EVENTORRA - Das schwarze Herz der Liebe (Band 1) - Ella C. Schenk - E-Book

EVENTORRA - Das schwarze Herz der Liebe (Band 1) E-Book

Ella C. Schenk

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Beschreibung

*Sei dir bewusst, dass alle Geschichten, die man dich gelehrt hat, falsch und erlogen sind. Die wahre Geschichte ist eine andere. Eine Brutalere.* Vier Hexenschwestern werden ins dunkle Königreich geschickt, um die arrangierte Bluthochzeit zwischen dem Kronprinzen und der Prinzessin aus dem Finsteren Tal zu verhindern. Eine Verbindung, die niemals eingegangen werden darf, da Eventorra sonst gänzlich in Dunkelheit zu ersticken droht. Mithilfe ihrer Magie sollen die Hexen versuchen, dem Kronprinzen den Kuss des Todes einzuhauchen. Allerdings gerät ihr Auftrag ins Wanken, da es scheint, als ob die Königsfamilie tief in ein grausames Schicksal verstrickt ist. Zu allem Überfluss entpuppen sich der Prinz und sein Bruder auch noch als äußerst charmant und anziehend, sodass Gefühle aufkeimen, die völlig fehl am Platz sind. Doch schon bald müssen die Schwestern feststellen, dass das ihre geringsten Probleme sind. Denn sie geraten zwischen die Fronten dreier Göttinnen und mitten hinein in eine Fehde, so uralt und von Rache geprägt, dass die Vernichtung Eventorras nahe scheint ...

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Prolog
1. Violetta
2. Nora
3. Violetta
4. Nora
5. Violetta
6. Nora
7. Violetta
8. Nora
9. Violetta
10. Nora
11. Violetta
12. Nora
13. Violetta
14. Nora
15. Violetta
16. Nora
17. Violetta
18. Nora
19. Violetta
20. Nora
21. Violetta
22. Nora
23. Violetta
24. Nora
25. Violetta
26. Nora
27. Violetta
28. Nora
29. Violetta
30. Nora
31. Violetta
32. Nora
33. Violetta
34. Nora
Epilog Môra
Danksagung

Ella C. Schenk

EVENTORRA

Das schwarze Herz der Liebe

(Band 1)

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.

EVENTORRA – Das schwarze Herz der Liebe

Copyright

© 2022 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat und Korrektorat: Larissa Eliasch

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von Motiven von Pexels und Rawpixel

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

ISBN: 978-3-948985-36-3

VAJONA Verlag

www.vajona.de

Für Katharina, Natascha und Julia. Danke, dass ihr mit so viel Herzlichkeit, Weisheit und Empathie meinen Weg begleitet und bereichert. Ihr seid meine Vorbilder in dieser turbulenten Welt und ihr schenkt mir Ruhe und Gelassenheit. Danke.

Prolog

In ihrem durchdringenden Blick liegt das unversöhnliche Versprechen, dass sie mich eines Tages für meinen Verrat töten wird.

Und ich werde sie nicht daran hindern.

»Wollen wir hoffen, dass dein Traum keine Prophezeiung wird, du störriges, altes Weib.« Die Königin Mutter streicht sich die aschgrauen Haare aus ihrem kantigen Gesicht, welches von tiefen Falten durchzogen ist.

Doch die Brisen des Feenwaldes sind hartnäckig. Mal bringen sie den Duft einer verdorbenen Süße mit sich, mal den Geruch eines schmeichelhaften Todes.

»Ich habe mich einmal getäuscht. Diesmal aber nicht. Die Dunkelheit des Westens ist nichts im Vergleich zu der, die über Eventorra fegen wird, wenn das schwarze Herz in ihr vollends erwacht«, beharre ich. »Diese Magie wird die Nacht selbst verschlingen.«

»Und wessen Schuld ist das?«, faucht mich meine einst gute Freundin an. »Deine!«

Elenor kommt einige Schritte auf mich zu, sodass ich das schwarze unheilversprechende Funkeln in ihren Iriden erkennen kann, das sich bei ihr eingenistet hat.

»Ja. Meine.« Ich weiche nicht zurück, obwohl der sorgenschwere Glanz in ihren Augen mich vor Scham fast zerreißt. »Und ich sagte dir und den Feenschwestern bereits, dass ich einen Plan habe, wie ich es ungeschehen machen kann.«

»Doch du wirst ihn mir nicht verraten, nehme ich an?«

»Nein.« Ich drehe mich um und blicke zu der Wand aus weißem Äthernebel, der das Reich der Feen umgibt. Die Sonne versinkt soeben hinter dieser uralten Stadt und den Bäumen, deren bunte Blätter sich in den letzten wärmenden Strahlen laben.

»Natürlich nicht«, antwortet sie schnippisch und knirscht mit den Zähnen, bereit mich mit diesen zu zermalmen, sollte ich es nicht schaffen. »Tue gut daran, Erfolg zu haben, geschätzte Freundin. Wenn diese Bluthochzeit des Kronprinzen zur Wintersonnwende stattfindet, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen! Diese unnachgiebige Schwärze zerfrisst mich jetzt schon jeden Tag mehr. Nach dieser Verbindung werde ich ihr verfallen.«

»So weit wird es nicht kommen.«

Elenor schnaubt auf. »Wie lange hat deine Enkelin noch?«

Ich verschränke die Finger ineinander, da sie zu zittern beginnen. »Sie zeigt erste Anzeichen von Magie, die nicht die ihre ist.«

»Dann sieh gefälligst zu, dass du die Mädchen so schnell wie möglich vorbereitest. Die Hochzeit muss verhindert werden!« Sie schließt die Augen und verzieht für einen Moment geplagt ihr Gesicht. Von der wilden Schönheit, die sie einst besessen hat, ist nur noch ein schwacher Abglanz übrig, welcher meist von Zorn und Wut überschattet wird. So wie jetzt gerade. »Und sag deiner jüngsten Enkelin, ich werde einen Weg finden, ihr zu helfen.«

Ich nicke schwach. Das muss sie. Denn ich kann es nicht. Und die Feenschwestern wollen nicht. Sie halten sich aus allen menschlichen Belangen und Verfehlungen heraus. So, wie sie es schon lange getan haben.

»Wie sicher bist du dir, dass die Kleine auf dem Wege zu mir kommt, wie du es vorausgesehen hast?«, fragt Elenor in einem Tonfall, der deutlich macht, dass sich ihre Geduld dem Ende naht.

»Sehr sicher. Direkt nach dem ersten Traum folgte dieser. Sogar zweimal hintereinander. Das ist ungewöhnlich.«

»Gut. Und jetzt gib mir das Haar einer deiner Enkelinnen. Ich werde den Zauber heute noch sprechen, damit sich das Herz des Kronprinzen und das deiner Auserwählten verbinden. Vielleicht bringt er die Mädchen dann nicht gleich um, wenn er für eine der Schwestern so etwas wie Zuneigung empfindet«, sagt sie so unverblümt, dass ich zusammenzucke. Sie sieht es, wedelt jedoch nur ungeduldig mit der Hand. »Los!«

Ich greife in meine graue Schürze und ziehe die dunkelblonde Strähne hervor. Kurz bin ich verleitet, sie wieder einzustecken.

Elenor greift so schnell danach, als wäre es ein seidener Faden von unermesslichem Wert. »Dieses arme Mädchen«, haucht sie. Als sich unsere knochigen Finger berühren, knistert die Luft voll aufgeladener Magie und fegt um uns wie heulende Winde. Ruckartig zieht sie ihre Hand wieder von mir weg. Die magische Wirkung verfliegt unmittelbar, übrig bleibt nur ein knisternder Nachhall, der mich an ein gemächliches Lagerfeuer erinnert.

»Webe ihn nicht zu stark. Liebeszauber sind unberechenbar.«

»Was du nicht sagst!«, zischt sie und wirft mir einen überdrüssigen Blick zu. »Du warst schon immer eine besserwisserische Nervensäge.« Anschließend schließt sie das Haar in ihre Faust, dreht sich von mir weg und geht in Richtung Nebel. Als Verbannte kann ich ihr nicht mehr folgen und unsere Wege werden sich gleich trennen. Wehmut kommt in mir hoch, dicht gefolgt von einer satten Reue, die mir den Hals einengt.

Kurz bevor Elenor hindurchgleitet, dreht sie sich noch mal um. In ihren Augen glüht eine grässliche Verachtung – roh und gewaltig. »Nach dem Mabon-Fest, wenn der Mond in seiner vollen Kraft steht, lasse ich die Mädchen zu mir bringen. Sie sollen unter allen Umständen ihre Magie verbergen und die Gerüchte bestätigen, dass ihr sie kaum noch nutzen könnt. Sie dürfen keine Gefahr darstellen, sonst wird meine Familie sie vernichten. Ist das klar?«

Ich deute ein Nicken an und das scheint ihr zu reichen.

Mit einem »Ich hasse dich« verschmilzt sie mit der weißen Wand und ich sinke auf die Knie. Der vertraute Schmerz des Bedauerns umgreift mich mit alt bekannten Krallen, die sich bis in meine Eingeweide schlagen. Und ich heiße sie willkommen, denn ich habe sie mehr als verdient.

Diese Last, kaum tragbar für meine geschundenen Schultern, drückt mich immer mehr zu Boden. Die Zeit ist gekommen, in der ich meine hellsichtige Gabe verabscheue. Mehr als ein Jahrzehnt konnte ich nicht mehr auf sie zugreifen und jetzt hat sie mir diese drei verheerenden Träume geschickt.

Dunkelheit, wohin ich blicke.

Schwarzes Blut – überall.

Ich schluchze los, vergrabe das Gesicht in meine bebenden Hände.

Es war meine Feigheit, meine Schuld, die es so weit hat kommen lassen. So ist es meine Aufgabe, das Schlimmste zu verhindern. Auch wenn es mich mein Leben kosten wird.

TEIL 1 – Verwunschene Wege

1. Violetta

Sie ruft mich, weckt tief verborgene Sinne.

Reize, die mich zu sich locken, und dennoch halte ich inne.

Gehe einen Schritt zurück, verwehre mir diese begehrenswerten Rufe.

Wer bin ich schon? Ein kleines, unsicheres Geschöpf, immer auf der Suche.

Nach Hoffnung. Nach Glauben. Nach allem, was mir Geborgenheit schenkt.

Nach etwas Friedvollem, das mich von der Qual meines Herzens ablenkt.

Denn dort wartet sie.

Ich fühle, dass diese Schwärze endlich ausbrechen möchte.

Sie wandert durch mich hindurch, hinterlässt Spuren der eisigen Kälte.

Soll das meine Bestimmung sein? Mich selbst zu vergessen und dieser dunklen Magie zu folgen?

Was passiert dann mit mir? Sie sind die schlimmsten – diese Sorgen.

Verdrehen meine Gedanken, kreisen unaufhörlich in jeder Zelle meiner Gestalt.

Ich will nicht sein, wer ich bin: dieses Wesen mit zwei Gesichtern, voll unberechenbarer Gewalt.

Ich bin zu früh.

Ein zarter Rosenduft schwelgt durch den kleinen Geräteschuppen und ersetzt den Geruch von Heu und Äpfeln, der mich von unserem Haus hierher begleitet hat.

Die Tür knarzt leise und Staub wirbelt auf, als ich sie schwungvoll hinter mir verschließe. Ich rümpfe meine Nase und gehe mit verschränkten Armen auf den Holzstoß zu, der sich neben den Schaufeln, Besen und getrockneten Rosen befindet. Trotz des Wissens, dass sich edle Seide und Späne nicht vertragen, lasse ich mich stürmisch auf das Brennholz nieder. Mein bauschiger, blauer Rock quillt in die Höhe, sodass ich ihn hastig glattstreiche, damit meine Schwestern und Grandma nicht meine neueste Strumpfhose anstelle meines Gesichtes zu sehen bekommen. Ich verziehe meine Lippen zu einem Lächeln, als ich mir Grandmas Stimme vorstelle: Violetta! Was soll das schon wieder? Benimm dich gefälligst!, würde sie sagen.

Doch mein Schmunzeln erstirbt, als ich daran denke, dass ich diese Belehrungen für lange Zeit nicht mehr hören werde.

Wir alle.

Leandra, Nora, Seline und ich. Die nächsten Wochen – nein, Monate – werden wir dazu verdammt sein, unser Leben im Norden Eventorras, dem Königreich der Finsternis, verbringen zu müssen. Wobei es mich und Nora noch am besten trifft. Wir beide werden im Komplott gegen die Königsfamilie nur Randfiguren sein, im Gegensatz zu Leandra und Seline – die zwei mit den stärksten Hexenkräften unter uns.

Ich atme tief durch. Es kostet mich Mühe, meinen rumorenden Sorgen nicht zu verfallen und Fassung zu bewahren. Sie toben durch mich wie reißende Flüsse, bereit, mich schamlos niederzustrecken. Orange Sonnenstrahlen dringen durch die Löcher der verwitterten Holzwand und zerschneiden die Luft in ein Schachbrett aus Goldfunken und Schmutz. Das Schauspiel wird jedoch von einem sich bewegenden Körper unterbrochen und mein Kummer verflüchtigt sich für den Moment. Noch bevor ich sie sehe, spüre ich, dass Leandra die Nächste ist, die eintritt.

Die Tür schwingt auf, und da steht sie auch schon in ihrer wunderschönen Statur. Sie ist die Älteste von uns und dennoch diejenige, die meist für die Jüngste gehalten wird. Mit ihrer schmalen Gestalt, dem schwarzen, seidigen Haar und den kirschroten Lippen im hellen Gesicht erinnert sie mich an eine zierliche Porzellanpuppe. Keiner würde sie für die tödliche Waffe halten, die sie in Wirklichkeit ist. Ein kurzer Kuss genügt, und das Gift ihrer Lippen breitet sich in ihrem Opfer unaufhaltsam aus, unterscheidet dabei nicht zwischen guten und schlechten Herzen. Im Gegensatz zu uns restlichen Schwestern ist ihre Gabe sogar vollends ausgebildet, was für sie jedoch mehr Fluch als Segen bedeutet.

Leandras Kinn ist anmutig in die Höhe gestreckt, die Schultern nach hinten gedrückt. Sie versucht mich liebevoll anzulächeln, doch wie schon seit Langem erreicht keine Herzlichkeit mehr ihre Augen. Diese haben ihre Leuchtkraft verloren, als sie von ihrer Bestimmung erfuhr. »Kind, komm runter von dem Holzhaufen. Du ruinierst dir noch dein Kleid.«

Ich ziehe eine Grimasse, tue jedoch wie geheißen.

»Und wo ist dein Schal?«, rügt sie mich weiter. »Du weißt doch, dass du das Anwesen nicht unbedeckt verlassen sollst.« Ich stelle mich vor Leandra auf und stemme meine Hände in die Seiten. »Erstens bin ich kein Kind mehr, ich bin sechzehn. Und zweitens hat Grandma mir erlaubt, den kurzen Weg hierher ohne meine ständige Verkleidung gehen zu dürfen.«

Sie kräuselt zwar die Lippen, lenkt jedoch ein. »Gut, Violetta, wenn Grandma Pippa es erlaubt hat, dann sei es so. Einstweilen.« Sie zieht ihre Augenbrauen in die Höhe und ihr Blick lodert auf. »Aber wenn wir … dort sind, dann darfst du ihn keine Sekunde abnehmen, verstanden? Deine zwei Gesichter würden uns sofort …«

»Ja doch«, unterbreche ich sie und rolle mit den Augen. Wie oft muss ich mir das noch anhören?

Leandra zieht scharf die Luft ein. »Verspottest du mich etwa?«

»Nein, natürlich nicht, ich …« Doch meine Worte bleiben in der Luft hängen, da ich spüre, dass der Rest der Familie McAnnon im Anmarsch ist.

Fünf, vier, drei, zwei, eins – und die Tür wird erneut aufgerissen. Leandra kreischt auf und hüpft vor Schreck beinahe in mich hinein, ehe sie schleunigst von mir wegtaumelt.

Nora, die Wildkatze unserer Familie, stürmt auf mich zu, umarmt mich schnell, aber innig, und stellt sich unmittelbar neben mich.

Ich rolle erneut mit den Augen, da mir ihr Beschützerinstinkt ein klein wenig zu anstrengend ist. Während Seline und Grandma den Raum betreten, knufft mir Nora leicht in die Seite. »Und, Prinzesschen, hast du uns wieder gespürt?«, flüstert sie. Ich muss schmunzeln. »Das weißt du doch. Und jetzt rück von mir ab.« Ich schubse sie ein wenig nach links, Richtung Leandra. Diese schenkt uns einen Blick, der geradezu nach Benehmt euch doch mal schreit. Sogleich beginnen Nora und ich zu kichern. Seline fixiert ihre Zwillingsschwester daraufhin mit einer tadelnden Miene, mich beachtet sie nicht einmal.

Wie so oft frage ich mich, ob sie eifersüchtig ist. Auf Noras und meine Verbundenheit. Eigentlich sollte sie ihre bessere Hälfte sein. Doch die beiden gleichen sich nicht mal äußerlich. Nora ist hochgewachsen wie ich und unsere schmeichelhaften Rundungen an den Brüsten und Hüften lassen sich nicht mal mit Mengen an Tüll verstecken. Wir haben beide dichtes Haar, das uns in Wellen über die Schulter fällt. Ihres dunkelblond, meines … nun ja, dunkelbraun oder aschgrau – je nachdem, welches meiner zwei Gesichter man sieht. Seline dagegen hat ähnlich wie Leandra seidiges Haar, welches sich um ihren wohl proportionierten Körper hinab bis zu den Hüften windet und in der Sonne honigblond schimmert.

Sie ist wahrlich eine Augenweide. War sie schon immer.

Leandra wechselt rasch die Seiten und stellt sich mit einem fast schon Ehrfurcht gebietenden Ausdruck neben Seline. Das ist so typisch für sie.

Wir stehen den beiden Schönheiten nun gegenüber und starren sie unverhohlen an, bis Grandma zwischen uns hindurchschreitet. Ihre sanften grauen Augen gleiten über unsere Gesichter und prompt setzt Stille ein. Nora und ich hören auf zu zappeln, Leandra und Seline lassen ihre Schultern sinken. Ihre Verantwortung setzt ihnen ziemlich zu. Das sehe ich an ihren blutunterlaufenen Augen. Viel konnten sie in letzter Zeit nicht geschlafen haben, auch wenn sie es nie zugeben würden.

Grandma atmet tief ein und aus, während sie ein paar ihrer Pfingstrosen auf den Holzstoß legt, die sie mit in den Schuppen gebracht hat. Als sie sich wieder zu uns umdreht, streift sie das dornige Gestrüpp und der gebündelte Strauß fliegt zu Boden. Sie hebt ihn nicht auf, tritt wieder zwischen uns und schließt die Augen, während sie ihre Hände wie zu einem Gebet faltet. Unverständliche Wortlaute zischen aus ihrem halb geöffneten Mund. Sie spricht einen Zauber.

Meine Handgelenke erwärmen sich und mein Rückgrat beginnt zu prickeln. Dankend schließe auch ich meine Lider, denn ich kenne diese Warmherzigkeit in ihrer Magie. Es ist alte, gute Schutzmagie, die uns vor Gebrechlichkeit und Krankheiten bewahren soll.

Wir Schwestern greifen uns an den Händen, kreisen Grandma ein. Die Luft beginnt zu flirren und die Wärme verteilt sich weiter in unseren Körpern – so beharrlich und stark, wie es nur eine Meisterhexe vollbringen kann.

Und Grandma ist zweifelsohne eine. Die Einzige, die von unserer Familie noch übriggeblieben ist. Bis wir so weit sind, werden noch Jahrzehnte vergehen.

Um uns sammelt sich eine knisternde Atmosphäre, die sich immer mehr auflädt. Die Kraft, die von unseren ineinandergeflochtenen Händen ausgeht, wirkt belebend und beruhigend zugleich.

Als ich meine Augen öffne, lächelt jede meiner Schwestern – sogar Seline, die es ansonsten bevorzugt, mürrisch zu sein. Sie genießen wie ich das Gefühl der Geborgenheit und Einheit, welches uns unser Blut vermittelt. Als würde Grandma spüren, dass ich abgelenkt bin, streckt sie ihren mit bunten Armreifen behangenen Arm nach mir aus und fasst mir ans Kinn. Ruckartig zieht sie meinen Kopf in ihre Richtung und wispert mir mit einem verhangenen Blick etwas zu, das ich nicht verstehe. Ihr Gesicht wird von Wort zu Wort fahler, sodass Sorge in mir hochkommt.

Ich will sie gerade stützen, als mich ein stechender Schmerz in meiner Herzregion einknicken lässt und Grandma mich loslässt. Während ich nach Luft schnappe, krümme ich mich peinvoll nach vorne, bis ich den Boden vor meinen Augen sehe. Würden meine Schwestern mich nicht an den Händen festhalten, wäre ich wie ein Stein vornübergefallen.

Als das aberwitzige Stechen wieder erträglicher wird und ich zu Nora, Seline und Leandra sehe, erkenne ich, dass sie in Trance gefallen sind. Sie wiegen sich sanft vor und zurück, ihre Körper leuchten geradezu. Jeder in seiner eigenen Farbe. Leandra blau, Seline gräulich, Nora rot und ich … Ich leuchte gar nicht.

Grandma dagegen blendet mich fast mit ihrem goldenen Schein. Ihr schwarzer Seidenmantel ist kaum mehr zu erkennen. Noch immer sieht sie mich mit einer gnadenlosen Intensität an und spricht weiter auf mich ein.

Ich verkrampfe mich.

Das ist nicht mehr der Schutzzauber, den wir kennen! Was geschieht hier? Gerade, als ich meinen Mund öffne, schnellt ihr goldglänzendes Licht auf mich zu und wirft mich mit einer Wucht gegen das Brennholz, sodass ich das dumpfe Gefühl nicht aufhalten kann, welches sich langsam in mir ausbreitet.

»Kind? Violetta? Wach auf, Liebes.« Jemand streicht mir mit den Fingerspitzen über die Wange. Diese Geste beschwingt mich, weiter die Augen geschlossen zu halten, obwohl es in meinem Kopf ziept und ein Hauch von Kälte meinen Rücken entlangwandert.

Klatsch!

Das benommene Gefühl in mir verschwindet und ich japse nach Luft, da sich ein brennender Schmerz in meiner rechten Gesichtshälfte ausbreitet. Ich schnelle mit meinem Oberkörper in die Höhe, doch Leandra und Grandma drücken mich an meinen Schultern derart hinunter, dass ich mich gerade mal ein paar Zentimeter bewegen kann, bevor ich wieder zurück auf den harten Boden gedrängt werde.

»Wer war das?«, rufe ich aufgebracht.

Als ich Grandmas strengem Blick folge, sehe ich eine grinsende Nora, die sich die Handflächen reibt und lapidar mit den Achseln zuckt. »Jetzt komm schon, Prinzesschen, du hast schon weit mehr ausgehalten. Wir haben keine Zeit für deine Mätzchen.«

»Nenn mich nicht immer so! Und ich mache keine Mätzchen.«

Nora schüttelt ihren Kopf und wendet sich gleich darauf ihren Fingernägeln zu. »Dann benimm dich auch nicht so!«

Bah!

Schnaubend schlage ich Grandmas und Leandras Hände von meinen Schultern und rutsche von den beiden weg, bis ich den kratzigen Holzstapel wieder in meinem Rücken spüre, der zuvor meinen Sturz gebremst hat. Zu allem Übel greife ich auch noch in die Pfingstrosen. Ich jammere auf, da mich die Stängel an mehreren Stellen stechen, und muss ein paarmal tief Luft holen, damit auch das Hämmern zwischen meinen Augen erträglicher wird. Verflucht! »Was, verdammt noch mal, ist überhaupt geschehen, Grandma?!« Ihr Ausdruck wirkt verschlossen und sie fährt sich mit ihrer vom Alter gezeichneten Hand durch die grauen Locken.

Sie will mir gerade antworten, als Seline sich neben sie stellt und mich giftig anlächelt. »Du bist während des Schutzzaubers ohnmächtig geworden.« Ihre glockenhelle Stimme klirrt in meinem Kopf schmerzhaft nach. »Ein Zauber, den wir schon hundertmal über uns ergehen lassen haben. Du bist noch zu schwach.«

Obwohl ich ihre Anklagen zu Genüge kenne, wirbeln Gefühle von Wut bis Scham in mir auf. »Nur weil ich die Jüngste bin, heißt das noch lange nicht, dass ich schwach bin.«

Sie rümpft ihre Stupsnase. »Das habe ich auch nicht behauptet. Ich meine nur, dass deine … Gabe sowieso nicht sehr nützlich für unser Unterfangen sein wird. Außerdem kannst du dich ja nicht mal verteidigen.« Sie wendet ihren missbilligenden Blick von mir ab und dreht sich zu Grandma. »Warum kommt sie überhaupt mit? Sie wird uns nur im Weg stehen.«

Diese legt ihre Stirn in Falten. »Weil ich es sage«, zischt sie und starrt auf meine Hand, auf welcher rubinrote Perlen meines Blutes zu sehen sind.

Grob wische ich sie in meinen Rock.

Seline zieht dabei so aufgeregt die Luft ein, dass ihre Empörung fast greifbar ist.

Ich würde ja lachen, um sie zu ärgern, doch dasselbe habe ich mich auch schon gefragt.

»Seline, Nora, Leandra, verlasst bitte den Geräteschuppen. Ich will mit Violetta allein sprechen.« Grandmas ruhiger Ton lässt meine Schwestern zusammenzucken. Dieser ist tausendmal schlimmer, als wenn sie tadelnde, gar laute Worte an uns richtet.

Leise wird sie nur, wenn es gleich ernst wird.

Nora ist die Einzige, die sich kurz sträubt und mich eines besorgten Blickes würdigt, als sie den stickigen Raum verlässt.

Mit zusammengebissenen Zähnen starre ich ihr hinterher, bis sie die Tür mit einem Krachen schließt und den staubigen Dreck am Boden tanzen lässt. Erst dann rapple ich mich hoch und schieße auf Grandma zu.

»Was hast du getan? Das war kein Schutzzauber!«

Sie räuspert sich und schluckt mehrmals angestrengt, ehe sie mir antwortet: »Du hast recht. Das war kein normaler Zauber. Es war ein Bündnis.«

Eine Kälte breitet sich in meinem Magen aus. »Was redest du da? Ein Bündnis? Das darfst du doch nicht!«

Sie wendet sich von mir ab und sieht stattdessen auf die löchrige Wand der Hütte. Alles an ihr verdüstert sich. »Ich musste es tun. Meine Träume werden dunkler. Von Nacht zu Nacht suchen sie mich heim und …«

Eine bedrückende Stille erfüllt den Raum, als sie nicht weiterredet.

»Was?«, hauche ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich ihre Antwort wirklich hören will.

Grandma sieht mir noch immer nicht in die Augen. »Ich sehe euch Kinder nicht mehr.«

Der befürchtete Donner schlägt ein und ihre Worte lassen Übelkeit in mir aufsteigen.

Grandmas Träume sind Ahnungen, Lichtblicke in die Zukunft, welche sich fast immer bewahrheiten. Nur einmal hat ihre Gabe sie im Stich gelassen: Als sie Mutters Schwangerschaft mit mir nicht hat kommen sehen.

Sie schüttelt den Kopf. »Das Bündnis … Es war die einzige Möglichkeit. Ich muss dich, euch beschützen. Das bin ich deiner Mutter schuldig. Für sie war ich nicht da, aber für euch … Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit, wenn ihr nur …«

»Was redest du da?« Ich fasse an ihren Ellbogen. Sofort richtet sie ihre grauen Augen auf meine umklammernden Finger, die mit einem Mal zu zittern beginnen. »Wenn jemand Schuld an Mutters Tod hat, dann wohl ich.« Meine Stimme wird brüchig. »Du kannst wohl kaum etwas dafür, dass sie meine Geburt nicht überlebt hat.«

Diese Worte überraschen mich selbst. Irgendwie. Aber irgendwie auch wieder nicht. Eine tief begrabene Schuld blitzt schmerzhaft in meinem Herzen auf.

Grandma antwortet mir nicht und starrt mich nur an. Plötzlich nimmt sie mein Gesicht in ihre beiden Hände und schließt ihre Lider. »Ich habe Fehler gemacht. Sehr viele Fehler.« Ihre Schultern beginnen zu beben. »Nicht du, meine Kleine! Du warst ihr größtes Geschenk, das überraschendste und hoffnungsvollste zugleich. Sie wollte so sehr ein viertes Kind, dass sie beinahe besessen davon war. Plötzlich hatte sie sogar Visionen von dir! Sie erzählte mir von ihnen, doch ich habe sie als Hirngespinste abgetan und schrieb sie ihrer Sehnsucht zu. Schließlich hatte sie noch nie zuvor Zukunftsvisionen gehabt. Da ich dich zudem in meinen Träumen nie gesehen habe, war für mich klar, dass es kein viertes Kind geben würde. So hörte ich ihr einfach nicht zu.« Ihr Griff um meine Wangen wird fester und sie öffnet ihre Augen, in welchen ein Feuer zu wüten scheint. Roh, verschlingend und kalt. »Dieser Nichtsnutz von Schwiegersohn hat deine Mutter damals verlassen, kaum, dass sie von dir gesprochen hat.«

Mein Blut beginnt zu kochen, als mir ihre Worte ins Bewusstsein dringen. Bitte was?! Wie redet sie über Vater? Wird sie jetzt etwa verrückt? Ihre hektischen Augenbewegungen untermauern ihr verwirrtes Geschwafel nur noch mehr.

Ich schlage ihre Hände mit einer Wildheit von mir, die ich normalerweise nicht an den Tag lege. »Hör auf! Hör auf, Lügen zu erzählen! Ich erinnere mich doch an Vater. Wir alle! Wie redest du nur von ihm?!«

»Ihr erinnert euch alle an eine Illusion! Ihr habt nur trügerische Bilder von ihm im Kopf. Glückliche Erinnerungen, die ich euch eingepflanzt habe.« Sie dreht sich schwungvoll von mir weg und stützt das Gesicht in ihre Hände. Ihr Rücken bebt ungleichmäßig und die Stimme klingt rau. »Er hat uns alle verlassen. Er wollte kein viertes Kind. Packte alles Hab und Gut ein und schlich sich nachts fort wie ein Dieb. Deine Mutter zerbrach fast an diesem Verlust. Das war der Moment, an dem sie innerlich starb. Danach schottete sie sich nur noch mehr ab – auch von deinen Schwestern. Ich konnte dieses Leid und die Trauer in den Kinderaugen nicht mehr sehen. So legte ich einen Zauber über deine Schwestern, eine verwischte Erinnerung, die zuerst ihnen und später dann auch dir zeigen sollte, dass er euch liebte bis zu seinem vermeintlich letzten Atemzug.«

»Dann lebt er noch?«, frage ich stotternd und habe Mühe, nicht in mich zusammenzufallen.

Grandma antwortet mir mehrere lange Atemzüge nicht. Dann endlich wendet sie sich mir mit einem verzerrten Gesichtsausdruck wieder zu. »Der Vater von Leandra, Seline und Nora lebt noch, ja. Versteckt und untergetaucht, nehme ich an.« Jetzt bin ich es, die sprachlos ist. Jedoch nur, bis mich die Panik ergreift. »Wie bitte? Du willst mir jetzt auch noch erzählen, dass ich einen anderen Vater habe als meine Schwestern?«, schreie ich. Pippa nickt nur kurz.

Diese knappe Zusage nimmt mir fast die Luft zum Atmen. Meine Füße verlieren jegliche Kraft und so sacke ich in mich zusammen wie ein eingestürztes Kartenhaus.

Lügen.

So. Viele. Lügen.

»Wer … Wer ist es?«, flüstere ich.

Grandma kommt auf mich zu und streicht mir halbherzig über mein Haar, als sie sich zu mir auf den Boden setzt. »Liebes, es ist nicht wichtig, woher du kommst oder wer dein Vater ist. Wichtig ist, wer du jetzt bist und welch wunderbarer Mensch aus dir geworden ist. Es ist nicht bedeutend, welches … Blut in dir fließt, hörst du? Du hattest schon immer ein gutes Herz, hast es noch! Vergiss das nie! Niemals! Du hast ein gutes Herz!«

Das Herz, von dem sie spricht, beginnt zu rasen, da mich ihre Wortwahl genau dort trifft. Wieso sagt sie das? Wieso? Weiß sie es? Weiß sie von meinen düsteren Gedanken in meinem Tagebuch? Weiß sie von meinen Ängsten? Ob mein Herz gut ist, weiß ich längst nicht mehr. Aber sie darf es nicht wissen.

»Wo …« Vor lauter Verzweiflung brauche ich drei Versuche, bis ich einen vollständigen Satz zustande bringe. »Wo komme ich her?« Ich greife mir an die Brust, die immer enger zu werden scheint. Schnell strecke ich meinen Kopf in die Höhe und versuche tief Luft zu holen.

Grandma mustert mich eingehend, überlegend.

»Keine Märchen, Pippa. Erzähl mir die Wahrheit. Hör sofort auf mit deinen Lügen.« Kurz bereue ich meine scharfen Worte, nehme sie jedoch nicht zurück. Mit herabgesenkten Schultern antwortet sie mir schließlich. »Ich weiß nicht, wer dein Vater ist. Als … ich deiner Mutter damals keinen Glauben schenkte, Zweifel in sie und ihre neue Gabe hatte, ist sie …«, sie atmet zittrig aus, »weggelaufen. Monatelang war sie weg. Einfach weg! Ich war am Verzweifeln! Habe tausend Zauber gesprochen, um sie zu finden, doch es war aussichtslos. Hörst du? Ich war außer mir vor Sorge, vor Scham!« Ihre Nasenflügel beben. »Ich habe schon alle Hoffnung aufgegeben, als sie plötzlich schwanger vor mir stand. Nach Monaten des Entsetzens kam sie zurück. Einfach zurück.« Die letzten Wörter hat sie beinahe gänzlich verschluckt.

»Wo war sie?«, bringe ich nur über die Lippen, wenngleich so viele Fragen in meinem Kopf herumschwirren, dass sie mich fast zu begraben drohen.

»Es tut mir so leid, Violetta.« Grandma weicht meinem Blick aus – mal wieder. »Sie kam aus dem Westen. Deine Mutter war im Finsteren Tal.«

Ich keuche auf. »Nein! Bitte nicht! Nein! Das kann doch nicht wahr sein! Ich will kein böses Blut in mir tragen, ich …« Ich presse meine bebenden Fäuste auf meine Augen. Schweißperlen rinnen meine Schläfen hinab und mir wird gleichzeitig kalt und heiß. Meine schlimmsten Ahnungen haben sich soeben bestätigt. Das, was ich seit geraumer Zeit in mir spüre, ist doch keine Einbildung – es ist angeboren. Im Westen des Landes lebt das Böse, welches das Königreich einst infiziert hat. Und genau da komme ich her. Ich bin ein Ungeheuer.

Ein lautes Schniefen dringt von der bröckeligen Holzwand von außen zu uns durch.

»Sag mir, wer es ist!«, befiehlt Grandma harsch. Überrumpelt will ich mich schon wehren und behaupten, dass ich das nicht könne, doch ihr Gesichtsausdruck ist ein- deutig.

Sie weiß es.

Ich schlucke, höre in mich hinein und antworte gequält: »Nora.«

»Wer auch sonst?« Grandma steht auf und verlässt kurz den Schuppen, um mit meiner aufgelösten Schwester an den Händen wieder zurückzukommen.

Nora blickt mich mit vor Schrecken geweiteten Augen an.

Ich ertrage es nicht und wende meinen Blick ab zu dem kleinen Fenster, an welchem Grandmas Laubrechen lehnt.

»Nora, Kind! Du hast gelauscht«, sagt Grandma erstaunlich gefasst.

»Ich … ich … wie, wie konntest du uns das nur antun?!«

Noras Stimme ist leise und weinerlich, wie ich sie noch nie in meinem Leben gehört habe.

Das zerreißt mich fast. Es ist alles zu viel. Viel zu viel! Warum erzählt sie mir das alles erst jetzt und nicht schon vor Jahren? So kurz vor der Abreise stellt sie noch mein ganzes Leben auf den Kopf.

So eine verdammte Lügnerin!

Wütend strample ich mich hoch, öffne die knarrende Holztür und laufe so schnell mich meine Füße tragen Richtung Haus. Tränen verschleiern mir die Sicht, während ich Pippas riesigen Kräutergarten verlasse.

Durch den großen Holzbogen laufe ich nach rechts in unser Rosenlabyrinth, welches zum Dienstbotenhof führt. Keine paar Atemzüge später trete ich schwer atmend hinaus aus dem Irrgarten in die Schatten der großen Kutschen, die mich vor der hochstehenden Sonne schützen.

Kurz erlaube ich mir, Schwäche zu zeigen, und schluchze auf. Mein blaues Korsett scheint mir immer enger zu werden und schnürt mir die Luft ab. Ich versuche es zu lockern, doch meine zittrigen Finger wollen einfach nicht gehorchen. Helle Sterne tanzen vor meinen Augen und kalter Schweiß bildet sich an meinem Nacken. Wie von Sinnen zerre ich an meinem Kleid.

Als ich schon glaube, mich übergeben zu müssen, reißt mich jemand zu sich.

»Nicht bewegen«, raunt mir eine fremde Stimme zu.

Vor lauter Schreck bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu erstarren. Ein muskulöser Arm umschlingt meine Taille und gibt mir Halt.

Das Nächste, was ich fühle, ist … Luft. Sagenhaft frische Luft, die sich in meinen Lungen ausbreitet, da mein Mieder mich nicht mehr einengt. Ich atme ein paarmal tief durch. Meine vernebelten Sinne klaren auf – bis ich bemerke, wie mein Korsett mir über die Hüften rutscht und mein Spitzenunterkleid nur noch das Nötigste bedeckt. Ich erbebe vor Unbehagen und ziehe mein Oberteil kreischend wieder hoch. So gut meine aufgewühlten Finger es zulassen, halte ich es zusammen und drehe mich unwirsch um.

Das Erste, was ich wahrnehme, ist die dunkelblaue Uniform mit den schwarzen runden Holzknöpfen und dem eingestickten Wappen von ausschlagenden Wellen, das auf der Brusttasche zu sehen ist – das Zeichen des Königshauses! Sogleich keuche ich auf und lasse meinen Blick nach oben wandern.

Ein junger Mann starrt mich unnachgiebig an. Seine Mimik lässt keinen Deut von Herzlichkeit erahnen, und doch ist da eine Wärme in seinen Augen, die mir die Sprache verschlägt. Hitze schießt mir ins Gesicht, als er auch noch beginnt, meinen Körper zu mustern. Als Wächter des dunklen Königreichs müsste er eigentlich angewidert von mir wegspringen, doch das Gegenteil geschieht. Er beugt sich näher zu mir. »Ihr seid zu hübsch, als dass ich Euch vorbeilassen kann. Dreht um und verschwindet gefälligst«, raunt er in einem bestimmenden Ton, der keinen Widerspruch erlaubt.

Doch das ist undenkbar.

Ich tue das Erstbeste, was mir in dieser beklemmenden Situation in den Sinn kommt: Ich schlage ihm mit der Handfläche gegen die rechte Wange, die von feinen Narben übersät ist. Darauf ramme ich ihn auch noch mit meiner Schulter und laufe schleunigst an unserer Familienkutsche vorbei in den kleinen Innenhof. Jedoch komme ich keine zehn Schritte weit, da sich vor mir eine dunkle Wand aus jungen Männern auftut. Zu spät bremse ich meinen schnellen Schritt ab und krache in einen der Wächter. Seine schwarze Feldmütze fliegt durch den Aufprall zu Boden, genauso wie ich.

Höhnisches Gelächter dringt von allen Seiten zu mir. Ich rapple mich mit einer Hand auf, mit der anderen fixiere ich mein rutschendes Kleid umso fester. Mit eingezogenem Kopf will ich kehrtmachen, doch ich werde an den Haaren zurückgezogen.

Ein schmerzerfüllter Schrei entweicht mir.

Mein Angreifer dreht mich so nah zu sich, dass ich seinen Atem auf mir spüre. »Du kleines Scheusal, was denkst du dir eigentlich? Dass du den stellvertretenden Befehlshaber dieser Einheit anrempeln und dann einfach verschwinden kannst?«

Als man mich unsanft loslässt, sehe ich nach rechts, zu dem besagten Stellvertreter.

Seine eisblauen Augen taxieren mich feindselig, während er seine Feldmütze aufhebt und sie sich auf den geschorenen Kopf setzt. »Komm mir noch einmal so nahe, du hässliches Etwas, und ich werde dafür sorgen, dass du …« Doch er kann seinen Satz nicht zu Ende sprechen, da die gesamte Einheit plötzlich strammsteht. Auch dieser grauenhafte Stellvertreter reiht sich ein und strafft seinen Rücken, wenn auch widerwillig, wie ich erkenne.

»Was ist hier los?«

Ich erkenne die Stimme des griesgrämig dreinblickenden Kerls von vorhin. Wie es scheint, befehligt er diese Einheit.

Obwohl ich Angst habe, reiße ich mich zusammen. »Was hier los ist? Diese Männer wenden Gewalt an und lassen Drohungen verlauten, obwohl ich nichts Widerrechtliches getan habe!« Ich spucke ihm die Worte regelrecht entgegen, als er sich direkt vor mich stellt. Mein vorlautes Mundwerk ist mal wieder schneller als mein Verstand.

Ein leichter Wind kommt auf und zerzaust das längere, dunkle Haar meines Gegenübers. »Das tut mir leid, junge Dame. Das war dann wohl ein Missverständnis«, säuselt er fast schon charmant und fährt sich mit einer eleganten Handbewegung über das Wappen an seiner Brust.

Anders als die anderen scheint er nicht angewidert von mir zu sein. Die Dunkelheit ist womöglich noch nicht sehr weit fortgeschritten in ihm.

Seltsam.

Räuspernd recke ich mein Kinn in die Höhe und kann meine scharfe Zunge weiterhin nicht zügeln, obwohl es vermutlich klüger wäre. »Ein Missverständnis? Wie soll ich das verstehen? Ich glaube nicht, dass dieser hier«, ich zeige mit dem Daumen über meiner Schulter zu meinem Angreifer, »mich versehentlich an meinen Haaren gezogen hat.«

»Ach, hat er das?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.

Er geht mit festen Schritten an mir vorbei. Plötzlich ertönt ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem gequälten Stöhnen. Erschrocken drehe ich mich um.

Mein Angreifer hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die linke Seite und atmet erstickt ein und aus.

»Wenn du noch einmal ein wehrloses Mädchen angreifst, dann war das dein letzter Ritt unter meiner Führung. Hast du das verstanden?«

»Ja, General.« Die Schmerzen stehen dem Jungen ins Gesicht geschrieben. Dennoch steht er wieder stramm, als er antwortet.

Mein Magen macht einen Satz und ich drücke mir die Hand auf den Oberbauch. General? Das ist der General? Der, der die Wächtergarde anführt? Er wirkt lange nicht so angsteinflößend, wie ich es bei seinem Ruf erwartet hätte. Und auch nicht so alt.

»Nun geht und verrichtet eure Arbeit, Dienstmagd«, kommandiert er barsch, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Dienstmagd? Ich blinzle verdutzt.

Doch ja – natürlich. Wie ich direkt vor dem Dienstboteneingang so vor ihm stehe, das herabhängende Kleid an mich presse, muss ich wirklich ein klägliches Bild abgeben.

»Danke«, antworte ich nun doch etwas kleinlaut und schicke ein dankendes Stoßgebet zu den Göttinnen, dass er mich trotz meiner frechen Klappe und der Ohrfeige einfach so davonkommen lässt.

Schnell schlängle ich mich an den Wächtern vorbei, um ins Haus zu gelangen. Nicht nur einmal nehme ich wahr, wie mir die Worte »hässlich« oder »Missgeburt« nachgeflüstert werden. Obwohl ich es schon oft zu hören bekommen habe, verletzt mich diese Erniedrigung immer aufs Neue. Auch wenn ich weiß, dass es ihre dunklen Herzen und der benebelte Verstand sind, die mich so erscheinen lassen, tut es verdammt noch mal sehr weh.

Denn genau das ist meine Gabe, von der Seline behauptet, sie würde mir im Kampf gegen die Königsfamilie nichts nützen.

Daran, wie mich die Leute sehen, kann ich erkennen, wie weit sie der Dunkelheit verfallen sind. Ich habe zwei Gesichter. Entweder bin ich für sie Violetta, die mit ihrem abgemagerten Körper, aschgrauen dünnen Haar, blässlichem Gesicht voller kleiner Narben und beinahe schwarzen Augen die Hässlichkeit in Person darstellt. Oder ich bin die strahlende Violetta mit ihren goldbraunen leuchtenden Iriden, vollen Lippen, fülligen dunklen Haaren und rosigem Teint. Diese Version offenbart sich jedoch nur Menschen, welche noch ein gütiges und friedvolles Herz haben.

Verwirrt bleibe ich mitten auf der Steintreppe stehen und gucke zu diesem jungen General. Doch meine Gedanken verlaufen sich im Sand, da die Einheit plötzlich wieder strammsteht.

»Einheit!«

»Ja, General!«, schreien die Soldaten im Chor.

»Geht und sucht die McAnnon-Töchter. Wir sind bereits spät dran.«

Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sie sind jetzt schon da, um mich und meine Schwestern abzuholen.

Doch sie sind vier Tage zu früh.

2. Nora

»Kind! Hörst du mir zu?!«

Grandmas Stimme ist schneidend und verlangt nach Aufmerksamkeit, doch ich starre nur auf den verwitterten Boden unseres Schuppens. Es ist mir nicht möglich, in das vertraute Gesicht zu blicken, das uns so lange Lügen aufgetischt hat.

Doch hartnäckig, wie sie nun mal ist, ergreift sie meine Schultern und rüttelt fest daran. »Nora. Reiß dich zusammen! Sieh mich an!«

Nein, das will ich nicht. Ich schüttle meinen Kopf und schlage meine Hände auf die Augen, da meine Tränen mir bereits die Sicht verschleiern.

»Nora! Hör mir zu! Es ist wichtig!«

Ist das etwa Verzweiflung in ihrer Stimme? Vermutlich.

Aber es ist mir gleich.

»Nora Maria McAnnon! Schluss jetzt! Die Zeit rennt uns bereits davon«, tadelt sie mich. Ihre Finger an meinen Schultern werden immer drängender und ich spüre die Magie, die sie webt.

Ein gleißendes Licht blendet mich, obwohl ich die Hände schützend vor mein Gesicht halte. Noch bevor ich es fühle, weiß ich, dass Grandma versucht, meine Emotionen zu beruhigen.

Und zu meinem Leidwesen funktioniert es auch noch.

Verflixt! Dabei will ich nicht ruhig und konzentriert sein. Ich will Pippa anbrüllen und sie beschimpfen, denn nichts anderes hat sie verdient! Doch ich kann mich nicht wehren. Unwillentlich atme ich einmal tief durch und spüre, wie sich eine befremdliche Ruhe in mir ausbreitet. Sie fühlt sich falsch an, aber dennoch heiße ich dieses trügerische Gefühl willkommen, welches meine Wut nahtlos ersetzt.

»Du darfst mich bis zu deinem letzten Atemzug anschreien so viel du willst, aber zuerst, Nora, musst du mich anhören!«

Als ich meine Hände sinken lasse und endlich den Blick auf sie richte, wird mir bewusst, dass Grandma wie ein aufgescheuchtes Huhn wirkt. Ihre Augen versuchen, mich zu fokussieren, huschen jedoch immer wieder an mir vorbei, als würden sie durch den Schuppen etwas sehen, das mir verborgen bleibt. »Hast du dich wieder im Griff?«

Ich verschränke meine Arme ineinander, dennoch antworte ich mit einem ruhigen »Ja«.

»Gut.« Sie nickt. »Die Wache des Königreiches ist bereits angekommen, um euch mitzunehmen. Ich kann ihre unliebsame Aura bis ins Mark spüren.«

Normalerweise würden mich diese Worte beunruhigen, doch ich bleibe gelassen und ziehe nur meine rechte Augenbraue in die Höhe. »Wieso sind sie schon da?«, frage ich fast schon teilnahmslos.

»Um uns nur zu deutlich zu zeigen, dass man uns nicht respektiert. Nicht mehr.«

Missmut kriecht mein Rückgrat hoch.

Doch so schnell, wie diese Emotion gekommen ist, verfliegt sie auch wieder. Ich sehe zum Holzhaufen, wo Violetta sich befinden sollte, doch diese Ecke ist leer. Sie ist nicht mehr da. Wie auch Seline und Leandra, die schnellstmöglich zurück ins Haus gelaufen sind, nachdem Grandma uns weggeschickt hat.

All das ist mir gleichgültig.

Wie eine Marionette wende ich mich wieder Grandma zu. »Ja, aber nur, weil unsere Dienerschaft auf unser Geheiß behauptet hat, dass unsere Magie schwindend gering ist. Natürlich respektieren sie uns jetzt nicht mehr. Sie halten uns für schwach.«

Pippa legt ihren Kopf schief. »Was ihr nicht seid. Aber so hat man euch bis jetzt in Ruhe gelassen.« Sie hebt ihre knochige Hand und streichelt mir über die Wange.

»Was wir nicht sind. Natürlich nicht. Aber wir werden so tun, als ob.«

»Haltet euch so gut wie möglich daran. Haltet eure Magie in Zaum, tut so, als wärt ihr zerbrechlich, gar schwach. Zeigt euch demütig und dankbar, dass die Königin Mutter euch in das Königreich eingeladen hat. Dann wird man euch hoffentlich nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Vertraut nur ihr. Sie wird euch helfen und einen Plan für euch bereithalten«, Pippa kräuselt die Lippen, »sollte sie die Dunkelheit noch zurückdrängen können. Habt jeden Tag acht, wie es um sie steht. Vertraut ihr nur, wenn ihr euch sicher seid, dass sie Herrin ihrer Sinne ist.«

»Ja«, antworte ich umgehend.

»Und ebnet Leandra den Weg, so gut es geht! Das hat oberste Priorität! Sie muss den Kronprinzen betören, bevor die Prinzessin aus dem Westen anreist!« Ein goldenes Licht flackert in ihren Pupillen auf und ein wehmütiger Ausdruck zieht über ihr Gesicht, der mich kurz irritiert.

»Das weiß ich doch!«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Dann geht es los.

Ein Kribbeln durchfährt mich. Langsam, aber stetig breitet es sich von meinem Brustkorb bis hin zu meiner Kopfhaut aus und lässt diesen dämlichen Nebel verschwinden, der mir seit Grandmas Zauber die Klarheit genommen hat. Ich erschaudere.

Grandma schenkt mir ein anerkennendes, aber auch nervös wirkendes Lächeln. »Du wirst von Tag zu Tag stärker, Nora. Erstaunlich, wie schnell du bereits fremde Zauber von dir schütteln kannst.«

Ich möchte sie am liebsten ankeifen, doch das Zittern hat immer noch Überhand. Jedoch nicht mehr lange.

»Und bitte lass Violetta nicht aus den Augen. Versprichst du mir das?«

Mein Bauch rumort bei diesen Worten. Als ob man mir das sagen müsste! Das Kribbeln verwandelt sich nun in einen scharfen Schmerz, der durch meine Beine fährt, sodass mir kurz schwarz vor Augen wird und ich beinahe einknicke.

Grandmas Hände schießen auf mich zu und umfassen meine Taille, doch ich stoße sie von mir, da Enttäuschung, Trauer und Wut mich wieder fest im Griff haben. »Fass mich nicht an, Pippa.«

Sie hebt zur Kapitulation ihre Hände und schließt gleichzeitig ihre Lider.

»Natürlich werde ich mich um Vi kümmern, so gut es geht«, donnere ich los. »Ich werde sie wieder unbeschadet heimbringen. Sie ist schließlich meine Schwester, egal woher sie kommt!«

Pippa öffnet wieder ihre Augen und das Grau in ihnen schimmert heller als zuvor – vor lauter Dankbarkeit nehme ich an. Ich schnaube auf. »Und was war das überhaupt für ein Bündnis, das du über uns gelegt hast? Ohne unser Einverständnis?« Ich wische mir den Schweißfilm von meiner Oberlippe und der Stirn. Pippa knirscht mit den Zähnen. »Es ist ein Band, das euch Schwestern miteinander verbindet, euch aber gleichzeitig an euer Schicksal erinnern wird.«

Ich seufze auf. »Was soll ich mit diesen Aussagen anfangen? Geht es etwas genauer?«

»Ihr werdet einander spüren, wenn ihr euch in eurer Nähe befindet.« Sie weicht meinem Blick aus und geht auf den kleinen Heuhaufen zu, der neben der Tür liegt. Sie bückt sich, als würde sie nach etwas greifen wollen, dann lässt sie es und drückt stattdessen ihre Hände an die Brust. »Zu gegebener Zeit werdet ihr wissen, wenn eine von euch leidet oder Hilfe braucht. Der Zauber ist noch frisch, aber spätestens morgen solltet ihr einander fühlen können.«

»Toll, also noch eine Fähigkeit mehr, die wir dann vertuschen müssen.« Ich atme wütend aus. »Grandma! Es ist so schon schwer genug, unsere Magie unterdrücken zu müssen.«

»Ihr werdet mir noch dankbar sein für diesen Schwur.« Sie dreht sich wieder zu mir um. »Vor allem du, Nora.«

Überrascht suche ich ihren Blick. »Was hast du in meiner Zukunft gesehen? Sag es mir!«

»Das Schicksal.«

»Was?«

Grandma kommt auf mich zu und nimmt meine Hände in ihre. Sie sind feucht und knochiger denn je. Schon seit Wochen hat sie beständig an Gewicht verloren und kränkelt dahin. Ein Bündnis ist eine unheimlich starke Magie – stärker als jeder Zauber –, der man somit gewachsen sein sollte. Grandma weiß um all diese Dinge, und trotzdem hat sie ihn gewirkt. Es hätte ihr Ende sein können.

Wie kann sie nur so töricht sein? »Mehr kann ich dir nicht sagen«, antwortet sie mit Tränen in den Augen. Sie drückt fest zu und ich lasse sie gewähren. Für die nächste Zeit wird es unser letzter Körperkontakt sein. Ich schlucke meine aufkommenden Fragen und den Groll hinunter und lehne meine Stirn an ihre, auch wenn es mich an Überwindung kostet. »Pass auf dich auf, während wir nicht da sind.«

Ich spüre, wie sie nickt.

»Sobald wir uns wiedersehen, verlange ich aber einige Antworten von dir! Und sieh zu, dass du dich mit den Feenschwestern wieder verträgst! Sollte etwas schieflaufen, wäre es gut zu wissen, dass wir bei ihnen Unterschlupf finden würden.«

Es schüttelt sie einen Moment so stark, als hätte sie Fieber. »Du warst schon immer die Sturste von allen. Behalte dir diesen Wesenszug. Er wird dir dein Überleben sichern.«

»Was hast du nur gesehen?«, hauche ich.

Sie holt tief Luft. »Vieles. So vieles. Doch wir können nur vertrauen. Vor allem in uns selbst. Vergiss das nicht. Niemals.« Ihre Worte kommen stockend und leise über die Lippen. Dann lässt sie mich abrupt los, rauscht von mir weg und öffnet die Holztür.

Warmer Wind peitscht mir ins Gesicht, und der emporwirbelnde Staub steigt mir in die Nase.

»Ich liebe dich, Nora. Pass gut auf dich auf.«

Gerade will ich ihr antworten, dass ich sie auch liebe, da wirft sie mir einen so eindringlichen Blick zu, der mir die Haare zu Berge stehen und mich meine Worte wieder hinunterschlucken lässt.

»Und habe keine Angst vor der Liebe.«

Das Wort Liebe hat sie extra laut betont.

Ich stutze.

Was hat unser Auftrag denn mit Liebe zu tun?

Doch auf eine Antwort warte ich vergeblich. Ohne jede weitere Erklärung schlägt sie die Tür hinter sich zu.

3. Violetta

Jeder Schritt mahnt mich, erinnert meine Seele daran, wer ich eigentlich bin.

Die Zeiger drehen sich. Tonnenschwer und dennoch unaufhaltsam besiegeln sie meinen Lebenssinn.

Das Ticken schürt meine Angst und mein Bangen.

Denn das Böse im Menschen wird mehr – diese Schwärze, diese Gier, sie schürt mein Verlangen.

Nur verstehe ich es nicht. Was soll ich mit diesem Gefühl, welches meinen Verstand lässt verstummen?

Dieses Begehren breitet sich immer weiter aus, beginnt mit jedem Tag lauter zu summen.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Hastig laufe ich durch die offenstehende Dienstbotentür, vorbei an Gemüsebergen, eisernen Milchkannen und Büscheln aufgehängter Kräuter. Ein leichter Rosmarinduft sticht mir in die Nase und ich muss mich zusammenreißen, um nicht einer Tirade an Niesattacken zu erliegen. Bei der großen Steintreppe angekommen, die in den ersten Stock führt, halte ich mir mit meinem linken Zeigefinger und Daumen die Nase zu, während ich mit der rechten Hand mein rutschendes Kleid fixiere.

Egal ob Rosmarin, Salbei, Lavendel, Lorbeer – kaum nehme ich ihre Präsenz wahr, sträubt sich etwas in mir. Was natürlich für eine Hexe alles andere als förderlich ist, da wir unsere Ahnen allesamt mit Gaben von Kräutern und dem Räuchern ehren. Noch nie war es mir möglich, an einem der Jahreskreisfeste teilzunehmen. Die letzte Stufe überspringe ich, da meine Augen bereits zu jucken beginnen. Ich schnaube auf und reibe mir über das Gesicht, bevor ich auf das letzte Zimmer im sonnendurchfluteten Gang zurenne. Ohne mich vorher anzukündigen, öffne ich die Tür.

Mein suchender Blick schweift durch das helle Zimmer voller Bücherstapel, die stets nach Farben sortiert, dennoch einfach mittig im Raum verteilt stehen. Leandra sitzt auf ihrem alten Schaukelstuhl vor dem Erkerfenster, durch welches sanfte Sonnenstrahlen fallen. Als sie mich sieht, fährt sie sich mit einer hastigen Bewegung über die Wangen.

Sie hat geweint.

Ich schlucke, obwohl mein Mund staubtrocken ist.

Leandra bewahrt ihr Innerstes wie einen Schatz. Nicht einmal, als Grandma ihr ihre Gabe prophezeite, hat sie eine Träne vergossen. Keine einzige. Obwohl sie damals unsterblich in Emil, den Sohn unseres ehemaligen Kutschers, verliebt war.

Und er ihn sie.

Leandra, unser Todesengel. Eine Gabe, die ihr schwer auf den Schultern lastet, auch wenn sie es niemals zugeben würde. Doch die Traurigkeit in ihren Augen spricht eine andere Sprache. In ihnen wohnt seit jeher eine Sehnsucht nach Liebe.

»Hör auf, mich so anzusehen!«, wettert sie los und ihr Gesichtsausdruck wechselt innerhalb eines Wimpernschlags von betrübt zu wütend. Argwöhnisch verfolgt sie jeden meiner auf sie zukommenden Schritte, während sie die Hände ins weiße Kissen krallt, das einst Mutter gehört hat. Bestimmt fragt sie sich, was ich hier will, da ich es sonst vermeide, sie aufgrund ihrer ständigen Launenhaftigkeit zu besuchen.

»Leandra, wir haben jetzt keine Zeit zu streiten.« Ich gehe schnurstracks an ihr vorbei, öffne das Fenster, vor dem sie zusammengekauert sitzt, und suche die Umgebung nach Wächtern ab.

Doch ich sehe niemanden.

Leandra ächzt auf. »Was soll das? Kommst einfach ungefragt in mein Zimmer! Und was ist überhaupt mit deinem Kleid …«

»Die Wächter sind bereits da, um uns abzuholen«, unterbreche ich sie und drehe mich gehetzt zu ihr um. »Ich bin ihnen vorhin unten begegnet, sie werden jeden Moment hier auftauchen.«

Einen Moment lang starrt sie mich mit vor Schreck geweiteten Augen an, dann springt sie so schnell von ihrem Stuhl auf, dass Mutters Kissen achtlos auf den Boden fällt. »Was?«

Plötzlich läuft sie in die andere Ecke des Zimmers, vorbei an ihrem großen Himmelbett zu den zwei Holztruhen, zwischen denen ein brauner Bücherstapel meiner Größe in die Höhe ragt.

»Wieso, wieso, wieso …?!« Hektisch öffnet sie erst die eine, dann die andere Truhe. »Meine ganzen guten Kleider sind noch in der Waschküche! Ich kann noch nicht abreisen!«

Man könnte jetzt meinen, dass dies unser geringstes Problem wäre, doch da Leandra unser Trumpf im Ärmel ist, ist es tatsächlich ein Hindernis.

»Deswegen bin ich so schnell zu dir gekommen! Lauf runter und sammle deine besten Gewänder ein!«, dränge ich sie. Sie nickt mir zwar zu, bewegt sich jedoch nicht. Stattdessen fahren ihre Finger über ihr weinrotes, schlichtes Tageskleid und sie blickt verloren auf den gehäkelten Teppich, den Nora ihr einst geschenkt hat. Erst, als ich meine Hände in die Luft schmeiße und »Lauf« fauche, hechtet sie zur Tür.

Im selben Moment zieht eine warme Brise vom offenen Fenster durch das Zimmer und kitzelt meinen durchgeschwitzten Rücken. Zuerst langsam und angenehm, doch dann mit solch einer Wucht, dass diese mich quer durchs Zimmer zurück zum Schaukelstuhl katapultiert.

Ich schreie auf, genauso wie Leandra, die soeben nach der Türklinke greifen wollte und sich von einem Herzschlag auf den anderen wieder bei den Truhen befindet. Mehrere von Leandras hohen Bücherstapeln sind ebenso laut scheppernd umgestürzt.

»Was war das?«, fragt sie verängstigt und guckt aufgelöst in jede Ecke des Zimmers.

Ratlos schüttle ich den Kopf und drehe mich um, will das Fenster schließen, als es plötzlich fest und unnachgiebig an der Tür klopft. Ich verharre inmitten der Bewegung. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Keine unserer Schwestern würde mit dieser Inbrunst anklopfen.

»Ich bitte um Einlass.«

Die Stimme, die mehr als deutlich durch die Tür dringt, erkenne ich sofort wieder. Es ist die des jungen Generals.

Er wartet eine Zustimmung gar nicht erst ab und öffnet einfach die Tür. Sofort verstecke ich mich hinter dem Schaukelstuhl und quetsche Mutters Kopfkissen an mich. Ich will nicht, dass er mich wiedererkennt. Egal, welche Version von mir. Soll er doch glauben, ich sei nur eine Dienstmagd.

»Miss …?«

Leandra hüstelt kurz und der knarrende Dielenboden verrät mir, dass sie sich auf ihn zubewegt.

»Miss Leandra McAnnon. Und Ihr seid?«, fragt sie knapp. Kein Zeichen von Unsicherheit und Angst sind mehr in ihrer Stimme auszumachen.

Der General lacht höhnisch auf. »Ah, Miss Leandra. Ich habe schon viel von Eurer Schönheit gehört. Im Königreich ist man schon ganz gespannt auf Euch«, säuselt er unverschämt und ich rolle mit den Augen. »Ich bin der General der Wache und erster Kommandant des Kronprinzen«, sagt er aufgesetzt und mit so monotoner Stimme, als hätte er diesen Satz schon unzählige Male zuvor aufsagen müssen und würde sich dabei zu Tode langweilen.

»Ja. Nun denn, willkommen im Hause McAnnon. Dennoch bin ich etwas überrumpelt, da wir erst in vier Tagen abgeholt werden sollten.«

»Nun ja, das tut mir leid, Euch so überfallen zu müssen. Aber die Königin hat beschlossen, dass Eure Gesellschaft bereits früher wünschenswert wäre.«

Er klingt überhaupt nicht so, als würde es ihm leidtun.

»Nun, dann werdet Ihr wohl verstehen, dass ich noch Zeit brauche, um meine Sachen zu packen.«

»Nein.«

»Nein?«, wiederholt sie pikiert.

»Genau. Nein«, antwortet er prompt.

»Und wieso, wenn ich fragen darf?«

»Weil alles, was Ihr benötigen werdet, im Schloss zu finden ist. Also, kommt. Jetzt.«

Dieser herrische Jüngling von General kann es wohl nicht abwarten. Mich kriegt er jedenfalls nicht zu Gesicht, solange ich kein Tuch um mich gehüllt habe. »Gut. Aber ich würde Euch dennoch bitten, kurz draußen zu warten, damit ich mich noch umziehen kann.«

»Ihr meint wohl, bis die junge Dame hinter dem Schaukelstuhl sich etwas angezogen hat?«

Wie bitte?

Automatisch schiebe ich das Kissen höher, sodass mein glühend heißes Gesicht von ihm abgeschirmt wird.

»Ähm … ja, so ist es. Also, wenn ich bitten dürfte?« Leandras Selbstsicherheit schwindet mit jedem weiteren Wort.

Es dauert ein paar quälend lange Atemzüge, bis er antwortet. »Ich warte draußen. Kurz.« Und schon höre ich die schweren Stiefel, wie sie Richtung Tür marschieren.

Leandra schnauft durch.

Ich lasse Mutters Erinnerungsstück fallen und hüpfe hinter dem Stuhl hervor, kaum dass die Tür aufreibend langsam ins Schloss fällt.

»Um Himmels willen, Violetta! Was machen wir jetzt nur?« Leandra nimmt meine Hände fest in ihre. Sie zittern leicht.

»Beruhige dich erstmal.« Ich löse mich von ihr, gehe zu einer der Truhen und befördere ein Kleid nach dem anderen in den Raum, bis ich endlich eines gefunden habe, das Leandras Schönheit gerecht wird.

Mit einem schwarzen Kleid aus Seide drehe ich mich um und halte es ihr vor die Nase. »Zieh das an. Es untermauert deine Schönheit.«

Sie schüttelt nur verständnislos den Kopf.

»Es hebt deine feinen, hellen Züge hervor. Und gleichermaßen wird durch diesen Kontrast dein wunderschöner Kussmund betont.« Ich sehe sie eindringlich an und nicke ihr zu, in der Hoffnung, dass sie versteht, was ich meine. Viel mehr kann ich nicht dazu sagen, da die Mauern in diesem alten Gebäude dünn sind, ganz zu schweigen von der Tür.

Sie begreift, wenn auch mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck, und beginnt sich umzuziehen.

Ich überlege nicht lange und folge ihrem Beispiel. Schnell schlüpfe ich in eine aschgraue Bluse und einen ausladenden langen, schwarzen Rock. Bis auf die Augen verhülle ich mein Gesicht ebenfalls mit einem schwarzen Tuch, welches ich in der zweiten Truhe finde.

Ich werde behaupten, eine Kinderkrankheit hätte mein Gesicht derart verunstaltet, dass es den Majestäten nicht zumutbar wäre, mich zu sehen. Das haben Grandma und ich jedenfalls so vereinbart. Sollten sie dennoch verlangen, dass ich es abnehme, werden die tiefen Furchen in meinem blassen Gesicht diese Lüge nur bestärken. Meine groben Locken binde ich zu einem hochgesteckten Knoten zusammen.

Während Leandra sich mit ihrem kleinen Kamm noch die Haare kämmt, schnüre ich meine alten Stiefel neu.

Meine Schwester wirft mir zwar einen abschätzigen Blick zu, da sie mein Schuhwerk nicht leiden kann, doch sie weiß, dass es keinen Sinn hat, mit mir darüber zu streiten.

Leandra schlüpft derweil in Sommersandalen, da ihr Kleid einen kleinen Schlitz hat und ihre langen Beine so am besten zur Geltung kommen. Gerade, als sie ihrem Lieblingskissen noch einen traurigen Blick zuwirft, klopft es wieder ungehalten an der Tür und wir zucken zusammen.

»Zeit aufzubrechen!« Seine Tonlage lässt darauf schließen, dass er keinen Moment mehr auf uns warten wird.

Ich kann nicht anders und schnaube absichtlich laut auf.

»Violetta! Lass das!«, tadelt meine Schwester mich und ich beiße mir in die Wange, um den Mund zu halten.

Kurz bevor sie die Hand zur Klinke führt, atmet sie noch einmal tief durch, nimmt die Schultern zurück und streckt die Brust aus.

Ich dagegen werde nun doch etwas scheu und verstecke mich vorerst hinter ihrem Rücken.

Grandma kommt mir in den Sinn – ihre Lügen, unser Streit, der holprige Abschied, der eigentlich keiner war. Auch wenn mich ihr Verrat zerrissen hat und meine Zweifel in mir lauter schreien als je zuvor, muss ich sie noch mal sehen. Ein letztes Mal, damit ich diesen kummervollen Ausdruck der Schuld aus meinem Gedächtnis streichen kann, der mir von ihr in Erinnerung geblieben ist.

Ich greife mir mit der linken Hand auf mein Herz, das sich wie so oft in letzter Zeit schmerzhaft zusammenzieht, um anschließend wie von Sinnen zu rasen. Als könnte es sich nicht entscheiden. Nur weiß ich nicht zwischen was.

Dann öffnet Leandra die Tür.

4. Nora

Bah! Die Liebe!

Ich schüttle verständnislos meinen Kopf, da mir Grandma mit ihren rätselhaften Aussagen manchmal gehörig auf den Geist geht. Wieso sagt sie uns nicht einfach, was sie sieht? Würde uns einiges erleichtern! Aber nein! Man soll dem Schicksal vertrauen! Und ihre Lügen am besten auch noch gutheißen, oder wie?

So ein Humbug!

Ich verlasse den kleinen Schuppen und renne den gepflasterten Weg entlang zu unserem großen, etwas rostigem Tor. Unsere Laufenten Belle und Lilli watscheln mir entgegen und quaken empört, weil ich einfach über sie hinwegspringe. Aber ich kann mich jetzt wirklich nicht um meine zwei Lieblinge kümmern. Meine Gedanken wandern weiter zu Vi.

Wo sie wohl ist? Ich muss sie so schnell wie möglich finden. Sie wird sich wahrscheinlich die Augen aus dem Kopf weinen, verzweifelt sein und Angst haben. Ich will ihr sagen, dass es mir sowas von einerlei ist, woher sie kommt. Sie ist meine Schwester und wird es immer bleiben, egal welches Blut in ihr fließt.

Und außerdem muss sie erfahren, dass die Wächter schon hier sind. Wie Seline und Leandra auch.

Das Tor steht sperrangelweit offen und ermöglicht mir so eine uneingeschränkte Sicht auf unsere mit Birken und Rosenbüschen besäumte Zufahrt. Weder sehe ich Kutschen noch Wachen oder Pferde. Ich nehme meine dunkelblaue Schürze in beide Hände und laufe zur Eingangstür. Die wärmenden Strahlen des Spätsommers lassen einen Schweißfilm in meinem Nacken entstehen und mein beiges Tageskleid an meiner Haut kleben. Nicht nur einmal muss ich mir meine Locken aus dem Gesicht wischen, weil sie sich dort ständig in meinen langen Wimpern verfangen.

Mir stechen die zwei geflochtenen Kränze aus Beifuß und Salbei in die Augen, je näher ich unserer weiß gestrichenen Eingangstür komme. Sie sollen unser Anwesen vor dem Bösen schützen. Auch an jedem unserer mit Blumenkästen überfüllten Fenstern findet sich einer dieser Kränze, die Grandma immer zu den Jahreskreisfesten bindet, um so viel Zauber wie möglich in sie zu heften und die bösen Ahnen fernzuhalten, die an diesen besonderen Tagen gerne ihr Unwesen treiben.

Schön wäre es, wenn sie auch die Wächter auf Abstand hielten.

Die Tür quietscht leise, als ich sie öffne.

Ein paar nervöse Herzschläge lang halte ich inne. Erst dann wende ich meinen Kopf nach rechts, Richtung Dienstbotentür, doch sie ist geschlossen. Kurz schließe ich meine Augen, um mich besser meinem Gehör zu widmen. Doch nein, ich höre weder Befehle noch Stiefelgetrampel. Nicht der leiseste fremde Hauch ist vernehmbar.

Merkwürdig.

Ich hätte gedacht, dass die Garde des Königreichs ihrem Ruf alle Ehre macht und ohne Anstand in unser Haus einfällt. Ohne Vorsicht oder einen Funken Ehre.

Mit eiligen Schritten taste ich mich nach links in unsere große Küche vor, in der ich eigentlich längst Kartoffeln schälen wollte. Sie liegen noch wie Stunden zuvor aufgetürmt auf dem kleinen Beistelltisch und warten auf ihre Köchin – auf mich.

Da das Kochen im Hause McAnnon schon von klein auf eine meiner liebsten Beschäftigungen war, mussten unsere Hausmädchen schon seit jeher die Küche mir überlassen.

Ein Anflug von Wehmut macht sich in mir breit, als ich an meine Küchengehilfin Bonnie zurückdenke. Wie lange ist es schon her, seit sie und die anderen in den Süden geflüchtet sind, um der Dunkelheit zu entkommen? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken, seit Grandma uns am letzten Vollmond mitgeteilt hat, dass man uns ins Königreich einladen wird, damit wir offiziell den Majestäten vorgestellt werden – diese Lüge, welche unsere Eintrittskarte ist.

Abgesehen von der Königsfamilie und der Ahnenlinie der dunklen Hexe im Westen sind wir die einzige Familie in Eventorra, in welcher magisches Blut fließt. Dennoch wäre es traditionsgemäß angebracht gewesen, schon längst das Königreich aufzusuchen. Gut, dass die Königin Mutter es nun geschafft hat, ihre Familie davon zu überzeugen. Denn die Sitte, einander zu schwören, mit der Magie in unserem Blut das Land und deren Bewohner zu schützen, gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr. Die Zeit, in der die Menschen im Süden, das Königreich und die Feen im Osten in einem guten Miteinander lebten, ist vorbei. Sie ist vorüber, seit die dunkle Hexe des Westens ihre schwarze Magie über das Land verbreitete und die Schwärze sich in die Herzen der Menschen des Königreichs stahl.