, dass der Ölstand auf Minimum war: nach so einer Strecke war einfach ein halber Liter fällig bei dem dreißig Jahre alten Motor. Reiner Erfahrungswert.