Everlove – Bis übers Ende dieser Welt hinaus - Tanya Byrne - E-Book
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Everlove – Bis übers Ende dieser Welt hinaus E-Book

Tanya Byrne

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Beschreibung

-- Autoscheinwerfer -- Das Letzte, was Ash hört, ist das Zerspringen von Glas, als die Windschutzscheibe sie trifft und in eine Millionen Teile zerbricht, die wie Sterne funkeln. Ash stirbt – mitten in in ihrer eigenen Liebesgeschichte. Doch ihre Liebe zu Poppy ist viel zu groß, um so abrupt zu enden. Für Ash ist klar: Sie muss den Tod überwinden, um Poppy wiederzusehen. Eine kraftvolle und zugleich zarte Geschichte darüber, dass wahre Liebe alle Hindernisse überwinden kann. Sogar das allergrößte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Tanya Byrne

Everlove

Bis übers Ende dieser Welt hinaus

 

Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke

 

Biografie

 

 

Tanya Byrne wurde in London geboren und lebt heute mit ihrem Hund Frida Brighton. Als Braune, queere Autorin aus der Arbeiterklasse setzt sie sich leidenschaftlich dafür ein, das Verlagswesen für alle offener zu machen. Besonders wichtig ist ihr, Autor*innen aus Randgruppen zu ermutigen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.

 

Stefanie Frida Lemke studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Deutsche und Englische/Amerikanische Literaturwissenschaften in Hannover und Bristol. Nach verschiedenen Stationen im Lizenz-, Scouting- und Agenturbereich in München und New York lebt und arbeitet sie seit 2010 als Literaturübersetzerin aus dem Englischen in Berlin.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Jenseits von allen Zweifeln und Fragen liegt ein Ort.

Dort treffen wir uns.

 

Rumi

Für meine Mutter und alle anderen, die die Barke schon bestiegen haben.

Ich hoffe, ihr seid, wo ihr hinwolltet.

Liebe

Alice Anderson ist genau da, wo Deborah sagte, dass sie sein würde: auf dem Kliff in Saltdean, den Blick aufs Meer gerichtet. Obwohl ich sie in ihrem pinken Pelzmantel gar nicht hätte übersehen können. Es ist die Art von Kleidungsstück, das ich im Laden sofort ansteuern, mich aber nie zu kaufen trauen würde. Ich würde ihn anprobieren, ein Selfie machen und ihn dann wieder weghängen und etwas Schlichteres kaufen. Etwas Schwarzes, das ich zur Schule tragen kann, ohne nachsitzen zu müssen.

Das ist mit das Schwerste daran: Wie schrecklich normal sie sind. Alice könnte aus meinem Jahrgang sein oder das Mädchen hinter mir in der Umkleideschlange bei Primark. Eine x-beliebige Person, der ich schon mal auf der Straße begegnet bin, ohne dass sie mir vor heute Abend aufgefallen wäre.

Im Dunkeln ist es nicht so leicht zu sagen, aber ich schätze, sie ist in meinem Alter – sechzehn, vielleicht siebzehn. Der Wind weht ihr die blonde Lockenmähne aus dem Gesicht, so dass ich ihr Profil sehen kann. Die Augenfarbe kann ich nicht erkennen, aber die geschwungene Linie ihres Kiefers und die hübsche Stupsnase und dass ihr Lippenstift dieselbe Farbe hat wie der Mantel.

Dem knielangen Kleid und den Absatzschuhen nach zu urteilen war sie heute Abend aus. Es ist viel zu kalt für nackte Beine, aber vielleicht wollte sie ein Taxi nehmen, hat ihr Portemonnaie verloren und musste doch laufen. Oder sie hatte einen Streit mit ihrem Freund und wollte von hier aus lieber weiter zu Fuß nach Hause gehen, als sich von ihm auch nur ein Stück weiter mit dem Auto fahren zu lassen.

Ich weiß nicht, warum ich das mache, warum ich mir immer Geschichten zu ihnen ausdenke. Das geht wohl vorbei. Vielleicht in ein paar Monaten, wenn ich das hier so oft gemacht habe, dass ich mich nicht mal mehr an ihre Namen erinnere.

Doch bislang frage ich mich jedes Mal warum.

Warum sie?

Das Meer ist heute Abend rau, die tosende Brandung reißt dich einfach um und zieht dich rein, wenn du zu nah rangehst. Nicht, dass mir das passieren könnte. Seit ich denken kann, habe ich Angst vorm Meer, und Abende wie heute rufen mir wieder ins Gedächtnis warum. Die Wellen sind so laut, dass Alice mich nicht kommen hört. Mit etwas Abstand bleibe ich stehen, denn ich sehe sie zittern.

Dieser Moment ist besonders, der benommene Zustand, wo du hier und doch nicht mehr hier bist und alles auf einmal fühlst – Angst, Freude, Hoffnung. Einen ganzen Schwall, eine Flut an Emotionen, es fühlt sich an, als würdest du ertrinken, als würde dir wer den Kopf unter Wasser drücken, und wenn du nur den Weg zurück an die Oberfläche findest, wird alles gut sein.

Es ist grausam, dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem du glaubst, es geschafft zu haben, und vor Erleichterung wird dir ganz schwindelig. Ähnlich dem Moment, wenn du zum ersten Mal wen küsst und du dich fühlst, als würdest du schweben, als könntest du fliegen und den Himmel berühren. In genau dem Moment komme ich ins Spiel und stelle sicher, dass du es nicht tust.

Ich lasse Alice einen Augenblick Zeit, sich zu fangen, sehe zu, wie sie die Augen schließt und tief Luft holt. Sie erschaudert, und ich frage mich, ob das der Moment ist, wo ihr klarwird, dass da nichts ist.

Schließlich dreht Alice sich um, ihre blonden Locken wirbeln im Wind, und als sie mich sieht, weicht sie einen Schritt zurück.

Ich warte eine Sekunde, dann noch eine.

»Alice Anderson?«

Die Falte zwischen ihren hellen Augenbrauen vertieft sich. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Ich bin Ash.«

Sie starrt mich an, und ich hebe kurz das Kinn. Sie braucht einen Moment, doch als sie begreift, dass ich ihr andeute, über die Kliffkante zu sehen, tut sie es, und dann stößt sie einen Schrei aus, woraufhin die Möwen aufgeschreckt in alle Richtungen davonfliegen. Stolpernd tritt sie von der Kante zurück und schlägt sich die Hände vor den Mund. Als sie sich wieder umdreht, würde ich am liebsten weglaufen, denn was ist, wenn sie verlangt, dass ich es ihr erkläre?

Sie will garantiert von mir hören, dass alles gut wird.

Aber das kann ich ihr nicht sagen.

Doch sie fragt nichts, und ich bin froh, dass sie nicht wissen will wie oder warum, oder irgendeine andere Frage stellt, die ich nicht beantworten kann. Vielleicht will sie wissen wann. Das kann ich ihr sagen. Wenn ich eins hierbei gelernt habe, dann, dass in dem Moment, in dem all die Jahre, von denen du dachtest, du hättest sie noch vor dir, sich in wenige Sekunden auflösen, das Warum nicht mehr wichtig ist. Wichtig ist, wen du zurücklässt, und das verstehe ich am allerbesten, glaubt mir.

Wie gesagt, dieser Moment ist besonders. Die ganzen Dinge, die du getan und nicht getan, gesagt und nicht gesagt hast, plötzlich siehst du alles mit absoluter, erstaunlicher Klarheit. Manche Menschen warten ihr Leben lang auf diesen Moment. Sie klettern auf Berge und schwimmen durch Meere und lesen Bücher, in der Hoffnung, ihn zu finden. Ein paar Glücklichen gelingt es, aber den meisten von uns – Leuten wie mir und Alice Anderson und all denjenigen, die vor uns gingen und noch kommen werden – nicht, bis es zu spät ist, und … Gott, es ist grausam, oder? Wenn du keine Zeit mehr hast, weißt du auf einmal genau, was du mit ihr hättest anfangen sollen.

Als Alice den Blick hebt und mir zum ersten Mal in die Augen sieht, frage ich mich, ob es das jetzt ist. Ob sie es weiß und alles aus ihr herausströmen wird. Alles, was sie hätte tun sollen. Die Lügen, die sie erzählt, und die Geheimnisse, die sie für sich behalten hat. Sie kann sie nicht mitnehmen, also wird sie sie bei mir zurücklassen. Alles, was sie sich gewünscht hat, als sie zum letzten Mal ihre Geburtstagskerzen auspustete. Ich bin da, und das hier ist ihre letzte Chance zu sagen, was ihr leidtut, wen sie liebt oder gern um Verzeihung bitten würde.

All die Male, die sie sich etwas hätte trauen sollen und es nicht getan hat. All die Menschen, die sie hätte küssen sollen und es nicht getan hat. All die Zeit, die sie verschwendet hat, indem sie zu vorsichtig oder zu höflich oder zu ängstlich war, wenn letztendlich nichts beängstigender ist, als zu sehen, wie dein ganzes Leben auf einen einzigen Moment zusammenschrumpft, der gleich vorbei sein wird, ob du bereit bist oder nicht.

Vielleicht werde ich es gleich sehen – das Bedauern –, wie es von ihr ausstrahlt, durch ihre Kleidung hindurchbrennt, und sie wird nie wieder so lebendig wirken. Sie wird lachen und weinen und schreien, jede Emotion bis zur Erschöpfung völlig aufbrauchen, wie eine Glühbirne, die ein letztes Mal aufflackert und dann erlischt.

Doch Alice tut nichts davon. Sie erzählt mir keine Geheimnisse oder von ihrem Hund Chester, der nachts an ihrem Fußende schläft. Oder von dem Lippenstift, den sie letztes Jahr bei Boots geklaut hat, dem roten, der nicht mehr abgehen wollte, selbst, als sie so fest daran rieb, dass ihr Mund sich tagelang wund anfühlte.

Mir sollte es eigentlich recht sein, dann muss ich nichts erklären, und wir können einfach gehen. Aber ich will es. Ich will, dass Alice mich fragt, wer ich bin. Wenn sie es täte, würde ich ihr sagen, dass ich Ashana Persaud heiße und sechzehn Jahre alt bin. Ich würde ihr erzählen, dass mein Lieblingssong »Rock Steady« ist, weil er meine Eltern bei jeder Hochzeit auf die Tanzfläche bringt, und mein Lieblingsfilm Dilwale Dulhania Le Jayenge, auch wenn ich immer behaupte, es wäre The Shining, weil das einfacher ist. Ich würde ihr die Narbe an meinem Kinn zeigen, die ich habe, seit ich mit sechs von der Schaukel gefallen bin, und ihr von dem Tattoo erzählen, das ich mir mit achtzehn stechen lassen wollte. Ich würde ihr erzählen, dass ich Angst vorm Meer und vor Clowns habe und davor, angekotzt zu werden, und dass ich von hier aus sehen kann, wo ich vor zwei Wochen meinen letzten Kuss hatte, gleich da am Strand. Und vor allem würde ich ihr sagen, dass es nicht gerecht ist.

Es ist nicht gerecht, dass sie gehen kann, während ich hierbleiben und das hier machen muss.

Sie fragt aber nicht, und so stehen wir einfach da, an der Kante des Kliffs, der Mond wacht über uns, und unter uns lockt das Meer, bis sie schließlich sagt: »Der Mond sah so schön aus. Ich wollte nur ein Foto machen. Mir war nicht klar, dass ich so nah am Rand stehe, und dann …«, sie macht eine Pause und blickt hinauf zum Mond, »… dann war da auf einmal nichts mehr.«

Eine von Mascara gefärbte Träne läuft ihr über die Wange, und da bemerke ich, dass ihre Augen unter dem verschmierten Eyeliner braun sind, wie meine, aber das Licht dahinter ist verschwunden, und ich frage mich, wie sie wohl vorher aussahen. Bevor ich hierhergekommen bin. Und wer zu Hause auf sie wartet. Ob ihre Eltern noch wach sind und Newsnight gucken, damit es nicht so aussieht, als hätten sie auf sie gewartet. Ihre Mutter in einen dicken Morgenmantel gewickelt, das Telefon in der Hand, und ihr Vater achtet auf das Quietschen des Tors, gefolgt von Alice’ vorsichtigen Schritten, während sie in ihren Absatzschuhen über den Kiesweg balanciert.

Nur kommt sie nicht mehr nach Hause. Bei dem Gedanken würde ich am liebsten abhauen und ins Meer rennen, mich vom Wasser runterziehen und hintragen lassen, an welchen Ort auch immer. Doch das kann ich nicht. Ich kann sie nicht hier zurücklassen. Also gehe ich zu ihr, stelle mich neben sie und blicke über die Kante. Es ist dunkel, aber ich sehe sie – Alice Anderson – unten auf dem Weg, ihre Glieder in unnatürlichen Winkeln abgespreizt, eine Lache frisches Blut um ihren Kopf.

Eine Weile stehen wir da, ich die Hände in den Taschen meiner Jacke und sie ihre in den Taschen ihres pinken Mantels. Schließlich dreht sie mir den Kopf zu.

»Bist du ein Engel?«

Ich unterdrücke ein Lachen.

»Wenn du kein Engel bist, was bist du dann?« Sie sieht mich von oben bis unten an, und ich warte, während ihr Blick von meinem schwarzen Hoodie über meine schwarze Lederjacke zu meiner schwarzen Jeans und den schwarzen Doc Martens und wieder hoch wandert. Als ihr Blick auf dem silbernen Anhänger in Form einer Sense landet, kneift sie die Augen zusammen.

Da wirkt ihre blasse Haut gegen den dunklen Himmel auf einmal fast durchsichtig, ihre Ränder sind unscharf, als würde sie bereits verschwinden. Ein Flüstern von Nachtfaltern schart sich zusammen und setzt sich in ihre Locken. Ich blicke wieder über die Klippe, und sie tut es mir nach. Unten am Strand ist die Silhouette von Charon zu erkennen, sein vom Mondlicht angestrahltes Holzboot schaukelt sanft auf dem plötzlich ruhigen Meer. Neugierig sieht Alice mich an.

»Ist er meinetwegen hier?«

Ich nicke.

»Wo bringt er mich hin?«

Ich strecke die Hand nach ihr aus. »Wart’s ab.«

Vorher

Eins

Wie Schulausflüge so sind, ist der Besuch eines Windparks, um etwas über die Bedeutung erneuerbarer Energien zu erfahren, nichts, worauf ich mich besonders freue. Wir fahren noch nicht mal mit dem Bus, weil wir nur zur Marina müssen, also laufen wir, und Mr. Moreno behauptet, die Bewegung würde uns guttun.

Natürlich ist es das totale Chaos, als alle lauthals lachend und schnatternd aus den Schultoren strömen, so dass es die halbe Straße mitbekommen muss. Wir von der Whitehawk haben ohnehin unseren Ruf weg, und wenn wir so in der Horde unterwegs sind, wechseln die Leute immer gleich kopfschüttelnd die Straßenseite.

Als wir Manor Hill erreichen, bereut Mr. Moreno seine Entscheidung gegen den Bus offensichtlich schon. Hektisch rennt er vor und zurück und zählt seine verstreuten Schäfchen, während die Lehrassistenz die Hinterhertrödelnden zur Eile antreibt, damit wir nicht die Fähre verpassen.

Ich gehöre dazu.

»Es wird bestimmt gar nicht so schlimm«, sagt Adara und hält mir einen ihrer Cheese-and-Onion-Chips hin. Mit mürrischer Miene lehne ich ab und vergrabe die Hände in den Taschen meiner Lederjacke. Natürlich hat sie recht. Für Ende September ist es ziemlich warm, die Sonne steht hoch und hell am Himmel, und ich verpasse eine Doppelstunde Chemie, was immer eine gute Sache ist. Außerdem ist Freitag, und Mr. Moreno sagt, bis halb drei sind wir fertig, ich sollte also begeistert sein, dass wir früher Schluss haben, selbst wenn es bedeutet, ein paar Stunden in einem Windpark abzuhängen.

Mein Widerwillen hat allerdings weniger mit unserem Ausflugsziel zu tun als vielmehr damit, wie wir dort hinkommen.

»Hör zu«, sagt Adara und bleibt stehen. Sie angelt einen Chip aus der Tüte und zeigt damit auf mich. »Ich weiß, du hast Angst vorm Meer, aber es wird alles gut gehen. Versprochen. Wir fahren zum Windpark, gucken uns die Turbinen an, bewundern die Energie der Zukunft und fahren zurück.« Ich wirke offenbar nicht überzeugt, denn kurz darauf fragt sie: »Was kann denn schlimmstenfalls passieren?«

Die Frage beantwortet sich von selbst, als wir an der Marina ankommen. Dan McCarthy, der Adaras Beruhigungsversuche gehört haben muss, läuft von hinten auf mich zu, hebt mich hoch und droht, mich ins Meer zu werfen. Ich trete nach ihm und schreie, dass er mich loslassen soll, doch er lacht nur und fragt, ob ich schwimmen gehen will. Adara brüllt ihn auch an, aber das bringt ihn noch mehr zum Lachen. Er hält mich über die Kaimauer, und die Wellen sind so nah, als würden sie sich hochstrecken, um an den Sohlen meiner Doc Martens zu lecken.

Da schreitet zum Glück Mr. Moreno ein. »Daniel McCarthy! Setz Ashana sofort wieder ab!«, sagt er, während er zu uns herübermarschiert, wo ich überm Wasser baumele. Mr. Moreno erhebt nie die Stimme, wofür ich ihn ein bisschen bewundere, immerhin muss er freitagnachmittags in einer Doppelstunde Chemie eine ganze Klasse Sechzehnjähriger beschäftigen, die nichts weiter interessiert, als was sie am Wochenende machen. Aber es funktioniert, denn Dan hebt mich über die Kaimauer zurück und setzt mich ab.

Mr. Morenos rosige Wangen färben sich rot. »Was sollte das werden, Daniel?«

»Wir haben bloß rumgeblödelt, Sir.«

Wir?, bin ich versucht einzuwenden. Aber die Solidarität unter uns in der Elften schreibt vor, andere niemals zu verpfeifen, selbst wenn sie derartig schreckliche Nervensägen sind wie Dan.

»Es sah nicht so aus, als hätte Ashana Spaß daran gehabt.« Mr. Moreno verschränkt die Arme und wartet darauf, dass ich ihm zustimme. Als ich nichts sage, gibt er seufzend auf. »Entschuldige dich bei Ashana. Jetzt.«

»Sorry«, sagt Dan und versucht, ein Lachen zu unterdrücken, was ihm aber nicht gelingt.

Mr. Moreno, offensichtlich unbeeindruckt von Dans mangelndem Reuegefühl, löst die verschränkten Arme und hebt drohend den Finger. »Wir reden am Montag, Daniel. Du bist um acht Uhr bei mir im Büro, verstanden?« Ich kann Dan ansehen, dass er am liebsten protestieren würde – acht Uhr am Montagmorgen! –, aber er nickt. »Und jetzt versuch, dich den Rest des Tages zu benehmen. Meinst du, du schaffst das?«

Dan grunzt etwas, das wohl Ja heißen soll, und dann läuft er zu seinen Kumpels.

»Wichser«, murmele ich und richte meine Lederjacke. Ich dachte, Mr. Moreno würde es nicht hören, doch er sieht mich mit heftig gerunzelter Stirn an, die mir klarmacht, dass er meine Reaktion für nicht besonders angemessen hält. Jetzt ist es also an mir, mich zu entschuldigen, was extrem ungerecht ist, wo ich gerade fast gestorben wäre. Ich murmele trotzdem eine Entschuldigung, die er mit einem Nicken quittiert, bevor er die anderen zur Gangway der Fähre treibt.

»Alles okay?«, fragt Adara, während wir ihnen folgen, wenn auch weniger begeistert.

Ich nicke, und sie kennt mich gut genug, es dabei zu belassen.

Meine Beine zittern immer noch, als wir zu den anderen gehen, die vor der Gangway im Halbkreis um Mr. Moreno herumstehen. Sein Gesicht hat wieder eine normale Farbe angenommen. Er muss auf uns gewartet haben, denn als wir uns hinter die anderen stellen, hält er die Hände hoch, damit ihm alle zuhören. »Ich weiß, ihr freut euch schon sehr darauf, mehr über die Wunder der erneuerbaren Energien zu erfahren.«

Ein kollektives Stöhnen geht durch die Menge.

»Vergesst bitte nicht, dass ihr heute Nachmittag die Whitehawk High School repräsentiert, okay?« Er neigt den Kopf und sieht mit hochgezogenen Augenbrauen Dan McCarthy an, der zu mir rüberblickt und lacht.

»Ignorier ihn einfach«, sagt Adara, als Mr . Moreno in die Hände klatscht und sich umdreht, um als Erster über die schmale Gangway auf die wartende Fähre zu gehen. »Du weißt doch, wie Dan ist.«

»Es ist nicht so leicht, ihn zu ignorieren, wenn er versucht, mich ins Meer zu schmeißen, Ad.«

»Ich weiß, aber er macht das doch nur, weil er auf dich steht. So sind Jungs nun mal. Das ist ihre Art, Zuneigung zu zeigen.«

»Er ist aber nicht mein Typ«, rufe ich ihr grimmig lächelnd ins Gedächtnis.

Sie lacht. »Das weiß er aber nicht, oder?«

»Erstens …« Ich bleibe stehen, streiche mir mit den Händen über den Kopf und zähme die feinen Haare, die mir dank Dans großer romantischer Geste aus dem Pferdeschwanz gerutscht sind. »… steht er nicht auf mich, sondern er ist ein Arschloch. Und selbst wenn er es täte – wir sind sechzehn, Ad. Sind wir nicht langsam aus dem Alter raus, wo Jungs uns auf dem Spielplatz an den Haaren ziehen?«

Sie wird still und zieht die perfekt nachgezogenen Augenbrauen zusammen, als würde sie überlegen, ob all die Jungs, die uns über die Jahre geärgert haben, ihr den Hidschab runterreißen wollten und sagten, wir würden nach Curry stinken, uns ›ihre Zuneigung zeigen‹ wollten oder einfach Arschlöcher waren wie Dan.

Ich will ihr schon sagen, dass sie nicht weiter darüber nachdenken soll, als es weiter vorne auf einmal Unruhe gibt. Ich frage mich, was Dan jetzt schon wieder angestellt hat, da kommt Mr. Moreno über die Gangway zu uns zurück und teilt Adara und mir mit, dass die Fähre nur noch auf uns wartet und wir uns beeilen sollen. Schließlich sehen wir, was es mit der Aufregung auf sich hat: Wir sind nicht allein. Da, auf der anderen Seite des Decks, steht ein Haufen Mädchen, die offenbar genauso entsetzt sind, uns zu sehen, wie wir sie.

»Wer ist das?«, fragt Adara und blinzelt so wild, dass die Wings ihres Eyeliners aussehen, als würden sie gleich abheben.

»Die Whitehawk-Rowdys und die Mädchen von der Roedean.« Ich grinse. »Das wird ja interessant.«

Einen Moment lang schweigen alle betreten. Zu ihrer Ehrenrettung muss ich sagen, dass die Mädchen von der Roedean kein Stück zurückweichen, sondern die Schultern straffen und das Kinn recken, als wollten sie sagen: Wir haben keine Angst vor euch. Manche verschränken sogar die Arme, auch wenn ihnen das nicht gegen unsere Blicke hilft. Wo ich sie so in ihren sauberen marineblauen Uniformen sehe, will ich mir allerdings sofort den Daumen anlecken und mich runterbeugen, um die Schrammen an meinen Docs abzuwischen.

Da fällt mir auf, wie Adara an ihrem Hidschab herumfummelt, und ich folge ihrem Blick übers Deck zu einem Mädchen mit Haaren, wie ich sie bisher nur aus Shampoo-Werbung kannte – lang und blond und geradezu leuchtend in der späten Septembersonne –, und das Mädchen gafft uns völlig ungeniert an.

»Was ist los?«, rufe ich und verschränke die Arme. »Noch nie braune Menschen gesehen?«

Das Mädchen wird augenblicklich rot, und dann dreht sie sich zu ihrer Freundin um und flüstert ihr etwas zu. Ich will Adara raten, sie zu ignorieren, doch das brauche ich gar nicht, denn sie verdreht nur die Augen.

»Okay. Alle bleiben bitte auf der linken Seite«, sagt Mr. Moreno, und die Lehrerin von der Roedean sagt ihren Schülerinnen, sie sollen sich auf der rechten Seite halten, als wären wir gewalttätige Fans rivalisierender Fußballclubs, die jeden Moment aufeinander losgehen könnten.

Der Schiffsmotor startet, und sobald ich sein widerstrebendes Bullern unter den Füßen spüre, fällt mir wieder ein, wo ich bin. Meine Beine drohen, unter mir nachzugeben, und schnell halte ich mich an der Reling fest. Das immerhin muss ich den Roedean-Mädchen zugestehen – sie waren eine willkommene Ablenkung vom uns umgebenden Meer. Als wir vom Dock ablegen und mir der widerwärtige Gestank des Benzins ins Gesicht schlägt, spüre ich, wir mir die Milch vom Müsli, das meine Mutter mich gezwungen hat, zum Frühstück zu essen, im Magen gerinnt.

»Tief atmen«, raunt Adara und reibt mir mit der Hand über den Rücken, doch ich kann es nicht – ich schmecke den Gestank vom Benzin in Kombination mit dem aus dem Motor aufsteigenden Rauch schon auf der Zunge.

Ich lege mir die Hand über Mund und Nase, aber es hilft nicht. Setze mich hin, es hilft nicht. Schließe die Augen, es hilft nicht. Die Möwen, die bedenklich tief über uns kreisen wie Geier über frischem Aas, helfen auch nicht. Schließlich schießt eine aus dem Schwarm herab, schnappt Dan einen Kartoffelchip aus der Hand und trägt ihn im Schnabel davon. Die Antwort kommt sofort, das plötzliche Kreischen und schallende Gelächter, das die Möwen noch aufgeregter werden lässt. Ich meine zu spüren, wie die Fähre sich von einer Seite zur anderen neigt, während alle wie wild auf dem Deck herumlaufen.

Mr. Moreno und die Lehrerin von der Roedean versuchen, sie zu beruhigen, und ich umklammere mit einer Hand fest die Reling und halte mir mit der anderen die Augen zu. Ich höre Adara fragen, ob es mir gut geht, und konzentriere mich auf das vertraute Geräusch ihrer Stimme. Ich kann nichts sagen, alles ist verschwommen und außer Reichweite, das Deck unter meinen Füßen ist nicht länger fest, es fühlt sich eher an wie umherschwappendes Wasser, doch ich gebe nicht auf und versuche, oben zu bleiben.

Schließlich finde ich meine Stimme wieder und bitte Adara, mich einen Moment in Ruhe zu lassen. Ich gehe ans andere Ende des Schiffs, um so viel Abstand wie möglich vom Motor zu gewinnen. Es bringt nichts, doch gerade als ich denke, die in mir aufsteigende Übelkeit nicht länger zurückhalten zu können, fällt mir wieder ein, was Mr. Moreno uns vor unserem Aufbruch erklärt hat. Seekrankheit rühre daher, dass das Gehirn nicht versteht, warum es sich so anfühlt, als würde sich alles bewegen, obwohl du selbst dich gar nicht bewegst. Wenn du allerdings auf den Horizont blickst, registriert das Gehirn die Bewegung und stellt das innere Gleichgewicht wieder her. Ich bin bereit, alles zu probieren, und so hebe ich den Blick und konzentriere mich auf die Shoreham Power Station.

Ich halte mich an der Reling fest und warte, dass mein Gehirn seine Arbeit macht, während die Küste sich immer weiter entfernt. Doch nichts passiert. Ich fühle mich immer noch elend, und so greife ich nach meinem Handy in der hinteren Hosentasche, halb versucht, meine Mutter anzurufen und sie anzuflehen, mich abzuholen, als ich überrascht feststelle, dass es doch funktioniert. Ich fühle mich besser. Irgendwie. Ich habe zwar immer noch das Gefühl, kotzen zu müssen, aber es ist längst nicht mehr so schlimm, und nach ein paar Minuten höre ich auf zu zittern. Nach ein paar weiteren Minuten habe ich aufgehört zu schwitzen, und mein Atem hat sich genug beruhigt, dass ich mich aufrichten kann.

Schon besser. Meine Beine fühlen sich sicherer an, die frische Brise kühlt meine heißen Wangen. Ich hole tief Luft und seufze erleichtert auf. Gerade als ich denke, meinen Griff um die Reling etwas lockern zu können, bemerke ich eine Person neben mir und zucke so plötzlich zusammen, dass mir fast das Handy ins Wasser fällt. Bestimmt ist es Dan, der mich diesmal wirklich ins Meer werfen wird.

Aber es ist nicht Dan, es ist eins der Mädchen von der Roedean.

»Willst du springen?«

Sie lächelt mich zurückhaltend an. Ich bin zu überrumpelt, um zu antworten. Das Einzige, was ich sehe, sind ihre Haare. Ich habe keine Ahnung, was sie ihnen an der Roedean zu essen geben, aber sie haben alle so gesunde Haare. Sie trägt einen Pferdeschwanz, viel ordentlicher als meiner, und ihre Haare sind rot. Nicht bloß rot, sondern rot-rot. Wie der Sari meiner Mutter an ihrem Hochzeitstag. Ein sattes Rostrot mit Goldfäden, und wenn die Sonne darauf trifft, sieht er aus, als stände er in Flammen.

Mir ist bewusst, dass ich sie anstarre, denn ich kann an nichts anderes denken als daran, ob ihre Wimpern unter den Schichten von Mascara dieselbe Farbe haben. Doch falls sie es merkt, ist sie so höflich, nichts zu sagen. Sie lächelt einfach weiter. Beinah erwidere ich ihr Lächeln, doch dann halte ich mich zurück. Ich frage mich, warum sie hier ist. Vielleicht hat sie meine Lederjacke und die Doc Martens gesehen und denkt, sie kann eine Kippe von mir schnorren, um ihren Freundinnen ganz subtil zu zeigen, wie cool und unangepasst sie ist, und will dann eine große Show vor ihnen abziehen, indem sie die Zigarette raucht. Oder sie will mich fragen, wo ich herkomme, damit sie mir von ihrem Urlaub in Indien erzählen kann.

Was auch immer es ist, wenn ich ihre Roedean-Uniform und ihre vom Wind geröteten, vollen Wangen sehe, fällt mir kein guter Grund ein, warum ein Mädchen wie sie mit einem Mädchen wie mir reden wollen sollte. Ich meine, so nebeneinander ergeben wir überhaupt keinen Sinn. Sie, makellos, das Sonnenlicht fällt in zwei Monden auf die Spitzen ihrer Sattelschuhe, und ich, in knittrigen Klamotten, mit einem dünnen Film trocknendem Schweiß auf der Oberlippe.

»Willst du springen?«, wiederholt sie, bevor ich sie fragen kann, was sie von mir will. »Wie wenn du auf einer Brücke oder dem Bahnsteig stehst und den Zug kommen hörst und denkst: Ich könnte springen?«

Ja, sage ich fast, aber wieder halte ich mich zurück.

Sie zuckt die Achseln und steckt die Hände in die Taschen ihres Blazers. »Du bist nicht die Einzige.«

Echt? Ich dachte, mit mir stimmt was nicht.

»Angeblich ist das völlig gesund.«

Gesund?

»Das nennt sich High Place Phenomenon«, fährt sie fort, vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass ich bisher kein Wort gesagt habe. »Eine Wissenschaftlerin namens Jennifer Hames hat eine Gruppe Studierender an der Florida State University befragt und herausgefunden, dass so was zu denken meistens ziemlich normal ist.«

Was daran ist normal?

»Es bedeutet, dass du einen gesunden Lebenswillen hast.«

»Wie kann der Gedanke, von einer Brücke zu springen, bedeuten, dass ich einen gesunden Lebenswillen habe?«, frage ich schließlich.

Bei der Herausforderung leuchten ihre Augen auf.

»Kognitive Dissonanz.« Mir gefällt, wie sie das sagt. Als würde sie nicht automatisch davon ausgehen, dass ich keine Ahnung habe, was das ist. »Wenn du auf einer Brücke stehst, befindest du dich eigentlich nicht in Gefahr, oder? Nicht solange nicht irgendwer kommt und dich schubst, was unwahrscheinlich ist, nicht wahr?«

Ich denke an Dan und komme ziemlich schnell zu dem Schluss, nicht mit ihm allein auf einer Brücke sein zu wollen.

»Es ist nur in deinem Kopf.« Sie nimmt die Hand aus der Tasche und tippt sich an die Schläfe. »Wenn du auf einer Brücke stehst, sieht dein Gehirn den Rand und sagt dir, dass du dich in Gefahr befindest. Also bekommst du Angst, doch eigentlich müsstest du das nicht, denn du befindest dich ja überhaupt nicht in Gefahr, stimmt’s?«

Ich nicke, und auf einmal macht die Fähre einen Ruck, und ich umklammere mein Handy fester.

»Und wenn du versuchst, einen vernünftigen Grund für deine Angst zu finden, kommst du zu dem Schluss, dass du springen wolltest, auch wenn du den Drang vorher überhaupt nicht gespürt hast.« Sie steckt die Hand wieder in die Tasche und zuckt die Achseln. »Es bedeutet einfach, dass du sensibel für innere Hinweise auf Gefahr bist, was deinen Lebenswillen bestätigt.«

Ich habe keinen blassen Schimmer, worauf sie hinauswill, aber es gefällt mir, ihr zuzuhören. Sie redet ganz anders als alle, die ich kenne. Sie wird nicht unruhig, wenn es ein paar Momente des Schweigens gibt. Sie lässt es einfach zu.

»Du willst gar nicht springen. Das ist nur dein Gehirn, das dich austrickst. Genau wie jetzt.« Sie nickt in Richtung des Meers. »Nur weil du auf einem Schiff bist, denkst du, dass du dich übergeben musst, obwohl du es eigentlich nicht willst.«

»Aber vielleicht tue ich’s trotzdem.«

Sie wirft den Kopf zurück und lacht, und es ist das Schönste, was ich je gehört habe. Wie das Geräusch von den Goldarmreifen meiner Großmutter, wenn sie Roti klatscht, ein Geräusch, das immer mehr anschwillt, bis es so laut ist, dass ich es wie ein zartes Erschaudern bis in die Knochen spüre.

Ich will nicht, dass sie aufhört, und versuche, mir etwas einfallen zu lassen, das sie wieder zum Lachen bringt, doch dann guckt sie mich an, und als sie mich nun zurückhaltend anlächelt, so wie sie es getan hat, als sie mich fragte, ob ich springen wolle, fühlt es sich an, als hätte sie ein Streichholz angezündet und mich in Flammen gesetzt.

 

Sie redet weiter, so dass wir den Vortrag über die Wunder der erneuerbaren Energien verpassen und ich beim Test nächste Woche garantiert durchfalle, doch das ist mir so was von egal, denn ich will alles über sie erfahren. Ich weiß, dass sie Poppy Morgan heißt und sechzehn ist, wie ich, und dass sie gerade auf der Roedean angefangen hat, nachdem sie von einem anderen piekfeinen Internat mit dem Namen Wycombe Abbey geflogen ist. Ich weiß, dass sie sich beim Reden gern den Pferdeschwanz um die Hand wickelt, dass sie beim Nachdenken die Lippen zusammenpresst und dass sie keine Angst vorm Meer hat, dafür aber Höhenangst.

Das reicht mir aber nicht. Ich will wissen, ob sie Geschwister hat und was ihr Lieblingssong ist, damit ich ihn zu Hause auf Repeat hören kann, aber es ist trotzdem alles so perfekt. Es fühlt sich an, als wären sie und ich in derselben Seifenblase eingeschlossen, die zerplatzt, falls ich irgendeinen Fehler mache.

Also sage ich kein Wort und bin mir nur schmerzhaft dessen bewusst, dass irgendwo eine Uhr tickt, während wir uns langsam der Küste nähern, und es ist, als würde ich schweben, als hätte ich meinen Körper verlassen und würde auf uns runterblicken, wie wir auf dem Deck der Fähre stehen, und Gott, es ist perfekt. Der Himmel ist so groß, dass ich jeden Winkel davon sehen will. Ich sage mir – ich flehe mich an –, nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Diese letzten paar Momente einfach zu genießen, aber die Uhr macht tick, tick, tick, und die Küste kommt immer näher, und ich warte. Warte darauf, dass die Seifenblase platzt, weil sie es immer tut.

Poppy ist so nah, dass ich ihre Wärme neben mir spüre, und ich muss aufpassen, nicht mehr daraus zu machen, als es ist. Ich habe so was noch nicht oft erlebt, aber oft genug, um zu wissen, wie es endet. Die ganzen Mädchen in den Regenbogen-T-Shirts, die andere Mädchen küssen, um Jungs zu beeindrucken, aber lieber sterben würden, als Lesbe genannt zu werden. Die Mädchen mit unbekümmertem Lächeln und hungrigem Herzen, die Grenzen ziehen, die nur sie sehen können, und wenn ich nicht hingucke, die Torpfosten verschieben. Die ganzen gesagten und ungesagten Dinge, von denen später nie wieder die Rede ist. Die ganzen Male, die ich »Okay« sagte, wenn ich eigentlich sagen wollte: »Ich will nicht befreundet sein.«

Die Geistermädchen, die da sind und dann nicht mehr, die sich dem Reiz des Neuen hingeben, nur für einen Moment, und mich etwas fühlen lassen, nur um zum Schluss zu kommen, dass es nichts für sie ist. Die, die gelangweilt oder verängstigt sind oder beides, die mir lieber erzählen, sie seien betrunken gewesen, als zu sagen, dass sie auch etwas empfunden haben, weil sie nichts weiter wollen als ein ruhiges Leben. Einen Freund, den sie lieben können, ohne dass es Mut erfordert. Den sie zum Sonntagsessen einladen und mit dem sie zum Prom gehen können.

Ich bin die Erste und die Letzte und nichts dazwischen. Die, die sauer ist. Die austickt. Die, die Dinge sieht, die nicht da sind. Ich bin die, der du das Herz ausschütten kannst, bei der du bluten und dich ausheulen kannst. Ich bin die, mit denen sie experimentieren. Die, bei der sie sich gehenlassen können, weil ich es nie irgendwem erzählen werde. Ich bin die, deren Nummer sie unter Alfie oder Harry oder Luke abspeichern. Die Hüterin ihrer Geheimnisse und die, die ihr schlechtes Gewissen beruhigt. Aber ich bin nie die Eine.

Ich werde nicht geliebt. Jedenfalls nicht öffentlich. Mit etwas Glück bin ich eines Tages vielleicht ein Was wäre wenn? Oder schlimmer, diejenige vor der Einen. Diejenige, die sie hat begreifen lassen, dass es nicht nur eine Phase ist. Aber meistens werde ich kaum eine Fußnote in dem Buch ihres ruhigen Lebens sein, das sie sich so sehr wünschen, und während ich neben Poppy stehe und auf das weite, wilde Meer hinausblicke, warte ich. Darauf, dass sie sich abwendet, sollte eins der Roedean-Mädchen auf uns zukommen, oder dass sie auf einmal ihren Freund erwähnt, als wäre das hier nichts, als würde sie sich nur unterhalten. Als wäre das hier völlig belanglos und nicht weiter von Bedeutung. Schließlich wird nämlich sogar Angst nach einer Weile zur Gewohnheit, nicht wahr?

Wir nähern uns der Marina, und das war es jetzt, ich weiß es. Der Moment ist vorbei. Mein Herz zieht sich zusammen, und es tut so weh, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Ich blicke runter aufs Wasser, damit Poppy es nicht sieht. Als die Fähre in den Hafen einfährt, fällt mir auf, dass das Wasser hier eine andere Farbe hat. Eine Farbe, die ich bisher nur auf Postkarten anderer Leute gesehen habe. Poppy fällt es anscheinend auch auf, denn sie sagt: »Wir könnten genauso gut an der Côte d’Azur sein.« Sie sagt es mit einem verträumten Seufzen, und als sie die Augen schließt, fühlt sie sich auf einmal sehr weit weg an, obwohl sie direkt neben mir steht.

Ich war noch nie an der Côte d’Azur – oder in Frankreich überhaupt –, ich kenne nur die Croissants aus der Real Patisserie in Brighton, und näher werde ich Frankreich wohl auch nie kommen. Doch aus irgendeinem Grund – nennt es Glück oder Schicksal oder ganz altmodisch Magie – haben sich unsere Wege heute gekreuzt, und gleich werden sie sich trennen und sich dann nie wieder begegnen. Es ist schließlich ziemlich unwahrscheinlich, dass ich sie bei Lidl oder beim Warten auf den Bus wiedertreffe, oder? Das war es jetzt, das weiß ich. Sie wird einfach das Mädchen sein, an das ich manchmal denke, wenn ich zum Windpark gucke oder ein Croissant esse.

»Hier.« Poppy nimmt mir so plötzlich das Telefon aus der Hand, dass ich gar keine Chance habe zu protestieren. Als die Fähre anlegt und Poppy mir das Handy zurückgibt, hat sie ihre Nummer hinzugefügt.

»Falls du mal den Drang verspürst zu springen«, sagt sie und ihre Mundwinkel zucken verschmitzt. »Oder du dich auf einen Kaffee treffen magst.«

Diesmal zieht sich mein Herz aus einem anderen Grund zusammen, denn ich will sie wiedersehen – ich will sie wirklich wiedersehen –, und sie will mich wiedersehen, und das passiert mir sonst nie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also lächle ich bloß, und sie zwinkert mir zu. Dann dreht sie sich um und geht, mit schwingenden Hüften und flammendem Haar, und ich frage mich, ob es Worte dafür gibt, wie sich das hier anfühlt, doch ich weiß keine.

Zwei

Ganz benommen gehe ich von der Fähre und sehe mich nach Adara um. Ich halte mein Telefon noch immer in der Hand. Am liebsten würde ich Poppy sofort schreiben. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, es nicht zu tun, denn jeder Gedanke in meinem Kopf ist durch sie ersetzt worden. Jeder Gedanke, jedes Geräusch. Die Möwen kreischen ihren Namen, und die Wellen schwappen vor und zurück, vor und zurück, und flüstern leise ihren Namen, so leise, wie Adara und ich in der Bibliothek immer flüstern. Sogar mein wild pochendes Herz scheint in den Pausen zwischen zwei Schlägen ihren Namen zu sagen.

Bodomm.

Poppy.

Bodomm.

Poppy.

Als ich Adara auf dem Kai entdecke, umarmt sie mich grinsend.

»Geht’s dir gut?«, fragt sie und macht einen Schritt zurück. »Freust du dich, wieder auf dem Trockenen zu sein?«

Eigentlich müsste ich lachen, aber ich bin mir unsicher, ob sie gesehen hat, wie ich mich mit Poppy unterhalten habe, und sie deswegen jetzt erst fragt, wie es mir geht. Ich würde sie am liebsten an den Schultern packen und ihr davon erzählen, alles in einem wahnsinnigen Rausch aus mir raussprudeln lassen. Vor lauter Aufregung ist mir ganz heiß, und meine Hände zittern. Doch ich weiß, was Adara sagen würde. Sie würde sagen, ich soll mal runterkommen, ich soll besser vorsichtig sein, und dass ich dieses Mädchen doch überhaupt nicht kenne. Also erzähle ich nichts, erwidere bloß ihr Lächeln, denn ich will diesen Moment der Hoffnung noch etwas länger genießen, ihn auskosten, den Moment, wo alles noch offen ist, wie das Versprechen eines neuen Notizbuchs.

Aber Adara hat mich bestimmt mit Poppy gesehen. Sie wird mich nach ihr fragen wollen, und so bin ich froh, als in dem Moment ein paar Mädchen aus unserer Klasse auf uns zukommen. Sie wollen den frühen Schulschluss nutzen, um noch in die Stadt zu gehen, und fragen, ob wir mitkommen, und so trotte ich ihnen hinterher zur Bushaltestelle.

Ich kann mich weder ans Warten auf den Bus noch ans Einsteigen erinnern, doch jetzt sitze ich drin, ich sitze mit den anderen oben und höre ihren Klagen zu, darüber wie langweilig der Ausflug war. Adara ruft ihnen ins Gedächtnis, dass die Welt brennt, doch die anderen interessiert mehr, welchen Alk sie heute Abend zu Mos Party mitbringen. Adara hat natürlich wie immer recht, aber die anderen nun mal auch – ein Besuch im Windpark ist eben nicht, wie die meisten Sechzehnjährigen sich einen Freitagnachmittag vorstellen. Ich meine, Poppy auf ausgerechnet diesem Ausflug getroffen zu haben ist wohl auch nichts, was ich meinen Enkelkindern erzählen werde, oder?

Und schon wieder denke ich viel zu weit voraus. Aber ich kann nicht anders. Das hier fühlt sich richtig an. Ich weiß, das sage ich jedes Mal, doch diesmal ist es wirklich so.

Das hier könnte wirklich etwas sein.

Wir könnten etwas sein.

Ich entsperre mein Handy und überprüfe, ob Poppys Nummer noch da ist und ich mir das mit der Nummer nicht bloß eingebildet habe, um uns ein Happy End zu verschaffen. Als ich die Nummer sehe, beiße ich mir auf die Unterlippe und unterdrücke ein Grinsen, und dann gucke ich gar nicht mehr weg, aus Angst, die Nummer könnte verschwinden und nie wieder auftauchen. Der Gedanke bewirkt, dass ich ihr erst recht sofort schreiben will, und ich starre so sehr auf die Zahlen, dass sie schließlich miteinander verschwimmen und ich für einen entsetzlichen Moment glaube, sie wären tatsächlich verschwunden. Ich höre meinen Herzschlag in den Ohren und blinzle wild – einmal, zweimal, dreimal, viermal –, bis ich das Display wieder scharf sehe, und die Nummer ist noch da.

»Was grinst du denn so? Denkst du an das Mädchen, mit dem du vorhin geredet hast?«, fragt Adara beim Aussteigen. Bevor ich antworten kann, stellt sich mir eine Frau in grünem Extinction-Rebellion-T-Shirt in den Weg und lächelt mich an.

Ich will ihr schon sagen, dass ich kein Geld dabeihabe, weil sie mich bestimmt gleich um eine Spende bitten wird, doch dann sagt sie: »Du erinnerst dich nicht an mich, oder?«

Mist.

So was geht nie gut aus.

»Ich bin Gillian«, sagt sie, als ich nicht antworte, sondern sie nur anglotze . »Ich arbeite mit deiner Mum zusammen in der Notaufnahme.«

»Oh, hi«, sage ich und hoffe, sie merkt nicht, dass ich mich null an sie erinnere.

»Wie geht’s dir? Was macht die Schule?«

»Gut. Wir waren heute beim Windpark.«

»Wow!« Sie strahlt. »Wie toll, dass ihr so was in der Schule macht. Das ist so wichtig.«

»Ja.« Ich nicke und stecke mein Handy in die Hosentasche. »Ist es wohl.«

»Und wer ist das?« Sie deutet nickend auf Adara, die neben mir auf ihrem Handy herumscrollt, und als Gillians Lächeln etwas angespannter wird, spüre ich, wie jeder einzelne Muskel in meinen Schultern sich verkrampft.

»Das?« Es dauert einen Augenblick zu lange, bis ich Atem geholt und meine Gedanken sortiert habe. Adara blickt auf und sieht sie – diese Gillian – mit zusammengekniffenen Augen an. Vielleicht fragt sie sich wie ich, ob Gillian es weiß. Ob meine Mutter es ihr erzählt hat und sie meiner Mutter jetzt erzählen wird, dass sie mich mit einem Mädchen in der Stadt gesehen hat.

»Adara«, sagt Adara mit ebenso angespanntem Lächeln.

»Ja, Adara. Das ist Adara. Das ist meine Freundin Adara. Wir kennen uns schon seit der Vorschule.«

Ich kann vielleicht aufhören, ihren Namen zu wiederholen, aber Gillian soll ihn nicht vergessen, denn wenn sie meiner Mutter erzählt, dass sie mich mit Adara in der Stadt gesehen hat, wird meine Mutter bloß sagen: Ach die. Sie sind schon Ewigkeiten miteinander befreundet.

Adara denkt wohl das Gleiche, denn als Gillian sich schließlich verabschiedet, weil sie ihren Sohn von der Schule abholen muss, sieht Adara mich stirnrunzelnd an.

»Meinst du, sie weiß es?« Sie wackelt mit den Augenbrauen.

Ich zucke die Achseln. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mutter es ihr gesagt hat.«

»Ich auch nicht.« Adara schüttelt den Kopf. »Bestimmt nicht. Du weißt ja noch nicht mal, ob sie es deinem Dad gesagt hat. Warum sollte sie es irgendeiner Kollegin erzählen?«

»Würde sie nicht.«

Oder doch?

»Würde sie nicht, Ash. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

Doch ich mache mir Sorgen, und als Adara mich anstrahlt, bin ich etwas überrumpelt. »Was ist?«

»Jetzt erzähl schon!«

»Erzähl was?«

»Von dem Mädchen von der Roedean! Wie heißt sie?«

»Oh.« Ich versuche, mein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelingt mir nicht. »Poppy. Poppy Morgan.«

»Natürlich heißt sie Poppy.«

»Was soll das denn heißen?«

»Hat sie einen Bruder, der Hugo heißt?«, lacht Adara, während wir die Straße überqueren und in Richtung Churchill Square gehen. Als ich nicht darauf anspringe, ändert sie ihre Taktik. »Wie alt ist sie?«

»So alt wie wir.«

»Worüber habt ihr geredet?«

Ich traue mich nicht, ihr von der Sache mit dem Von-der-Brücke-Springen zu erzählen, und so sage ich: »Alles Mögliche.«

»Und weißt du sicher, dass sie …« Wieder wackelt sie mit den Augenbrauen.

»Natürlich nicht!«, antworte ich schnaubend. »Sicher weiß ich das doch nie vorher.«

»Hm. Dann solltest du es diesmal besser gleich rausfinden.«

»Aber wie?« Ich zucke die Achseln. »Ich kann sie schließlich nicht einfach fragen, oder? Das ist unhöflich.«

»Und was die ganzen anderen mit dir gemacht haben, war etwa nicht unhöflich? Wochenlang mit dir abzuhängen, während du dich die ganze Zeit mit der Frage quälst, ob sie dich mögen? Und hinterher sagen sie dann alle, dass sie nun mal super gerne mit ihren Freundinnen flirten und es ihnen leidtut, dir den falschen Eindruck vermittelt zu haben.«

Wow. Was für eine nette Art, meine bisherigen Beziehungen zusammenzufassen, Adara.

»Vielen Dank auch«, murmele ich und stecke die Hände in die Taschen meiner Lederjacke.

Sie bleibt so plötzlich stehen, dass eine Frau mit Kinderwagen beinah von hinten in uns reinläuft. »Ich sage das nicht, um dich zu ärgern, Ash.« Zärtlich sieht sie mich an. »Ich will nur, dass du vorsichtig bist.«

Ich weiche ihrem Blick aus. »Ich bin vorsichtig«, sage ich seufzend.

»Überstürz es nicht, okay? Ich will nicht, dass du wieder verletzt wirst.«

»Werde ich nicht.«

Sie wirkt nicht überzeugt, doch sie belässt es dabei, und wir gehen weiter. »Wie seid ihr denn verblieben?«

»Sie hat mir ihre Nummer gegeben.«

Adara sieht mich an, und ihre hellbraunen Augen sind auf einmal ganz dunkel. »Du hast ihr aber noch nicht geschrieben, oder?«

»Natürlich nicht«, sage ich, während wir in den H&M gehen.

»Hast du sie schon auf Insta gefunden?«

»Natürlich.« Was bin ich? Eine Anfängerin? »Ist auf privat.«

»Gut. Du musst drei Tage warten.«

Ich blinzle sie an. »Drei Tage?«

Sie nickt. »Ich habe auf Netflix diese Doku über die Psychologie beim Dating gesehen. Wenn du ihr sofort schreibst, wirkst du verzweifelt, aber wenn du länger als drei Tage wartest, denkt sie, du hast kein Interesse.«

»Das gefällt mir nicht«, murmele ich und greife nach einem gelbkarierten Schal, um sie nicht ansehen zu müssen.

Ich könnte ihr jetzt schon schreiben, aber Adara hat recht, es ist noch zu früh. Ich habe Poppy gerade erst vor ein paar Stunden getroffen. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass zur Abwechslung mal ich die Kontrolle habe. Normalerweise bin ich diejenige, die wartet. Die zu früh schreibt und zu schnell antwortet und tagelang die Lesebestätigung sieht, bis die andere schreibt: Sorry, Babe. Hatte zu tun.

Das ist das Beste und das Schlimmste daran.

Das Beste, weil die Möglichkeit, die sich daraus ergibt, schwindelerregend ist. Ich hatte noch nie ein richtiges erstes Date – tragisch, ich weiß. Mit den meisten Mädchen bin ich unter Einfluss von zu viel Wodka und zu wenig Selbstkontrolle auf irgendwelchen Partys zusammengekommen – wenn ich es überhaupt so nennen kann –, und hinterher habe ich versucht, mehr daraus werden zu lassen, was aber regelmäßig scheiterte. Die Vorstellung, mit Poppy auf ein echtes Date zu gehen, vorher zu überlegen, was ich anziehe, mir eine Pizza mit ihr zu teilen und darauf zu warten, dass sie mich küsst, macht mich ganz nervös. Klingt albern, ich weiß – ich bin schließlich keine zwölf mehr –, aber ich will endlich wissen, wie das ist.

Wenigstens einmal.

Und es ist das Schlimmste, weil ich meinen nächsten Schritt mit derartiger Sorgfalt abwägen muss, wie sie nötig wäre, um eine Bombe zu entschärfen. Ich muss cool sein, darf aber nicht kühl wirken. Muss flirten, darf aber nicht bedürftig wirken. Und dann, wenn ich es schaffe, es nicht schon vorher zu verbocken, und wir uns verabreden, muss ich mir Gedanken machen, ob sie tatsächlich kommt, und wenn sie es tut, ob sie wen mitbringt, weil sie vielleicht denkt, es wäre ein Gruppending, und wenn sie alleine auftaucht, muss ich die ganze Zeit grübeln, ob sie jetzt nur befreundet sein will oder mehr. Und selbst wenn sie mich küsst, muss ich mich fragen, ob sie es tut, weil sie mich mag oder weil sie zu viel Cider getrunken hat und einfach nur wissen will, wie es sich anfühlt, ein Mädchen zu küssen.

Es ist anstrengend.

»Drei Tage«, warnt Adara mich.

Drei Tage.

Drei

Sobald ich die Wohnungstür aufschließe, höre ich meine Mutter aus der Küche nach mir rufen.

»Hallo, Mama«, antworte ich. Die ganze Wohnung riecht nach Ingwer und Knoblauch – nach Zuhause –, und etwas in mir ordnet sich neu, als ich die Tür hinter mir schließe und mich runterbeuge, um meine Docs aufzuschnüren.

»Ashana?«, wiederholt sie, während ich aus den Schuhen steige und meinen Rucksack abwerfe. »Bist du das?«

»Nein, ein Axtmörder.« Ich schüttele die Lederjacke ab und hänge sie auf. »Ich bin bloß sehr liebebedürftig.«

Mit zusammengekniffenen Augen und einem Messer in der Hand kommt sie aus der Küche. Damit will sie wohl eher mich als einen potenziellen Axtmörder beeindrucken, aber da meine Mutter inzwischen kleiner ist als meine jüngere Schwester, funktioniert es nicht so ganz. Ich lächle sie lieb an, und sie murmelt etwas, was ich wahrscheinlich nicht hören will, und geht in die Küche zurück.

»Hast du Hunger?«, fragt sie, während ich ihr folge. Doch sie wartet meine Antwort gar nicht erst ab, sondern legt das Messer zur Seite und nimmt mit bloßen Fingern das frische Roti aus der Pfanne auf dem Herd. Sie faltet es zweimal zusammen und dann klatscht sie es zwischen den Händen, bis es fluffig aufgeht.

Ich weiß nicht, wie sie das macht. Ich habe es einmal probiert, und das Roti war so heiß, dass ich es schreiend in die Spüle fallen ließ. Meine Tante Lalita fand es urkomisch, sie lachte eine ganze Minute lang. Dann tadelte sie meine Mutter dafür, es mir nicht schon eher beigebracht zu haben, und meinte, ich würde nie einen Mann finden, wenn ich kein Roti klatschen kann. Ich wagte nicht, ihr zu sagen, dass mich keins von beidem interessiert.

Meine Mutter ist anscheinend gerade erst aus der Dusche gekommen, denn ihre Haare sind noch feucht, nur der Flaum an ihrem Haaransatz ist schon getrocknet. Ihre Haare haben dieselbe Farbe wie meine, doch inzwischen sind sie von grauen Strähnen durchzogen, die sie anfangs hasste, doch mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt und überfärbt sie nicht mehr –, nachdem sie letztes Jahr Haarfärbemittel auf die Fliesen gekleckert und es nicht mehr wegbekommen hat.

Sie trägt eine Jogginghose von meinem Vater und ein altes T-Shirt von mir, auf dem OVER IT steht. In beidem versinkt sie, die Aufschläge der Hose ergießen sich wellenartig über ihre roten Samtslipper. Wenn jetzt Besuch käme und sie so sehen würde, wäre es ihr schrecklich peinlich, aber mir gefällt es. Sie sieht aus wie auf den Fotos von ihr und meinem Vater aus ihrer Jugendzeit. »Hier«, sagt sie, als sie mit dem Roti zufrieden ist, legt es auf einen Teller und hält ihn mir hin.

Freudig reibe ich mir die Hände und bekomme Emoji-Herzchen in den Augen, als ich das noch dampfende Roti vor mir sehe.

Alle glauben, die eigene Mutter würde das beste Roti machen, aber sie irren sich, denn meine Mutter macht das beste. Es ist leicht und fluffig und knusprig, alles zugleich. Einmal habe ich ihr gesagt, sollte ich jemals zum Tode verurteilt werden, würde ich mir ihr Roti und Chicken Curry als letzte Mahlzeit wünschen. Das oder ihr gebackener Kürbis. Sie meinte, dass ich im Falle des Falles beides bekommen würde.

»Danke, Mama«, sage ich, doch als ich nach dem Teller greifen will, zieht sie ihn zurück und deutet nickend auf die Spüle.

»Hände waschen.«

Ich stöhne übertrieben laut.

»Sei nicht so theatralisch, Ashana«, sagt sie, während ich zur Spüle rübergehe. »Weißt du eigentlich, mit wie vielen Keimen du heute in Berührung gekommen bist? Du könntest genauso gut vom Boden essen. Komm her.«

Ich strecke ihr die Hände entgegen, und als sie sich überzeugt hat, dass sie sauber sind, reicht sie mir schließlich den Teller und geht zurück zum Herd.

»Was gibt’s zum Abendessen?«, frage ich.

Es ist Freitag, daher weiß ich schon, was es gibt, und ich verziehe das Gesicht, als sie antwortet: »Fisch-Curry.«

»Lecker!«, sage ich, reiße ein Stück Roti ab und werfe es mir in den Mund.

»Fisch ist gesund.«

Früher haben wir freitagabends immer Fish and Chips gegessen. Es war die eine Sünde, die meine Mutter sich erlaubte, aber seit mein Vater nicht mehr im Krankenhaus arbeitet, gibt es Fisch-Curry.

»Wie war dein Tag?«, frage ich, als sie die Hände über die Pfanne hält. »Hast du gut geschlafen?«

»Nicht wirklich. Der verdammte Hund nebenan hat den ganzen Tag gebellt.«

Sie seufzt und klingt dabei so müde – richtig müde –, dass ich ein ganz schlechtes Gewissen bekomme, weil ich so eine undankbare Göre bin. Wahrscheinlich stand sie für das Fisch-Curry stundenlang in der Küche, während Adara und ich Lippenstift ausprobiert haben.

»Tut mir leid«, sage ich.

Sie nimmt eine Kugel Teig unter dem feuchten Küchentuch neben dem Herd hervor und rollt sie mit dem dünnen hölzernen Teigroller, der früher meiner Großmutter gehörte, zu einem Kreis aus.

»Er und dieser furchtbare Kater zwei Türen weiter …«

»Dorito?«, frage ich stirnrunzelnd. »Was hat er dir jemals getan?«

»Er hasst mich. Er faucht mich jedes Mal an, wenn ich vorbeigehe.«

»Katzen spüren das Böse, nicht wahr?«

»Schade, dass sie es nicht spüren, wenn Töchter respektlos sind.« Mit erhobener Augenbraue sieht sie mich an, was eine ziemliche Leistung ist, wo ihre Augenbrauen nach Jahren des zu vielen Zupfens so gut wie verschwunden sind.

»Du bist ja nur eifersüchtig, weil er mich mag und dich nicht«, sage ich selbstgefällig grinsend.

»Er mag dich nur, weil du ihn jedes Mal, wenn du vorbeigehst, streichelst. Warum meinst du, lasse ich dich die Hände waschen, sobald du reinkommst?«, fragt sie und zeigt mit dem Teigroller auf mich.

Natürlich hat sie recht. Als ich an Ms. Larsons Tür vorbeikam, wo er wieder auf dem Fußabtreter saß, habe ich ihn zwischen den Ohren gekrault.

Doch das sage ich ihr nicht. »Er mag mich nur, weil ich seinen Boiler repariert habe.«

»Wann hast du Ms. Larsons Boiler repariert?«

»Vor Ewigkeiten. Weißt du noch, als es Anfang des Jahres geschneit hat?«

Sie nickt, während sie den ausgerollten Teig in die Pfanne legt, und als er anfängt, sich aufzublähen, drückt sie ihn mit dem Pfannenwender runter.

»Ms. Larson war gekommen, um zu fragen, ob Dad helfen kann, aber er war bei der Arbeit, also habe ich mir den Boiler angesehen.«

»Dann bist du jetzt also Klempnerin?«

»’türlich nicht.« Ich zucke die Achseln und reiße noch ein Stück Roti ab. »Aber der Boiler hat dasselbe gemacht wie unserer letztes Jahr. Als er Druck verloren hat?«

Sie nickt, wendet das Roti und streicht es mit Öl ein.

»Also habe ich den Hebel rumgedreht, und er lief wieder. Dorito hat’s gefreut. Katzen frieren schnell, weißt du?«

»Hat Dorito dir das erzählt?«

»Deswegen sitzt er auf dem Abtreter, wenn die Sonne scheint«, erkläre ich und werfe mir das Stück Roti in den Mund. »Warte nur ab. Sobald das Wetter sich ändert, siehst du ihn nicht mehr.«

»Meinst du, wenn das Wetter sich ändert, höre ich den Hund nicht mehr?«, fragt sie, und ihr Blick wird sanfter. »Der Hund kann ja nichts dafür«, räumt sie kopfschüttelnd ein. »Es ist nicht nett, ihn den ganzen Tag in der Wohnung einzusperren.«

»Das stimmt, aber Mr. Cameron kann seit seiner Hüft-OP nicht mehr so weit laufen. Und selbst wenn er es könnte, wohin sollte er? Der Fahrstuhl ist jetzt schon seit drei Wochen kaputt. Wie soll er sechs Stockwerke rauf- und runterlaufen?«, frage ich, und meine Mutter nickt. »Keine Ahnung. Er bräuchte eigentlich Hilfe, oder? Er ist ganz allein, seit seine Frau gestorben ist. Vielleicht sollten Rosh und ich nach dem Abendessen rübergehen und ihm anbieten, mal mit dem Hund zu gehen.«

Meine Mutter dreht sich zu mir und sieht mich schon wieder mit erhobenen Augenbrauen an. »Ja, genau«, schnaubt sie, wendet das Roti und streicht auch die andere Seite mit Öl ein. »Ich will mal sehen, wie du Hundekacke aufhebst!«

»Den Teil kann Rosh übernehmen.«

Das bringt sie zum Lachen, und dann kommt sie rüber und küsst mich auf die Wange. »Eigentlich bist du wirklich ein gutes Mädchen.«

Bei dem Kompliment strahle ich übers ganze Gesicht, das eigentlich ignoriere ich.

»Wie spät ist es überhaupt?«, fragt sie.

Ich ziehe mein Handy aus der Jeanstasche und sehe nach. »16.41 Uhr.«

»Schon? Dann muss ich gleich los zur Arbeit.«

»Wie kommt’s?«

»Ich muss früher hin, wegen einer Schulung zu Diversität im National Health Service.«

»Das brauchen die Leute, die in der Notaufnahme landen, doch viel mehr als ihr.«

»Wohl war«, stimmt sie mir seufzend zu, während ich mir noch ein Stück Roti in den Mund werfe. »Aber wenn sie nicht von mir verarztet werden wollen, weil ich braun bin, hab ich weniger zu tun.«

Sie zuckt die Achseln, doch es muss ihr weh tun, angespuckt zu werden und gesagt zu bekommen, dass sie zurückgehen soll, wo sie herkommt, obwohl sie hier geboren wurde. Dabei will sie nichts weiter als helfen. Ich weiß ehrlich nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe macht.

Ich würde den Leuten sagen, dass sie halt sterben sollen, und in meiner ersten Schicht gleich gefeuert werden.

»Wirst du wenigstens dafür bezahlt, früher hinzugehen?«

»Natürlich nicht.«

»Mum, dann geh nicht hin. Bleib hier und iss mit uns. Daddy kommt bald nach Hause.«

»Würde ich gern, mein Schatz.« Sie seufzt wehmütig, und ich glaube ihr. »Aber ich darf diese Schulung nicht verpassen. Sie wurde extra so gelegt, dass alle kommen können. Es wird auffallen, wenn ich nicht da bin.«

Da fällt mir Gillian wieder ein, und einen kurzen Moment überlege ich, ihr nicht von der Begegnung zu erzählen. Aber wenn sie sich bei der Schulung sehen und Gillian ihr erzählt, dass sie mich in der Stadt getroffen hat, wird meine Mutter erst recht angepisst sein. Ich erzähle es ihr also lieber selbst, bevor Gillian mich verpfeift.

»Ich habe heute deine Freundin gesehen«, sage ich vorsichtig.

»Welche Freundin?«

»Gillian.«

»Gillian Lawrence?«

»Ich weiß ihren Nachnamen nicht. Sie sagte, sie arbeitet mit dir zusammen.«

»Gillian Woźniak?« Meine Mutter sieht mich stirnrunzelnd an. »Wo hast du sie getroffen?«

»In der Stadt.« Ich halte die Luft an, und es ist, als hätte ich die Lunte angezündet und würde auf den Knall warten.

Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. »Wann warst du denn in der Stadt?«

»Gerade eben. Mit Adara«, sage ich achselzuckend, als wäre es keine große Sache, und ich hoffe, sie sieht es genauso.

»Warum warst du nicht in der Schule?«

»War ich ja, aber der Ausflug war schon früher zu Ende und …«

»Was für ein Ausflug?«, unterbricht sie mich zum Glück, denn ich habe mir noch keine Ausrede einfallen lassen, warum ich in der Stadt war.

»Der Ausflug zum Windpark, hab ich doch erzählt.«