Ever & After, Band 1: Der schlafende Prinz (Knisternde Märchen-Fantasy der SPIEGEL-Bestsellerautorin Stella Tack) - Stella Tack - E-Book

Ever & After, Band 1: Der schlafende Prinz (Knisternde Märchen-Fantasy der SPIEGEL-Bestsellerautorin Stella Tack) E-Book

Stella Tack

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Beschreibung

Wahre Märchen beginnen nicht mit ES WAR EINMAL, sondern mit einem Kuss. Mit einer Familie, die von Schneewittchen abstammt, ist Rain Whites Leben schon kompliziert genug. Nun muss sie auch noch einen schlafenden Prinzen küssen! Doch als Rain an ihrem 18. Geburtstag in die Gruft unter dem Tower of London hinabsteigt, löst sie eine Katastrophe aus: Ihr Kuss weckt nicht nur den Prinzen auf, sondern auch einen uralten Fluch. Um die Märchenfamilien zu retten, muss Rain sich sieben Prüfungen stellen – und darf nicht vergessen, dass ihr Herz ihre größte Schwachstelle ist. Weitere unvergessliche Romance und spannende Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Stella Tack: Kiss the Bodyguard: Bd. 1: Kiss Me Once Bd. 2: Kiss Me Twice Bd. 3: Kiss Me Now Night of of Crowns: Bd. 1: Spiel um dein Schicksal Bd. 2: Kämpf um dein Herz

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Seitenzahl: 737

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2023Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg© 2023 Ravensburger Verlag GmbHText © 2023 Stella TackDieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski unter Verwendung von Fotos von Shutterstock: © VladyslaV Travel photo, Ole moda, kaisorn, Media Guru, Breezy Point, Mischokom, Mr. Rashad, popular.vector, KASUE, Iryna_Shancheva, Gizele, armo.rs, Turan Ramazanli, Croisy, soponyono und DISTROLOGO.Lektorat: Tamara Reisingerwww.tamara-reisinger.deAlle Zitate aus Märchen stammen aus: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Gesamtausgabe mit allen Zeichnungen von Otto Ubbelohde in zwei Bänden [Erster Band Märchen Nr. 1–93, zweiter Band Märchen Nr. 94–200]. Nach der Großen Ausgabe von 1857. München 2005. Der Märchen- und Eigenname »Sneewittchen« wurde im vorliegenden Werk in »Schneewittchen« umgewandelt.Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-473-51202-7ravensburger.com

Für meine Schwester, damit sie aufhört, die falschen Prinzen zu küssen, und auch mal die Frösche in Betracht zieht.

PROLOG

Es war einmal vor sehr langer Zeit, als sich der Anfang in das Ende verliebte. Manche sagen auch, die Sonne habe sich in den Mond verliebt, das Licht in die Dunkelheit, das Gute in das Böse, das Alles in das Nichts.

Die beiden hatten genauso viele Namen wie Gesichter, doch gemeinhin wurden sie der Sonnenkönig und die Königin der Nacht genannt. Sie liebten einander inniglich und regierten als die ersten Götter über eine Welt, die voller Wunder war, mächtig, jedoch auch ungezähmt und voller Chaos. Es dauerte nicht lange, da wurden aus dem Chaos neue Götter und Göttinnen geboren. Die Erste war eine Frau, die aus der Erde selbst zu entsteigen schien, und mit ihr kam Vater Himmel.

Mutter Erde war liebevoll, eine Stimme der Harmonie in all dem Chaos, doch sie konnte auch ungestüm und wild sein und die Welt in ihrer Wut erschüttern. Vater Himmel hingegen war weise, seine Gedanken grenzenlos und sein Wille unbeugsam, doch seine Arroganz und sein Hochmut waren genauso grenzenlos wie der Horizont selbst.

Beide waren auf den ersten Blick vollkommen gegensätzlich, und dennoch existierten sie in perfekter Harmonie miteinander.

Ihnen folgte eine Maid mit Augen voller Unendlichkeit und Haaren gesponnen aus Gold. Wenn sie lachte, ging die Sonne auf, wenn sie träumte, strich der Mond über ihre Wangen. Der Sonnenkönig und die Königin der Nacht liebten sie inniglich, und die Maid wurde fortan Schwester Zeit genannt. Die Welt wurde ruhiger, gezähmt von den Göttern, das Chaos war beinahe versiegt. Nun, beinahe.

Ein letztes Mal noch bäumte sich das Chaos auf. Die Erde erbebte, die Berge spien Feuer in den Himmel. Und mit dem Sturm und dem Regen kam der letzte der Götter. Das Chaos erlosch zu einem kalten Herzen, das von nun an in der Brust von Bruder Schicksal schlug.

Als das Chaos gebändigt war, konnte sich weiteres Leben auf der Erde entwickeln, und so kam es, dass die ersten Menschen begannen, die Welt zu bevölkern. Die Götter waren fasziniert, denn im Gegensatz zu ihnen selbst waren diese Menschen endlich, ihr Leben dauerte nicht länger als ein Wimpernschlag, und dennoch vermochten sie Dinge zu tun, zu denen die Götter selbst nicht fähig waren: Die Menschen brachten Leben hervor. Kinder wurden zu Frauen und Männern, und aus Frauen wurden Mütter, aus Männern Väter. Das Lachen der Kinder klang wie Musik in den Ohren der Götter.

Voller Neugier mischten sich die Götter unter die Menschen, und es heißt, dass sie jene Kinder, die ihnen am meisten am Herzen lagen, mit Magie beschenkten und ihnen Prüfungen auferlegten. Jene Menschen, die diese Prüfungen bestanden, erhielten die Gunst der Götter – und damit neben Magie, Reichtum und Ländereien auch das Geschenk der Unsterblichkeit. So sammelten sich die Günstlinge als Höflinge unter den Göttern, die ersten adeligen Familien, die später als die ersten Märchenfamilien in die Geschichtsbücher eingingen.

Die Menschen waren glücklich, die Welt selbst voller Magie und Wunder, während die Götter in Harmonie regierten. Ihre Existenz war unendlich. Keiner von ihnen kannte Kummer oder Leid. Sie waren glücklich. Nun, zumindest die meisten von ihnen.

»Ich weiß es: Die Königin der Nacht war traurig!«, platzte es aus mir heraus.

»Pst, hör auf zu unterbrechen, Rain«, zischte Fiona mir zu, und das schwarze Haar wehte ihr in der leichten Sommerbrise um die Schultern.

Obwohl Fiona mit zwölf fünf Jahre älter war als ich, behauptete sie immer, wir würden wie Zwillinge aussehen. Doch das stimmte nicht. Fionas Haut war viel heller als meine, da sie viel mehr Zeit in der Bibliothek verbrachte, um zu lernen. Dinge für große Mädchen, wie Großmutter zu sagen pflegte. Und ich war kein großes Mädchen. Zumindest wenn es nach unserer Großmutter ging. Fionas Haare waren lang und glatt, meine eigenen immer störrisch, und seit mein Cousin Avery mir einen Kaugummi in die Haare geklebt hatte, waren sie so kurz, dass sie an den Ohren kitzelten.

Meiner Meinung nach waren das Einzige, was sich bei Fiona und mir wirklich glichen, unsere Augen. Sie waren blau. Ebenso wie Mamas und Tante Lillys und Grandmas Augen. Angeblich hatte Tante Pansy auch blaue Augen gehabt. Damals vor … ich war nicht sicher, vor was, denn Mama und die anderen wurden dann immer still. Aber da Avery, mein Cousin und ihr Sohn, seit ich denken konnte, bei uns war, musste sie schon sehr, sehr lange weg sein.

»Kinder, ich bitte um Aufmerksamkeit!« Grandma ließ das Märchenbuch sinken und blickte uns streng an. Sie saß auf der alten Bank unter dem alten Apfelbaum vor unserem Haus. Mit der langen Nase und dem stechenden Blick erinnerte sie mich immer an eine Krähe. Nur Angst einflößender.

»Rain muss immer stören«, fuhr Fiona mich an.

»Das stimmt doch gar nicht«, rief ich zurück, während mir vor Wut die Hitze in die Wangen schoss. »Die Geschichte ist aber doof. Wir haben sie schon eine Million Mal gehört. Mindestens!«

»Du bist so kindisch«, zischte Fiona und warf das lange Haar hinter sich. Ein Schmetterling flatterte um sie herum. Tiere liebten Fiona. Sie war immer von Schmetterlingen umgeben. Wie eine Blume. Allerdings eine giftige Blume. Ich funkelte sie an.

»Das reicht«, sagte Großmutter, und der strenge Ton in ihrer Stimme reichte aus, um uns beide zum Verstummen zu bringen. Sie rückte ihre runden Brillengläser zurecht, und die goldene Fassung blitzte im Sonnenlicht auf. »Fiona. Es schickt sich nicht für eine junge Dame, die Fassung zu verlieren und laut zu werden.«

»Aber Rain hat …«

»Rain«, unterbrach Großmutter sie und sah mich mit solch einem bohrenden Blick an, dass ich in mich zusammensackte. Großmutters Blick war immer unangenehm schwer. »Rain muss lernen, zuzuhören. Du magst diese Geschichte schon kennen, aber du hast sie nicht verstanden.«

»Ich verstehe sie sehr wohl«, sagte ich trotzig, und Fiona kniff mich ungefällig ins Bein. Ziege.

»Nun, wenn das so ist, kannst du gern zurück ins Haus gehen. Ich bin sicher, Avery freut sich, Gesellschaft zu haben.«

»Nein.« Ich blinzelte sie an und nestelte an einem losen Faden an meinem weißen Kleid herum. Das hohe Gras kitzelte zwischen meinen nackten Füßen. Mein linkes Knie war aufgeschürft, seit ich versucht hatte, auf dem Apfelbaum höher zu klettern als Avery. »Warum darf Avery eigentlich nie mit zur Geschichtsstunde? Ich glaube, er würde auch gern dabei sein.«

Großmutter runzelte die Stirn und schnalzte mit der Zunge. »Avery ist ein Hunter.«

»Ist das schlimm?«

»Er kommt nach seinem Vater. Aber wir, wir sind Whites.«

Wie immer wenn Großmutter das sagte, lag etwas in ihrer Miene, was mir den Atem stocken ließ. Es ließ mich mich wichtig fühlen.

»Wir tragen ein mächtiges und uraltes Erbe in uns. Wir stammen von den ersten Märchenfamilien ab, die von den Göttern selbst mit Magie und Unsterblichkeit beschenkt wurden.

»In unseren Adern fließt blaues Blut, altes Blut, mächtiges Blut. Wir und die anderen Märchenfamilien sind die letzten Erben von echter Magie. Fiona?« Ihr Blick bohrte sich in die Augen meiner Schwester, die ihre zarten Schultern straffte. »Wer waren die ersten Märchenfamilien, die von den Göttern beschenkt wurden?«

»Die Götter haben besonders vielversprechenden Menschen magische Gaben geschenkt und ihnen schwere Prüfungen auferlegt. Wer diese Prüfungen erfolgreich bestanden hatte, bekam die Gunst der Götter und wurde neben Unsterblichkeit auch mit Land und Reichtum gesegnet. Wie viele es genau waren, weiß man nicht mehr, da viele Märchen im Laufe der Zeit verloren gegangen sind, aber ein paar der größten adeligen Höflinge waren die Familien aus: Aschenputtel, Rapunzel, Schneewittchen, Froschkönig, Dornröschen, Schneeweißchen und Rosenrot, Allerleirauh, die sechs Schwäne, Drosselbart, die zertanzten Schuhe, die Gänsemagd und die drei Schlangenblätter.«

»Unter anderem … aber sonst ist das korrekt.« Großmutter wandte sich an mich. »Rain? Welches Erbe tragen wir in uns weiter?«

»Wir stammen von der Familie Schneewittchen ab«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.

»Das ist korrekt«, sagte sie, und ein Ausdruck von Stolz huschte dabei durch ihre Augen.

»Unsere Vorfahrin war Schneewittchen. Sie wurde eine der mächtigsten Höflinge, nachdem sie drei schwere Prüfungen bestanden hatte. Welche Prüfungen waren das, Rain?«

Nervös schielte ich zu Fiona hinüber, die auf dieselbe Weise lächelte, wie es sonst Großmutter tat, wenn sie ihr Gegenüber für dumm hielt, aber zu höflich war, es auszusprechen. Trotzig funkelte ich sie an und sagte: »Sie wurde von einem Kamm vergiftet, einem Korsett stranguliert und erstickte an einem Apfel. Als sie alle Prüfungen bestanden hatte, wurde sie am göttlichen Hof aufgenommen.«

Das ging runter wie Butter. Das Wort stranguliert hatte Avery mir beigebracht.

Fiona presste die Lippen zusammen, ehe sie betont freundlich lächelte und mir den Kopf tätschelte: »Gut gemacht, Rain.«

»Lass das«, sagte ich und wischte ihre Hand von meinem Kopf.

»Was denn? Ich habe dich doch nur gelobt.«

»Nein, du machst dich lustig über mich.«

»Kinder!«, fuhr Großmutter uns an und sah uns scharf an, bis wir wieder voneinander abrückten. Granny seufzte, ehe sie fortfuhr: »Wer kann mir …?«

»Großmutter?«, unterbrach ich sie, und Granny seufzte erneut.

»Was ist, Rain?«

»Welche Gabe hat Schneewittchen von den Göttern bekommen?«, fragte ich leicht atemlos.

Großmutter lächelte, was leichte Fältchen um ihren Mund zauberte, die weicher aussahen als der Rest von ihr. Beinahe verschwörerisch sagte sie: »Sie wurde mit der Gabe eines reinen Herzens beschenkt.«

Die Enttäuschung ließ mich wieder die Lippe nach vorn schieben. »Das ist alles?«

»Wie, das ist alles? Was hast du denn erwartet?«, fragte mich Großmutter irritiert.

»Ich dachte an etwas Magischeres, etwas Cooleres«, sagte ich, und Großmutter sah aus, als hätte ich ihr einen Frosch in die Suppe gelegt.

»Etwas Cooleres«, wiederholte sie das Wort mit so viel Verachtung, wie sie sonst nur für Demokratie übrig hatte.

»Mein liebes Kind, die Gabe eines reinen Herzens ist überaus mächtig. Ihre Seele war so rein und unbefleckt, dass selbst das Gift der Königin keine Wirkung hatte, ihre Freundlichkeit und Güte konnte sie genauso geschickt einsetzen wie ein Schwert und damit selbst den Todesschlaf besiegen. Diese Gabe ist nicht zu unterschätzen. Sie schaffte alle Prüfungen, die ihr auferlegt wurden, was sie zu einer der bekanntesten Märchenfiguren aller Zeiten machte. Dieses Erbe tragen wir White-Frauen in uns. Diese Gabe schlummert noch immer in uns, auch wenn von der Magie in dieser trostlosen Welt kaum noch etwas übrig sein mag. Wir sind das letzte Zeugnis davon. Eine der wenigen Märchenfamilien, die nicht ausgestorben sind. Es liegt an uns, das Erbe weiterzuführen. Zu hoffen, dass uns die Götter erneut Prüfungen auferlegen, damit wir uns beweisen und den alten Ruhm der Märchenfamilien wiederherstellen können.«

Fionas Lippen kräuselten sich vor Stolz, während sie gleichzeitig die Augen niederschlug, sodass ihre Wimpern die Wangen berührten. »Ich werde mir Mühe geben, unserem Erbe gerecht zu werden, Großmutter.«

»Das will ich hoffen«, sagte diese und reichte ihr das Buch. »Möchtest du weiterlesen, Kind?«

KAPITEL 1

Elf Jahre später

»Heinrich, der Wagen bricht.«

»Nein, Herr, der Wagen nicht,

Es ist ein Band von meinem Herzen,

Das da lag in großen Schmerzen.«

Aus »Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich« Gebrüder Grimm

Ein Auto zu stehlen, war in der Theorie irgendwie einfacher als in der Praxis. Und vor allem weniger dreckig.

Angewidert wischte ich mir die staubigen Hände an meiner schwarzen Lederjacke ab. Meine Finger waren bereits schwarz. Ich würde sie quasi blutig schrubben müssen, um sie wieder sauber zu kriegen und die Spuren zu verwischen. Meiner Großmutter fiel jedes noch so kleine Detail auf.

»Beeil dich, Rain!« Ein blasses Gesicht mit Sommersprossen tauchte über mir auf. Dichtes braunes Haar fiel unter einem blauen Hoodie hervor. »Wir haben noch etwa zwei Minuten, bevor wir auffliegen«, sagte Holly, meine beste Freundin.

Knurrend biss ich die Zähne zusammen und friemelte an den Kabeln des uralten Bentleys herum. »Ich hab’s gleich, ich muss nur noch die Pole von den Kabeln zwischen Relais und Batterie überbrücken.«

Skeptisch steckte sich Holly den Strohhalm des blauen Slushis in den Mund und schlürfte laut. »Sieht eher aus, als würdest du Kabelsalat fabrizieren, anstatt Pole zu verbinden«, stellte sie fest.

Auf der Rückbank polterte es, ehe der blonde Schopf meines Cousins Avery zwischen uns auftauchte. »Wenn du jetzt einen Kurzschluss verursachst, der uns alle umbringt, wird uns Grandma so was von töten. Ich meine, sie wird uns sowieso töten, wenn sie spitzkriegt, dass wir ausgerechnet ihr Auto klauen. Und noch grausamer wird es, wenn sie herausfindet, warum wir das machen.«

Da hatte Avery nicht ganz unrecht. Leider war Granny die Einzige mit einem so alten Auto, dass man es noch kurzschließen konnte. Der Polo meines Dads mochte zwar rostig aussehen, doch ihn kurzzuschließen, würde ich dennoch nicht schaffen. Genauso wenig wie den Audi meiner Mum oder den Mini meiner Tante.

Die Kabel gruben sich in meine Haut, als ich ruckartig aufblickte. »Könnt ihr zwei bitte aufhören zu meckern und mir stattdessen helfen? Wir kommen sonst nie zu unserem Gig ins Cage.«

»Wie denn?«, fragten beide gleichzeitig.

»Vielleicht mit etwas Licht?«

»Oh, klar …« Holly zückte ihr Handy und leuchtete mir, während ich die Kabel zusammendrehte.

»So, das müsste eigentlich … hier … und dann …« Ein Lichtfunken brutzelte zwischen meinen Fingern auf und versengte mir die Kuppen. Mehr vor Schreck als vor Schmerz stieß ich einen leisen Fluch aus. Avery duckte sich, und Holly ging hinter ihrem Slushi in Deckung. Im selben Augenblick sprang knatternd der Motor an. Viel zu laut. Wir zuckten zusammen.

Nervös blickte ich zum Haus. Noch blieb alles dunkel. Allerdings hatte meine Familie zum Glück einen tiefen Schlaf.

Zumindest alle außer Granny …

Aber als auch weiterhin kein Licht anging, richtete ich mich triumphierend auf. »Na also, geht doch!« Ich ignorierte meine pochenden Finger und grinste Holly und Avery an.

»Wir brauchen endlich ein eigenes Auto«, maulte mein Cousin.

»Nächstes Mal kannst du es gern selbst versuchen, während ich auf dem Rücksitz unnütze Kommentare schiebe«, bot ich an und legte den Gang ein, während die trüben Scheinwerfer die bekieste Einfahrt beleuchteten.

Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter uns thronte die altehrwürdige Villa Whitestone. So wuchtig und uralt, dass sie eigentlich nur noch von dem überwuchernden Efeu, etwas Stein und purer Willenskraft zusammengehalten wurde. Es blieb noch immer alles dunkel, und dennoch kam es mir plötzlich so vor, als würden uns die unzähligen zugezogenen Fenster vorwurfsvoll anstarren. Dieses Haus wusste und sah eindeutig zu viel. Beherzt trat ich aufs Gaspedal, und der Motor knallte so ohrenbetäubend laut, dass es klang wie ein Pistolenschuss.

Alle drei zucken wir erneut zusammen, während Holly sich hektisch anschnallte. »Fahr los, fahr los, fahr los!«

Ich drückte auf die Tube. Kies spritzte unter den Reifen, als wir die Einfahrt hinabdonnerten.

»Das war’s dann mit unauffällig. Das Licht in Grannys Schlafzimmer ist angegangen«, stellte mein Cousin fest, der sich den schlanken Nacken verrenkte, um das Herrenhaus im Blick zu behalten.

Holly schlürfte hektisch von ihrem Slushi, während ich den Oldtimer um die Ecke jagte und dabei die alte AC/DC-Kassette in den Rekorder schob. Das Auto war so alt, dass selbst das hier schon modern war. Eine Sekunde später blastete Thunderstruck durch die Karosserie. Wahrscheinlich heimsten wir uns mit dieser Aktion für die nächsten drei Monate Hausarrest ein, aber in diesem kurzen Augenblick war es das absolut wert. Breit grinsend drehte ich auf volle Lautstärke, dass es nur so in den Ohren vibrierte, trommelte mit den Nägeln, die ich schwarz lackiert hatte, auf das Lenkrad und raste die gewundene Straße entlang. Der Wald, der zum Anwesen gehörte, rauschte an uns vorbei. Ich hörte Avery hinter mir das Fenster herunterkurbeln und laut hinausjohlen. Kalter Oktoberwind peitschte herein und brachte meinen kurzen schwarzen Bob in Unordnung.

Holly klemmte den Slushi zwischen ihre Beine und warf mir einen amüsierten Blick zu. »Wenn wir so weitermachen, landen wir morgen noch in der Dorfpresse von Woodley.«

»Mehr Werbung für unsere Band«, gab ich zurück.

Meine Freundin schnaubte, während sie sich zu Avery umdrehte und ihn an seinem Mantel zurück ins Auto zerrte. »Steck den Kopf rein, Rambo, sonst bekommst du wieder eine Nebenhöhlenentzündung.«

Mit zerzausten Haaren ließ sich mein Cousin zurück auf die Sitzbank fallen und grinste breit. »Ich nehm alles zurück. Wir sollten öfter Autos stehlen.«

Amüsiert starrte ich auf die Straße vor uns. Das schmiedeeiserne Tor zur Einfahrt stand offen. Granny schloss es normalerweise jeden Abend höchstpersönlich ab, damit kein – ich zitiere – »neugieriges Gesindel« auf die Idee kam, sich auf ihrem Privatanwesen herumtreiben zu müssen. Es gab so einige durchgeknallte Touristen, die alles taten, um eine »echte« Märchenfamilie aus der Nähe zu sehen. Einmal hatte mir so ein gruseliger Typ sogar über zweitausend Mäuse angeboten, wenn ich ihn auf unser Anwesen ließ. Großmutter hatte beinahe ein Anfall bekommen, als sie später davon erfuhr. Vor allem weil ich damals zehn gewesen war und ernsthaft darüber nachgedacht hatte, das Angebot anzunehmen. Wir mochten einen Adelstitel haben und von einer sehr toten Märchenfigur abstammen, aber reich waren wir noch lange nicht. Whitestone war nur noch eine Ruine. Es gab natürlich einige Märchenfamilien, die diesen Tourismus nutzten und fetten Profit aus ihrem Stammbaum schlugen, selbst wenn dieser nicht mehr als ein Stück Papier war, aber Großmutter würde sich wahrscheinlich eher selbst und Whitestone in Brand stecken, bevor sie einen Touristen auf unser Anwesen ließ. Egal, wie knapp das Geld war. Fassade war alles, und wenn sich jemand an eine alte Fassade klammerte, dann Granny.

Wir waren Whites.

Wir lebten von Stammbäumen, gerader Sitzhaltung, gepflegten Nagelhäuten und waren auch noch stolz darauf.

Wie sehr ich es hasste, eine White zu sein.

Die Scheinwerfer beleuchteten ein paar Trauerweiden, die sich unter ihrem Alter schwer über das Tor beugten. Ich atmete durch, versuchte, mich zu entspannen, während ich auf das Tor zuraste, als wäre jemand hinter uns her, und dabei immer wieder einen Blick in den Rückspiegel warf.

»Ihr Blaublütigen habt einen echten Verfolgungswahn, wisst ihr das?«, fragte Holly mich spöttisch und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Und ihr Nichtadeligen seid neidisch, weil sich niemand für eure mickrigen kleinen Märchen interessiert«, gab ich zurück, und meine beste Freundin, die von der Familie aus Frau Holle abstammte, zeigte mir den Mittelfinger.

Tja, so war das, als Nachfahrin einer Märchenfigur aufzuwachsen. Selbst deine besten Freunde waren Nachfahren. Nicht dass es von uns noch so viele gab. Tatsächlich waren die Familien überschaubar und hielten zusammen. Zumindest nach außen hin. Sofern der Stammbaum eindeutig märchenhaft war und man es sich leisten konnte, bedeutete das für uns eigene Kindergärten, eigene Grundschulen und in unserem Fall aktuell das Grimm’s-College, auf das bereits unsere Urururgroßeltern gegangen waren, um ihre Exklusivität hochzuhalten. Wir Nachfahren waren für den Rest der Welt wahrscheinlich so etwas wie eine schräge Sekte. Eine sehr berühmte Sekte, über die es hauptsächlich Gerüchte und Fotos in den Klatschzeitschriften gab.

Doch der Punkt war, dass wir kaum Freundschaften mit »normalen« Menschen führten. Großmutter hatte jedes Mal beinahe einen Herzinfarkt bekommen, wenn ich einen Freund anschleppte, dessen Vorfahren nicht zumindest einen sprechenden Staubwedel aufzuweisen hatten. Sie war schon nicht davon begeistert, dass ich mit Holly befreundet war, die zwar von einer Märchenfigur abstammte, aber keinen Furz adeliges Blut in sich hatte.

»Nur zu eurer Information: Wir müssen in vierzig Minuten auf der Bühne stehen, wenn wir unseren Gig noch machen wollen«, warf Avery ein.

Tief atmete ich durch, sah in den Rückspiegel und zuckte so heftig zusammen, dass ich das Lenkrad verriss und Avery und Holly erschrocken aufschrien. Im Rückspiegel war ein junger Mann zu sehen. Dunkle Haare, dunkle Augen und ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen. Er winkte fröhlich. Es sah aus, als würde er neben Avery auf der Rückbank sitzen, doch ich wusste, da war niemand. Nur ein Geist. Nur eine Einbildung, nicht mehr.

»Hau ab!«, blaffte ich.

»Was ist los mit dir, Rain?«, kreischte meine Freundin, während ich das Lenkrad wieder zurückriss.

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken darin zum Stillstand zu bringen, und funkelte die Gestalt im Rückspiegel an. Diese zwinkerte mir frech zu und war im nächsten Augenblick verschwunden. Gott sei Dank. Ich hatte schon immer einen Haufen unsichtbarer Dinge gesehen. Vor allem als Kind. Leider hatte ich auch heute noch den Hang dazu, und das war inzwischen nur noch halb so niedlich.

»Sorry. Eine Fliege«, log ich und straffte die Schultern. »Wir schaffen das!« Ich fuhr schneller, bis der Tacho am Anschlag war.

Fünfzig Minuten später bogen wir auf den Parkplatz des Cage ein. Der Club lag mitten in London. Ich parkte so schief, dass ich überall sonst wahrscheinlich einen Strafzettel bekommen hätte. Kaum hatte ich den Motor abgewürgt, schnappte ich mir meine Gitarrentasche, schob den Gurt über die Schulter und schlug die Tür hinter mir zu. London lag vor uns. Glitzernd, bunt und hell wie ein Diamant, den man in winzig kleine Teile zerschlagen hatte. Der süßliche Geruch der Themse wehte mir entgegen und ließ mich in der Lederjacke frösteln. Für Oktober war es wohl doch schon zu kalt für mein Outfit.

Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke hoch und nickte Avery und Holly zu. Holly wippte nervös auf den Ballen herum und rückte sich ihre Mütze zurecht. Avery hängte sich den Gurt seines Basses über die Schulter.

»Jetzt oder nie«, sagte ich grimmig, und zusammen setzten wir uns in Bewegung.

Meine Stiefel knallten laut auf dem Asphalt, als wir auf den Eingang des Cage zusteuerten. Der Club lag in einer alten Fabrikhalle, und die Warteschlange davor war verdammt lang. Allein bei dem Anblick und dem Gedanken, für so viele Menschen auf einer echten Bühne zu spielen und nicht nur in der versifften Turnhalle unserer Schule vor dem Hausmeister, der darauf achtete, dass keiner einen Volleyball klaute, schlug mein Herz vor Aufregung schneller. Aus dem Inneren des Clubs dröhnte bereits die Musik der Band, die heute Main Act war. Eine Rockband, die sich The Screwers nannte.

Avery schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn er prustete. »Ein noch beknackterer Name ist ihnen wohl auch nicht mehr eingefallen.«

»Tja, das hat sie aber nicht aufgehalten, rechtzeitig auf der Bühne zu stehen, was wir eindeutig noch üben müssen«, warf Holly ein, die sich die Drumsticks in die Hosentasche gesteckt hatte. Das Schlagzeug stand bereits im Club, sodass wir nur das Auto klauen und nicht auch noch das ganze Equipment mitschleppen mussten.

»Die Screwers waren aber auch nicht gezwungen, aus dem Fenster zu klettern und ein Auto zu stehlen, um heute hier zu sein« murrte ich und drängte mich an der Warteschlange vorbei. Die Mittelfinger, die ich dabei kassierte, ignorierte ich einfach, und kurz darauf hielt ich dem Türsteher den Bandausweis, der aus meiner hinteren Hosentasche baumelte, unter die Nase. »Hey. Wir sind die Poisoned Apples. Wir haben einen Gig.« Ich nahm meine Gitarre von der Schulter und wollte an ihm vorbeigehen, doch der Kerl bewegte sich nicht.

Er stierte uns nur an. »Ihr seid zu spät.«

Gereizt blieb ich nun doch stehen. »Ist uns aufgefallen. Wir … hatten Probleme mit dem Wagen.« Ich nickte in Richtung des Oldtimers.

Der Security verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr seid zu spät.«

»Genau. Darum müssen wir da jetzt dringend rein, sonst …«

Er ließ mich gar nicht erst ausreden, sondern schüttelte den Kopf. »Sorry, Kiddies. Starallüren erst, wenn man sie sich leisten kann. Wenn ihr zu spät dran seid, kommt ihr nicht auf die Bühne.«

Ich spürte, wie Holly und Avery hinter mir unruhig wurden.

»Aber wir konnten nicht früher …«, begann Holly zögerlich, doch da stellte ich mich bereits vor den Typ und hob das Kinn.

»Hör mal gut zu. Wir haben hier Kopf und Kragen riskiert, um heute hier zu sein. Ich habe monatelang um diesen Termin gekämpft. Das hier ist unsere Chance, und die werden wir uns nicht vermiesen lassen. Nicht von meiner tyrannischen Großmutter und auch nicht von einem mit Steroiden aufgepumpten Arsch wie dir.«

Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht keine so gute Idee, den Kerl, der uns reinlassen sollte, zu beleidigen. Tja, im Nachhinein war man immer schlauer.

Ich starrte den Kerl nieder, weigerte mich auch dann noch, den Blick abzuwenden, als eine Ader an seiner Stirn pochte.

Der Türsteher schnaubte und beugte sich zu mir herab. So langsam, dass die Lederkluft, in die er seine prallen Muskeln gezwängt hatte, laut knarrte. »Ach ja?«

Ich verengte die Augen und stieß meinen Zeigefinger in seine lächerlich breite Brust. »Wollen wir es darauf ankommen lassen?«

Seine Augenbraue schnellte hoch. »Ich denke, das riskiere ich«, brummte er und packte mich wie ein Hündchen am Schlafittchen. »Du wirst dich jetzt umdrehen und … argh!« Er grunzte vor Schmerz auf.

Ich zog unterdessen mein Knie zurück, mit dem ich ihm gerade einen saftigen Tritt in die Kronjuwelen verpasst hatte. Man musste ihm zugutehalten, dass er mich trotz der Schmerzen nicht losließ.

»Du kleines Miststück!«, stieß er keuchend hervor, während ich ihm nur zuzwinkerte, meine Jacke aufzippte und in einer geschmeidigen Bewegung rausschlüpfte, sodass er nur noch einen Fetzen Leder umklammerte. Hinter uns johlte die Warteschlange, als würde sie eine gute Show genießen.

»Los!«, schrie ich nur, zog meine Gitarre wieder an mich und riss die Tür auf.

Holly und Avery folgten mir. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie mein Cousin breit grinste, wohingegen Holly aussah, als würde sie gleich an Ort und Stelle vor Scham sterben. Tja, da musste sie jetzt durch.

»Halt! Bleibt stehen, ihr …«

Das Gebell des Türstehers wurde von der zuschlagenden Tür des Clubs geschluckt. Rockmusik schallte uns entgegen. Mein ohnehin schon schneller Puls legte noch einen Gang zu, als ich in das Gewühl des Cage eintauchte.

Der Club war brechend voll, die Bühne hell erleuchtet. Die Screwers standen darauf, und der Leadsänger, ein Kerl mit langen blonden Haaren und verschmiertem Eyeliner, brüllte ins Mikrofon. Meiner Meinung nach lag er ein paar Takte daneben, aber der Bassist riss das meiste wieder heraus. Der Beat vibrierte bis in die Knochen, und ein Gitarrenriff ließ die Leute begeistert aufjohlen. Die Musik ging einem ins Blut, das musste man ihnen lassen.

Ich ließ meinen Blick schweifen, bis er an der Bar hängen blieb. Beziehungsweise an Jolanda Nightingale, einer Nachfahrin aus Jorinde und Joringel und die Besitzerin des Cage. Sie stand hinter der mit Bandstickern zugeklebten und Unterschriften vollgekritzelten Bar und zapfte soeben ein Pint ab. Ich schob mich durch das Gewühl und bekam ein paar schmerzhafte Tritte gegen die Beine und Rippenstöße ab, ehe ich es schaffte, die Gitarre neben mir abzustellen, mich auf einen Barhocker zu schwingen und mich über den Tresen zu lehnen.

»Jolanda!«, rief ich und winkte.

Die Clubbesitzerin sah auf und musterte mich mit einem abschätzigen Blick. »Na, sieh mal an, wer da doch noch auftaucht.« Sie warf sich einen Putzlappen über die Schulter.

Ich pustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir sind da und können gleich loslegen.«

»Ihr seid zu spät.«

»Es tut mir leid, aber …«

»In diesem Geschäft gibt es kein Aber. Tut mir leid. Ihr seid zu spät. Kein Gig für euch.«

In meiner Brust presste sich etwas zusammen. Ich krallte die Finger in das abgeschliffene Holz und beugte mich noch weiter über die Bar. »Nur drei Lieder«, flehte ich.

»Nein.«

»Nur eins.«

»Nein.«

»Bitte, Jolanda, wir …«

Es knallte, als Jolanda ein Bier so wuchtig vor einem Kunden auf dem Tresen abstellte, dass der Schaum überlief. »Nein, Rain. Du kennst mich. Ich drücke für dich schon ein Auge zu, seit du vierzehn bist und mir einreden wolltest, volljährig zu sein. Ich bin kein Fan davon, Kinder von etwas abzuhalten, von dem sie sich eindeutig nicht abhalten lassen wollen. Zudem waren deine Mutter und ich genauso. Aber es ist etwas anderes, ob du vor oder auf der Bühne stehst. Dort oben bist du kein Kind mehr. Dort oben zu stehen, bedeutet, Verantwortung zu tragen. Wenn du das nicht schaffst, ist dein Platz woanders, aber nicht hier. Sieh es als wertvolle Lektion in deinem Leben an. Wer zu spät kommt, wird vom Leben bestraft.«

»Jolanda, bitte. Wir können nicht einfach so wieder gehen«, presste ich hervor und starrte sie so eindringlich an, wie ich konnte.

Jolanda starrte nur zurück. »Nicht heute. Ich kann euch in drei Monaten wieder einen Auftritt anbieten.«

»In drei was?«

»Tut mir leid.« Damit drehte sie sich um und verschwand ans andere Ende der Bar.

Erschüttert sah ich ihr nach. Mein Atem ging schwer, und mein Herz pochte in einem eindeutig ungesunden Rhythmus.

»Rain? Lass uns einfach gehen.« Holly quetschte sich neben mich.

Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde noch mal mit Jolanda reden. Sie muss uns heute spielen lassen.

»Rain …«, begann meine Freundin, als plötzlich eine schwere Hand auf meine Schulter klatschte. Alarmiert drehte ich mich um und blickte in das angepisste Gesicht des Türstehers.

»Na, sieh mal an, wen wir da haben«, knurrte er.

Ups. »Also …«, begann ich, doch noch bevor ich mehr sagen konnte, hatte mich der Berg von Kerl bereits gepackt und wie einen Sack Kartoffeln über seine Schulter geworfen. Meine Welt kippte, sodass ich die verdutzten Gesichter von Avery und Holly verkehrt herum sah.

»Was soll das? Lass mich runter!«, brüllte ich den Türsteher an, der mit großen Schritten auf die Tür zustapfte, durch die wir gerade erst gekommen waren. Meine Freunde wechselten einen Blick, zuckten mit den Schultern und folgten mir, Holly mit meiner Gitarre über der Schulter. »Das wird noch schlimme Konsequenzen haben! Hast du eine Ahnung, wer ich bin?«, schrie ich den wackelnden Hintern vor meiner Nase an, während ich mich wand wie ein Aal.

»Sollte ich?«, fragte der Türsteher unbeeindruckt.

»Allerdings! Ich bin Rain White. Die Enkeltochter von Esmeralda White. Und wenn sie herausfindet, wie du hier mit mir umgehst, wird der Tod durch die Guillotine schneller wieder eingeführt, als du deinen Job verlierst.«

Gut, ein wenig weit hergeholt. Aber meine Großmutter war durchaus in der Lage, erwachsene Männer zum Heulen zu bringen.

»White? Noch nie gehört«, sagte er ungerührt. Als ob. Er packte so fest zu, dass mir die Luft aus der Lunge wich. Meine Rippen gaben ein deutlich protestierendes Knacken von sich.

Ehe ich es schaffte, nach Luft zu schnappen, schlug mir schon wieder kalte Abendluft entgegen. Ein Konzert aus gehässigen Pfiffen und Johlen begleitete uns, als ich an der Warteschlange vorbei bis auf den Parkplatz getragen wurde. Grimmig hob ich den Mittelfinger, was mir noch ein paar Lacher extra einbrachte.

»Ihr mich auch!«, knurrte ich, als der Türsteher ruckartig stehen blieb, mich an der Taille packte und wie einen Sack Mehl von seiner Schulter warf. Ich krachte mit solcher Wucht auf den Hintern, dass ein stechender Schmerz durch meinen Rücken fuhr. »Mistkerl!«, stieß ich hervor.

Er knallte mir meine Lederjacke ins Gesicht. »Hausverbot«, sagte er nur, drehte sich um und stellte sich wieder vor die dumme Tür.

»Tja, wir werden sehen, wo du dir dein Hausverbot hinstecken kannst, wenn die ganze Welt von den Poisoned Apples spricht und ihr uns anflehen werdet, bei euch zu spielen!«, brüllte ich ihm nach.

Der Kerl sah nicht einmal mehr in unsere Richtung.

»Na, das war wohl nix.« Avery ließ sich neben mir auf den Boden fallen, streckte seine langen Beine aus und sah mich träge unter seinen schulterlangen blonden Haaren an. »Du hast da ein wenig Wutsabber, Cousine.« Er deutete auf meine Unterlippe.

Gereizt schlug ich seine Hand zur Seite und ließ mich wie ein Seestern zurückfallen. »So knapp. Wir waren so nahe an unserem Ziel. Ich hab die Bühne quasi schon unter meinen Füßen gespürt.«

Das Geräusch von Schuhen auf Beton erklang neben meinem Ohr, als Holly sich ebenfalls neben mich fallen ließ und die Arme um die angezogenen Knie schlang. »Zumindest haben wir es versucht«, warf sie ein.

»Und sind grandios gescheitert«, vollendete Avery feierlich, der sich die schulterlangen Haare nachlässig im Nacken zusammenband. »Aber ich hab den Moment, als du dem Türsteher eins in seine Kronjuwelen gedonnert hast, auf Video. Daraus mache ich das erfolgreichste GIF aller Zeiten. Zumindest für zehn Minuten. Fünf reichen auch schon, und ich werde Millionär.«

Schief sah ich ihn von unten an. »Verarschst du mich?«

Mein Cousin grinste nur. Seine hellgrünen Augen blitzten auf. »Nun gut. Ich geb dir zwanzig Prozent ab.«

Seufzend starrte ich wieder in den Himmel über mir. Der Smog von London tauchte die Nacht in ein diesiges Grau. Dennoch waren einzelne Sterne zu sehen. Sie blinzelten mich an. Ich blinzelte zurück.

»Was für ein Reinfall. Es tut mir so leid«, murmelte ich und spürte, wie mir die Enttäuschung die Luft abschnürte. Es brannte in den Augen, doch ich hielt die Tränen eisern zurück. Wenn ich jetzt heulte, konnte ich mich im Cage nie wieder blicken lassen.

Mein Cousin tätschelte mir das Knie. »Wir schaffen es schon noch, reich und berühmt zu werden und aus Woodley herauszukommen. Und wenn das nicht funktioniert, heirate ich reich und nehm dich einfach mit in mein neues Schloss.«

»Granny hat uns gesehen. Wenn sie uns in die Finger kriegt, sind wir tot, also musst du schnell heiraten«, wandte ich ein.

»Kopf hoch, Rain.«

Ich stieß ein Seufzen aus. »Vielleicht sollten wir einfach abhauen. Wenn wir schnell sind, können wir in Schottland sein, bevor Grandma uns einholt.«

Mein Cousin riss noch weiter die Augen auf und zischte: »Nein, ich meine wirklich Kopf hoch, Rain! Da kommt jemand auf uns zu, und ich glaube, vor diesem gewissen Jemand willst du nicht wie ein verheulter Waschbär aussehen, den man aus der Mülltonne gefischt hat.«

»Hä?«, fragte ich, hob den Kopf und erstarrte im nächsten Augenblick.

Aus dem Club trat eine große Gestalt. Kurzes blondes Haar leuchtete auf. Die vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ein durchdringend blauer Blick traf meinen. Das sollte auf die Entfernung eigentlich unmöglich sein, aber der Kerl war quasi so was wie ein Märchenprinz. Ich schätze, seine Augen mussten so unnatürlich funkeln. Märchengesetze und so …

»Oh, der hat mir gerade noch gefehlt!« Ich setzte mich so ruckartig auf, dass es in meinem Nacken knackte. »Bitte sag, dass da nicht gerade Edward Cinderbe aus dem Cage kommt und Zeuge dieser Blamage gewesen ist.«

»Da kommt nicht nur unser Schulsprecher aus dem Cage«, erwiderte mein Cousin und grinste mich fies an. »Es sind außerdem auch noch seine nervtötende Schwester und sein verboten attraktiver, aber aggressiver Cousin dabei. Der heute übrigens mit mir beim Nachsitzen war.«

Tatsächlich entdeckte ich jetzt hinter Edward noch zwei weitere Gestalten. Ich stöhnte innerlich auf.

»Was machen die hochwohlgeborenen Nachfahren von Cinderella hier?«, fragte Holly.

Ich druckste herum. »Was Brianna und Cyress hier machen, weiß ich nicht, aber es kann sein … Ganz möglicherweise habe ich Edward eingeladen.«

»Was?« Die beiden sahen mich entgeistert an.

»Wann hast du ihn eingeladen? Und warum hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte Holly.

»Es war heute Mittag. Er hat den Flyer in meiner Hand gesehen und … Ist ja auch egal, ich dachte doch nicht, dass er wirklich kommt.«

Hollys Augenbrauen schnellten nach oben, doch sie sagte nichts.

Musste sie auch nicht. Denn das mit Edward und mir war so eine Sache. Das mit den Whites und den Cinderbes war so eine Sache. Nicht nur, dass unsere Grundstücke aneinandergrenzten, unsere Familien gehörten wohl zu den ältesten und einflussreichsten des Landes. Als Kinder hatten wir praktisch permanent Zeit miteinander verbracht. Ob wir nun wollten oder nicht. Wir waren im selben Kindergarten und auf denselben Schulen, und ich hatte miterlebt, wie sich Edward von einem schüchternen, stotternden Hosenscheißer zu einem attraktiven Überflieger gemausert hatte, der alles konnte, alles wusste und dem sogar die Frisur im richtigen Moment perfekt fiel. Und noch dazu war der Kerl unausstehlich nett. Ich hasste das. Und ich hasste es, dass Großmutter alles daransetzte, dass Edward und ich ein Paar wurden. Ich hasste es, dass er so angepasst und perfekt war. Alles, was ich niemals sein würde. Wenn er wenigstens ein Arschloch wäre wie sein Cousin Cyress, wäre es so viel einfacher, ihn nicht zu mögen, aber nein, seine Nettigkeit brachte mich regelmäßig aus der Fassung.

Aber eines wusste ich genau. Aus Edward Cinderbe und mir würde niemals ein Paar werden. Und das nicht einmal nur wegen mir. Meine Großmutter wollte es nicht sehen, aber die Cinderbes gingen uns schon seit einigen Jahren aus dem Weg, als hätten wir eine ansteckende Krankheit. Ich wusste auch, welche. Sie nannte sich Pleite-sein. Denn im Gegensatz zu den Whites waren die Cinderbes nicht nur eine alte Märchenfamilie, die in einem noch älteren Haus wohnte, nein, die Cinderbes waren reich. Stinkreich. Und das strahlten sie nicht nur aus, sie lebten danach und suchten sich sogar ihre Freunde danach aus. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass er wirklich zu unserem Gig kam.

»Wir könnten behaupten, du hättest dir eine Grippe eingefangen und könntest deswegen nicht auftreten«, überlegte Holly laut.

»Eine fiese, von der du kotzen musst, sobald dir eine versnobte Cheerleaderin zu nahe kommt«, ergänzte mein Cousin.

Bevor ich in dieser Sache das Für und Wider abwägen konnte, standen die Cinderbes auch schon vor uns. Edward lächelte mich an. »Als du mir eine krasse Show versprochen hast, habe ich mit vielem gerechnet, aber eindeutig nicht damit, mit anzusehen, wie du wie ein Seemann fluchend von einem Hünen aus dem Club geschleppt wirst.«

»Cinderbe«, sagte ich nur gedehnt und neigte den Kopf, »dachte nicht, dass du hier sein würdest.«

Grübchen tauchten in seinen Wangen auf. »Das wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Werden wir die berühmt-berüchtigten Poisoned Apples heute noch spielen hören?«

Avery neben mir hüstelte, was ihm einen heftigen Schlag mit meinem Ellenbogen einbrachte.

»Nein, es gab ein paar Probleme, wir werden wohl ein andermal auftreten«, sagte ich lahm.

»Schon beinahe inspirierend, wie armselig das gerade war«, kommentierte Brianna. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war ihr Haar von einem Rotblond, das sich bis zu ihren Hüften ergoss. Ihre schlanke Gestalt und ihre eleganten Gesichtszüge glichen sich jedoch, als wären sie nicht nur Halbgeschwister.

Edward runzelte die Stirn. »Sei nicht so krätzig, Brin.«

Die musterte uns abfällig. »Ich bin nur ehrlich. Und dafür haben wir unseren freien Abend geopfert?«

»Ich dachte, wir wären für die Drinks hier«, warf Cyress ein. Es klickte, als er sich einen Joint ansteckte. Die Spitze leuchtete im Dunkeln auf, und als er weitersprach, quoll Rauch aus seinem Mund. »Ich bin nicht annähernd so betrunken, wie ich es eigentlich sein sollte.«

»Wir schreiben morgen eine Mathearbeit«, wandte Edward ein und bedachte seinen Cousin mit einem strengen Blick.

»Eben darum«, kommentierte der nur und schnippte die Asche ab.

Ich rappelte mich auf. »Tja, tut mir leid, dass der Abend ein Reinfall war.«

Edward lächelte, und wieder schoben sich ein paar Grübchen in seine Wangen. »Es war ganz und gar keine Zeitverschwendung. Sollen wir noch mal reingehen? Wir müssen bald zurück sein.«

»Verwandelt sich dein Auto sonst in einen Kürbis?«, scherzte Avery.

Edward blinzelte. »Was?«

Ich riss die Augen auf und sah Avery schief an.

Der zuckte nur mit den Schultern. »Cinderella, ätzende Familie, Glas, Schuh, Prinz, Mitternacht … Bin ich der Einzige, der das witzig findet? Echt jetzt?«

Edward räusperte sich. »Ja, nein, wir schreiben morgen die Mathearbeit. Darum«, erinnerte er uns. »Also kommt ihr mit rein?«

Avery verdrehte die Augen und murmelte etwas von Menschen, die keinen Humor hatten. Nur Cyress grinste, aber ich nahm an, das lag am Gras und nicht an Avery.

»Danke für das Angebot. Aber wie es aussieht, haben wir Hausverbot.«

»Umso besser«, meinte Cyress, der seine Fluppe austrat und nachlässig winkte. »Ich geh wieder rein.«

»Warte auf uns, Cy!«, rief Brianna ihm hinterher und sah ihren Bruder an. »Kommst du, Eddy?«

Der zögerte. »Gleich. Geht schon mal vor. Aber wir müssen echt bald los. Wenn Cy sich abschießen will, muss er schnell sein.«

»Ich werd’s ihm ausrichten.« Brianna warf uns noch einen Blick zu, den man als feindselig betrachten könnte, der dafür aber zu gelangweilt war, ehe sie ihrem Cousin folgte.

Für einen kurzen Augenblick starrten wir ihnen nach, und eine unangenehme Pause entstand. Schließlich brach Holly das Schweigen. »Wir sollten auch die Biege machen. Sofern wir den alten Kasten wieder zum Laufen bringen. Wird sonst ein verdammt langer Fußmarsch zurück nach Woodley.«

Edward runzelte die Stirn, als er das alte Auto hinter uns bemerke. »Ist das dein Auto, Rain?«

Ich verzog das Gesicht. »Nein. Meins steht in der Werkstatt und braucht noch ein paar Teile, bevor es funktioniert.«

»Eigentlich hat sie nur den Sitz und das Lenkrad«, lästerte Avery.

»Noch zwei Spätschichten bei Al, und ich hab den Motor«, hielt ich dagegen.

»Spätschichten? Du arbeitest neben der Schule?«, fragte Edward.

Wir blinzelten ihn an. »Ja. Tun wir alle«, erklärte Holly. »Rain bei meinem Onkel Al in der Werkstatt, Avery im Kaufladen, und ich gebe Nachhilfe.«

Edward starrte uns an, als hätte er noch nie davon gehört, dass man so etwas wie einen Job brauchte, um sein Taschengeld aufzubessern. »Oooh. Es überrascht mich, dass deine Großmutter dir neben der Schule so etwas erlaubt.« Er klang beinahe andächtig, und ich musste zugeben: Wenn jemand noch tyrannischer war als meine Großmutter, dann wahrscheinlich Elstan Cinderbe. Edwards Großvater.

»Erlauben ist so ein großes Wort. Sagen wir, Holly hilft mir dreimal die Woche bei den Hausaufgaben«, murmelte ich.

Seine Mundwinkel zuckten. »Und wem gehört dann das Auto?«

»Das ist ausgeliehen«, sagte ich ausweichend.

»Verstehe«, murmelte er und gab sich alle Mühe, überzeugt auszusehen, ehe er sich die kurzen Haare im Nacken glatt strich. »Hör mal. Da gibt es etwas, was ich dich fragen will …«, begann er und hielt inne. Sein Blick huschte über den Parkplatz.

»Und zwar?« Perplex starrte ich Edward an. Vor allem weil er noch immer hier war und mit uns sprach. Mit mir sprach. So lange und an einem Stück.

»Du sabberst wieder«, raunte mir Avery ins Ohr.

»Verkrümel dich«, zischte ich zurück.

Mein Cousin lachte nur, schlang seinen Arm um Hollys Schulter, die überrascht zu ihm hochlinste, und winkte Edward zu. »Wir gehen schon mal und versuchen, den Slushi von der Scheibe zu kratzen. Bis dann, Schulsprecher.«

»Ja, ist gut. Bis morgen.«

Avery zwinkerte und schleifte Holly zum Wagen, während ich selbst die Lederjacke enger zog, in die ich wieder geschlüpft war.

»Geht es um die Hausaufgaben?«, riet ich ins Blaue hinein.

»Hast du sie denn gemacht?«

»Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Ob das deine Frage ist.«

»Nein.«

»Dann nein.«

»Wenn ich jetzt Ja gesagt hätte?«

»Dann wäre es immer noch Nein, aber ich würde mich mehr dafür schämen.«

Er lachte, und ich musste meinen Puls zwingen, unten zu bleiben. »Rain, ich …« Er biss sich auf die Lippe, ehe er auf einmal herausplatzte: »Du hast in drei Tagen Geburtstag, oder?«

Oh. Das.

Ich atmete tief durch.

»Ja«, sagte ich knapp, und Edward schien darauf zu warten, dass da noch etwas kam. Die meisten Nachfahrinnen konnten es kaum erwarten, achtzehn Jahre alt zu werden und es zu tun. Und damit meinte ich nicht Sex. Aber ich war nicht wie die meisten Nachfahrinnen, und wenn ich könnte, würde ich die Zeit anhalten, nur um nicht achtzehn zu werden und es tun zu müssen.

»Nun«, fuhr Edward sichtlich verunsichert von meinem frostigen Ton fort. »Bist du schon aufgeregt? Ist ein großer Tag für deine Familie. Es steht in allen Klatschzeitungen. Ist schon eine Weile her, seit eine Nachfahrin der adeligen Märchenfamilien der Prophezeiung folgen durfte. Alle reden darüber. Selbst mein Großvater.«

»Kann sein. Ich war zu sehr von Seite zehn abgelenkt und den Quizfragen, welcher sexy Märchennachfahre zu mir passt. Übrigens, nettes Poster von dir. Wie fühlt es sich an, im Zimmer kreischender Fans zu hängen?«, sagte ich spöttisch.

Edward wurde rot um die Nasenspitze und fuhr sich erneut durch die Haare. »Und?«, fragte er.

»Und was?«

»Wer passt zu dir?«

»Rumpelstilzchen«, gab ich trocken zurück, was ihm ein Lachen entlockte.

»Okay, wie auch immer. Ich werde wohl auf deiner Feier sein.«

»Das dachte ich mir schon.«

Das Grübchen kam wieder. Er musste damit aufhören. Er war damit verstörend sexy, und das Letzte, was ich wollte, war, Edward Cinderbe sexy zu finden. Eine Beziehung mit Edward würde nur meiner Großmutter in die Karten spielen. Daher war alles an ihm – inklusive seiner Grübchen – tabu.

»Alles klar. Dann also bis morgen in der Schule.« Er zwinkerte mir zu.

»Bis morgen«, echote ich und beobachtete, wie er sich umdrehte und wieder im Club verschwand.

Heilige Scheiße, was war das denn gerade gewesen? Ich schluckte und ging zurück zum Bentley.

»Und? Was wollte Cinderbe?«, erkundigte sich Avery, der auf der Motorhaube lag und sich von Holly den Kopf kraulen ließ.

Verwirrt lehnte ich mich gegen die Stoßstange. »Er hat mich auf meinen Geburtstag angesprochen. Er steht wohl auf der Gästeliste.«

Holly seufzte. »Zieh nicht so ein Gesicht, als wäre es das Ende der Welt. Ich hab den ganzen Zirkus auch überlebt. Es wird nichts passieren. Es passiert nie etwas. Es wird nur viel Wirbel um eine blöde Prophezeiung gemacht, von der wir alle wissen, dass sie Bullshit ist. Sie bringt einfach nur viel Prestige, Geld und Sponsorengelder, und irgendetwas Besonderes müssen wir ja tun, sonst könnte man ja glatt glauben, wir wären völlig normal.« Sie zwinkerte mir zu, und ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Karosserie.

»Ich will das nicht«, sagte ich.

Holly stupste mich an. »Kopf hoch. An diesem einen Tag kannst du dich mal fühlen wie eine echte Prinzessin. Das ist doch was. Es werden ein paar Paparazzi da sein, die Fotos von dir in einem hübschen Kleid machen. Danach werden salbungsvolle Reden geschwungen, du gehst da runter, bringst es hinter dich und fertig. Nichts passiert.«

Seufzend kniff ich mir in die Nasenwurzel. »Ich würde alles tun, um diesen Tag einfach ausfallen zu lassen.«

»Vielleicht hilft ein bisschen Magie, und es bricht ein Hurrikan aus, oder London wird von einem Erdbeben zerstört, dann müssen sie es absagen«, überlegte Holly laut.

»Es gibt keine Magie mehr«, sagten Avery und ich gleichzeitig.

Holly schnaubte amüsiert. »Sicher? Ich bin mir da manchmal nämlich nicht so sicher.«

»Ich wünschte, es wäre so«, murmelte ich, bevor ich mich vom Bentley abstieß und mich auf den Sitz des Wagens wuchtete. »Hoffentlich sind wir zurück, bevor Granny sich genug Möglichkeiten ausgedacht hat, uns legal um die Ecke zu bringen.«

KAPITEL 2

Da blickte er um sich und sah in der Ecke ein großes Bett.

»Das ist mir eben recht«, sprach er und legte sich hinein. Als er aber die Augen eben zutun wollte, so fing das Bett von selbst an zu fahren und fuhr im ganzen Schloss herum.

Aus »Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« Gebrüder Grimm

Alte Häuser knarrten. Und Whitestone war nicht nur alt. Es war uralt. Es war so in die Jahre gekommen, dass manche Räume nur mit einem Kamin beheizt werden konnten und jeder Schritt auf dem Holzboden so laut war, als würde man dem Haus ein paar Holzrippen brechen. Das machte es beinahe unmöglich, sich unbemerkt rein- oder rauszuschleichen. Daher blieb uns nur eins: klettern.

»Ich bin zu alt für diesen Scheiß.« Avery keuchte, während er sich an dem alten Spalier festklammerte und gereizt ein Büschel Efeu zur Seite schlug. Als wäre die Pflanze ebenfalls genervt, schnalzte sie im selben Augenblick so heftig zurück, dass sie ihm einen ordentlichen Schlag verpasste. »Aua!«

»Hör auf, mit dem Efeu zu streiten, Av«, knurrte ich.

»Er hat angefangen«, verteidigte sich mein Cousin.

Ich packte das knarrende Fensterbrett, spannte die Muskeln an und schwang mich nach oben. In der Hocke sitzend schob ich das Fenster hoch und glitt in mein dunkles Zimmer.

»Hilf mir mal!« Avery streckte die Hand nach oben, und ich griff fest zu, um ihn hochzuziehen, als das Licht anging.

»Rain. Wie schön, dass du doch noch beschlossen hast, schlafen zu gehen«, erklang eine kühle Stimme.

»Bloody hell!« Vor Schreck fuhr ich herum.

Averys Hand flutschte aus meiner, und in der nächsten Sekunde hörte ich ein Fluchen, gefolgt vom Knacken von Ästen und Gestrüpp. Es endete mit einem lauten Rumsen.

Sofort wirbelte ich wieder herum und beugte mich aus dem Fenster. »Avery?«

»Aua!«

»Geht es dir gut?«

»Denke schon. Nichts gebrochen … glaube ich«, drang es aus dem Rosenbusch heraus.

Ich sackte in mich zusammen. Erleichterung machte sich in mir breit, jedoch nicht für lange.

»Schließ das Fenster, Rain, und sag deinem Cousin, dass er wie ein zivilisierter Mensch die Treppe nehmen soll.«

»Avery?«

»Hab’s gehört«, drang es nur dumpf herauf.

Zögernd schloss ich das Fenster, ließ es jedoch einen Spalt offen. So als Notlösung. Langsam drehte ich mich um. Das Licht beleuchtete die dunklen Dielenbretter, und ein kühler Windzug ließ die lichten weißen Vorhänge tanzen. Esmeralda White thronte in dem alten Schaukelstuhl wie eine Königin. Immer eine Spur zu gerade und zu steif, um wirklich gemütlich sein zu können. Sie trug einen grünen Morgenmantel, und ihre langen weißen Haare hatte sie wie üblich zu einem strengen Knoten geschlungen. Ihr Gesicht war für ihr Alter von fünfundachtzig beinahe faltenlos. Nichts darin bewegte sich, während sie das Buch in ihrer Hand zur Seite legte. Kurz kam in mir die Frage auf, warum sie im Dunklen ein Buch umklammerte. Hatte sie mich damit erschlagen wollen?

»Sitzt du schon lange hier?«, fragte ich und versuchte, die Nervosität zu unterdrücken, die mir den Magen zusammenschnürte.

»In der Tat«, bestätigte meine Großmutter und richtete sich die Falten ihres langen dunkelgrünen Morgenrocks. Meine Großmutter war wahrscheinlich der letzte Mensch auf Erden, der überhaupt noch so etwas wie einen Morgenmantel benutzte. Ihre blauen Augen waren unverwandt auf mich gerichtet.

»Wieso?«, fragte ich.

»Meine Liebe, es erstaunt mich immer wieder, dass du denkst, etwas in diesem Haus würde mir entgehen.«

»Ach?«, entgegnete ich lahm.

Sie verzog keine Miene, doch sie umklammerte den Gehstock, den sie schon benutzte, seit ich denken konnte. Er war aus dunklem Mahagoni, und der Knauf des Stocks sah aus wie der Kopf eines Wolfs. Grannys lange dürre Finger umfassten den versilberten Schädel so fest, dass ihre Knöchel hervortraten.

»Als Kinder habt ihr euch oft unter dem Bett versteckt. Ich habe so getan, als würde ich euch nicht finden. Nur weil ihr größer geworden seid, hat sich dieses Spiel nicht verändert. Nur dass ich diesmal nicht so tue, als wäre ich überrascht«, gab sie zurück.

Geräuschvoll biss ich die Zähne zusammen. Ihr Blick forderte mich praktisch heraus, mich mit ihr anzulegen, und ich wollte es auch. Ich wollte es so sehr, dass sich ein salziger Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete und ich zittrig Luft holte. Im selben Augenblick knarrte es leise im Gang. Um ehrlich zu sein, hätte ich es überhört, aber meine Großmutter ließ den Kopf herumschnellen und nahm die geschlossene Tür ins Visier.

»Avery Hunter, wo willst du hin? Komm rein.«

Ein leises Seufzen war zu hören, und nur wenige Sekunden später stand mein Cousin im Türrahmen. Er war ein wenig derangiert. Ein Büschel Efeu ragte aus seinen Haaren hervor. »Granny?«, fragte er mit einem charmanten Lächeln. »Was machst du denn so spät noch auf?«

»Dasselbe könnte ich euch fragen«, entgegnete sie und nickte mit dem Kinn in meine Richtung.

Avery schlich neben mich und sah dabei aus, als überlegte er, ob sich ein weiterer Hechtsprung aus dem Fenster rentieren würde. Er fuhr sich durch die wirren Haare. »Also, Granny, es ist jetzt nicht so, wie du vielleicht denkst. Rain und ich haben nur …«

Großmutter hob abrupt die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Versuch es gar nicht erst, Avery. Ich weiß alles, was ich wissen muss.«

Avery ließ die Schultern sinken. »Ach ja?«, fragte er mit dünner Stimme.

Granny presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, als sie sich mühsam auf die Beine stemmte. »Angesichts der späten Uhrzeit erspare ich uns allen einen Vortrag. Letztendlich muss ich euch nicht sagen, wie maßlos enttäuscht ich von euch beiden bin. Ich erwarte etwas anderes von euch. Ich erwarte mehr von euch als … das.«

Avery hielt die Luft an. Ich selbst reckte das Kinn.

Granny nickte, als müsste sie sich in ihrer eigenen Meinung bestätigen. »Ich wusste es. Als sich meine beiden Töchter eingebildet haben, diese Taugenichtse heiraten zu müssen, wusste ich schon, dass ich ein Leben lang brauchen würde, um ihre Fehler wieder geradezubiegen.«

»Willst du damit sagen, dass wir ein Fehler sind, Grandma?«, fragte ich spöttisch.

Ihr kalter Blick streifte mein Gesicht. »Nein. Ich sage, dass ihr das Produkt eines Fehlers seid. Es ist meine Aufgabe, diesen Makel auszubügeln.«

So war das eigentlich nicht ganz fair. Meine verstorbene Tante Pansy, Averys Mutter, hatte damals den letzten Nachfahren der Hunter – des Jägers – geheiratet, was trotz nichtadeligem Hintergrund eine ziemlich gute Partie war. Mein eigener Vater stammte von den Lucks ab – der Familie aus Hans im Glück –, und meine Tante Lilly hatte sich einmal quer durch alle männlichen Nachfahren geheiratet, ehe sie mit Onkel Harvey, der aus der Familie der Cutter oder auch der des Schneiderleins entstammte, zusammengekommen war. Alles in allem respektabel und immerhin nicht Inzest gefährdet, was, bei Gott, hier schneller passieren konnte, als einem lieb war, und dennoch war es nicht genug. Zumindest nicht für Grandma. Meiner Mum und meinen Tanten war es nicht erlaubt gewesen, nach der Hochzeit ihren Namen zu ändern. Mir würde es auch nicht erlaubt werden. Die Whites mussten weiter bestehen.

Es tat weh, wenn Grandma so über uns sprach, aber die echte Bestrafung würde noch schlimmer sein. Sie würde sich über Wochen ziehen, und am Ende fühlte man sich leer und war so verzweifelt auf der Suche nach Zuneigung, dass man alles tun würde, um auch nur ein Lächeln von ihr zu erhalten. Es hatte Jahre gebraucht, bis ich verstanden hatte, wie meine Großmutter tickte. Dass sie Dinge wie Liebe und Zuneigung nicht einfach so gab. Man musste sie sich verdienen. Bei ihr gab es immer eine Bedingung, einen Preis, eine Leistung, die erbracht werden musste. Es gab immer jemanden, der ein Stückchen mehr in ihrer Gunst stand. Jemanden, den sie bevorzugte, um die anderen den Stich der Eifersucht spüren zu lassen. Sie warf uns Zuneigung wie kleine Brocken zu, um die wir uns balgten.

Ich wünschte, ich wäre gegen den mentalen Druck, den sie auszuüben versuchte, immun. Doch selbst jetzt noch zuckte ich unter ihrem Blick zusammen. Dennoch zwang ich mich, diesen klar zu erwidern. »Tut mir leid, dich zu enttäuschen, Großmutter«, sagte ich schlicht.

Sie seufzte und klammerte sich fester an ihren Stock. »Setzt euch. Alle beide.« Wie zur Bekräftigung ihrer Worte schlug sie mit dem Stock auf den Boden, und meine Muskeln bewegten sich beinahe ohne mein Zutun, Avery plumpste neben mich. Er sah aus, als wäre er im Augenblick lieber auf einen Ameisenhaufen geklettert. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

Papier rieb über Holz, als Grandma das Buch wieder in die Hand nahm, und diesmal erkannte ich es auch. Es war das alte Märchenbuch unserer Familie.

Grandma schlug eine Seite auf und strich mit den Fingern über die vergilbten Seiten. »Ich möchte, dass du mir etwas vorliest, Rain.«

Misstrauisch sah ich sie an. »Warum?«

»Weil ich alt bin und dich um etwas bitte, und man schlägt alten Menschen keine Bitte ab«, sagte sie scharf.

Ich biss die Zähne zusammen und nahm das Buch entgegen. Es roch alt und ein wenig nach Feuchtigkeitscreme. Vorsichtig strich ich über die Seite und überflog den Text, den ich schon so oft gehört hatte, dass ich ihn auswendig aufsagen könnte.

»Lies vor«, forderte Großmutter mich auf.

Tief atmete ich durch und begann vorzulesen:

Die Königin der Nacht wünschte sich seit vielen Jahren sehnlichst ein Kind, doch mit jedem weiteren Jahr, in dem ihr Wunsch unerfüllt blieb, wurde die Nacht dunkler und dunkler.

Der König war betrübt über das Leid seiner geliebten Frau, doch so mächtig er auch war, diesen einen Wunsch schien er ihr nicht erfüllen zu können. Und so legte sich zum ersten Mal ein Schleier aus tiefer Trauer über das Königreich.

In ihrer Verzweiflung wandte sich die Königin der Nacht schließlich an Bruder Schicksal. In tiefer Demut sank sie auf die Knie und flehte ihn an, ihr zu helfen.

Bruder Schicksal war der Königin sehr zugetan, doch alles, was er in ihrem Schicksal erkannte, war Dunkelheit. Weil er ihr jedoch Hoffnung schenken wollte, sprach er zu ihr: »Der König und Ihr werdet niemals ein Kind empfangen. Licht und Schatten sind dazu geschaffen, Seite an Seite zu stehen, nicht dazu, sich zu vereinen. Die Dunkelheit ist Euer Schicksal.«

Daraufhin brach die Königin in bittere Tränen aus, die wie Eis auf dem Boden zerschellten.

Mit rauer Stimme hielt ich inne.

Großmutter sah mich unbewegt an. Sie nickte bedächtig. »Lies weiter.«

Ich blätterte um und fuhr wütend fort:

Jedoch …«, sagte Bruder Schicksal und schnitt einen roten Faden aus dem Schleier der Königin der Nacht, »… sind unsere Schicksale nicht immer nur mit einer Person verbunden. Ein Band, das einmal geknüpft wurde, kann auch zerschnitten werden. Falls Ihr Euch ein Kind wünscht, müsst Ihr Eure Verbindung zum Sonnenkönig trennen und Euch an einen neuen Mann binden. Er wird in der Lage sein, Euch jenes Wunder zu schenken, das Ihr Euch so sehnlichst wünscht. Doch der Preis für ein Wunder ist hoch. Manche Wünsche sollten lieber unerfüllt bleiben.«

Mit dieser Warnung band er der Königin den Faden des Schicksals um das Handgelenk. Als die Königin in der Nacht zu ihrem Gatten zurückkehrte, konnte sie das andere Ende des Schicksalfadens sehen, das sie mit dem König verband. Ohne zu zögern, zerschnitt sie den Faden, ihre Bindung, ihr Schicksal, für das sie seit Anbeginn der Zeit existiert hatte.

Als der Sonnenkönig aufwachte, war das Bettlaken neben ihm erkaltet und die Königin verschwunden. Voller Verzweiflung ließ der König im gesamten Königreich nach seiner Frau suchen. Doch er sollte sie nicht finden, bis eines Tages Schwester Zeit ein einsames Bündel vor den Palasttoren fand. Darin eingewickelt fand sie einen Säugling.

Es war ein Junge.

Sein Haar war so schwarz wie die Nacht, sein Gesicht so blass wie der Mond, und als er die Augen aufschlug, glichen diese denen der Königin der Nacht.

Schwester Zeit brachte den Jungen zum Sonnenkönig. Der warf nur einen Blick auf das Kind, und sein sonst so helles Herz verdunkelte sich vor Kummer, Zorn und Schmerz. Niemand wusste, wohin die Königin der Nacht verschwunden war, doch sie hatte das Kostbarste in ihrem Leben zurückgelassen.

Der König hasste den Jungen. Er brachte es in Gedenken an seine Frau zwar nicht über sich, ihn töten zu lassen, doch er verheimlichte die Existenz des Jungen vor dem Hofstaat und verbannte ihn zu einem Leben als Stalljunge. So wuchs der Junge auf. Nichts ahnend von seiner Herkunft oder wer er wirklich war.

Statt feinster Seide trug er schmutzige Lumpen, anstatt in weichen Betten schlief er bei den Pferden im Stall, und wenn man von ihm sprach, nannten ihn wegen der Kohle, mit denen er die Kamine entzündete und die sein Gesicht schwärzte, alle nur Coalblack.

Die Jahre vergingen, und Coalblack wurde mit der Schönheit seiner Mutter beschenkt, die selbst der Kohlestaub in seinem Gesicht nicht verbergen konnte. Dazu war er gütig und freundlich, und die jungen Damen am Hofe begannen schon bald, über den Stallburschen zu tuscheln. Coalblack jedoch verliebte sich in Lillith. Diese galt nicht nur als die Schönste am Hof, sondern besaß ein ebenso sanftes wie mitfühlendes Naturell. Der Umgang miteinander war ihnen allerdings verboten worden. Doch die beiden liebten sich so inniglich, dass sie bei Nacht und Nebel aus dem Palast zu fliehen versuchten.

Als der Sonnenkönig davon erfuhr, ließ er einen Pfeil herstellen, der selbst einen Gott zu töten vermochte, und sandte seine Krieger aus, um die beiden Liebenden aufzuhalten.

Coalblack und Lillith flohen in die Welt der Menschen, tief hinein in die dunklen Wälder. Doch sie waren nicht schnell genug. Ein Hirte verriet die beiden an die Wachen des Königs, und als sie zu entkommen versuchten, sank der Pfeil, der eigentlich für Coalblack bestimmt war, in das Herz von Lillith. Sie starb in den Armen ihres Geliebten, und ein unsagbarer Schmerz zerriss dessen Innerstes.