Eva Siebeck - Bertha von Suttner - E-Book

Eva Siebeck E-Book

Bertha von Suttner

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Beschreibung

Der Frauenroman der ersten weiblichen Preisträgerin des Friedensnobelpreises erzählt die Geschichte einer edlen jungen Frau, die ihren unwürdigen Gatten verlässt und die Gattin des Mannes wird, der als ihr Schwiegervater galt ...

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Eva Siebeck

Bertha von Suttner

Inhalt:

Bertha von Suttner – Biografie und Bibliografie

Eva Siebeck

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

Eva Siebeck, B. von Suttner

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849639181

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Bertha von Suttner – Biografie und Bibliografie

Schriftstellerin, geb. 9. Juni 1843 in Prag als Tochter des österreich. Feldmarschalleutnants Franz Grafen Kinsky, verheiratete sich 1876 mit dem Freiherrn Artur Gundaccar von S. (geb. 21. Febr. 1850 in Wien, auch Schriftsteller, gest. 10. Dez. 1902 auf Schloß Harmansdorf in Niederösterreich), verbrachte mit ihm nahezu zehn Jahre in Tiflis und lebt in Wien als Vizepräsidentin des Internationalen Friedensbureaus. Von ihren zahlreichen Erzählungen nennen wir: »Ein Manuskript« (Leipz. 1885), »High Life« (Münch. 1886), »Erzählte Lustspiele« (Dresd. 1889) und insbes.: »Die Waffen nieder. Eine Lebensgeschichte« (das. 1889, 2 Bde.; 38. Aufl. 1907; Volksausg. 1902). Mit diesem stellenweise sehr packend, im ganzen zu breit geschriebenen Roman suchte S. die von England und Amerika aus verbreitete Friedensidee auch in Deutschland und Österreich in Fluß zu bringen und begründete damit ihren literarischen Ruf. Sie trat an die Spitze des Wiener Vereins der Friedensfreunde und gab 1892–1899 (8 Bde.) in Dresden eine Monatsschrift »Die Waffen nieder!« (Organ des internationalen Friedensbureaus in Bern) zur Verbreitung seiner Tendenzen heraus. Erwähnenswert sind noch ihre Schriften »Das Maschinenalter« (3. Aufl., Zürich 1899), in der sie einen Staatsroman nach modern-materialistischer Anschauung entwirft, »Die Haager Friedenskonferenz«, Tagebuchblätter (Dresd. 1900, 2. Aufl. 1902), der Roman »Marthas Kinder« (eine Fortsetzung zu »Die Waffen nieder!«, das. 1903; Volksausg. 1906), »Der Krieg und seine Bekämpfung« (Berl. 1904), »Randglossen zur Zeitgeschichte« (Kattowitz 1906); »Stimmen und Gestalten« (Leipz. 1907). Ihre »Gesammelten Schriften« erscheinen in Dresden (1906 ff., 12 Bde.).

Eva Siebeck

I.

»Sie kommen schon – sie kommen schon,« rief die alte Gräfin und trat von dem Balkon, wo sie wartend ausgeschaut, in das Zimmer zurück.

Ralph legte eine Zeitung, in der er gelesen, aus der Hand:

»So wollen wir ihnen entgegengehen und sie am Fuße der Treppe empfangen. Hier ist mein Arm, Mutter«.

Eine Minute später standen die Beiden unter der Einfahrt, wo schon mehrere andere Hausgenossen – Familienglieder und Dienerschaft – der Ankommenden harrten. Noch eine Minute, und der Wagen, der die Erwarteten brachte, hielt vor dem Schloßthor an. Ein zweiter Wagen hinterdrein.

Leichtfüßig, ohne die Stütze der herbeigeeilten Diener zu benutzen, sprangen die Insassen des ersten Wagens – Heimkehrende von der Hochzeitsreise – über das Trittbrett herab. Aus dem zweiten, mit Koffern, Taschen und Schachteln beladenen Gefährt stiegen Kammerdiener und Kammerjungfer des jungen Paares aus.

Nun folgten die üblichen Begrüßungen, Umarmungen und Anordnungen: – »Willkommen! – Grüß Gott – Du siehst aber vortrefflich aus! – Das Gepäck hierher« – und dergleichen. – Der Gräfin-Mutter küßte die junge Frau die Hand, doch als sie des nebenstehenden Herrn ansichtig wurde, der ihr die Arme öffnete, blickte sie unschlüssig und fragend zu der alten Frau auf.

»Ah so,« lächelte diese, »Dich kennt sie ja nicht, Ralph ... Küsse ihn nur, mein Kind. Es ist Dein Schwiegervater.«

Graf Ralph von Siebeck, der Schloßherr, sah allerdings nicht so aus, wie man gewohnt ist, die Gattung »Schwiegervater« sich vorzustellen. Dreiundvierzig Jahre alt, aber bedeutend jünger erscheinend, von hoher, schlanker Gestalt, mit dichtem, schwarzem Kraushaar, ebensolchem, spitz gestutztem Vollbart, mit feurigen Augen und weißschimmernden Zähnen – machte er durchaus nicht den Eindruck einer Respektsperson. Auch er betrachtete die neu eingeführte Schwiegertochter mit überraschtem Wohlgefallen.

»Du bist hundertmal hübscher als Deine Photographie, kleines Weib. Mein Sohn hat Geschmack – das muß man ihm lassen. Wäre ich zu seinem Glück nicht gerade in Indien gewesen, als er um Dich geworben, so hätte ich mich wahrscheinlich selber in Dich verliebt.«

»Aber jetzt, Kinder,« sagte die Großmutter, »geht in Eure Zimmer, Euch auszuruhen und den Reisestaub abschütteln. In einer halben Stunde wird die Frühstücksglocke läuten ... Robert, führe Deine Frau – Du weißt ja: ich habe Deine ehemalige Wohnung für Euch herrichten lassen.«

»Also komm – daher – mir nach,« sagte der junge Gatte mit gedehntem, etwas näselndem Stimmlaut. Dann, ungeduldig: »Eva – so komm doch – laß mich nicht warten.«

Die für das junge Paar bestimmte Wohnung – dieselbe, welche Robert in seiner Knabenzeit mit seinem Hofmeister innegehabt – lag im Erdgeschoß, mit der Aussicht nach dem Park. Das erste Zimmer – früher die Studirstube – war zu einem Damensalon umgewandelt worden. Nebenan ein großes gemeinschaftliches Schlafzimmer und zuletzt ein für Robert bestimmtes Arbeitskabinet. Eine zweite Thür des Schlafzimmers führte nach einer Ankleidekammer.

Als die Angekommenen eintraten, war die Kammerjungfer schon beschäftigt, den Putztisch in Ordnung zu bringen. Jetzt nahm sie der Herrin Hut und Reisemantel ab.

»Befehlen Frau Gräfin etwas? Wollen Toilette wechseln?«

»Später – ich werde rufen.«

»So werde ich einstweilen den großen Koffer auspacken.«

Robert schaute sich in den Zimmern um:

»Da sind alle meine Sachen hinausgeworfen worden,« sagte er mit seiner eigenthümlichen, schleppenden Betonung. »Möchte wissen, was mit meiner Schmetterlingsammlung geschehen ist? ... Liegt mir übrigens nicht viel daran, an dem Plunder – Hab' jetzt andere Passionen ... Du, Eva, wie gefällt Dir denn der Papa?«

»O sehr gut, sehr gut –«

»Na warte nur, bis Du ihn kennen lernst... wirst schon sehen... ein sonderbarer Kauz... hat so seine Ideen – ich vertrag' mich zwar nicht zum Besten mit ihm ... Das wird hier überhaupt ein fades Leben werden – jetzt im Juni, wo die Schonzeit ist... Was soll man denn den ganzen Tag machen?«

»Ich dachte. Deine Landwirtschaftsstudien – –

»Bitt' Dich, hör mir auf – damit wird man sich doch nicht mehr als ein oder zwei Stunden täglich plagen sollen? .. Du – ich geh jetzt ein bissel nachschauen im Stall... Mach', daß Du fertig bist in einer halben Stund'... Man hätt' auch früher gabelfrühstücken können – ich hab' schon einen kannibalischen Hunger. Beeil Dich – wenn die Glocke läutet, werd' ich Dich abholen.«

Und er ging zur Thür hinaus.

Eva, die sich vorhin in einen an dem offenen Fenster stehenden Lehnstuhl geworfen, blieb regungslos. Ihre Augen waren auf den Park gerichtet, der von Sonnenschein übergossen in vollster Frühlingspracht prangte; Akazien- und Heuduft wehten von draußen herein und das Zimmer selber hatte den frischen ländlichen Geruch, welcher in lang unbewohnt gewesenen Schloßräumen zu herrschen pflegt. Ein schöner großer Pfau mit blauschimmerndem Halse und lang nachschleppendem Schwanze stolzirte auf dem Rasenplatz, und zwei junge Windhunde tummelten und balgten sich auf den Kieswegen. Mit zerstreutem Blick – ihre Gedanken waren wohl anderswo – nahm Eva dieses Bild in sich auf. Jetzt trat die Gestalt ihres Gatten – der Weg nach dem Stalle mußte hier vorbeiführen – in ihren Gesichtskreis, und ebenso zerstreut blickte sie auch diesem nach. Sein Gang hatte eigentlich denselben Charakter wie seine Sprechweise: nachlässig, schleppend, mit einem Anfluge von Derbheit. War das so kavaliermäßige » nonchalance« oder war es ein Erbstück bäuerlicher Ungeschlachtheit? Roberts Mutter war nämlich eine Dorfschöne gewesen. Graf Ralph, als er zwanzig Jahre zählte, hatte sich in die Tochter des Wirths verliebt und dieselbe, zum Entsetzen aller hochgeborenen Verwandten, zur Gräfin Siebeck gemacht. Die junge Frau war aber bei der Geburt des Sohnes gestorben. So viel hatte Eva von der Jugendgeschichte ihres Schwiegervaters erfahren. Der Umstand, daß Robert der Sproß einer solchen Mißheirath war, machte, daß er in der Wiener großen Welt nicht als ganz ebenbürtig aufgenommen wurde. Auch in seinen Gesichtszügen lag etwas – ein unbestimmtes Etwas –, das auf niedere Abkunft deutete; mit seinem Vater, der den Typus vornehmster Verfeinerung darstellte, besaß er nicht die geringste Aehnlichkeit.

Noch eine Zeit lang saß Eva bewegungslos da; dann, als wolle sie einen lästigen Gedanken verscheuchen, schüttelte sie heftig den Kopf und sprang auf:

»Alles so neu, so neu, so fremd, so unwirtlich ...« sagte sie halblaut. Die äußere Thür wurde ein Geringes geöffnet:

»Darf man?« fragte eine frische Mädchenstimme durch die Spalte. Doch ohne die verlangte Erlaubniß abzuwarten, trat jetzt die Fragerin herein.

»Ach, Du bist's, Irene? Hat schon die Frühstücksglocke ... und ich habe noch gar nicht Toilette gewechselt...«

»Ist nicht nöthig – Du bist ja wunderschön so. Ich bin nur gekommen, um Dich nochmals zu begrüßen – da, unter der Einfahrt warst Du zu sehr von den Andern in Anspruch genommen ... Daß ich Dich allein finden würde, wußte ich, denn ich habe Robert hinausgehen gesehen. Also, wie geht es Dir eigentlich, Schatz? Du siehst etwas angegriffen aus, scheint mir – nicht ganz so rosig wie vor Deiner Abreise. Macht Dich der Vetter glücklich? – Hast Du Dich in Italien gut befunden? Und wie gefällt es Dir hier in Großstetten?«

»Das sind viele Fragen auf einmal, liebe Iri, Du findest also, daß ich schlecht aussehe? Du hingegen bist bedeutend frischer und blühender geworden. Vor drei Monaten, als Du meine Brautjungfer warst, schienst Du mir viel blasser.«

»Ja, das war der eben durchgemachte Winterfeldzug. Glaubst Du, es sei eine Kleinigkeit, neunzehn Bälle durchgetanzt, vier Körbe ausgetheilt und für ein halb Dutzend verschiedener Kotillon-Tänzer unglücklich geschwärmt zu haben? Hier in der ländlichen Stille werden die Wangen wieder roth und das Herz – wieder ganz. Unter Anderm: was sagst Du zu Onkel Ralph? Den hast Du ja früher noch gar nicht gekannt.«

»Ich kenne ihn noch immer nicht – die eine flüchtige Minute –«

»Ein Prachtmensch, sag' ich Dir. Ich schwärme für ihn –«

»Du scheinst zum Schwärmen recht beanlagt: zuerst die sechs Kotillontänzer und jetzt der eigene Onkel – –«

»Uh, das ist eine andere Gattung. Es giebt da große Abstufungen ... auch die Tänzer waren in meinem Herzen meilenweit von einander entfernt; den Einen zum Beispiel habe ich nur fünf Minuten lang geliebt, während eines gewissen Nach-Souper-Galopps; und einen Andern auf – ewig. Sag' mir aufrichtig, Eva, ist das Verheirathetsein nicht sehr – ich weiß nicht, wie ich sagen soll – nicht sehr... Ah, die Glocke... und da ist auch schon Robert, Für den, verzeih mir, hab ich nie geschwärmt. Hörst Du, Robert,« fügte sie hinzu, als dieser in der Thür erschien, »ich sage gerade Deiner Frau, daß Du mir immer ein schlechter Cousin gewesen bist. Erinnerst Du Dich, wie Du mich einmal – es sind nun zehn Jahre her – tüchtig durchgehauen?«

»So? Nein – das habe ich vergessen. Es ist schon geläutet worden – und Du bist nicht bereit, Eva? Hab ich Dir nicht gesagt, daß Du Dich rechtzeitig fertig machen sollst? Immer diese Bandlerei – – Ich gehe voraus – die Iri kann Dich hinaufführen.« Damit schloß er die Thür wieder hinter sich zu.

Irene schüttelte langsam den Kopf.

»So habe ich mir die Gattung Turteltäuberich bisher nicht vorgestellt.« sagte sie. »Kommst Du, Eva?«

Eva war in das Nebenzimmer an den Toilettentisch getreten. »Gleich, gleich – nur noch diese Haarnadel...«

Das Bild, das ihr der Spiegel zurückwarf, das war – die junge Frau mußte es sich selber sagen – ein tadellos schönes. Reiches, goldblondes Haar – an welchem die blendend weißen Händchen eben nestelten –; zarte Gesichtsfarbe, große, von dichten aufgebogenen Wimpern umschattete Augen, kirschrothe Lippen, eine schlanke und doch in harmonischer Fülle gerundete Gestalt! – »Ja. Hübschsein ist schon angenehm,« flog es durch ihren Sinn – »aber ich habe mir den Eindruck, den dies auf den eigenen Gatten hervorbringen sollte, auch anders vorgestellt... Je nun – so ist das Leben... Ich bin fertig, Iri.«

Arm in Arm gingen die Beiden durch die Einfahrtshalle und dann die breite Haupttreppe hinauf. Eva blickte mit neugierigem Interesse um sich. Dieses Schloß sollte ja vorläufig ihr Heim sein und einst, in später Zukunft, ihr Eigenthum und noch später Eigenthum ihres Sohnes – wenn ihr der Himmel einen solchen schenkte. »So neu – Alles so neu,« mußte sie wieder denken, – die ganze Umgebung, ihr ganzes Schicksal.

»Du fragtest mich vorhin,« unterbrach sie ihr Sinnen laut, indem sie auf einem Treppenabsatz stehen blieb. »Du fragtest mich, ob das Verheirathetsein nicht sehr sonderbar ist? Ja, das ist es ... Wenn ich denke: vor sechs Monaten wußte ich noch gar nicht, daß es ein Großstetten giebt, und heute bin ich hier – zu Hause. Du mußt mir Nachmittags das ganze Schloß zeigen und den Park – der scheint wunderschön zu sein – von diesem Stiegenfenster aus sieht man ja einen Teich – und im Hintergrund die bewaldeten Berge... es ist herrlich!«

»O ja – es ist recht hübsch hier. Aber daran gewöhnt man sich. Mir kommt es etwas langweilig vor . . Ich gäb' was drum, wenn mich die Großmama nach Karlsbad oder Ostende oder Dieppe führen wollte – aber da hat es keine Gefahr.«

Ein eben vorbeigehender Diener öffnete den jungen Damen eine Thür, und nachdem sie einen großen und einen kleinern Empfangssaal durchschritten, traten sie in das Speisezimmer, wo schon mehrere Personen um die gedeckte Tafel saßen. Der Raum war etwas dunkel, da vor den Fenstern die Rollvorhänge herabgelassen waren, um die Strahlen der heißen Mittagssonne auszuschließen. Bei ihrem Eintritt konnte Eva, welche aus der Helle kam, die anwesenden Personen nicht deutlich wahrnehmen, nur das Silber- und Krystallgefunkel auf dem Tisch fiel ihr in die Augen.

»Hierher, Eva, hierher!«

Es war Graf Ralph, welcher ihr entgegenkam und sie an der Hand zum oberen Ende des Tisches führte, wo seine Mutter bereits Platz genommen. Er rückte ihr den Sessel zurecht: »Hier neben die Mama – und ich setze mich an Deine andere Seite.«

Robert saß am untern Ende des Tisches zwischen zwei Jünglingen von vierzehn bis siebzehn Jahren. Außerdem waren noch anwesend: ein junger Mann mit einem blassen bartlosen Gesicht – der Hofmeister –, ein älterer, jovial aussehender, rundlicher Herr und eine sehr magere, grauhaarige Dame.

»Hast Du Dich schon ein wenig im Hause umgesehen?« fragte die alte Gräfin freundlich, und ohne die Antwort abzuwarten: »Nimmst Du Thee?« Seitwärts von ihr stand ein Tischchen mit Samowar und Schalen.

»Wenn ich bitten darf, Großmama ...«

Eva schaute zu der alten Dame auf. Sie kannte sie wohl schon von früher: zwei oder drei offizielle Besuche waren vor der Hochzeit abgestattet worden, und auch der Trauung hatte die Gräfin beigewohnt. Aber jetzt erst war in Eva der Gedanke aufgestiegen: – »Ach könnte ich in Dir eine Mutter finden!« Wie freundlich diese blauen Augen leuchteten – wie ehrwürdig und hübsch zugleich diese hochgesteckten Silberhaare unter der schwarzen Spitzenhaube, wie vertrauenerweckend das ganze, zwar welke, aber so vornehm zarte Gesicht...

Dann wandte sie ihren Blick auf ihren andern Nachbar, der ihr eben eine Schüssel hinhielt. »Und dieser – wird er mir wohl ein Vater sein?« Aber zu diesem Gedanken mußte sie selber lächeln, und unwillkürlich machte sie eine verneinende Kopfbewegung.

»Du willst nicht?« Und er wollte die Schüssel wieder fortstellen.

»Doch, doch, ich bitte –«

»Warum hast Du denn so abweisend den hübschen Kopf geschüttelt?«

»Das war eine Antwort auf eine mir selber vorgelegte Frage.«

»Wie wäre es, wenn Du jetzt lieber frühstücktest, statt Selbstgespräche zu führen? Das wird stärkender sein.«

»Eva ist ganz entzückt von Großstetten,« nahm jetzt Irene das Wort, »obwohl sie davon noch nichts gesehen hat als das vom Stiegenfenster eingerahmte Stückchen. Der Teich hat ihr gewaltigen Eindruck gemacht – so gewaltig, daß sie mir feierlich erklärte: Verheirathet sein, sei etwas Sonderbares.«

»Iri, mein Kind, mußt Du denn immer Unsinn schwatzen?« rügte die Großmutter. »Es wird mich sehr freuen,« wandte sie sich an Eva –, »wenn es Dir hier gefällt. Ich habe den Ort, in dem ich fünfundvierzig Jahre verlebt, so lieb, daß ich gar nicht begreifen kann, wie man anderswo sein wollte – und ich nehme es meinem Herrn Sohn da sehr übel, daß er oft so weite Reisen macht und mitunter zwei bis drei Jahre abwesend bleibt.«

»O, ich begreife die Leidenschaft des Reisens,« entgegnete Eva. »Schon als Kind war es mein Traum, fremde Länder und Städte kennen zu lernen.« Und zu Ralph: »Waren Sie auch schon in Amerika?«

»Sie?« wiederholte er vorwurfsvoll. »Du wirst doch zu Deinem Schwiegervater nicht Sie sagen? Ja, ich bin schon – mit Ausnahme von Australien – in allen Welttheilen gewesen. Vielleicht geht meine nächste Reise nach Melbourne.«

»Warum nicht gar!« rief die alte Gräfin. »Dagegen protestire ich. Jetzt zähle ich sechsundsechzig Jahre, da kannst Du schon noch da bleiben, so lang ich lebe. Sag' Du, dort unten, Robert: Du wirst doch hoffentlich seßhafter sein als Dein Vater und hast von ihm die Wanderlust nicht geerbt.«

»Von mir hat er gar nichts geerbt,« murmelte Ralph.

Robert antwortete: »Ich finde das Herumzigeunern sehr unbequem und eigentlich fad.«

»So? Das sagst Du, nachdem Du von der Hochzeitsreise kommst? Das ist nicht liebenswürdig, Herr Vetter,« bemerkte Irene. »O, es war ja ganz hübsch – aber zu Haus ist's doch am besten ... die fremden Leute, die fremde Sprache ... das Alles ist so mühselig – und die fremde Kost kann mir schon gar nicht schmecken. Das schönste Leben ist in Wien –«

»Und in Großstetten?« meinte die Großmutter.

»Zur Jagdzeit allenfalls – jetzt, um diese Jahreszeit, ist es auch etwas öd hier.«

Ein schmerzlicher Ausdruck glitt über Evas Züge. Doch da sie fühlte, daß ihres Schwiegervaters Blick betrachtend auf sie gerichtet war, verscheuchte sie ihren Unmuth und wandte den Kopf zu Ralph, in der Absicht, eine gleichgiltige, ablenkende Bemerkung zu machen. Aber der verständnißinnige, sympathieerfüllte Ausdruck, den sie in seinem Gesicht sah, machte sie verstummen. Es war wie eine mitleidsvolle Frage, die da geschrieben stand, und sie konnte nicht anders, als auch ihrerseits durch stummes Mienenspiel gleichsam sagen: Ja, so ist es.

Nachdem die Tafel aufgehoben, begab man sich in den anstoßenden Salon und jetzt erst erhielt Eva Auskunft über die ihr noch unbekannten Tischgenossen. Der junge Mann mit dem bartlosen Gesichte war der Hofmeister der beiden jungen Leute – Irenens Brüder. Er und seine Schüler hatten sich vom Speisezimmer aus entfernt. Die ältliche Dame, welche jetzt in einer entfernten Ecke des Salons über einem Stickrahmen arbeitete, war eine im Hause aufgenommene arme Verwandte, Namens Fräulein Ottilie von Otterfeld. Den rundlichen Herrn stellte Graf Siebeck nunmehr selber vor:

»Doktor Hartung, liebe Eva, mein einstiger Mentor und mein treuer Freund. Allsommerlich macht mir Doktor Hartung die Freude, mich auf ein paar Monate zu besuchen und an meiner Erziehung nachzubessern. Ich glaube, er sieht immer noch einen schlimmen Buben in mir –«

»O, nach und nach wird sich vielleicht doch etwas aus Ihnen machen lassen, Graf Ralph,« scherzte der alte Herr. »Wenn man nur die richtige pädagogische Art und Ausdauer hat – –«

Irene trat hinzu.

»Soll ich Dich jetzt in Schloß und Garten herumführen, Eva?«

»Das hat Zeit, Kind.« sagte Siebeck. »Laß mir meine kleine Schwiegertochter noch ein Weilchen hier: ich möchte sie etwas näher kennen lernen. Setze Dich her, Eva – und laß uns plaudern.«

»So kommen Sie mit mir zum Klavier, Doktor Hartung, und benutzen wir die Viertelstunde, in welcher Onkel Ralph seine neue Tochter gründlich kennen lernt zu einer gründlichen Durchsicht der gestern angekommenen Noten.«

»Du, Eva,« rief Robert von der Ausgangsthüre her, »ich geh' jetzt fort, – werd' ein bissel im Meierhof nachsehen ... und zum Jäger. Adieu allerseits.«

Eva hatte sich auf den ihr angewiesenen Sitz niedergelassen. Es war ein niederer Lehnstuhl inmitten einer der zahlreichen kleineren Möbelgruppen, die in regelloser Anordnung den Saal füllten: Dort ein Sopha, da eine Chaiselongue, hier ein mit Fauteuils umstellter großer Tisch; dazwischen Schirme, Lesepulte, Etagèren, kleinen Tischchen, Porzellankübel mit hohen Blattpflanzen und dergleichen mehr. Der Saal war länger als breit. In der Mitte führte eine Glasthür auf den Balkon. Zu beiden Seiten noch je zwei Fenster und spiegelbehängene Pfeiler. An den Schmalseiten der Wände, rechts und links von den in die Nebenzimmer führenden Thüren waren, statt der Tapeten vier hohe, bis an die Decke reichende Oelgemälde eingelassen, welche verschiedene, in Parkanlagen sitzende oder wandelnde überlebensgroße Figuren in Rococokostüm darstellten. An der hinteren, den Fenstern gegenüberliegenden Wand funkelte es von Konsolen, Wandleuchtern und venetianischen Spiegelrahmen. Auch die sehr hohe Decke, von der ein riesiger Kronleuchter herabhing, war mit künstlerischen Malereien geziert. Eva ließ mit Wohlgefallen, aber dennoch etwas zerstreut, ihren Blick über alle diese Dinge schweifen. Den Haupteindruck des umgebenden vornehmen Reichthums nahm sie mit Befriedigung wahr, aber die Einzelheiten beobachtete sie nicht – dazu waren ihren Gedanken zu sehr mit den neuen Familien- und Hausgenossen beschäftigt und von der Frage eingenommen: Wie wird sich mein Leben hier gestalten?

Da, wo sie saß, stand ihr zur Seite ein runder Tisch, auf welchen sie den Arm lehnte. Schräg gegenüber hatte sich Graf Ralph einen Sessel zurechtgeschoben.

Er rückte eine auf der Mitte des Tischteppichs stehende Blattpflanze etwas bei Seite:

»Dies verstellt mir die Aussicht auf Dich,« sagte er. »Und da ich Dich nun kennen lernen will, muß ich vor Allem Dein Gesichtchen studiren. Weißt Du, daß Du große Aehnlichkeit mit einer Frau besitzest, die mir vor Jahren sehr theuer gewesen –«

»Mit Roberts Mutter?«

»Nein, nein. Die ich meine, war eine Künstlerin – eine große Künstlerin. Sag', hast Du nicht vielleicht auch irgend ein Talent – übst Du keinerlei Kunst?«

Eva verneinte. »Das bischen Klavierspielen, das bischen Wasserfarbenmalen,« fügte sie hinzu, »verdient doch nicht so genannt zu werden.«

»Und hast Du Dich nie darnach gesehnt, irgend etwas Großes zu leisten, etwas Bedeutendes zu erreichen? Hochsteigender Ehrgeiz ist ja eine Kinderkrankheit, welcher wir Alle mehr oder minder ausgesetzt waren.«

»Wenn Du es so auffassest – dann habe ich allerdings auch einen solchen Anfall gehabt. Ich träumte – als ich zwölf bis vierzehn Jahre alt war – einst die größte Tragödin der Welt zu werden. Ich hatte mich an Schiller und Grillparzer begeistert. Mit welch' heldenhaftem Feuer wollte ich die Jungfrau von Orleans darstellen, mit welch' rührender Würde als Maria Stuart zum Schaffot gehen, mit welch' bezaubernder Koketterie als Eboli den Prinzen Carlos entzücken, wie tragisch als Sappho sterben, als Medea morden. Natürlich sind diese kindischen Ideen von meinen Eltern und von meiner eigenen erwachenden Vernunft rechtzeitig erstickt worden.«

»Wer weiß, ob das so vernünftig war! Vielleicht hattest Du wirklich Talent – obgleich der ehrgeizige Wunsch noch durchaus keine Bürgschaft dafür abgiebt.

Das ist nur so die Blüthekraft der Seele. Zum Licht, zum Glück, zum Glanz öffnen sich die knospenden Gefühle; – man will leben, lieben, siegen; man ist gedrängt, das Reichthumserbe der Nachwelt zu mehren – durch künstlerische Leistungen, durch unsterbliche Werke oder doch durch schöne und kräftige Nachkommen – und dabei glaubt das blühende Menschenkind, daß es blos seinem eigenen Ehrgeiz, seiner eigenen Liebessehnsucht fröhnte, während es doch nur im Dienste des allgemeinen Lebensentfaltungs- und Weltbereicherungsgesetzes wirkt ... Du verstehst mich nicht – – verzeih, ich habe meine Gedanken nicht deutlich ausgedrückt. Was ich da sagte, war das Endglied einer langen Urtheilskette, die ich mir durch vieljährige Studien zurechtgeschmiedet habe – das läßt sich unmöglich mit ein paar Worten einem unvorbereiteten Geiste verdeutlichen.« –

»Und doch – mir ist, als hätte ich Dich einigermaßen verstanden,« entgegnete Eva. »Zwar nicht so. daß ich es wiedergeben könnte – es fuhr mir nur so wie ein Blitz durch den Geist – ein Blitz, der ein Stückchen ungekannten Horizonts erhellt hat ... mir scheint, jetzt bin ich undeutlich.«

»Nicht doch: ich weiß recht gut, was Du sagen willst. Ich glaube, wir werden uns sehr gut verstehen, Klein-Eva. Verzeih – Du bist groß von Gestalt – aber ich habe das Bedürfnis, die Namen von Personen, die ich lieblich finde, zu verkleinern. »Eva« klingt gar so steif, und zwar so – wie soll ich sagen – menschengeschlecht-mütterlich, und Du hast so gar nichts von einer Stammmutter an Dir, Evelette – Evinka ... siehst so frisch, so kindlich aus –«

»Ich bin doch schon bald vierundzwanzig – ein Jahr älter als mein Mann.«

»Ich weiß. Aber die Jahre thun es nicht –«

»Das sieht man an Dir, Pa – Nein, es geht nicht. Auch mir macht die Ansprache Schwierigkeiten. Wie Du mir nicht den Namen unserer ersten Mutter geben willst, so bin ich noch viel weniger im Stande, Papa oder Vater zu Dir zu sagen. Es will mir nicht über die Lippen.«

»So nenne mich bei meinem Taufnamen »Ralph«.

»Das ginge auch nicht an. Es wäre gegen allen gebührenden Respekt.«

»Wenn Dir um den Respekt zu thun ist, so rufe mich bei meinem Spitznamen, Der wurde mir – ich weiß gar nicht, aus welchem Anlaß, schon als Kind gegeben, und alle meine Schulkameraden, später viele meiner Freunde riefen mich so: – König.«

»Ja, das gefällt mir. Das paßt Dir – so werde ich Dich ansprechen können – mein freundlicher, mein gnädiger König!«

Noch ehe die zum Kennenlernen anberaumte Viertelstunde verflossen war, wurde Ralph abgerufen. Ein Diener meldete, der Herr Verwalter sei gekommen, einen Forstamtsbewerber vorzustellen und die Herren warteten in Seiner gräflichen Gnaden Arbeitszimmer.

Ralph stand auf: »Du verzeihst, Evinka. Ich muß jetzt an mein Tagesgeschäft gehen. Bei Tische – wir speisen um sechs – können wir unsere Unterhaltung fortsetzen. Du wirst jetzt wohl Irenens Führerschaft annehmen, um Dich ein wenig in Haus und Garten umzusehen? Iri,« rief er zum Klavier hinüber, »genug der Wühlerei in den Noten, Du wirst gebraucht. Und Sie, Hartung, kommen Sie mit mir – Sie sind ein Menschenkenner – helfen Sie mir, Herz und Nieren eines Forstadjunkten zu prüfen.«

Darauf hin, nachdem die beiden Herren sich entfernt hatten, schob Irene Evas Arm unter den ihren:

»Also komm,« sagte sie, »jetzt will ich Dich mit Deinem neuen – meinem alten – Heim bekannt machen.«

»Vor Allem, ehe wir weiter gehen, sei mein Cicerone in diesem Saal. Sind die Bilder dort Familienportraits? Ich bemerke nämlich, daß jener Herr in der goldgestickten rosa Atlasweste große Aehnlichkeit mit Kö–, mit meinem Schwie–, mit Deinem Onkel hat.«

»Ja, es sind Portraits, und der Edelmann mit der Rosaweste ist Onkel Ralphs Urgroßvater. Diese Bilder haben das Schöne, nicht wahr? daß sie so künstlerisch aussehen – ganz wie komponirte Gemälde. Siehst Du, diese drei Frauen und zwei Herren, die auf den Terrassenstufen gruppirt sind, sehen nicht aus, als ob sie einen Portraitmaler Modell gesessen hätten, sondern vielmehr, als ob sie einander Dekameron – (nicht, daß ich sie gelesen hätte!) Geschichten erzählten. Jener dort – der unter einem Baum an einem Tische sitzt und mit dem ehrfurchtsvoll dreinschauenden nebenstehenden Herrn spricht, giebt Diesem – dem Baumeister – Befehle, wie der auf dem Tisch aufliegende, von Jenem wahrscheinlich soeben überreichte Plan von Schloß Großstetten ausgeführt werden soll. Das hübscheste Bild ist aber diese Frauengruppe da, nicht wahr! Bemerkst Du, wie scheinbar zufällig die blaue Brokatschleppe der Einen zur Seite geschlagen ist und dabei das allerliebste Füßchen in dem hohen Hackenschuh zum Vorschein kommt? Um diesen Fuß bin ich der Urgroßmama immer neidig. Sieh nur, wie schmal und gewölbt – und der Knöchel ließe sich mit zwei Fingern umspannen ... Und das ist jetzt alles vermodert!«

»Ja, diese Idee befällt mich auch stets beim Anblick von Ahnenbildern. Befindet sich kein Portrait von Roberts Mutter im Hause?

»Nein. Auch in Onkel Ralphs Zimmer nicht. Ich rathe Dir übrigens, lieber nicht von ihr zu reden – es wird ihrer hier niemals erwähnt. Komm, jetzt wollen wir weiter gehen.«

Nunmehr ward Eva durch das ganze Haus geleitet. Stiegen auf und Stiegen ab; in sämmtliche Empfangs-, Wohn- und Nebenräume – mit Ausnahme des vom Grafen Ralph bewohnten Flügels – in Billardsaal, Bibliothek, Gastzimmer, Kapelle, Küche, Vorrathsräume, Dienerwohnungen, Badekabinet, Garderobe- und Wäschekammer, alles elegant und wohlhabend, jedoch ohne Luxus eingerichtet. Großstetten war ein schöner, großer, vornehmer Wohnsitz, aber eine Stätte künstlerischer oder fürstlicher Pracht war es nicht.

Auf die Besichtigung des Schlosses folgte ein Rundgang durch die unweit liegenden Wirtschaftsgebäude, durch Kuh- und Pferdeställe, Milch- und Sattelkammern, Maschinen- und Wagenremisen, durch Park und Küchengarten, durch glasgedeckte Warm- und Kalthäuser und es war schon gegen vier Uhr Nachmittags, als Eva von ihrer Führerin frei gegeben ward.

»So, hier sind wir vor Deiner Wohnungsthür – ich lasse Dich jetzt allein: Du wirst müde sein, ich bin es gleichfalls. Ah, da kommt gerade auch Dein Mann nach Haus – so mache ich mich desto rascher aus dem Staube. Junge Eheleute soll man so wenig als möglich stören, habe ich mir sagen lassen. Adieu.«

Robert und Eva traten gleichzeitig in ihre Wohnung. Der junge Mann warf sich auf einen Stuhl und streckte die Glieder:

»Uff! Ist das eine Hitz'! Ich war auf den Feldern draußen und da brannte mir die Sonne ins Genick ... Das ist ein hartes Handwerk, wie es scheint, die Oekonomie – auch nicht viel besser wie die Kasernenschinderei.

Er gähnte geräuschvoll. Dann stand er auf und näherte sich der Thür des Nebenzimmers.

»Robert – willst Du nicht ein wenig hier bleiben? Ich möchte Dir gern erzählen, wie es mir in Großstetten gefällt. – Irene hat mich überall herumgeführt.«

»Wie soll Dir's gefallen? Es ist so wie hundert andere Schlösser auch. Bis Du erst Dornegg gesehen haben wirst, das unsern nächsten Nachbarn – den Dürrenbergs – gehört, das ist etwas anderes.«

»Ich finde es sehr schön hier – und, Robert, es soll ja unser Heim sein ... Der Gedanke hat etwas eigenthümlich Ergreifendes Nicht?«

»Geh, sei nicht sentimental.«

»Du hast mir eigentlich noch kein herzliches Wort gesagt, seitdem wir in Großstetten eingefahren. Ein »Willkommen zu Hause!« hättest Du mir doch bieten können.«

»Erstens sind wir gar nicht zu Hause da. Der Herr bin nicht ich – sondern der Vater; Schloßfrau bist nicht Du – sondern die Großmutter. Wir sind eigentlich Gäste hier – und das nicht einmal: ich soll da als Wirthschafts-Praktikant fungiren – hübsche Unterhaltung!«

»Wie Du Alles von der schlimmen Seite auffassest! Auch auf unserer Reise, wo ich über so Vieles entzückt war, hast Du so viel auszustellen gefunden,«

»Das glaube ich. Mich bringt man auch nicht so bald wieder dazu, den Strapazen, Unbequemlichkeiten und Langweiligkeiten einer solchen Wanderschaft mich auszusetzen. Kein Wort von der Sprache verstehen – die elenden italienischen Waggons, die faden Orangen- und Zitronenbäume – die ekelhaften tables-d'hôtes. Gut, daß wenigstens das überstanden ist. – Ich geh jetzt meine Sachen auspacken.«

Eva hielt ihn nicht mehr zurück.

»Ja,« sagte sie sich mit einem bitteren Seufzer, »die Hochzeitsreise ist »überstanden« – aber das ganze lange Eheleben liegt vor uns: wie wird das zu überstehen sein?«

II.

Eva Siebeck hatte keine Familie: Geschwister hatte sie nie besessen, und die Eltern waren seit mehreren Jahren gestorben. Sie war – obgleich als Sproß eines angesehenen freiherrlichen Hauses geboren – in beschränkten Verhältnissen aufgewachsen. Ihr Vater, ein vermögensloser Offizier, hatte eine gleichfalls vermögenslose Cousine geheirathet. Als Eva ungefähr zehn Jahre alt war, stürzte der damals Majorsrang bekleidende Baron Holten mit dem Pferde, wobei er sich den Fuß brach, und wurde – mit Obersten-Charakter – in den Ruhestand versetzt. Seine Pension und eine von reichen entfernten Verwandten gewährte Apanage gaben nunmehr die ganzen Hilfsquellen ab, mit welchen die Gatten ihr Leben und die Erziehung ihres Töchterchens bestreiten mußten. Um dies auf halbwegs standesmäßige Weise zu ermöglichen, ließen sich Baron und Baronin Holten in einer kleinen Kreisstadt nieder. Hier waren die Lebensmittel billig und die allgemein herrschenden Lebensgewohnheiten sehr einfach.

Dennoch wurde Eva nicht nur nicht einfach, sondern geradezu glänzend erzogen. Freilich kostete das nicht viel, denn Gouvernante und Meister gaben die Eltern selber ab. Baronin Holten besaß umfassende Sprach- und Musikkenntnisse, konnte auch recht hübsch malen, welche Talente sie auf die kleine Eva übertrug; und der Baron – der seit jeher ein Freund geistiger Anregung gewesen und nunmehr, seit der Unterbrechung seiner militärischen Laufbahn, sich ganz und gar verschiedenen Studien widmete und seine größte Zerstreuung in der Lektüre wissenschaftlicher und dichterischer Werke fand – beschäftigte sich seinerseits mit Evas litterarischer Ausbildung.

Das kleine Mädchen war sehr begabt, und mit jedem Tage wuchsen ihre Fertigkeiten und Kenntnisse. Nebenbei entfaltete sich auch ihre Schönheit zu frühzeitiger Blüte. Mit dreizehn und vierzehn Jahren besaß sie die Erscheinung einer erwachsenen Jungfrau. Schon hatten – als sie ihren fünfzehnten Geburtstag feierte – ein Apothekergehilfe, ein dicker k. k. Major a. D., ein Hausherrensohn und ein Gymnasial-Unterlehrer, welche sich aus der Entfernung in die junge Baronesse verliebt, schriftlich und schwärmerisch um ihre Hand angehalten und waren ebenso schriftlich und lächelnd abgewiesen worden.

Daß die so herrlich begabte Kleine bestimmt sei, eine glänzende Stellung in der Welt einzunehmen, das stand bei den Eltern fest. Auch in ihr selber regten sich allerlei ehrgeizige Wünsche und Hoffnungen. Damals war es, daß die Idee, als große Tragödin die Welt zu erobern, in ihrem Innern keimte. Davon aber wollten Vater und Mutter nichts wissen. Die Trägerin des Namens Holten konnte sich – so meinten sie – nicht dazu erniedrigen, die Bühnenbretter zu betreten; ihr würde eine viel passendere und zugleich sicherere Möglichkeit geboten sein, ihr Glück zu machen: nämlich dasjenige, was in der Gesellschaftssprache eine »gute Partie« heißt. Aus diesem Ziele machten übrigens die Eltern dem Töchterchen gegenüber kein Hehl. Eva selber hatte nichts dagegen einzuwenden. Eine große Dame zu werden, ihre angeborenen Gelüste nach vornehmer Lebensführung befriedigen zu können: eine solche Aussicht lächelte ihr wohl zu. Aber als wichtigste Bedingung zur Annahme einer »guten Partie« behielt sie – die Poesie-Belesene – sich im Geiste vor, daß dabei auch das Herz seine Rechnung finden, daß ihr einstiger Gatte so liebend und so geliebt sein müsse, als nur irgend möglich. In dem kleinen Städtchen, das die Holtens bewohnten, hätte sich zur Verwirklichung dieser Pläne schwerlich Gelegenheit gefunden. Daher ward beschlossen, daß Eva, wenn herangewachsen, ein oder zwei Winter in Wien zubringen sollte, um dort in die große Welt, welcher sie der Geburt nach ja angehörte, eingeführt zu werden. Die hierzu nöthigen Mittel – nämlich ein paar Tausend Gulden für Toiletten, Wohnung u. s. w. – konnten in einigen Jahren zurückgelegt werden. Große Summen waren ja nicht erforderlich; denn die Eltern beabsichtigten keineswegs, in der Hauptstadt ein Haus zu machen und ihre Tochter selber auf Bälle, Theater u. s. w. zu begleiten; – dieses Amt sollte eine bestimmte Dame aus ihrem Verwandtenkreise übernehmen. Sie wollten nur gleichzeitig in Wien sein, um Eva nicht aus den Augen zu verlieren, um ihre Triumphe in nächster Nähe zu genießen und um sie in der Wahl eines Freiers zu leiten. Oftmals war berechnet und zu Papier gebracht worden, welcher Betrag erforderlich sei, um die Auslagen dieses – im eigentlichsten Sinne des Wortes – Eroberungszuges zu decken. Die Berechnungen hatten ergeben, daß noch bis zu Evas zwanzigstem Geburtstage gespart werden müsse.

Dieses Datum stand nun am Zukunftshorizont des heranwachsenden Mädchens wie die Pforte zu einer neuen, mit hundert Verheißungen gefüllten Existenz; der darauf gewendete Blick ließ sie alle kleinlichen Entbehrungen der Gegenwart, alle Einförmigkeit geduldig ertragen, und der Fleiß, den sie darauf verwendete, ihren Geist und ihre Talente auszubilden, hatte seinen Ansporn in der Idee, daß, je reichere Bildungsschätze sie sich aneignete, desto würdiger würde sie sein, jene Pforte zu überschreiten und die Glücksgaben in Empfang zu nehmen, die ihrer drüben harrten.

Die literarisch-wissenschaftliche Erziehung, welche Oberst Holten seiner Tochter angedeihen ließ, war nicht etwa eine moderne, vom Geist der Neuzeit durchdrungene. Er war selber kein moderner Mensch. Von den bewegenden Fragen und Entdeckungen der letzten Jahrzehnte war er unberührt geblieben. In der Literatur verehrte er nur die sogenannten Klassiker; die in jüngster Zeit aufgetauchten Schriftsteller verachtete er nicht etwa– er wußte einfach nichts von ihnen; ebensowenig hatte er eine Ahnung von dem Umschwung in den Naturwissenschaften. Sein Standpunkt hierin war über die in seiner Jugend offiziell gelehrten Anschauungen nicht hinausgewachsen. Bei alledem war er ein Mann von hoher Bildung, von gediegenem Wissen, von seinem ästhetischen Geschmack. Immerhin: indem er Eva seine Anschauungen und Kenntnisse mittheilte, indem er ihr seine Lieblingsschriftsteller zu lesen gab, brachte er sie auf eine hundertmal höhere Geistesstufe, als von den meisten ihrer Alters- und Standesgenossinnen eingenommen zu werden pflegt, welche im Kloster eigentlich nur Kinderbücher zu lesen bekommen und in einem Geiste aufgezogen werden, der den Begriffen eines vergangenen Jahrhunderts entspricht. Unter der Leitung ihres Vaters kräftigte sich ihr Verstand; es bildeten sich in ihrer Seele hohe, sittliche Ideale heran; sie ward wißbegierig und begeisterungsfähig sie lernte, an geistigen Genüssen sich laben. Aus den gemeinschaftlichen Lesestunden in den Werken von Schiller, Jean Paul, Lessing, Tiedge, Wilhelm von Humboldt u. A. ging sie stets in gehobener Stimmung hervor. Daneben waren andere Stunden der Wissenschaft gewidmet: Astronomie und Physik, Geschichte und Erdkunde, sogar ein wenig Philosophie; jedoch, wie gesagt, nach jenem älteren Stande der Kenntnisse, wie solcher vor dem Auftreten der Entwickelungslehre herrschte und in den niederen Schulen und unter den meisten Leuten eigentlich noch herrscht.

Mit ihrer Mutter – zur Vervollkommnung in den modernen Sprachen – betrieb Eva fleißig belletristische Lektüre: unzählige englische Romane; auch – mit Auswahl – französische: Dumas Vater, Chateaubriand, die sämmtlichen Theater von Scribe, und unter den neueren einige verhältnismäßig unschuldig erscheinende: Ohnet, Greville und Andere. Auf diese Art gewann Eva einen Einblick in die Welt und in das gesellschaftliche Treiben, eine Einsicht, welche die sie umgebende enge und kleinliche Wirklichkeit ihr niemals hätte bieten können. Aus den englischen Romanen hatte sie die Vorstellung geschöpft, daß die Liebe und eine darauf folgende – durch verschiedene Herzenskonflikte und Mißverständnisse etwas verzögerte – Heirath den Schicksalsinhalt jedes Mädchenlebens abgeben müsse. Daß eine solche Geschichte auch in ihrer Zukunft sich abspielen werde, dessen war sie sicher. Sie sah dem Leben mit hohen Ansprüchen, mit Spannung und mit Vertrauen entgegen; sie hatte das Bewußtsein ihres eigenen Werthes. So wie ihr Spiegel und das bewundernde Nachsehen der Leute auf der Straße ihr verriethen, daß ihr Aeußeres schön sei, so zeigte ihr der in das eigene Innere gesenkte Prüfungsblick, daß ihr Geist für alles Schöne begeistert, ihr Herz für alles Gute empfänglich war; daß ihr Vorsatz fest stand, tugendhaft und rein und würdevoll durchs Leben zu gehen. Sie fühlte sich fähig, zu beglücken; sie hatte die stolze Ueberzeugung, daß – was immer die Gaben seien, die ihr zukünftiger Gatte ihr böte: Reichthum, Rang, grenzenlose Liebe – sie mit der Gegengabe ihres Selbst eine gleichwerthige Vergeltung zu gewähren habe.

Aber so glatt, wie sie und ihre Eltern das Zukunftsprogramm sich aufgestellt hatten, sollte dieses nicht abgewickelt werden. Die schlimmsten Plänestörer von allen: Krankheit und Tod, sollten auch diese Pläne durchkreuzen. Zwei Jahre vor der anberaumten Wienfahrt brach in dem Städtchen der Typhus aus, und als eines seiner ersten Opfer ward, nach Verlauf von acht Tagen, Oberst Baron Holten hingerafft.

Das war der erste Kummer, der erste große Schmerz in Evas Leben. Sie konnte es gar nicht fassen: ihr Lehrer, ihr Freund, ihr lieber, seelenguter, edler Vater – todt!... Aus dem Hause fortgetragen – ins Grab gelegt – auf ewig, ewig verloren! Wie? er hatte das nicht erleben sollen, wofür er die ganze Zeit gearbeitet, worauf sein ganzes Streben und Hoffen gerichtet war: das Glück seiner Tochter... Ihr war es nun, als wäre das schönste Ziel ihrer Zukunft verfehlt; und ihr Leid war ein so tief empfundenes, daß sie vermeinte, sei jetzt alles alles verloren, als hätte sie gar kein Recht mehr, an ein freundliches Schicksal zu denken.

Und in der That: die nächste Zukunft gestaltete sich nichts weniger als freundlich für das junge Mädchen. Die Lebensverhältnisse wurden noch knapper als zuvor, denn mit dem Tode des Obersten war dessen Ruhegehalt weggefallen und Mutter und Tochter mußten von der Apanage leben, welche nunmehr – auch auf die Hälfte herabgemindert – der Baronin Holten als Wittwengehalt gewährt wurde. In der ersten Zeit, wo die Beiden nur der Trauer lebten, in die der Verlust des Gatten und des Vaters sie versetzt hatte, ging ihnen ihre Verarmung nicht so nahe, dieselbe war ihnen nur wie eine matte Nebenerscheinung des andern, eigentlichen Unglücks.

Nach und nach aber machte das Leben seine Rechte wieder geltend; die Zeit bewährte ihre unausbleibliche kummerlindernde Gewalt, und nach einem Jahre begannen Mutter und Tochter wieder ihre Blicke in die Zukunft zu richten. Der Sparplan, die so oft berechneten Überschläge behufs Evas Einführung in die Welt – das alles war vereitelt. Was thun? Der bis jetzt zurückgelegte Betrag konnte mit dem besten Willen nicht vermehrt werden. Da kam Baronin Holten auf den Einfall: Wie wäre es, wenn wir die bisher gemachten Überschläge auf einen geringeren Maßstab herabsetzten und wenn wir das vorhandene Sümmchen gleich noch in diesem Fasching riskirten? Die elenden paar Gulden konnten sie doch nicht reich machen, würden für Eva doch keine Versorgung abgeben, und möglicherweise konnten sie verhelfen, daß das Mädchen ihr Glück finde. Möglicherweise? ... Nein, gewiß – sagte die mütterliche Eitelkeit. Eva würde die »Beaute« der Saison sein und die anderen herrlichen Eigenschaften dazu...nein, Sünde und Jammer wäre es, diese blühende Jugend zu vergraben, also abgemacht: »Wir nehmen das Geld aus der Sparkasse und reisen nach Wien.«

Eva sagte natürlich nicht nein. Zwar kostete sie der Gedanke Thränen. daß an den ihr bevorstehenden Triumphen ihr theurer Vater, der sich so daran gefreut hätte, keinen Theil mehr haben sollte; aber sie war es ja ihrer Mutter, sie war es sich selber schuldig, die Glückschancen nicht auszuschlagen. Und nachdem der Entschluß einmal gefaßt war, begann sie sich lebhaft auf die Ausführung zu freuen. Das Leben, das Leben kennen lernen! Was sie bisher nur gelesen, gehört, geträumt, das sollte sie in Wirklichkeit erfahren; und das selige Gefühl der Liebe – welches ihre aufgeblühte Jugend ersehnte und errieth – würde vielleicht in ihrem Herzen aufgehen können und mit seinem Zauber alles Leid und allen Kummer ihr vergüten, die sie im letzten Jahre durchgemacht.

Alles war vorbereitet. Gräfin Rosa Koloman, die in Wien lebende Verwandte, welcher die Aufgabe zugedacht war, Eva in die Welt zu führen, hatte ihre Zustimmung gegeben; das Geld wurde aus der Sparkasse behoben und in den Schreibtisch gelegt. Der Tag der Abreise war auf die kommende Woche festgesetzt, und schon sollte mit dem Einpacken begonnen werden, als Baronin Holten von einem ziemlich heftigen Unwohlsein befallen ward.

»Es wird nichts sein, liebes Kind, in acht Tagen bin ich wieder frisch und wohl. Der lebhafte Wunsch allein, unsere Wienfahrt anzutreten, wird mich gesund machen. Und schlimmsten Falles müßtest Du ohne mich zu Tante Rosa gehen.«

Aber das Unwohlsein artete in eine lange schwere Krankheit aus, und selbstverständlich wich Eva nicht von ihrer Mutter Seite. Als Diese halbwegs genesen war, war der Fasching zu Ende. Die Wienfahrt wurde auf den nächsten Winter verlegt.

Aber auch im nächsten Winter konnte die Fahrt nicht stattfinden, denn die Baronin ward von Neuem auf das Krankenlager geworfen; diesmal, um nicht