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Eigentlich wollen Jonas und Lasse die Sommermonate nutzen, um ein Indierock-Festival im hohen Norden zu besuchen. Wenig läuft jedoch so ab, wie sie es ursprünglich geplant hatten: Jonas' Vater hat einen kleinen Unfall, der einiges verändert. Im Prinzip nicht unbedingt zum Schlechteren für die beiden. Denn eine Art Abenteuer ist so eine lange Reise an den Polarkreis irgendwie immer, auch per Anhalter und Linienbus. Aber dass sie auf diesem Trip nun noch nach ihrem WG-Mitbewohner Bartosz und seiner Freundin Jule suchen sollen, ist schon eine etwas aufwendigere Sache. Vor allem, da von den beiden jede Spur fehlt. Und wenn Lasse nicht auch noch einen heftigen Urlaubsflirt vor Ort begonnen hätte, wäre Jonas' Onkel Per mit seiner neuen Freundin nie aufgetaucht. Wenn der sich allerdings einmal etwas in den Dickschädel gesetzt hat, gibt er meist nicht eher Ruhe, bis alle Rätsel gelöst sind …
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Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Henning Puvogel
Roman
Texte: copyright beim Autor
Titelfoto: Alamy
Verlag: Henning Puvogel
Streekmoorweg 3
26316 Varel
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Foto: Torben Mau
Henning Puvogel war 45 Jahre lang in seinem Beruf als Seefahrer, Nautiker und Kapitän tätig. Er fuhr von 1972 bis heute ohne Unterbrechung auf Frachtern, Spezialschiffen und Seglern zur See und lebt mit seiner Familie in Norddeutschland.
Von ihm erschienen bisher:
„Die letzte Fahrt der Scarabea“ (Hauschild/Bremen, 1990)
„Ebbstrom“ (Koehler/Hamburg, 1999)
„Das glückhafte Schiff“ (Holtzbrink/ Neopubli, 2017)
„Das zweite Gesicht“ (Holtzbrink /Neopubli, 2019)
„Europäer, unterwegs“ (epubli, 2022)
JONAS und LASSE – finden auf ihrer nicht ganz so geplanten Rückreise vom Traenafestivalen am Polarkreis auf der Suche nach ihren beiden verschollenen Freunden Bartosz und Jule noch ganz andere Dinge
BARTOSZ OLSCHEWSKI – abgebrochener Philosophiestudent, der eine eher negative Weltsicht vertritt und nach und nach überraschende Charakterzüge aufweist
JULE DE VRIES – seine Freundin. Einser-Abiturientin, die wegen Bartosz ihr Studium geschmissen hat und nun an seiner Seite langsam erwachsen wird
ACHIM PETERSEN – Vater von Jonas, wäre gern mitgefahren nach Sanna
ANNEKE PETERSEN – Jonas' Mutter. Hält nicht so viel von waghalsigen Abenteuern ihres Sohnes
PER ARNE ANDERSSON – Halbbruder von Achim Petersen. Muss als Lotse auf der HAVTERNEN einspringen
SIGRUN BOLSTAD, seine Freundin – Amerikanerin mit norwegischen Großeltern, die einst nach Minnesota ausgewandert sind. Erweist sich trotz ihres gelegentlich übertriebenen Wikinger-Faibles als toughes Crewmitglied
METTE KJAERGAARD, Pers dänische Ex-Freundin – hat sich in der Südsee von ihm getrennt
Der LENSMANN in Flekkefjord – sieht sich mit einem unwillkommenen Landsmann und Insider konfrontiert
Halvor Kristiansen – hat mit seiner Familie gebrochen
Einar Kristiansen – der reichste Mann auf Hidra, aber nicht der beliebteste. Besitzer zahlreicher Lachszuchtfarmen
Kristanna Kristiansen – hat recht verschiedene Sichtweisen auf ihre beiden Söhne
Im Grunde begann die ganze Geschichte mit Papas Anruf.
Ich saß mit Lasse im Garten auf dem Rasen, zwischen den ganzen eingeebneten Maulwurfshügeln. Wir spielten zum chillen eine Partie Schach vorm Haus, im Schatten. Waren noch ziemlich durchgeschwitzt von unserem gemeinsamen 7-km-Lauf, den wir gelegentlich machen. Selten allerdings in so einer Hitze.
Der Juni war schon halb herum. Er schien wieder mal sämtliche Temperaturrekorde der vergangenen Jahre brechen zu wollen.
Es ging uns eigentlich ziemlich gut im Moment, in diesem Sommer. Trotz der offenbar halbwegs aus dem Ruder laufenden Weltlage.
Wir hatten fast gleichzeitig unser Masterstudium hinter uns gebracht. Beide an der Carl-von-Ossietzky-Universität, in Oldenburg. Ich in Biologie, Lasse in Physik. Wegen der Corona-Einschränkungen, der Ausfälle und der ganzen Online-Vorlesungen lag die Regelstudienzeit weit hinter uns.
Lasse bestand natürlich trotzdem mit Auszeichnung. Er ist so eine Art Genie.
Wir hatten eine gemeinsame Wohnung dort, in der Nähe der Uni. Eine Studenten-WG, genauer gesagt – eigentlich zu dritt, am Anfang jedenfalls.
Aber Bartosz hatte ja sein Philosophiestudium geschmissen und war „ausgewandert“. Mit seiner Freundin Jule.
Die Umweltzerstörung, das Artensterben – der kommende dritte Weltkrieg mit Atomwaffen … da hatte Bart so seine Vorstellungen, wie unausweichlich das war.
Wir hatten eigentlich schon vor längerer Zeit besprochen, dass wir nach unserem Abschluss eine Auszeit einlegen wollten. Vielleicht sogar zu viert – Australien oder Vietnam, mit Roller und Boot den Mekong runter oder so was. Nach Asien kam man ja nach wie vor ’rein, wenn man nicht gerade nach Russland oder China wollte.
Aber zwei aus unserer losen Clique, will ich sie mal nennen, hatten keine Zeit: Julian war schneller als wir gewesen und hatte überraschend schon eine Stelle als Assistent bekommen. Und Bart war ja nicht mehr da, was die Miete für die WG natürlich ganz schön hoch trieb.
Einen Nachmieter hatten wir noch nicht gefunden … meine Freundin Elin machte eine Ausbildung in der Nähe ihres Elternhauses, im Siegerland. Wohnte dort und war die nächsten anderthalb Jahre gebunden.
Aber: wir hatten zwei ziemlich rare Tickets für das Traena-Festival ergattert! Online gebucht, bezahlt und gerade gestern bestätigt. Beginn 7. Juli.
Lasse wollte sich heute um die Fährüberfahrt und die Bahnkarten kümmern, ging auch alles online. Man konnte von Hirtshals aus zu allen möglichen Orten kommen, auch nach Bergen. Aber er wollte natürlich das Günstigste finden.
Weiter hoch wollten wir trampen oder den Bus nehmen oder so.
Nach Oslo fuhr auch wieder ein Flixbus, aber davon war ich nicht so begeistert. Vor zwei Jahren waren Elin und ich damit mal von Oldenburg nach Göteborg gefahren, um dort bei Papa mitzusegeln zwischen den Inseln. Diese tagelange Tortur hatte uns gereicht – und der Bus wäre fast noch rückwärts im Hafenbecken gelandet, weil der Fahrer irgendwie die Handbremse nicht richtig angezogen hatte. Der abendliche Nervenkitzel.
Nach Traena rüber, das wohl fast 60 Kilometer vor der norwegischen Küste liegt, musste man eh ein Boot, eine Fähre oder so nehmen. Das würde zu den Kosten noch dazu kommen, und zurück aufs Festland musste man auch. Norwegen sollte ja so megateuer sein.
Die Bahnfahrt nach Hirtshals dauerte zwar zehn Stunden, aber Lasse hatte eine Verbindung ausgecheckt, die unter fünfzig Euro pro Person lag, im voraus zu buchen natürlich. Mal sehen, was wir dann anschließend noch so unternehmen konnten da oben … das Festival dauerte ja nur 3 Tage. –
***
Telefon, noch eben zu hören durch die geschlossene Haustür.
Im Schach gewann ich meistens gegen Lasse – oder er ließ mich gewinnen … ich tauschte sein zweites Pferd noch gegen einen Läufer von mir und stand auf, als das Läuten drinnen nicht aufhörte. Es schien lauter und dringender zu werden.
Lasse grinste resignierend, ließ ein komisches Schnalzen hören und kippte theatralisch aufs Gras zurück, als ich ins Haus ging – als sei er bereits vernichtend geschlagen, mal wieder.
Drinnen war es etwas kühler, die Jalousien an der Südseite waren schon seit dem Morgen runtergelassen. Und zusätzlich hatte ich die Markise an der Terrasse rausgekurbelt. Es herrschte ein angenehmes Halbdunkel oder so eine Art helles Dämmerlicht, an das sich die Augen erst gewöhnen mussten nach der grellen Sonne draußen.
„Jonas …? Papa hier … aus Dänemark.“
„Papa …! Überraschung … ich dachte, ihr seid noch in Schweden oder so!“
„Wir sind in Skagen, seit gestern. Es ist was passiert. Wie ist die Verbindung? Ich stehe hier am Hafen …“
Oha – leichtes Klopfen im Hals, beschleunigter Puls. Aber seine Stimme klang eigentlich ganz okay, ruhig wie immer.
„Ja …? Laut und deutlich. Geht’s euch beiden gut? Oder ist was mit dem Boot?“
Mit meinen Eltern habe ich eigentlich ziemliches Glück gehabt, meine Schwester Lisa natürlich auch. Es gab eigentlich nie Ärger, höchstens mal ein paar deutliche Worte. Und um Unterstützung in weitestem Sinne brauchte sich keiner von uns jemals Sorgen zu machen.
Mein Vater ist zwar schon etwas älter, aber wir kommen sehr ordentlich miteinander aus. Für Überraschungen ist er immer gut.
Meine Mutter ist viel jünger, also normal alt – aber ziemlich sportlich. Es gibt kaum einen 10-km-Lauf hier in der Gegend, bei dem sie in ihrer Gruppe nicht irgendwo ziemlich oben mitmischt. Ich muss mich echt lang machen, um dran zu bleiben, wenn wir mal zusammen laufen.
Sie haben mich jedenfalls immer machen lassen. Und unterm Strich war das auch richtig so, sag ich jetzt mal.
„Nein, alles gut. Aber wir müssen erstmal nach Hause kommen – Urlaub abbrechen. Ich komm grade vom Arzt … mit Taxi, kann schlecht laufen. Die Überfahrt von Schweden war kein Spaß. Ich bin beim Schwimmen auf so’n Petermännchen getreten, am Strand … kennst du? Kleiner Giftzwerg … es ging gleich heftig los. Ich dachte, wir kommen noch ’rüber … hat ja auch geklappt. Aber unterwegs ging’s kaum besser, das hatte ich wohl unterschätzt. Hätte besser auf deine Mutter hören sollen … aber dann wäre das Boot jetzt drüben in Öckerö. Und beim Festmachen hier bin ich dann noch umgeknickt, mit dem anderen Fuß. Alles dick angeschwollen, da läuft im Moment gar nichts.“
„Ja, aber wie wollt ihr denn … Mama kann doch nicht alleine …? Musst du ins Krankenhaus?“
„Nein, wir kommen zurecht … äh, zurück. Das Boot kann hier bleiben, sie hat schon mit dem Hafenmeister gesprochen … einen vernünftigen Preis und sicheren Liegeplatz ausgecheckt. Wir können die Bahn nehmen, vielleicht auch einen Flug … alles Corona-eingeschränkt natürlich, Maske etcetera, das volle Programm. Und stornierte Flüge … erstmal nach Aarhus oder Aalborg, mindestens. Ziemlich umständlich, das Ganze. Das Problem ist …“
Seine Stimme kam eine Spur gedämpfter, wenn nicht kleinlauter.
„Im anderen Fuß – das ist ein Bänderriss, oder -anriss. Ist jetzt so’n Tapeverband drum. Merkt man, ist wohl etwas langwieriger, aber heilt von selbst ab. Braucht nichts genäht zu werden, sagt der Arzt. Er checkte mich aber noch gründlich durch, horchte alles ab und fragte nach sonstigen Beschwerden, wegen dem Stich – ob ich schon mal was mit Herz und Kreislauf gehabt hätte. Hatte ich gar nicht erwähnt … und das war tatsächlich während der Überfahrt so anflugweise da und ist auch jetzt noch nicht ganz weg. Nicht dauernd da, aber doch – nicht lustig. Ich hatte ja mal diesen Herzkasper vor über zehn Jahren. Und da kam jetzt so ein bisschen was wieder, fast wie damals. Gar nicht mal so gut.“
Ich hörte in der Pause sein leichtes Schnaufen, durchs Telefon.
„Und die Einstichstelle sieht auch nicht so toll aus – immer noch dick angeschwollen. Der dänische Doktor sagt, es kann mit Herz und Kreislauf Probleme geben, wenn man da vorbelastet ist … oder allergisch reagiert …“
Ich sehe es vor mir. Wenn er „nicht ganz so toll“ sagt und das Boot irgendwo im fremden Hafen liegen lassen will, weiß ich Bescheid. Dann ist was.
Das war noch nie.
Knacken und Rauschen, halb verschluckte Silben:
„… machst du denn so? Außer einhüten und aufpassen … du könntest …“
Wieder gestört, noch schlechter jetzt.
„Papa, jetzt bist du fast weg. Ist dein Akku leer oder hast du keinen Empfang?“
Pause, keine Antwort. Dann war seine Stimme wieder da, so laut und deutlich jetzt, als stände er direkt neben mir.
„So – besser jetzt …? Ok – es gibt noch eine andere Möglichkeit. Du setzt dich ins Auto, kommst hoch – und wir fahren damit zurück. Das sind acht Stunden, höchstens … und du könntest das Boot nach Hause bringen, wenn du schon mal hier bist. Jedenfalls ein Stück nach Süden – über Samsö, bis Maasholm oder so was … vielleicht sogar nach Kiel. Zeit hättest du ja reichlich …? Müsstest noch jemand mitbringen als Crew – deine Schwester entweder … oder was ist mit Lasse … der kennt sich doch auf Booten aus. Das wär doch noch mal was, wo ihr euer Studium doch jetzt …“
„Lasse – na ja, der ist grade hier. Das Problem ist – wir müssen bald weg! Das wisst ihr noch nicht – wir haben Karten gekriegt für das Festival in Traena, Anfang Juli. Das ist jetzt vier Jahre lang ausgefallen. Lisa will mich dann hier im Haus ablösen … ich dachte, ihr kommt erst so in zwei Wochen! Und das geht bald los, wir checken gerade die Verbindungen, da hoch. Erst mit der Fähre …“
Wieder lange Stille – vielleicht war die Verbindung doch nicht so toll.
Sie haben immer nur so abgelegte Handys, entweder von Lisa oder von mir. Bei meinem alten, das Papa jetzt hat, wackelte die Steckfassung zum Laden – mal ging’s, mal nicht.
Aber da war er wieder, glasklar und laut, wie vorher.
„Fähre … die liegt doch hier, in Skagen! Und kostet euch keinen fucking cent … fahrt doch mit dem Boot da hoch! Direkt hin – da kann man liegen, in Husöy. Wann geht das denn los, euer Festival – Juli, sagst du? Da kann man ja neidisch werden … natürlich bisschen vorsichtig sein, und beherzt …“
Das sind so seine spontanen Einfälle, ziemlich typisch. Mir fiel erst mal wenig ein als Antwort. Eigentlich blieb mir sozusagen die Spucke weg.
Wie das so ist, wenn einem sofort klar ist, dass das eine mögliche Alternative sein könnte und eben nicht nur ein irrwitziger Vorschlag. Jedenfalls nicht völlig abwegig. Aber man gleichzeitig heftigsten Widerwillen spürt, weil man selbst so eingeplant ist, und jemand anders das entscheiden will. Und natürlich Angst irgendwie, vor so einem Ding.
Füße hoch und Hermann Löns, auf dem Sonnendeck von ’ner dicken Stenafähre übers Skagerrak, und dann mit Bus oder per Anhalter weiter hoch … oder zu zweit mit ’ner kleinen Segeljacht – das ist ein ziemlicher Unterschied. Und dann die norwegische Küste hoch bis an den Polarkreis. Stell ich mir auch nicht gerade vor wie Kaffeesegeln auf dem Zwischenahner Meer.
Papa hat das früher alles schon gemacht, jahrelang. Man könnte sagen, die Latte hängt hier ziemlich hoch.
Er meint es ja nur gut, denke ich.
Natürlich kannte ich unser „neues“ kleines Boot, das er vor vier Jahren sozusagen eingetauscht hatte. Aber allein war ich es noch nie gesegelt. Und hier ging’s ja nicht um einen daycruiser-trip von Wilhelmshaven nach Helgoland – mit ihm an Bord, wo er Lisa und mich natürlich schon öfter skipper-of-the-day hatte machen lassen und wir alles Mögliche geübt hatten. Vom Ausweichen vor dicken Pötten, Segelreffen und Manövrieren bis Umgang mit elektronischer Seekarte.
Aber gleich abwinken … er schien mir ja einiges zuzutrauen mittlerweile. Hätte ich jetzt gar nicht so gedacht. Auch nicht, dass mir das runtergeht wie Öl.
„Da hoch …? Na ja … braucht man da nicht ’n größeren Segelschein oder so was? Ich hab doch nur den Sportbootführerschein Binnen …“
Das war schon falsch, diese Antwort. Jedenfalls, wenn ich partout hätte ablehnen wollen.
Jetzt hatte er mich:
„Sportbootführerschein See hast du! Aber das kontrolliert sowieso keiner. Versicherungsnachweis und Eigentumspapiere sind an Bord, das ist wichtig. Hat Lasse denn auch Zeit … ach so, er fährt ja mit. Der ist doch in den Ferien dauernd unterwegs mit seinem Vater, auf dieser ausgebauten Kutterjacht … der alten Habicht … den haben wir doch getroffen im Sommer, auf Langeoog und überall! Und handfest ist er doch. Macht ihr nicht zusammen Sport oder so …?“
„Ja, manchmal. Haben gerade zusammen einen dicken Lauf gemacht. Hier ist ziemliche Hitze …“
„Ja – hier nicht so. Eher kühl, keine zwanzig Grad. Dann seid ihr ja fit … na siehst du, alles optimal. Wir müssen natürlich noch alles Mögliche absprechen oder übergeben, wenn ihr da seid … aber das geht schnell, wir wollen oder müssen ja zurück. An Ölzeug musst du natürlich …“
„Also Moment mal, Papa – erstmal muss ich ihn ja fragen …“
Wieder falsch. Das hätte ich mir sparen können – so weit kenne ich Lasse, um zu wissen, dass er vor Begeisterung wie von der Tarantel gestochen aufspringen würde, die Schachfiguren dabei umwerfen und sofort Feuer und Flamme wäre. Das wäre so richtig was für seinen Geschmack. Und er vergisst selten zu erwähnen, dass er im Urlaub auf der Nordsee schon oft mal seinen Dad am Ruder ablösen musste, eben weil er nicht seekrank wird. Ihr dicker Kutter rollt nämlich zum Gotterbarmen.
Aber er müsste ja auch nicht den Skipper machen.
„Und – was für einem Wagen sollen wir nehmen …? Deinen etwa …? Damit darf man doch längst nicht mehr überall hin … und ich hab ihn ja noch fast gar nicht selbst gefahren!“
„Für dringende Fälle gibt’s Ausnahmegenehmigungen, beim Landkreis … aber ihr wollt ja nicht nach Kopenhagen ins Stadtzentrum. Brauchst du aber nicht. Wir haben ja H-Kennzeichen … kontrolliert auch keiner. Einfach voll tanken und los – bei der Raiffeisen-Genossenschaft gibt’s Benzinzapfsäulen. Aber Superbenzin! Die haben sogar ’ne spezielle Sorte da in Fässern, glaube ich …“
Seine Stimme wurde drängender: „Sonst musst du dir beim Kaffeehaus da so’n kleinen Elektrocorsa leihen oder irgendwas, wenn du dir das nicht zutraust. Rainer macht dir sicher einen guten Preis – musst ihm aber sagen, dass es ins Ausland geht! Hier gibt’s überall Zapfsäulen – Ladesäulen, meine ich … viel mehr als bei uns. Aber mein Wagen ist natürlich für so halbe Invaliden wie mich schon einiges besser geeignet …“
Papas kostbare Göttin stand ja auf der Auffahrt. Ich hatte heute morgen extra wie angewiesen die Fenster ein bisschen runtergekurbelt, wegen der Hitze. Eigentlich nur einsteigen und losfahren.
Das waren mal echte Neuigkeiten.
„Na ja – das kommt jetzt alles ziemlich plötzlich, Papa … heute ist Samstag …“
„Ja nun, das ist auch mehr oder weniger ein Notfall. Haben wir uns nicht ausgesucht. Pass auf: packt doch einfach alles zusammen, was ihr bräuchtet für den Törn da hoch … und dann kannst du hier vor Ort ja immer noch entscheiden, was ihr machen wollt. Könnt ja auch beide ein paar Tage hier bleiben, bis euer Schiff dann geht … herrlicher Strand, kristallklares Wasser. Zelt braucht ihr nicht – das Boot liegt ja hier und könnte liegen bleiben. Macht ihr bisschen Wassercamping. Eure Fähre geht doch bestimmt von Hirtshals aus, das ist nur ein Katzensprung. Gibt bestimmt Bahn- oder Busverbindung!“
Er machte eine seiner hinterhältigen kleinen Pausen.
„War ja auch nur ein Vorschlag. Schöner Törn … zur Sommersonnenwende an den Polarkreis! Und dann Traena, Mann – … ’auf den Rabenklippen bleichen Knabenrippen’ … und mit der Zeit käme das ja hin! In drei Wochen ist das zu schaffen. Jetzt rede erstmal mit Lasse und dann kommt hoch – den Rest können wir hier abklären, will ich jetzt nicht alles am Telefon machen. Aber zurück müssen wir … sonst streikt Mama. Wär schon gut, wenn wir möglichst bald den Wagen da hätten.“
Na ja – mit dieser Hintertür, dann selbst entscheiden zu können … ein bisschen wie mit Netz und doppeltem Boden. So ’ne Art Notausgang. Trotzdem ging mein Puls schon wieder ein bisschen schneller im Hals:
„Ich rede jetzt mal mit ihm und dann … ich ruf dich wieder an! Sagen wir mal, in zwei Stunden, oder früher … kannst du dein Handy da denn irgendwo aufladen? Sonst Mama.“
Die Antwort kam, wieder durch Knistern und Knacken.
„… alles klar. Aber lasst euch nicht zuviel Zeit – fahrt bald los.“
Superwetter, hier so weit oben im Norden. Geradezu kühl, obwohl es schon kurz vor Mittag war. Klare Luft, und dazu dieser blaue, wolkenlose Himmel.
Wir waren die halbe Nacht durchgefahren und ziemlich müde und geschafft, trotz Kaffee. Um vier Uhr morgens wurde es schon hell.
Nun irrten wir aber schon eine ganze Weile in dieser völligen Hafengegend ’rum. Nirgendwo Masten zu sehen. Hier jedenfalls gab’s keine Yachties, definitiv.
Statt dessen riesige Trawler, teilweise in Trockendocks liegend. Ziemlicher Fischgeruch, nicht grade taufrisch. Entlegene Seehafenszenerie, irgendwie.
Aus den Pförtnerhäuschen da an den Werfteingangstoren wurden wir schon eingehend gemustert, als ich hier so im Schneckentempo suchend vorbei schlich.
Aber daran gewöhnt man sich, wenn man mit so einem Wagen durch die Gegend fährt. Papas ID 19, Baujahr 1965, Originalfarbe mit weißem Plastikdach. Wie grade vom Band gelaufen. So eine Art mausgrau – wie ganz früher mal diese Enten, auf die alle jetzt so scharf sind.
Das war natürlich auch der Grund, warum sie uns an der Grenze erst mal ’rauswinkten, die Papiere sehen wollten, Fragen stellten und auch halbwegs ratlos in den Kofferraum guckten.
Aber dann ließen sie uns so weiterfahren.
Ich fand diese dänischen Zöllner schon immer irgendwie cool – einmal sind sehr viele junge Frauen dabei, und die Männer tragen ihre Uniformen immer so – wie soll ich sagen, als wäre Karneval oder sie wüssten, wie doof sie damit aussehen. Immer am Grinsen.
.Aber diese alte Kiste hat wenigstens ganz normal ein Kupplungspedal und nicht nur so einen Stift da oben am Lenkrad. Wie Papas voriger DS, den er eingetauscht hat. Obwohl dieser hier noch älter ist.
Dafür ist die Schaltung echt gewöhnungsbedürftig, und der Zeiger des breiten Tachos wackelt und zittert zwischen 40 und 60 wie ein Lämmerschwanz. Einmal ging auch so eine große rote Warnleuchte an und das Auto sackte hinten ein bisschen in die Knie, als wir im Stau vorm Elbtunnel standen – aber das war dann gleich weg und ist nicht wieder aufgetaucht. Super durchgehalten, der Veteran. Immerhin 700 Kilometer, Lasse hat auf den Tacho gekuckt. Irgendwo hinter Randers mussten wir auch nachtanken.
Und man fährt schon ziemlich bequem, das muss man sagen. -
Lasse sah beeindruckt aus dem offenen Seitenfenster zu einem dieser Schiffshecks mit Namen und Heimathafen, die haushoch über die Hafenschuppen ragten. Wahrscheinlich verglich er sie mit ihrem umgebauten Krabbenkutter:
„Wahnsinnsteile … weißt du, wo die herkommen …? Nie gehört … Fraserburgh, Lerwick … Isa-fjör-dur …? Bergen, na gut … aber Fotö …“
Ich verwarf den Gedanken, anzuhalten und einen der neugierig linsenden Pförtner zu fragen, wo denn hier die Marina für Sportboote ist. Fuhr wieder an und drückte den zweiten Gang rein, der nur ein ganz leichtes Kratzen hören ließ.
„Lerwick, Shetlands. Da war Papa mal, als wir unser großes Boot noch hatten. Auf dem Weg nach Island, glaube ich … alles Fischdampfer. Sieht man am Heck. Ich glaub, wir müssen hier erstmal wieder ’raus, ich seh hier keinen Jachthafen. Kuck doch mal nach … sonst müssen wir sie anrufen!“
Er schielte schon auf sein Handy, zog die Karte mit zwei Fingern auseinander und gluckste einmal andeutungsweise.
„Muss hier ganz in der Nähe sein … andere Seite, irgendwie. Fahr da mal rechts ’raus, wieder auf die Hauptstraße.“
Dort bog ich erstmal auf einen Parkstreifen und hielt.
Gleich gegenüber war das „Königliche Hauptzollamt“ – soviel gab mein Dänisch noch her, dass ich diese bombastische Inschrift auf dem Gebäude mit den Türmchen erraten konnte. Davor war ein schwarzer Oldtimer-Mercedes mit Weißwandreifen geparkt. Hinter der Windschutzscheibe war ein Verkaufsschild mit vielen Nullen zu sehen.
Hier waren wir nicht ganz falsch, denn nun sahen wir endlich auch Masten und eine Reihe von Fischrestaurants direkt an der Hafenpromende, als wir über den halbleeren Parkplatz schlenderten. Ein bisschen taten uns trotz der superweichen Sitze die Knochen weh vom langen Fahren.
***
Da lag sie ja, unsere kleine <Havternen>.
Papa hat den dänischen Namen behalten. Weil man Schiffe nicht umtaufen soll, das bringt Unglück. Als Seemann ist er wahrscheinlich irgendwie abergläubisch.
Komisch, dass man den bunten Winzfleck der deutschen Flagge doch immer sofort erkennt, wie klein und verweht er auch ist. Kaum andere Jachten – dafür dänische Motorboote mit Angeltouristen, weiter vorn.
Ganz allein am letzten hinteren Schwimmsteg lag sie, längsseits festgemacht. Hübsch wie immer, makellos weiß, mit ihrem einzigen, untypisch langen Mast.
Irgendwo musste leichter Schwell von draußen hereinkommen, obwohl man nirgends eine Hafeneinfahrt sah. Denn sie wiegte sich auch hier weit drinnen fast unmerklich in ihren Leinen.
Dahinter sah man auf der anderen Seite des Hafenbeckens ganz nah diese Hochseetrawler breitseits aufragen. Vollfroster nannte Papa die glaube ich immer, wenn wir auf See mal einen getroffen hatten. Seitenklatscher war wieder was anderes.
Vor diesem bombastischen Hintergrund sah sie original aus wie eine – na ja, Mücke zwischen Elefanten … gut, also wie ’ne Libelle zwischen Wasserbüffeln.
Die Umrisse des schnittigen Rumpfes mit den Spinnweben der Wanten und Stagen kontrastierten schön von dem frisch gemalten Riesendampfer gegenüber. Mit ein bisschen Phantasie wirkte sie wie eine schicke Zeichnung oder ein aufgemaltes Reedereilogo auf der roten Bordwand. Was natürlich ziemlich abwegig wäre bei diesen schwimmenden Fischfabriken, die die Meere leer fischen und jeden Hummerschwanz wahrscheinlich elektronisch orten können.
Wo in aller Welt gab es wohl noch so viel Fisch, dass man solche Riesenteile voll machen konnte.
Jetzt stand im Cockpit jemand auf und winkte wie wild, als wir einen Moment suchend oder vielleicht ein bisschen geschockt stehen blieben. Mama – mit einer langen Haarsträhne, die ihr immer wieder ins Gesicht wehte.
Erstmal hin – unser Gepäck konnten wir später holen. Von Papa war nichts zu sehen.
„Das ging ja schnell mit Euch! Habt ihr gut hergefunden …?“
Sie trat auf den Schwimmsteg und breitete die Arme aus. Großes Hallo, Küsschen natürlich, auch für den leicht verlegenen Lasse: „Schön, dass du mitgekommen bist, Lasse!“
Man muss zugeben, dass sie super aussah. So braungebrannt, schlank und mit dem blonden Pferdeschwanz, in dem sich graue Strähnchen verbargen.
Jetzt sahen wir auch Rucksäcke und prall gefüllte Taschen auf den Backskisten, als wir so dicht davor standen. Fertig gepackt schon alles, offenbar. Das sah nach Eile aus.
„Papa ist unter Deck … hat sich ein bisschen auf der Bank lang gemacht. Kommt an Bord – wo habt ihr denn den Wagen geparkt? Auf dem großen Parkplatz dahinten?“
Wir stiegen über die Reling. Dabei krängte die Kleine ganz schön, als wir alle drei auf einer Seite standen. Lasse setzte sich gleich rüber, zwischen die Rucksäcke. Und ich erblickte durch die offene Tür unten meinen Vater, der sich jetzt schockierend mühsam aufrichtete und etwas gezwungen zu uns herausgrinste. Jetzt saß er endlich am Tisch – mit einem peitschenden kleinen Knall landete ein brauner Handstock, der am Schott gelehnt hatte, auf dem Kajütfußboden.
Meine Mutter drängte sich an uns vorbei, stieg den Niedergang herunter und bückte sich, leicht genervt:
„Lass liegen, Achim – ich heb schon auf …“
Halbwegs fatalistisch setzte sie sich ganz vorn auf die Kante der Sofakoje.
Papa streckte sein rechtes Bein zeitlupenmäßig unterm Salontisch aus. Bootsschuhe hatte er gar nicht an, trug nur dicke graue Wollsocken. Jedenfalls wirkten sie sehr dick, vielleicht war es aber auch sein Fuß. Sein Grinsen war leicht starr:
„Das ist hier der reinste Invalidendampfer im Moment … hallo. Klasse Mann, dass ihr gleich hergekommen seid. Alles heil …? Wo ist Lasse denn? Habt ihr alles mit?“
„Draußen im Cockpit. Nun lass die beiden doch erstmal ankommen …“
Mama wirkte gleichzeitig erleichtert und unzufrieden.
Rastlos erhob sie sich schon wieder, zwängte sich zur Pantry durch und ließ Wasser in den Alukessel laufen.
„Ich mach erstmal einen schönen Tee. Habt ihr auch Hunger, wollt ihr was essen?“
***
Sie hatte dick eingekauft hier im Supermarkt. Vor uns standen neben den Thermomuggen mit heißem Tee Teller mit diesen dänischen Napoleonshüten, die sie so gern nascht. Aber auch frische Mohnbrötchen, Butter und Honig.
Als erster griff Papa zu, und wir ließen uns auch nicht lange bitten.
Es war gleich unglaublich gemütlich, hier zu viert in der hellen Kajüte mit der gewölbten, weißen Decke und den längs verlaufenden, naturfarben lackierten Holzleisten dazwischen. Schiffig hoch zwölf … auch ein bisschen edel mit dem gerahmten Halbmodell vom Schiffsrumpf am Schott und dem Barographen, dessen Schreiber hinter der Glasscheibe eine sacht steigende Kurve zeigte.
Lasse ließ seinen Blick begeistert umherschweifen – er war noch nie hier an Bord gewesen. Mama passte auf, dass keine Schokoladenkrümel abbröckelten, auf die cremefarbenen Cordbezüge der Sofapolster fielen und dort schmolzen. Und mein Vater haute wie ein Scheunendrescher rein. Das Frühstück schien schon etwas her zu sein.
class="ohne"Außer seiner Fußverletzung schien ihm rein gar nichts zu fehlen. Er sah unverschämt gut erholt aus mit der tiefen Bräune und dem länger gewordenem weißen Haar. Allerdings war auch sein Fünftagebart auf Kinn und Wangen jetzt weiß. Das wirkte ziemlich ungewohnt, weil er sich zu Hause immer sorgfältig rasierte.
Wenn er wie jetzt längere Zeit an Bord war, wurden seine Gesichtszüge irgendwie schärfer, fast ein bisschen hagerer als im Winter zu Haus. Nur diese komische Truthahnfalte über seinem Adamsapfel, die sich jetzt manchmal zeigte, hatte ich früher nie bemerkt. Irgendwie bestürzte mich das ein bisschen.
Unser Eintreffen schien seine Laune erheblich verbessert zu haben. Zwischen zwei Bissen musterte er grinsend Lasse und mich und nickte dazu wortlos, während er uns aufmunternde Blicke zuwarf.
„Wo … schlafen wir?“
Lasse puffte einmal nervös, beugte sich vor und spähte mit langem Hals zu den Kojen im Vorschiff.
Papa lehnte sich endlich zurück und nahm einen Schluck Tee.
„Am besten vorn. Aber auf See könnt ihr auch die Sofakojen benutzen. Gibt Leesegel, damit man nicht rausfällt … ihr müsst euch ja auch mal ablösen, am Ruder … Autopilot möglichst wenig benutzen. Dann kann der andere kurz ein Nickerchen machen. Gleich gibt’s noch ein briefing …“
„Also – noch wissen sie ja gar nicht, ob sie nicht die Fähre von Hirtshals aus nehmen wollen!“
Die Stimme meiner Mutter klang irgendwas zwischen aufgebracht und gereizt:
„Findest du das denn wirklich so eine gute Idee, Achim … die beiden da allein hoch fahren zu lassen? Jonas hat das Boot noch nie selbstverantwortlich gesegelt … und wenn man das erste Mal den Skipper macht, muss das ja nicht grade so ein Törn sein. Hast du selber immer gesagt – schon vergessen?“
Das ‚so’ betonte sie, als ginge es ab in den Hades.
Mein Vater riss ein Stück Küchenrolle als Serviette ab und wischte sich Zuckerkrümel aus dem Schnurrbart. Dann nickte er:
„Da ist was dran. Aber das wäre auf dem Weg nach Hause nicht viel anders gewesen, und da hattest du ja auch keine großen Einwände … da muss man auch manchmal ganz schön aufpassen. Um Djursland ’rum, oder im Norden zwischen Samsö und den Bänken durch …“
Mama schüttelte halbwegs empört den Kopf:
„Na ja. Da kannst du überall irgendwo reinhuschen, und das ist auch kein Neuland für ihn. Da haben wir schon oft zusammen gesegelt – und die Küste ist doch nicht so völlig ungeschützt.“
„Das ist da oben auch nicht viel anders – bis auf die erste Etappe vielleicht. Aber hast ja recht – und wenn die Wetterlage instabiler wäre, würde ich den beiden auch raten, es sein zu lassen und die Fähre zu nehmen. Aber ich hab ziemlich genau alle Seewetterberichte angekuckt, auch für die nächsten drei, vier Tage … das sieht richtig günstig aus. Vorhin, als du einkaufen warst.“
Lasse blickte etwas entgeistert auf, halbwegs bestürzt. Für ihn war die Sache klar. Er kam gar nicht mehr auf die Idee, dass wir mit der Fähre fahren würden.
Wir hatten auf der langen Fahrt hierhin über vieles gesprochen. Vage sogar über einen eventuell geplanten Besuch bei Bartosz und Jule in ihrem Exil, den wir noch einlegen könnten. Nur nicht darüber, wie wir letztendlich ans Ziel kommen würden. Für ihn war das nämlich längst beschlossene Sache, und ich hatte das Thema irgendwie vermieden.
Auch Elin hatte ich nichts gesagt von Papas Angebot. Sie wusste nur von unseren zwei Karten … und war natürlich schwer neidisch, dass ausgerechnet sie nun nicht mitkommen konnte. Denn das Festival da oben war eigentlich seit Jahren ihr ganz ureigener Traum – sogar ihre Idee gewesen.
Sie hatte einige der weiblichen Stars, die dort auftraten, in ihrer Sammlung. Maxida Märak, Ingrid Olava … kannte kein Mensch sonst, auch wir nicht. Indierock, wahrscheinlich.
Papa schob seinen Becher zurück und rappelte sich auf der Sofakoje hoch, bis er die Rückenlehne spürte.
„Wir machen jetzt mal so was wie eine kleine Törnberatung. Tips, mit denen ihr sicher was anfangen könnt. Das dauert keine Stunde. Danach fahren wir noch zurück, und du –“
er suchte meinen Blick auf diese bestimmte, halbwegs zwingende Art, die er sich immer für besondere Gelegenheiten aufspart,
„… kannst dann ja selbst entscheiden, was ihr machen wollt. Von mir aus habt ihr grünes Licht, wenn ihr gleich auslauft – spätestens morgen vormittag. Wäre die Wetterlage anders, würde ich euch abraten. Beziehungsweise das Boot hier lassen und später selbst holen.“
Jetzt bekam Mama diesen bedeutungsvollen Blick: „Und das weißt du auch, Anneke.“
Glücklich sah sie nicht aus, aber sie sagte nichts mehr. Wir wussten es alle … es war eine gültige Vereinbarung zwischen ihnen seit langer Zeit, dass sie ihm in seemännischen Entscheidungen nicht dazwischenfunkte.
Und immerhin hatte ich jetzt definitiv das letzte Wort über die endgültige Auswahl des Transportmittels. Ein bisschen kam ich mir allerdings vor wie ein Hummer in diesen teuflischen Reusen – es ging leicht immer weiter rein bis zum Köder, aber ein Zurück gab es nicht mehr.
***
Kurz darauf saßen wir neben ihm – Lasse rechts, ich links. Mama hatte alles an Karten, Handbüchern und Bedienungsanleitungen rausgekramt, was er haben wollte, stand jetzt mit verschränkten Armen am Niedergang und blickte auf den vollgepackten Salontisch.
Papa war natürlich in seinem Element.
„Ihr würdet schönen Südostwind haben … der dreht dann langsam auf Süd. Aus dem Hoch über Schweden, das sich kaum vom Fleck rührt. Und mein Rat ist, damit nach Westen zu segeln, bis ihr Kap Lindesnes gerundet habt. Alles an Steuerbord liegenlassen … nirgendwo reingehen, weder nach Mandal noch Farsund oder Lista. Das ist erstmal fast halber Wind, Seegang ist draußen nicht höher als ein Meter … und der Strom läuft anfangs mit unter der Küste und nimmt dann in der norwegischen Rinne ab. Gut für durchgehend sechs Knoten, oder mehr. Dann könnt ihr am nächsten Tag langsam anfangen abzufallen – hier so, zwischen Flekkefjord und Egersund. Habt dann eine leichte Backstagenbrise, nicht über vier Beaufort melden sie in den Aussichten. Vielleicht müsst ihr sogar mal mitschieben – Maschine anwerfen, wenn’s zu flau wird. Nicht ’rumbummeln da in der Gegend, wenn’s unter vier Knoten geht … Tank ist voll. Die Dunkelheit ist kurz, nur ein paar Stunden zwischen eins und drei. Und wird mit jedem Tag kürzer, den ihr Nordbreite macht.“
Lasse knurpste leicht, unterdrückte einen Schluckauf und rieb sich die Hände. Bisschen zappelig vielleicht, aber auch konzentrierte Vorfreude. Dabei gespannte Aufmerksamkeit.
Ein reichlich mitgenommener, vollgekritzelter Übersegler mit einem Netz aus komischen roten, grünen und violetten Kurven – Nordsee, Nordteil – lag auf dem Salontisch. Ließ seine eingerissenen, gewellten Ränder auf beiden Seiten über den Rand hängen wie ’ne halbwegs antike Schatzkarte vom Captain Teach.
Fischgründe, eingekreiste Felsen mit Ausrufezeichen, am Rand mitnotierte Kurzauszüge aus Seewetterberichten von Norddeichradio aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts („Utsira: Südwest 8, zunehmend 9“), Wetterkartenskizzen und irgendwelche Standlinien drängten oder kreuzten sich dort. Stern-, Sonnen- und Planetensymbole, nichts ausradiert. Überall GPS-Positionen, Kreuzpeilungen auch – eingekreiste Standorte mit Uhrzeit daneben.
Papa fuhr mit dem Zirkel über das fleckige Papier und schob Lasses tablet dabei ein bisschen zur Seite. Hob es aber mit zwei Fingern noch mal hoch, wedelte damit herum und warf ihm einen zustimmenden Blick zu:
„Gutes Teil … im Hafen vor allem, wenn man Empfang hat. Oft gibt’s wohl jetzt auch kostenloses WLAN. Dazu kommen wir gleich, ich zeig euch den besten Wetterbericht. Mit dem UKW könnt ihr ja umgehen, da kommen auch Starkwind- oder Sturmwarnungen. Werden angekündigt auf 16, da erst mal von Rogaland Radio … und dann auf den Arbeitskanälen, damals jedenfalls. Die Namen der entsprechenden Seegebiete mit den Grenzen sind hier drin – Nautischer Funkdienst, Band sowieso …“
er hob flüchtig eine dicke Loseblattsammlung im blauen Aktendeckel an, die vor ihm lag,
„… Utsira, Viking und so weiter. Diese erste lange Etappe ist so’n bisschen der Härtetest für euch, danach könnt ihrs langsamer angehen lassen. Ihr müsst nachts Fährlinien kreuzen, bei guter Sicht wahrscheinlich … immer ausweichen! Anluven oder abfallen, wie ich dirs gezeigt habe, Jonas. Nie vorm Bug rüberkreuzen, immer hinterm Heck rumgehen. UKW auf 16, Scheinwerfer klar, um notfalls die Segel anzuleuchten – Posilampen an. Es sei denn, ihr seht deutlich, dass der andere ausweicht – Kurs ändert und euch gesehen hat … manche Dampfer oder Fähren machen das noch, wenn’s nicht zu eng ist. Vor Skagen hier ist ein Zwangsweg für die Berufsschifffahrt – Verkehrstrennungsgebiet. Den habt ihr bei Tag, wenn ihr morgen gleich auslauft. Das solltet ihr möglichst rechtwinklig kreuzen, bis ihr im nördlichen, westwärts führenden Teil seid. Und nicht vergessen, auch mal nach achtern zu kucken – ob da vielleicht ’ne <Emma Maersk> aufkommt … die sehen euch nicht. Merken höchstens im Hafen, dass da auf See was war – wenn sie euren Mast sehen, der vorn am Anker hängen geblieben ist …“
Er warf erst mir, dann Lasse prüfende Blicke zu.
„Klingt jetzt alles auf einmal ziemlich viel, aber draußen gibt sich das. Es wird kein Sturm oder Starkwind kommen die nächsten Tage – das hat man hier nicht so oft. Stabile Hochdrucklage, quasistationär. Wenn’s mal aufbrist unter der Küste – die Fock könnt ihr immer schnell verkleinern …“
Er ließ seinen Zeigefinger kreisen, als wolle er wer weiß was aufwickeln und sah uns eindringlich an:
„Man muss um die Südspitze Norwegens rum bei so ’ner schönen Brise, da gibt’s kein Vertun. Das ausnutzen, jedenfalls wenn man weiter hoch will. Ich schätze nicht, dass ihr viel mit Seekrankheit zu tun haben werdet … ihr seid ja alte Teerjacken …“
Er unterbrach sich, lächelte plötzlich und blickte aus dem Fenster, abschweifend zu einer Art halblautem Selbstgespräch, leicht melancholisch:
„Jonas war auch mal seekrank – mit fünf. Irgendwo zwischen Ystad und Klintholm … da wollte er nicht unter Deck – obwohl es saute und briste wie verrückt …“
Er schüttelte in der Erinnerung halbwegs gerührt den Kopf, und das machte ihn nicht gerade jünger. Ich fand es noch nie toll, wenn er so sprach, als sei ich nicht anwesend.
„Tja – was soll’s. Zwanzig Jahre her. Tempi passati … und Lasse ja sowieso nicht, was?“
Das hatte er also mitgekriegt, irgendwann. Man wusste nie so genau, wann er eigentlich zuhörte oder irgendwas aufschnappte, was ihm wichtig schien. Monate später kam es dann auf den Tisch.
Lasse nickte wegwerfend, aber nicht ohne einen beiläufigen Stolz. Mit nur einem leichten Haker brach es aus ihm heraus:
„Aber Radar – gibt’s nicht, oder …? Was machen wir bei – Nebel?“
Papa zwitscherte Luft zwischen den Zähnen.
„Tsts … gute Frage. Dazu kommen wir gleich. Im Skagerrak wird’s wohl erstmal keinen geben. Wasser zu warm … jetzt aber weiter …“
Seine Zirkelspitze wanderte um den skandinavischen Löwenkopf herum und wies auf eine sackartige Halbinsel, weit außen liegend:
„Karmöy. Erst hier Station machen, fast Nordwestkurs ist das schon. Gleich an der Südspitze liegt ein geschützter Hafen – Skudeneshavn. Gut zweihundert Seemeilen von Skagen entfernt. In vierzig Stunden seid ihr da, wahrscheinlich früher. Also schon im Hellen … einfache Ansteuerung, breite Einfahrt. Unbedingt die östliche Bucht nehmen – die andere direkt davor sieht von draußen gut aus, ist aber riffverseucht. Wenn ihr da erstmal seid, habt ihr die halbe Miete. Nicht entfernungsmäßig, aber von dort aus könnt ihr schon das Innenfahrwasser nehmen, wenn ihr wollt – und euch erholen. Wind bleibt achterlich erstmal. Nächste Station ist dann schon Bergen … aber nicht zu lange aufhalten da – mitten in der Stadt, mit den ganzen smukke piges, jetzt zur Mittsommerzeit …“
Mir schwirrte ein bisschen der Kopf. Auch als ich die Entfernungen sah, wenn er die zerfledderten Anschlusskarten ausbreitete.
Mit dem Finger auf der Landkarte, aber echt. Nur dass sein Seekartenzirkel der Finger war, der sich zwischen zerrissenen Inseln und Schären mit saueng aussehenden Sunden durchschlängelte, immer weiter nach Norden. Dazu die pausenlos folgenden Segelanweisungen, wo wir am besten liegen und übernachten könnten. Diese Namen, die Lasses Augen aufleuchten ließen, wenn er sie wie wild in sein tablet eintippte: Kristiansund, Molde, Sula, Vega, Florö, Alesund, Rörvik, Brönnöysund … er hat eine unheimliche Fähigkeit, sich kleinste Einzelheiten zu merken. Wenn er dann noch Stichworte mit aufschreibt, ist er wahrscheinlich ein wandelndes Seehandbuch.
Hoffte ich im Stillen.
Papa ließ die Zirkelspitze um eine Art rechteckige Halbinsel kreisen, vor deren Außenküste es aussah, als habe jemand Tintenkleckse auf die Seekarte gespritzt oder sich schwärzlicher Fliegendreck angesammelt:
„Hier müsst ihr bisschen aufpassen. Hustadvika … da müsst ihr raus, gibt kein Innenfahrwasser. Am besten abends bis zu diesem kleinen Fischerhafen da. Bud, hier – da gibt’s immer ein Plätzchen. Und dann schön ausgeruht bei Tageslicht da durch. Aber niemals bei auflandig Starkwind oder schlechter Sicht! Denkt an die Viking Sky … narrow escape! Da haben die tausend Passagiere in Schwimmwesten sicher drei Kreuze gemacht, als eine von den Hauptmaschinen wieder ansprang … aber ihr habt ja Segel.“
Ich glaubte schon, er wolle wieder abschweifen, als er unsere ratlosen Blicke sah – aber dann kam er hastig zurück. Vor allem, als er Mamas Gesicht bemerkte, die ihre Augen an die Decke hob:
„Unwichtig – das war im März vor … zig Jahren. Ich hab jedenfalls noch vor zwei Wochen in Strömstad oben bei diesem Ausrüster neue Software für den Plotter gekauft! Aktuelles upgrade … ist aufgespielt. Alles auf neuestem Stand und korrigiert. Und auch norwegische Papierseekarten sind an Bord, bis Trondheim jedenfalls. Seekarten werden übrigens in Norwegen in jeden Bücherladen oder Schreibwarengeschäft verkauft! Und als Reservegerät neben dem Dragonfly-Plotter habt ihr ja immer den Garmin. Numerierte Waypoints rein, direkt mit dem Zirkel aus der Karte nehmen – GO TO – fertig aus. Hast du ja schon oft gemacht, Jonas … Düne Süd, Helgoland Kardinal-Ost eingeben … notfalls trackplan anfertigen …“
Er legte den Zirkel hin und lehnte sich ein bisschen zurück.
„Jetzt zu eurem Nebel … der kann immer kommen, grade bei Hochdrucklagen.
Mach mal das Tablet auf, Jonas … und gib’ ein <Analysekarte DWD>, da kann man drei Tage vorausschauen … so, kuck mal zum Beispiel hier …“
Er nahm mir das tablet weg, suchte kurz, tippte und gab es mir wieder,
„… hier bei <H plus 24> , im Englischen Kanal – zwischen Brest und Scillyinseln, da ist was. Mal vergrößern … diese drei dicken waagerechten Balken übereinander: Nebel, pottendick wahrscheinlich. Jetzt mal ’rüberziehn … an der ganzen norwegischen Küste: nichts. Da ist dann diese Karte vom Deutschen Wetterdienst wieder gut, bei Nebelprognose … bisschen grob natürlich. Auch gut zu gebrauchen, wenn ihr später mal kucken wollt, ob sich da bei Irland nicht ein Sommersturm zusammenbraut, der nach Osten zieht. Da ist jetzt nichts, nur ’ne riesige Hochdruckbrücke … ansonsten rate ich euch, den dänischen Seewetterbericht zu benutzen. DMI – mach du mal auf, Lasse …“
Während Lasse suchte und tippte, fuhr er fort:
„Wenn’s richtig dicht ist, liegen bleiben. Wenn Nebel einen unterwegs überrascht, raus aus dem Hauptfahrwasser und notfalls in einer Bucht außerhalb ankern, bis es wieder handig wird … mit dem Plotter reintasten … ihr habt einen guten Radar-Reflektor am Achterstag. Den sieht man. Richtig ankern kennst du ja von Helgoland, Jonas … immer schön eingraben mit voll zurück …“
Er warf Mama, die mit halbwegs versteinerter Miene die Karte fixierte, einen beruhigenden Blick zu.
„Trondheim liegen lassen, liegt zu weit drinnen. Immer weiter, nie lange aufhalten, wenn ihr irgendwie südliche oder westliche Winde habt und Nordbreite machen könnt … notfalls motoren, mitschieben …“
Der Zirkel blieb stehen, er fixierte die Küste und rückte an seiner Lesebrille, um die winzigen Buchstaben entziffern zu können:
„Sandnessjoen, hier … und dann seid ihr schon bald in Stokkvagen! Könnt die Insel Lovund sehen. Ungeheures Panorama, atemberaubend … da geht die Sonne schon nicht mehr unter um diese Jahreszeit.“
Er brach ab und sein Blick schweifte wieder mit durchgetretener Kupplung aus dem Fenster. Als müsse er sich zusammenreißen und irgendeinen Anblick vor seinem geistigen Auge loswerden, der ihn fast daran hinderte, sachlich zu bleiben. Mama räusperte sich warnend – das ließ ihn rasch fortfahren, er fingerte nach dem tablet:
„Na ja – schöner Mist, wenn man hier so nutzlos rumhängt … jetzt bist du mal dran, Jonas. Alles keine Zauberei, solides Handwerk. Also, jetzt Wind und Seegang, bei DMI.DK. Der beste Seewetterbericht, sehr zuverlässig. Deckt euren gesamten Reiseweg ab. Immer vor Tagestörnbeginn im Hafen sorgfältig anschauen. Sprache wählen, deutsch geht auch … okay. So, Karte aufmachen … dieser dreifache Briefumschlag da oben in der Ecke, zum Auswählen, hier : Vind. Da haben wir die Windpfeile, jede Stunde neu. Mit dem dicken Pfeil hier unten in Gang setzen – geht fortlaufend, wie so’n Daumenkino für die nächsten zwei Tage … die Wochentage auf dänisch müsst ihr euch so’n bisschen merken – mandag, tirsdag, lördag und so weiter …“
Wir waren halb aufgestanden und schauten ihm zu beiden Seiten über die Schultern. Das Display spiegelte wie alle diese Dinger, wenn man nicht direkt von vorn draufblickt.
„Euer Seegebiet wählen, die Karte für mehr Einzelheiten mit den Fingern auseinanderziehen. Windstärke wird durch die Grundfarbe angegeben, Richtung durch die Pfeile … <Wind kommt aus, Strom setzt nach> – merken! Wenn’s von dunkelgrün auf hellblau geht, wird das Windstärke sechs – Beaufort. Hier alles natürlich in Metern pro Sekunde, daran müsst ihr euch eh gewöhnen. Das machen alle Skandinavier so. Ist hier nebenan in der Skala erklärt, die Abstufungen … bisschen ungewohnt. Ab <Beaufort acht> wird’s dunkelgelb – stürmischer Wind, zwanzig Meter pro Sekunde, so ungefähr. Dann kommt rot – neun und zehn Beaufort. Da liegt ihr längst im Hafen – ist jenseits von gut und böse für euch …“
Ihm schien etwas zu dämmern, als er einen Blick in Mamas Gesicht warf.
„Ganz selten im Hochsommer. Kuckt jetzt mal, hier: das ganze Skagerrak hellgrün, nachmittags mal dunkelgrün – auch morgen, mandag. Sechs bis acht Meter pro Sekunde, optimale Segelbrise – vier bis fünf Beaufort.“
Er legte den Zeigefinger an die Nase:
„Und noch ’ne Eselsbrücke – für kleine Fahrzeuge wie eures wichtig, wenn ihr Sprechfunk anhabt: liten kuling tolv heißt auf norwegisch <kleiner Starkwind zwölf>, ist hier dann blau. Zwölf Meter pro Sekunde Windgeschwindigkeit, das ist Windstärke sechs. Da solltet ihr gerefft haben. Beaufort sieben ist schon <stiv kuling femten>, dunkelblau – fünfzehn Meter pro Sekunde halt … dann kommt gelb, wie vor der roten Ampel …“
Mama am Niedergang holte tief Luft und sagte doch wieder was – ihre Stimme klang irgendwas zwischen fatalistisch und leicht resignierend:
„Du machst ihnen ja richtig Mut. Wie beim Schwerwettertraining … toller Schnellkurs, das ja … schöne Theorie, jedenfalls. Und das sollen die beiden jetzt alles so im Kopf behalten …? Das Wetter bleibt doch schön, hast du gerade gesagt …!“
Mein Vater ließ sich nicht beirren.
„Bleibt’s auch. Lass mal Anneke, ich hab den Eindruck, da kommt ganz gut was an. Learning by doing … besser mal den worst case erwähnen, sonst ist man ruckzuck über den point of no return.“
Er wischte wieder über das Display:
„Gibt noch mehr Infos hier, Jonas – einfach oben im Briefumschlag auswählen: Böen, Wellenhöhe, Strom … alles farbig und einfach zu lesen … hier hat der dänische Übersetzer im met office, der das verdeutschen soll, sich mal verhauen – Leistung soll <Strom> heißen …! Strömung ist gemeint. Da hat er wohl an Kilowatt gedacht …“
Ich warf einen unauffälligen Blick über seinen Kopf hinweg auf Lasse. Wir wussten, was wir in diesem Moment dachten, zur gleichen Zeit: schade eigentlich, dass wir ihn nicht dabeihaben werden.
Aber auch wieder gut.
Mama hatte dann noch eine Frage.
„Ja – und dann …? Wenn sie da wirklich hinkommen, halbwegs bis zu den Lofoten. Richtig schön weit weg von zu Haus, wie früher – und dann den ganzen Weg wieder zurück?“
Papa schob und rollte die Unterlagen auf dem Tisch zusammen und beiseite.
„Bis dahin bin ich längst wieder fit. Jedenfalls für die letzte Passage – von was weiß ich, Flekkefjord nach Helgoland … außerdem kennen sie dann ja den Weg. Wassertank müsst ihr noch auffüllen heute, sonst ist der Trimm nicht optimal. Reservegasflasche zum Kochen ist achtern in der Backskiste, seefest verstaut. Beide Bordakkus sind neu, ein Jahr alt. Vielleicht noch paar Alkaline-Batterien besorgen, für den Garmin … Automatic-Schwimmwesten mit lifeleinen im Ölzeugschapp. Seeventile und das alles kennst du ja – wir haben ja schon öfter Einweisung gemacht.“
Er schien fertig zu sein.
„Glaub nicht, dass ich was ganz Wichtiges vergessen hab … Proviant noch mal checken. Hafengeld ist bezahlt, bis morgen. Und wenn ihr noch Fragen habt … wir sind ja nicht aus der Welt. Gibt immer Telefonverbindung heute – SMS, oder WhatsApp … im Hafen jedenfalls.“
***
Sie wollten noch fahren, obwohl es schon gegen Nachmittag ging.
Strahlender Sonnenschein. Wir halfen ihnen beim Gepäck.
Mama war auffallend schweigsam. Machte auch keinen Versuch, aus uns heraus zu kriegen, was wir nun endgültig vorhatten, als wir zu dritt die Rucksäcke und Taschen im Kofferraum verstauten. Wie die Katze um den heißen Brei … da war halt der Elefant im Raum.
Ich glaube, sie wusste, was wir tun würden.
Wir waren noch nie Fans von endlosen Abschiedsszenen gewesen.
Zuschauer hatten wir allerdings ein paar, als der Wagen an der belebten Promenade hielt und Papa endlich mit seinem Krückstock vom Anlegeponton hoch gehumpelt kam. Ich hatte den Wagen noch mal ein ganzes Stück weiter rangefahren bis fast vor die Außenterrassen der Restaurants, wo dicht an dicht die Menschen saßen.
Er war wirklich schlecht zu Fuß, konnte auf keiner Seite richtig auftreten. Mama half beim Einsteigen, stellte ihm den Beifahrersitz ein, schmiss den Stock leicht genervt auf die Rücksitzbank und knallte die Tür zu.
Sie fährt nicht gern mit diesem Auto.
Und das war das letzte, was ich für lange Zeit von ihnen sah.
Mein Vater mühsam zusammengefaltet auf dem Beifahrersitz. Leicht gezwungenes Abschiedslächeln, jetzt hob er noch mal die Hand … meine Mutter am Steuer, nur einmal kurz winkend nach der Umarmung und den Kopf schnell wegdrehend. Ich wusste warum – damit man ihre zitternde Unterlippe nicht sah.
Dann machte sich der Wagen mit einem juckelnden Starthopser davon.