In the Shallows - Tanya Byrne - E-Book

In the Shallows E-Book

Tanya Byrne

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Beschreibung

Von der Autorin der TikTok-Sensation »Everlove« Mara steckt in einer toxischen Beziehung mit Nico fest, bis ihre große Liebe in der Silvesternacht spurlos verschwindet. Einige Tage später wird ein Mädchen aus dem Meer gefischt, das ihr Gedächtnis verloren hat - Nico! Als die beiden sich zufällig wieder begegnen, beginnt ihre Liebesgeschichte von vorn, aber diesmal ist alles ganz anders, /romantisch und leicht. Mara ist hin und hergerissen: Will sie die  "alte Nico" überhaupt zurück?  Eine zweite Chance für die große Liebe - eine Geschichte voller Sehnsucht, Verlust und Geheimnisse von der gefeierten Autorin von »Everlove«.

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Tanya Byrne

In the Shallows

Liebe tut weh

 

Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke

 

Über dieses Buch

 

 

Alle Bücher von Tanya Byrne bei Fischer Sauerländer: 

 

Everlove – Bis übers Ende dieser Welt hinaus

 

In the Shallows - Liebe tut weh

 

 

 

Mara steckt in einer toxischen Beziehung mit Nico fest, bis ihre große Liebe in der Silvesternacht spurlos verschwindet. Einige Tage später wird ein Mädchen aus dem Meer gefischt, das ihr Gedächtnis verloren hat - Nico! Als die beiden sich zufällig wieder begegnen, beginnt ihre Liebesgeschichte von vorn, aber diesmal ist alles ganz anders, /romantisch und leicht. Mara ist hin und hergerissen: Will sie die  “alte Nico” überhaupt zurück? 

 

Eine zweite Chance für die große Liebe

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Tanya Byrne wurde in London geboren und lebt heute mit ihrem Hund Frida Brighton. Als queere Autorin aus der Arbeiterklasse setzt sie sich leidenschaftlich dafür ein, das Verlagswesen für alle offener zu machen. Besonders wichtig ist ihr, Autor*innen aus Randgruppen zu ermutigen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.

 

Stefanie Frida Lemke studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Deutsche und Englische/Amerikanische Literaturwissenschaften in Hannover und Bristol. Nach verschiedenen Stationen im Lizenz-, Scouting- und Agenturbereich in München und New York lebt und arbeitet sie seit 2010 als Literaturübersetzerin aus dem Englischen in Berlin.

Inhalt

[Widmung]

Ich will euch eine Geschichte erzählen.

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Danksagung

Allen Lehrerinnen und Lehrern, Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, Buchhändlerinnen und Buchhändlern, die sich für Geschichten wie diese einsetzen und dafür sorgen, dass sie in die Hände derer gelangen, die sie brauchen

Ich will euch eine Geschichte erzählen.

Es ist keine Geschichte für die Geschichtsbücher. Kein Mensch wird Songs über uns singen oder Gedichte über uns schreiben. Ihr werdet in fünfzig Jahren keine Statue von uns vorfinden, wie wir nebeneinanderstehen, Hand in Hand, moosbefleckt, mit abgebrochenen Finger- und Nasenspitzen. Trotzdem ist es eine Geschichte so alt wie die Zeit. Mädchen trifft Mädchen. Mädchen verliert Mädchen. Mädchen bekommt Mädchen zurück.

Ich weiß, was ihr denkt. Ihr habt die Geschichte schon mal gehört, richtig?

Na ja, diese ist nicht ganz so einfach.

Aber wann sind solche Geschichten jemals einfach?

1

Ihr Name ist Nico Rudolph, und ich liebe sie. Sie liebt mich auch, und obwohl es Zeiten gab, in denen ich daran zweifelte, tut sie es wirklich. Das müsst ihr jetzt wissen, denn es wird Zeiten geben, in denen auch ihr daran zweifeln werdet.

Doch bevor ich weiter ins Detail gehe, sollte ich euch wohl erst einmal erzählen, wer ich eigentlich bin. Wenn ich ehrlich bin, und ich versuche es wirklich, gibt es da nicht viel zu erzählen. Bis ich Nico begegnete, hatte ich ein ziemlich ruhiges Leben. Meine Eltern sind nach wie vor zusammen und lieben sich nach wie vor auf diese unerreichbare, grenzenlose Weise, die mich manchmal ganz sehnsüchtig werden lässt. Und ja, okay, mein ruhiges Leben war natürlich nicht immer nur ruhig. Das einzige indische Mädchen in der Klasse zu sein, ist nicht unbedingt leicht. Und den anderen zu sagen, dass ich auf Mädchen stehe, war erst recht nicht leicht, auch wenn es laut auszusprechen etwas in mir endlich zur Ruhe gebracht hat.

Und trotzdem habe ich mich nie anders gefühlt. Bis ich ihr begegnete, bin ich durchs Leben gegangen, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie bei dem harten roten Samtsofa im Wohnzimmer meiner Großeltern, das dich wieder vergessen hat, sobald du aufgestanden bist. Außergewöhnlich ist nur meine Gewöhnlichkeit. Ich bin gut in der Schule, auch wenn ich nicht nach Oxford oder Cambridge oder so gehen werde. Ich kann längst nicht so gut tanzen wie meine Mutter oder kochen wie mein Vater oder singen wie Nico. Ich kann weder zeichnen noch malen oder irgendwelche anderen Sprachen außer ein bisschen Hindi sprechen. Und ich hasse Sport. Ich hasse es, Bällen hinterherzurennen, nach ihnen zu treten, auf sie einzuschlagen oder mit ihnen auf unmögliche Ziele zu zielen. Ich hasse alles, wofür ich ein Trikot mit einer Nummer auf dem Rücken anziehen muss.

Ich werde also keinen Krebs heilen oder die Welt auf eine Pulitzerpreis-verdächtige Art verändern. Und das ist okay, besonders nach dem, was mit Nico passiert ist. Glaubt mir, ein ruhiges Leben ist gar keine schlechte Sache. Ich bin wahrscheinlich noch zu jung, um das zu wissen, aber wenn hierbei etwas Gutes rausgekommen ist, dann ist es das.

Ich kann mich glücklich schätzen. Ich habe tolle Freundinnen, die mich, wie meine Eltern, mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit lieben. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hätte mich das fast ruiniert, weil ich dachte, so müssten mich alle lieben. Das ist wohl noch etwas, wofür ich eigentlich noch zu jung bin, um es zu wissen: Nicht alle können dich so lieben, wie du es brauchst.

Trotzdem hatte ich es tatsächlich auch ziemlich leicht. Abgesehen davon, dass ich angeblich in jedes Mädchen, mit dem ich mich nur unterhalten habe, gleich verknallt gewesen sein sollte, und abgesehen von ab und zu mal einem fiesen Kommentar auf dem Schulflur, bin ich nie gemobbt worden. Ich musste nie einen Umweg nach Hause machen oder Periodenschmerzen vortäuschen, um nicht zur Schule zu müssen. Ich musste nie mehr als die üblichen Teenie-Tragödien durchleiden. Streitigkeiten mit Freundinnen. Vergebliche Schwärmereien. In den Sand gesetzte Prüfungen. Sorgen, die mir alle so viel größer vorkamen, bis ich Nico kennenlernte und merkte, dass ich keinerlei Probleme hatte.

Trotzdem habe ich natürlich welche. Die haben wir alle. Wir alle haben Probleme, von denen nur wir wissen. Wir wissen nichts von den Sorgen, deretwegen andere Leute sich in den Schlaf weinen. Den Geheimnissen, von denen sie euch nie erzählen werden. Den Nöten, die ihr so einfaches Leben nicht ganz so einfach machen. Den Gedankenschleifen, die sie ständig ablenken. Die sie aus der Bahn werfen. Sie entmutigen, darauf zu hoffen, dass es noch mehr geben wird als das hier. Auch wenn mit dem hier eigentlich nichts verkehrt ist.

Denn das hier bin ich, nicht wahr?

Das hier ist mein wirkliches Ich.

Ich bin nicht bloß das Mädchen auf den Geburtstagsfotos an den Wänden bei mir zu Hause. Ich bin nicht bloß der Star aus den Geschichten meiner Eltern, die sie am Ende von Hochzeiten erzählen, wenn die Torte angeschnitten wurde und sie schon zu viel Sekt getrunken haben. Oder wenn im Radio ein Song gespielt wird und sie sich ansehen und lächeln und dann mich ansehen und noch breiter lächeln. Ich bin jeder Fehler, den ich gemacht habe. Jede Narbe, die ich mir zugezogen habe. Ich bin in den Songs, die ich auf Repeat höre, in den Klamotten, die ich mich nicht anzuziehen traue, und den Sätzen, die ich in Büchern unterstreiche.

Das alles bin ich. Ich bin nicht nur die, die alle kennen, diejenige, die immer zu allem zu früh kommt, die Kidneybohnen hasst und Kakteen ertränkt. Ich bin auch all die Sachen, die ich mich nicht traue, laut zu sagen. Ich bin jede meiner Hoffnungen. Jede Angst. Jeder wilde Gedanke, von dem mir ganz schwindelig wird mit seinem Versprechen auf etwas anderes, etwas, das weit über mich, die Fotos von mir, die Geschichten meiner Eltern und diesen winzigen Fleck des Universums hinausgeht. Ich bin mehr als das, was die Leute meinen, über mich zu wissen. Mehr als dieses endlose, anstrengende Gefühl, dass sich etwas verändert, sich Raum zu schaffen versucht, obwohl der Platz dafür fehlt.

Mara Malakar. Einziges Kind von Vasudeva und Madira. Geboren in Brigthon und immer noch hier. Immer noch in dem Reihenhaus auf der Toronto Terrace, in das meine Eltern mich vor sechzehn Jahren aus dem Krankenhaus mit nach Hause nahmen. Immer noch in dem Zimmer mit Blick auf den Garten, das mein Vater vor meiner Geburt rosa gestrichen hatte und das seitdem schon jede erdenkliche Farbe gehabt hat.

Mara Malakar, die sich keine Zahlen oder Anweisungen merken kann, aber immer ans Telefon geht. Die zu viele Bücher liest und Wörter liebt. Selbst wenn ich sie, bislang, nur in den langweiligsten meiner Notizbücher aufbewahrt habe, die nicht zu schade zum Benutzen sind. Zusammen mit den Wörtern anderer Leute. Songtexten und Zeilen aus Büchern, die mich vor Erleichterung darüber, dass eine fremde Person etwas über mich wissen konnte, bevor ich es selbst tat, ganz benommen machten. Hingeschmierte Tinte auf Papier, Zeitkapseln dessen, was auch immer ich gerade fühlte, was, wie ich mir einredete, ich nicht mehr zu fühlen brauchte, sobald ich es niedergeschrieben hatte.

Doch diesmal will ich es fühlen.

Auch wenn das alles noch sehr zart ist und ich Angst habe, dass es zerbrechen könnte. Und noch viel mehr Angst habe ich, es niederzuschreiben, weil es verblassen könnte, wenn ich nicht die richtigen Worte finde, um die Qualen und die Magie des Ganzen deutlich zu machen. Doch ich muss es tun, denn sonst fürchte ich, es zu vergessen. Erinnerung ist trügerisch, nicht wahr? Sie lässt dich im Stich, wenn du sie am meisten brauchst. Sie belügt dich, redet dir ein, dass etwas passiert ist, selbst wenn es gar nicht stimmt. Sie löscht das Wesentliche aus, zum Beispiel, eine Person das erste Mal lachen gehört und in dem Moment gewusst zu haben, dass dieses Lachen etwas Wunderbares bedeutet, und ersetzt es durch einen winzigen, gedankenlosen Kommentar, der Monate, nachdem du ihn gemacht hast, unerwartet und uneingeladen wiederkehrt, um dich daran zweifeln zu lassen, wer du eigentlich bist.

Deswegen muss ich das hier niederschreiben. Bevor ich es vergesse. Verzeiht mir, wenn es nicht perfekt ist. Aber das ist noch etwas, was ich gelernt habe: Nichts muss perfekt sein. Es muss nur stimmen.

2

Ich begegnete Nico letzten Juni. Der Tag fing an wie jeder Sonntag. Ich wachte auf, und neben mir lag meine Freundin Michelle, die in den Großteil der Decke gewickelt leise neben mir schnarchte, während meine Eltern unten in der Küche zusammen lachten und zu Joni Mitchell mitsangen und mein Vater Pancakes machte.

Das ist eine meiner liebsten Traditionen: sonntags mit Michelle, Joni Mitchell und Pancakes aufwachen. Und so viele Traditionen wie wir mittlerweile haben, will das echt was heißen. Das passiert schnell. Wir machen etwas, und dann machen wir es wieder und wieder, ohne uns dessen bewusst zu sein. So entstehen Traditionen. Winzige Kieselsteine aus Freude, die die Monotonie des morgens zum Bus rennen und sonntagabends Hausaufgaben machen, unterbrechen. Joni Mitchell und Pancakes. Michelles und mein Geburtstag. Diwali bei uns zu Hause. Mond-Neujahr bei Michelle zu Hause.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht erklären, dass Michelle und ich bloß gute Freundinnen sind, denn wenn du auf Mädchen stehst und so über eins redest, wie ich über sie, interpretieren die Leute oft mehr hinein. Denken, ich wäre unerträglich in sie verliebt gewesen, aber sie hätte meine Gefühle nicht erwidert, so dass ich meine Hoffnungen schließlich aufgeben musste und mich damit abgefunden habe, ihre beste Freundin zu sein. Doch nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Michelle ist, auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, meine Schwester. Unsere Eltern waren schon vor unserer Geburt miteinander befreundet. Vor Mara und Michelle gab es Mads und Nicole und Vas und James.

Wir sind mit vier Tagen Abstand geboren und zusammen großgeworden, sind von klein auf im Haus der jeweils anderen ein und aus gegangen mit unseren aufgeschlagenen Knien und den Schätzen, die wir zusammen am Strand gefunden haben. Händevoll Muscheln. Bonbonfarbene, vom Meer glatt geschliffene Scherben. Rechteckige Eikapseln, die Meerjungfrauenportemonnaies, von denen mein Vater immer sagte, wir sollten gucken, ob Perlen darin sind.

Und so nannten uns immer alle ›die Zwillinge‹, obwohl wir uns kein bisschen ähnlich sehen. Meine Eltern kommen aus Indien und ihre aus China, von daher haben wir beide dunkle Haare und Augen, aber da hört es mit den Gemeinsamkeiten auch schon auf. Meine Augen sind ein oder zwei Nuancen heller als ihre, und Michelles Haare sind viel länger – sie gehen ihr schon, so lange ich denken kann, bis zur Taille – und glatt wie in der Shampoo-Werbung, während meine dick und kaum zu bändigen sind und mir gerade mal bis zu den Schultern reichen.

Meistens fällt mir gar nicht auf, wie unterschiedlich wir aussehen, bis wir zusammen ein Selfie machen. Eigentlich war das in unserer Kindheit schon offensichtlich, doch jetzt mit sechzehn ist die Sache mit den Zwillingen nur noch lustig. An Michelle ist alles klein. Sie hat einen kleinen Körper (wenn auch keine kleine Stimme), mit einem kleinen, hübschen Gesicht und kleinen, hübschen Händen und kleinen, hübschen Fingernägeln, die sie sehr hübsch rosa lackiert. Wenn sie lächelt – richtig lächelt –, verschwinden ihre Augen, und wenn sie lacht – richtig lacht –, schnaubt sie. Ich dagegen bin groß wie mein Vater und habe weiche Hüften und ein weiches Gesicht wie meine Mutter. Außerdem ist meine Haut viel dunkler als Michelles. Meine hat dasselbe tiefe Braun wie die meines Vaters, während Michelles näher am warmen Braun ihrer Mutter ist, das in der Sonne richtiggehend strahlt.

Michelle und ich waren schon immer befreundet. Immer. Wir machen alles zusammen, daher war sie auch an diesem Vormittag dabei. An dem Vormittag, als ich Nico begegnete. Wir gingen gerade durch den Bahnhof in Brighton, und als ich auf die Bahnhofsuhr sah, war es 11:11 Uhr. 11:11 Uhr am 11. Juni. Ich dachte, wünsch dir was, denn das musste etwas bedeuten, und als wir aus dem Bahnhof kamen, stand da auf einer Bank Nico mit ihrer Gitarre, das Gesicht der Sonne entgegengestreckt, und sang.

Es war nichts, nur ein Sonntagvormittag im Juni.

Doch dann war es auch wieder nicht nichts.

Es war verblüffend.

Ich hatte sie noch gar nicht kennengelernt, und trotzdem wusste ich, dass ich nie wieder über sie hinwegkommen würde.

Selbst jetzt erinnere ich mich noch daran, dass mir das Herz in der Brust aufging wie ein Ballon. Ich ließ Michelle mitten im Gespräch stehen und gesellte mich zu den Zuschauenden um Nico hinzu. Die Sonne strahlte sie an wie ein Scheinwerfer, so dass ihre kinnlangen schwarzen Haare fast silbern wirkten, während sie die Hüften wiegend an den Saiten der Gitarre zupfte. Michelle neben mir sagte, sie würde aussehen wie Park E Hyun in Ihr bester Fehler, und das stimmte wohl, aber eigentlich will ich euch das gar nicht erzählen, weil ihr sie euch gar nicht anders vorstellen sollt als sie selbst. Stellt sie euch einfach wunderschön vor. Zart. Mit blasser Haut und tintenschwarzen Wimpern und einer beneidenswerten Lässigkeit, während sie den Himmel ansang, als wären wir alle gar nicht da.

Doch am meisten erinnere ich mich daran, wie ich den Atem anhielt und darauf wartete, dass sie die Augen öffnete. Als sie es schließlich tat und ihr Blick auf mir landete, zuckten ihre Mundwinkel – ganz kurz –, und da war es passiert.

Es war um mich geschehen.

Auf einmal war ich für immer verändert. Ich wusste nicht, was es war, ob es Liebe war oder Lust oder ob sie mich einfach verwirrte. Ich wusste bloß, es hatte mich so durch und durch verändert, dass ich eines Tages auf jenen Augenblick zurücksehen würde – und dieser Tag ist offensichtlich heute – und sagen würde: Das war es. Das war der Moment, als sich alles änderte.

Und ich hatte recht, nicht wahr?

Als ich meine Umgebung allmählich wieder wahrnahm – die über unseren Köpfen kreischenden Möwen, das schwere, süße Parfüm von einer Person in der Menge, den 7er-Bus, der eine weitere Horde gestresster Menschen ausspuckte, die zu ihren Zügen eilten –, rechnete ich damit, dass die Welt anders aussah. Dass der Himmel rosa war und die Luft nach Vergnügungspark, Donuts und Abenteuer roch und die Sonne so tief am Himmel hing, dass ich sie berühren konnte. Doch alles sah noch ganz genauso aus, auch wenn es sich überhaupt nicht so anfühlte.

 

Sechs Monate später hätte ich jetzt nicht gesagt, dass Nico und ich zusammen waren, aber wir waren auch nicht nicht zusammen. Wir steckten irgendwie dazwischen fest, und es war die Hölle.

Wir hatten uns schon geküsst, hielten aber nie Händchen. Ich wusste, dass sie fünfzehn war und Sternzeichen Krebs, doch ihren Geburtstag kannte ich nicht. Ich wusste, dass sie ein Einzelkind war wie ich, aber sie redete nie über ihren Vater, und ich fragte auch nicht nach ihm, weil ich annahm, dass es einen Grund dafür gab, dass sie nicht über ihn redete. Ich wusste, dass sie in Rottingdean wohnte, aber nicht, auf welche Schule sie ging. Und ich hatte noch nie irgendwelche Freundinnen von ihr getroffen, sie allerdings meine. Zugegeben, offenbar nicht besonders gerne. Die paar Male, die sie zugestimmt hatte, sie zu treffen, war sie schlechtgelaunt und abgelenkt gewesen, was meinen Freundinnen bestätigte, dass sie nicht gut für mich war, und mir, dass wir wohl nicht so oft alle zusammen abhängen würden.

Als ich also an jenem Sonntagmorgen mit Michelle, Joni Mitchell und Pancakes aufwachte, war Nico für mich immer noch genauso unergründlich – und unerreichbar – wie als ich sie zum ersten Mal vor dem Bahnhof singen hörte.

Inzwischen war Silvester, doch statt mich auf den Abend und das neue Jahr zu freuen, tat ich, was ich seit unserem Kennenlernen jeden Morgen tat.

Sobald ich die Augen aufschlug, guckte ich aufs Handy.

Ich war damit in der Hand eingeschlafen, es dauerte also bloß eine Sekunde herauszufinden, dass ich außer von May keine Nachrichten erhalten hatte.

»Kein Wort von Nico«, stellte Michelle fest, als sie mich stirnrunzelnd ansah. Sie sagte es mit solcher Leichtigkeit – solcher Sicherheit –, dass ich keine Lust hatte, ihre Vermutung zu bestätigen.

»Ich lese nur eine Nachricht von May.«

Verwirrt griff sie nach ihrem Handy. »Da ist doch gar nichts im Gruppen-Chat.«

»Sie hat mir direkt geschrieben.«

»Warum nur dir?« Die Falte zwischen Michelles Augenbrauen vertiefte sich, dann riss sie die Augen auf. »Nein!«

Theatralisch seufzend schüttelte ich den Kopf.

»Mara, nein! Sie ist nicht wieder mit Chesca zusammen, oder?«

»Sie sind gestern Abend wieder zusammengekommen.«

»Nein!« Michelle schlug mir auf den Arm.

Ich rieb mir übertrieben die Stelle, wo sie mich getroffen hatte. »Ähm. Au.«

»Chesca ist ein totales Miststück!«

»Ist sie nicht.«

»Doch, ist sie!«, kreischte Michelle und sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Ist sie nicht. Sie ist nur noch nicht out, sie ist immer noch dabei, das für sich zu verarbeiten.«

Das besänftigte Michelle schließlich.

»Trotzdem«, schnaubte sie. »Das ist keine Entschuldigung, May so zu behandeln.«

Damit hatte sie recht.

»Wenn mich wer ghostet«, sagte Michelle, »sollte die Person besser für immer tot bleiben.«

Ich weiß, ich verteidigte sie, aber Chesca war tatsächlich schrecklich zu May. Sie hatten sich in der Schlange vor einem Konzert kennengelernt, und zwischen ihnen war es wochenlang super intensiv, dann hat May auf einmal nichts mehr von ihr gehört. Erst als sie wen Neues kennenlernte. Als ob Chesca es gewusst hätte, denn auf einmal hatte sie May nicht mehr blockiert und schickte ihr eine Nachricht: Hallo, Unbekannte.

Dann fingen sie wieder was miteinander an, und dasselbe passierte noch mal.

Ein Jahr lang immer und immer wieder.

Eat dirt, sleep, repeat.

»Das erklärt, warum sie es nur dir geschrieben hat«, sagte Michelle, während sie durch ihr Handy scrollte.

Das war eindeutig ein Seitenhieb auf Nico, aber ich biss trotzdem an. »Was soll das denn heißen?«

Sie ignorierte mich, setzte sich auf und strich die Decke glatt, um mich nicht ansehen zu müssen.

Ich hätte es dabei belassen sollen, doch ich ließ nicht locker. »Warum soll sie es nur mir geschrieben haben? Weil ich auch auf Mädchen stehe?«

Ich merkte Michelle an, dass sie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, es sich dann aber noch mal überlegte.

»Weil du eine hoffnungslose Romantikerin bist, Mara. Natürlich willst du, dass May ihr noch eine Chance gibt.«

Das tat weh, doch es verwandelte sich umgehend in etwas noch Schmerzhafteres.

Etwas mit Hintergedanken.

»Tja, tut mir leid, dass wir nicht alle so eine perfekte Beziehung haben können wie du und Lewis.«

Sobald die Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich sie, aber wenigstens guckte sie mich jetzt wieder an.

»Ich habe keine perfekte Beziehung, Mara. Ich habe die Beziehung, die ich verdiene.«

Es klang so leicht, wie sie das so sagte.

»Mara, ich will damit nur sagen …«

»Was? Was willst du damit sagen, Michelle?«, unterbrach ich sie sarkastisch, doch es klang eher pampig.

»Ich will damit nur sagen, dass du diese Zeit nie zurückbekommen wirst. Es ist unser letztes Schuljahr.«

»Ich weiß.« Ich war mir durchaus bewusst, dass unsere Prüfungen, nachdem sie jahrelang nur irgendwo weit weg im Rückspiegel zu sehen gewesen waren, auf einmal in einem Affentempo auf uns zurasten, mit Lichthupe und Hupe gleichzeitig.

»Mara, wenn wir am Dienstag wieder zur Schule gehen, dann war es das. Dann haben wir nur noch fünf Monate, bis die Prüfungen losgehen. Das sind unsere letzten gemeinsamen Monate, bevor wir alle auf verschiedene Colleges gehen.«

»Ich weiß.«

Wir redeten schließlich über nichts anderes.

Dabei versuchten wir, möglichst nicht daran zu denken.

Es sind unsere letzten Tage, erinnerte May uns immer wieder.

Ich war mir jedes einzelnen verstreichenden Tages bewusst, und trotzdem fühlte ich nicht, was von mir erwartet wurde.

»Tust du das, Mara? Denn es wird nie wieder so sein wie jetzt. Klar, bleiben wir in Kontakt, aber es wird nicht dasselbe sein.«

»Warum schreist du mich an?«

»Ich schreie nicht«, schrie sie. Sie seufzte, dann senkte sie die Stimme. »Ich sage ja nur, du wirst diese Zeit nie wiederbekommen. Verschwende sie nicht, indem du dir ihretwegen so viele Gedanken machst.«

Ich liebe Michelle, aber ich wünschte, sie würde mich auch nur halb so nachsichtig behandeln, wie sie es andersrum von mir erwartet. Moment. Das hätte ich nicht sagen sollen. Das ist nicht fair. Sie hat sich schließlich nur Sorgen um mich gemacht, nicht wahr? Vielleicht ging es gar nicht so sehr darum, was sie sagte, sondern vielmehr darum, wie. Das ist wohl das Problem damit, so eng befreundet zu sein.

Mit Erin, Louise oder May würde Michelle nie so reden, wie sie es mit mir tat.

Wenn ihr sie – oder uns – nicht kennen würdet, hättet ihr sie gut als eine Person mit Elefantenherz abtun können. Doch ich weiß es natürlich besser, und ich würde jede Person, die auch nur ein schlechtes Wort über sie verliert, zur Rede stellen. Also, ja, Michelle ist nervtötend direkt und ausnahmslos logisch, aber sie kann auch gut zuhören – richtig zuhören – und hat den Mut und den Anstand zuzugeben, wenn sie mal falschliegt. Selbst wenn das, wie sie behaupten würde, noch nie nötig war.

Wenn Michelle also etwas egal ist, lässt sie es auch mal gut sein. Wenn sie allerdings nicht lockerlässt, weißt du, dass ihr die Sache wirklich wichtig ist. Und ich bin ihr eindeutig wichtig, denn sie ließ nicht locker.

»Ich meine, du kennst sie doch gar nicht, Mara.«

Auch das tat weh, doch als der erste Schmerz vorbei war, fühlte ich mich nur noch mehr herausgefordert.

»Ich kenne sie, Mara.«

Das klang schärfer, als ich es beabsichtigt hatte.

Normalerweise hätte ich es mit einem Scherz abgemildert, aber das wollte ich nicht.

Ich wollte, dass sie es hört.

Dass sie mir glaubt.

Doch die Wahrheit ist: Michelle hatte recht.

Ich kannte Nico nicht.

Damals dachte ich, dass ich sie kannte, aber ich tat es nicht.

Nicht wirklich.

Nico hatte diese Art zu reden, die bewirkte, dass ich etwas gerader stand. Etwas strahlender lächelte. Mir etwas mehr Mühe gab. Sie redete und redete, nur sagen tat sie nie etwas. Jedenfalls nichts Wesentliches. Sie redete von den Konzerten, auf die sie gehen, und den Tattoos, die sie haben wollte. Ich bekam nicht ein Wort dazwischen, und wenn ich es versuchte, redete sie einfach weiter. Manchmal unterbrach sie sich auch selbst und redete auf einmal von etwas ganz anderem, bis sie wieder zum vorigen Thema zurückkehrte. Am nächsten Tag antwortete sie dann nicht auf meine Nachrichten, als hätte sie zu viel gesagt und würde für die nächsten Wochen erst mal gar nichts mehr sagen.

Dann saß sie auf einmal wieder an ihrem abblätternden Nagellack knibbelnd vor meiner Schule und wartete auf mich, und ich war total erleichtert, sie wiederzusehen, doch sie war bedrückt und distanziert, und die Schatten unter ihren Augen deuteten auf etwas Quälendes hin, über das sie ganz offenbar nicht reden wollte.

Ihre Distanziertheit löste bei mir die gegenteilige Reaktion aus, und ich versuchte, sie zurückzuholen, indem ich ihr eine Geschichte nach der anderen erzählte. Wie unsere Eltern am selben Tag herausfanden, mit Michelle und mir schwanger zu sein. Wie ich zwei Tage zu früh und Michelle zwei Tage zu spät geboren wurde, und zwar in der Tiefgarage vom Gala Bingo, weil sie auf einmal nicht mehr warten konnte. Wie wir gleichzeitig Windpocken bekamen. Wie ich mir mit sieben den Arm gebrochen hatte, als ich vom Klettergerüst im Queens Park sprang, weil Michelle versprochen hatte, mich zu fangen, es aber nicht tat. Ich erzählte von dem Schuhkarton voller Postkarten und Fotos unter meinem Bett. Von den ganzen Orten, an denen wir gewesen waren, bevor Michelles Eltern ihr Reisebüro schließen mussten. Indien, als wir eins waren. Thailand, als wir zwei waren. Sri Lanka, als wir drei waren. Bali, als wir vier waren. Marokko, als wir fünf waren.

Manchmal finde ich es schade, dass ich so viel von der Welt gesehen habe, mich aber null daran erinnern kann. Trotzdem erzählte ich Nico die Geschichten so, als würde ich mich erinnern. An das Blau und Weiß des Hotel Riad al Medina, in dem Jimi Hendrix übernachtet hatte, als er in Essaouira war. An das Blau und Gelb des Jardin Majorelle. Wie die Farbe des Hawa Mahal bei Sonnenuntergang von rosa zu rot zu gold wechselt. Dass die Kokosnüsse in Sri Lanka leuchtend orange sind.

Manchmal sitze ich im Schneidersitz auf dem Fußboden in meinem Zimmer und schaue mir Michelle und mich an, wie wir in denselben Badeanzügen nebeneinanderstehen und unsere kleinen Füße die Erde eines unerreichbaren Orts berühren, von dem ich nie wissen würde, dass ich mal da war, wenn ich nicht das Foto in der Hand halten würde.

Nico jedoch hatte keine solche Geschichten.

Jedenfalls keine, die sie mir erzählte.

Sie redete immer nur von irgendwann mal.

Eines Tages.

Immer nur von morgen.

Morgen.

Morgen.

Morgen.

Was sie tun würde. Was sie sich angucken wollte. Wer sie sein würde. Dass sie aufs Liverpool Institute for Performing Arts gehen und die Nordlichter in Reykjavík und die Papageientaucher auf St. Kilda sehen wollte. Unterm Sternenhimmel schlafen, irgendwo in der freien Natur. Dass sie alles tun wollte.

Ausnahmslos.

Sie redete mit derselben Hingabe von ihren Plänen, mit der ich ihr meine Geschichten erzählte, nur dachte sie nostalgisch an ein Leben, das sie noch gar nicht zu leben angefangen hatte.

»Ich kenne sie«, sagte ich wieder zu Michelle.

Doch sie verdrehte die Augen, denn auch wenn ich sie sechs Monate lang angelogen hatte – sie angelogen und dabei gelächelt und mir alle möglichen Ausreden ausgedacht hatte –, reichte ihr das bisschen, was sie über Nico wusste, um überzeugt davon zu sein, dass das nicht stimmte.

Das ist die Sache mit Michelle, sie hat die schreckliche Angewohnheit, die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind.

Wohingegen ich sie ausschmücke, bis sie zu etwas werden, was sie tatsächlich nie waren.

Was lustig ist, denn wenn ihr uns nicht kennt, würdet ihr sicher sagen, dass Michelle und ich absolut nicht zusammenpassen. Ich mit meinen Zwiebelschalengefühlen und sie mit ihrer Zunge so scharf wie ein Messer. Ich hatte schon oft darüber nachgedacht – lange bevor irgendwas hiervon passiert ist, vor Nico –, dass alles, was ich jemals getan oder gesehen oder worüber ich jemals gelacht oder getrauert habe, zusammen mit Michelle war. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas gegessen habe, ohne dass sie es zuerst probiert hat. Ob ich tatsächlich Angst vor Spinnen habe oder es nur denke, weil sie es tut. Mag ich die Musik, die ich höre, überhaupt? Oder gefällt sie mir, weil es mich daran erinnert, mit Tuchmasken auf dem Gesicht in Michelles Zimmer herumzutanzen?

Und selbst wenn wir mal nicht einer Meinung sind, bin ich wirklich oder nur aus Prinzip anderer Meinung? Bin ich in die eine Richtung gegangen, weil sie die andere eingeschlagen hat? Wollte ich mir tatsächlich die Haare abschneiden, oder habe ich es nur getan, weil sie ihre lang trägt? Lackiere ich mir die Nägel rot, weil ihre rosa sind? Oder lese ich Nora Ephron, weil sie Taylor Jenkins Reid liebt?

Ich habe immer gesagt, dass unsere Leben sich überschneiden, doch in Wahrheit fragte ich mich inzwischen, wo Michelle aufhörte und ich anfing. Ob ich jemals in der Lage sein würde zu analysieren, welche Teile von mir meins sind und nicht unseres.

Als ich wieder auf mein Handy guckte und so tat, als wäre ich von einem Video gefesselt, in dem ein Hund I Will Survive singt, änderte Michelle ihre Taktik. »Was würdest du denn sagen, wenn Lewis mich so behandeln würde, wie Nico dich behandelt?«

Ich lächelte einfach weiter. »Ich würde sagen, wenn du mit ihm glücklich bist …«

Sie unterbrach mich mit einem trockenen Lachen, denn das war Blödsinn, und das wussten wir beide.

Doch damals dachte ich wirklich, ich wäre glücklich.

Oder könnte es vielleicht sein.

Es war das vielleicht, das mich das alles ertragen ließ.

»Ich weiß, du hattest gerade erst dein Coming-Out, Mara, aber das heißt nicht, dass du dich gleich mit der Erstbesten abfinden musst.«

Schließlich blickte ich vom Handy auf. »Ich finde mich nicht mit ihr ab, Michelle.«

»Das hier ist Brighton. Du kannst eine Birkenstock-Sandale werfen und triffst garantiert ein Mädchen, das auch auf Mädchen steht.«

Ich legte den Kopf schief. »Wie nett.«

»Ich sag ja nur.« Sie zuckte verlegen die Achseln.

»Nico ist nicht Chesca«, sagte ich, aber meine Stimme klang auf einmal ganz hoch und zittrig.

Michelle ignorierte es und fing wieder an zu scrollen, also sagte ich es noch mal.

»Ist sie nicht. Das ist nicht das Gleiche.«

Ich weiß noch, wie meine Wangen glühten, wie mein Atem auf einmal schneller ging. Was lustig ist, denn ich dachte immer, wenn ich so viel für eine Person empfinden würde, wäre es sanft. Zärtlich. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Gefühle so heftig sein würden.

So ungezähmt.

Als hätte ich keinerlei Kontrolle darüber.

»Es hat keinen Zweck, weiter darüber zu reden, wenn du mir nicht zuhörst, Mara.«

»Ich höre dir zu.«

Tat ich aber nicht wirklich, denn wenn ich jetzt daran zurückdenke, hätten wir überhaupt nicht darüber reden müssen.

Stattdessen hätte Folgendes passieren sollen: Ich lernte ein Mädchen kennen, die mit mir umsprang, wie es ihr gerade in den Kram passte, und ich ging meiner Wege.

Doch wie ich schon sagte, solche Dinge sind selten einfach.

Die ersten drei Monate waren perfekt, aber dann war der Sommer vorbei, und als die Schule wieder losging, hatte sich etwas verändert. Die Pausen zwischen unseren Textnachrichten wurden immer länger, erst waren es Minuten, dann Stunden, dann Tage, und dann kam gar nichts mehr.

Zuerst dachte ich, es läge an mir. Dass ich etwas erzwingen, einen Sommerflirt in eine Beziehung verwandeln wollte. Doch dann wollte Nico mich plötzlich wieder sehen, und wenn ich ankam, wartete sie mit dieser ziellosen, gefährlichen Energie auf mich, bei der ich nicht wusste, ob ich auf sie zu oder vor ihr davonlaufen sollte. Wir hatten ein paar schwindelerregende Wochen, in denen wir uns jeden Tag sahen. Wir redeten und küssten uns und schmiedeten Pläne, von denen ich mir sicher war, dass sie sich diesmal an sie halten würde, und wenn ich nach Hause ging, waren meine Haare warm von der vielen Sonne, und meine Finger rochen nach den Gänseblümchen, die wir gepflückt und uns zu Kränzen geflochten auf die Köpfe gesetzt hatten.

Aber dann passierte es wieder.

Wenn ihr mich damals gefragt hättet, warum ich das mitmachte, ich hätte es euch nicht sagen können. Im Rückblick glaube ich, ich hielt nicht an dem fest, was wir hatten, sondern an dem, was vielleicht noch kommen könnte.

Der Aussicht darauf.

Der Aussicht auf den nächsten Anruf, das nächste Abenteuer.

Der Aussicht auf die Aussicht.

Inzwischen weiß ich, dass ich allein von Hoffnung leben kann.

Was ist Liebe überhaupt anderes als der Triumph von Hoffnung über Rationalität?

Versteht mich nicht falsch, ich sage nicht, dass ich Nico liebte.

Jedenfalls noch nicht.

Doch es war genau das noch nicht, weswegen ich immer weitermachte.

Weswegen ich es immer weiter versuchte.

Ich träumte davon, wie es nach dem noch nicht sein würde. Es würde sein wie in all den Büchern. Nicht nur verwirrend und atemlos, sondern etwas Festes. Es würde leicht sein. Ich würde mich nicht bremsen müssen, bevor ich sie zur Begrüßung auf die Wange küsste, und ich würde beim Spazierengehen ihre Hand halten. Wir würden Bücher tauschen und uns ein Eis teilen, und vielleicht würden – eines Tages – irgendwo in einem Badezimmer zwei Zahnbürsten nebeneinander in einem Becher stehen.

»Das ist nicht, wie es sein sollte, ist dir das nicht klar? Das ist nicht romantisch«, sagte Michelle.

Genau wie beim ersten Mal, als Nico plötzlich verschwunden war und mir eine Woche später wieder schrieb, als wäre nichts gewesen. Ich war begeistert – und erleichtert –, wieder von ihr zu hören, doch Michelle schimpfte gar nicht mit mir. Stattdessen sagte sie, ich hätte zu viele Bücher gelesen. Ich wusste nicht, dass das etwas Schlechtes war, aber sie sagte, wegen der ganzen Bücher würde ich glauben, dass Liebe hart verdient werden muss. Dramatisch ist. Ich dafür kämpfen muss. Und immer wieder scheitern, bis ich schließlich Erfolg hätte. Liebe wäre ein Rätsel, das mit Beharrlichkeit und Intuition gelöst werden müsse. Du denkst, Liebe bedeutet Schmerz und Sehnsucht. Auf der Suche nach deinem verlorenen Heathcliff durchs Moor zu streifen, sagte sie, als ich sie einmal fragte, ob es noch zu früh sei, Nico zu antworten.

Ich entgegnete, dass das nicht stimme. Doch wenn ich jetzt darüber nachdenke, hat Nico mein ruhiges Leben wohl weniger ruhig gemacht. Bis ich ihr begegnet bin, hatte ich keine Ahnung, wie ruhig es war. Wie klein. Aber jedes Mal, wenn ich sie traf, hatte ich das Gefühl, dass meine Welt ein bisschen größer – und lauter – wurde, und ich konnte nicht mehr zurück.

Ich passte nicht mehr in mein altes Leben.

Also, ja, es ging mir furchtbar, wenn sie mal wieder verschwand, aber wenn mein Handy summte, griff ich jedes Mal mit neuer Hoffnung danach. Neun von zehn Malen war sie es nicht, aber beim zehnten Mal war sie es, und mir wurde vor lauter Erleichterung ganz schwindelig, und es war die ganze Warterei wert, weil es sich so gut anfühlte zu wissen, dass Nico immer noch an mich dachte.

Dass sie mich nicht vergessen hatte.

Wenn ich das so lese, kommt es mir albern vor, doch es gibt schließlich nichts Schlimmeres, als vergessen zu werden, oder? Ich glaube, lieber würde ich gehasst werden, denn Hass drückt wenigstens die Abwesenheit – den Verlust – von Zuneigung aus, verrät ein Gefühl, so schwach und müde es auch sein mag. Aber vergessen werden? Das bedeutet, dass da nichts mehr ist. Oder von Anfang an nichts war.

Wie schrecklich, wenn in einem Moment noch an dich gedacht wird und im nächsten schon nicht mehr.

Wie grauenvoll, an eine Person zu denken und zu wissen, dass sie niemals mehr an dich denken wird.

»Mara, es sollte nicht so schwer sein«, sagte Michelle, und als ich wieder auf mein Handy blickte, riss sie es mir weg.

Ich schnappte nach Luft.

»Du hast seit einer Woche nichts von ihr gehört. Mal wieder.«

»Es ist Weihnachten«, sagte ich. »Sie ist wahrscheinlich mit ihrer Familie zusammen.«

»Genau! Es ist Weihnachten, und sie schafft es noch nicht mal, dir eine Nachricht zu schicken?«

»Sie hat mir am ersten Feiertag geschrieben«, log ich, dann bekam ich Panik, als mir wieder einfiel, dass Michelle mein Handy hatte. Ich machte mich darauf gefasst, dass sie jeden Moment die Augenbrauen hochziehen und fragen würde, Sollen wir mal nachsehen?

Und sie zog die Augenbrauen hoch, aber sie sagte: »Mara, es sollte nicht so schwer sein.«

Da spürte ich, wie sich etwas in meiner Brust verspannte, denn vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es an der Zeit, Nico in den Schuhkarton unter meinem Bett zu verbannen, und zwar noch weiter außer Reichweite als die ganzen Postkarten und Fotos.

Doch eine Niederlage ist schwer zu akzeptieren, wenn dir noch nicht mal die Chance zu kämpfen gegeben wurde.

»Ich höre, was du sagst, Michelle, aber …«, fing ich an, brachte den Satz aber nicht zu Ende, weil mein Handy vibrierte, das immer noch Michelle hatte.

»Was?«, fragte ich, als sie es mir stöhnend wiedergab.

Ich nahm an, dass es noch eine Nachricht von May war, die schwärmte, wie sehr Chesca sich geändert hätte.

Dass es diesmal anders sein würde.

Doch es war Nico.

guten morgen mein sonnenschein xx

vermiss dich

muss dich sehen

was machst du heute

Ich versuchte, gelassen zu bleiben, guckte aber garantiert ziemlich verzückt.

Als ich Michelle wieder ansah, hätte ich wohl nicht so grinsen sollen, aber eins musste ich Nico lassen.

Das Timing war perfekt.

3

Ich hörte Nico singen, noch bevor wir aus dem Bus stiegen, und musste mich bremsen, die Stufen nicht runter zu rennen, denn es war der Song, den sie an jenem Morgen gesungen hatte, als wir uns kennenlernten. The Blower’s Daughter von Damien Rice. Ich wusste nicht, wie oft ich ihn seitdem gehört hatte, aber ich hatte Stunden damit zugebracht, auf dem Boden meines Zimmers zu liegen und ihn immer und immer wieder zu spielen. Gewissermaßen war es also unser Song, auch wenn sie es nicht wusste.

Jedes Mal, wenn ich an diesen Vormittag denke – den Vormittag, als ich sie kennenlernte –, sehe ich nichts anderes als Farben. Beim bloßen Gedanken daran musste ich seufzen. Selbst jetzt sehe ich es noch wie in Technicolor. Den knallblauen Himmel, darunter Nico mit ihrer Gitarre, den Gitarrengurt mit dem schwarz-weißen Schachbrettmuster quer über der Brust, ihre glänzenden dunklen Haare und ihre verstörend rosa Lippen, während sie mit geschlossenen Augen sang. Anderthalb Jahre später erinnere ich mich noch an jedes winzige Detail. Den abgeplatzten neongrünen Nagellack. Ihr langes schwarzes Kleid, mit winzigen weißen Sternen und Halbmonden bestäubt. Ihre blasse Haut und ihr strahlendes Gesicht, von der Sonne in goldenes Licht getaucht.

Doch an Silvester stellte sich die Szene ganz anders dar. Im Vergleich wirkt meine Erinnerung beinahe ausgeblichen. Wenn ich die Augen schließe und daran denke, sehe ich keine Farben. Keine Wärme. Der Himmel war flach und weiß, und Nico war allein. Die Leute hatten keine Lust, im kalten Wind stehen zu bleiben und zuzuhören, und liefen mit wehenden Schals schnell weiter zu ihren Zügen oder zogen eilig ihre Koffer Richtung Queens Road und Meer.

Die einzige Farbe war Nico in ihrem großen rot-schwarz gestreiften Pulli, dessen ausgefranste Ärmel ihre Hände fast ganz bedeckten. Es schien sie nicht zu stören, dass die Leute ihr nicht zuhörten, unbeirrt schlug sie auf der Bank unter sich mit dem Fuß den Takt, und dann sang sie einen Song, den ich noch nie gehört hatte.

Wer sie nicht kannte, hätte wahrscheinlich gesagt, dass sie immer noch genauso war wie an jenem ersten Vormittag. Die Veränderung war so minimal, dass ich wohl die Einzige bin, die es bemerkte. Schließlich sang sie immer noch wunderschön und wiegte sich dazu in den Hüften, aber ihre beneidenswerte Lässigkeit war verschwunden, ihr Rücken war durchgedrückt, die Schultern steif.

Ich redete mir ein, dass sie bestimmt fror, doch ich wusste, es war mehr als das. Ich hörte das leichte Zittern ihrer Stimme, sah ihre dunklen Augen unruhig umherwandern, bis sie mich entdeckte und aufhörte, mit dem Fuß den Takt zu schlagen. Wie so oft suchte ich nach einem Anzeichen dafür, dass sie sich freute, mich zu sehen. Einem Zucken um die Mundwinkel oder dass sich ihre Stirn entspannte oder ihre Wangen sich leicht rot färbten. Doch da war nichts. Sie nickte mir leicht zu, und als sie weiter mit dem Blick die Leute vor dem Bahnhof absuchte, wusste ich, mehr würde ich nicht bekommen.

Kein Lächeln.

Kein Zwinkern.

Kein Dieser Song ist für Mara.

Ich frage mich, ob es weniger weh getan hätte, wenn Michelle nicht neben mir gestanden hätte.

Auf einmal wünschte ich, sie wäre nicht mitgekommen, aber Nico und ich hatten uns den ganzen Vormittag geschrieben, und sie war so guter Stimmung gewesen, dass, als Michelle sagte, sie würde mitkommen in die Stadt, weil sie etwas von Boots brauchte, ich nichts dagegen einzuwenden hatte. Ich wollte sogar, dass sie mitkommt. Ich wollte, dass sie Nico singen sieht, locker, mit geröteten Wangen und glücklich. Dass sie die Nico sieht, die ich kannte. Die Nico, die meinen Arm packte, wenn sie lachte, und meine Wange mit Küssen bedeckte, wenn ich begeistert von einem Buch redete, das ich gerade las, die Nico, die mit mir zusammen Nordlichter und Papageientaucher sehen und unterm Sternenhimmel schlafen wollte, irgendwo in der freien Natur.

 

Als Nico fertig war, von der Bank sprang und sich den Gitarrengurt über den Kopf zog, zögerte ich. Etwas sagte mir, dass ich abhauen sollte, doch Michelle ging bereits auf sie zu, also folgte ich ihr.

Bei der Bank angekommen beobachtete ich, wie Nico ihre Gitarre in den Koffer legte, während mir ganz heiß wurde und ich mich fragte, was Michelle wohl aus dem Ganzen machte. Sie hatte Glück. Lewis rief sie immer an, wenn er es gesagt hatte. Er wartete immer, wo sie sich verabredet hatten, und freute sich immer, sie zu sehen. Auf dem Schulflur packte er sie gern von hinten und hob sie hoch, bis sie kreischte.

Es war einfach.

Das Gegenteil von dem, was auch immer Nico und ich hatten.

Michelle schlief nicht mit dem Telefon in der Hand ein. Sie musste nicht den richtigen Zeitpunkt zwischen zu früh und genau richtig kalkulieren, wenn sie auf seine Nachrichten antwortete. Sie musste sich keine Sorgen machen, dass, wenn sie sich mal verschätzte, ihr Übereifer ihn abschrecken würde, oder dass, wenn sie zu lange wartete, ihre Beziehung in Gefahr geriet. Genauso wenig musste sie sich darum sorgen, dass, wenn sie im falschen Moment das Falsche sagte oder nicht im richtigen Moment das Richtige, er sie aus seinem Leben verbannen würde, ohne überhaupt darüber nachzudenken.

Das würde ich keinem Menschen wünschen.

Ich schäme mich, so etwas aufzuschreiben. Doch selbst, wenn ich es durchstreichen würde, wäre es immer noch da, unter der Schicht schwarzer Tinte, und ihr würdet euch fragen, was ich euch verheimlichen wollte, wo ich doch versprochen habe, ehrlich zu sein, nicht wahr?

Und so unangenehm – und ungehörig – es auch ist, das niederzuschreiben, die Wahrheit ist: So habe ich mich mit Nico oft gefühlt. Sie ließ mich machen, bis ich wieder mal eine der Grenzen überschritt, von der ich nichts wusste. Mir konnte sie eine Frage nach der anderen über meine Eltern stellen – wie sie sich kennengelernt hatten, wann ich mich ihnen gegenüber geoutet hatte und wie es ihnen damit ging, dass ich für die Uni wegziehen wollte –, aber wenn ich sie nach ihrer Mutter fragte, wurde sie schweigsam und fand eine Ausrede, sich zu verabschieden. Mich konnte sie mitten auf der Straße an sich ziehen und küssen, aber wenn ich sie zur Begrüßung nur auf die Wange küsste, versteifte sie sich und wich einen Schritt zurück. Mich konnte sie fragen, was ich am Wochenende vorhatte, doch wenn ich dasselbe tat, zuckte sie bloß die Achseln und sagte: »Weiß noch nicht.«

Dann würde ich wieder eine Woche lang nichts von ihr hören.

Sie zog eine Linie nach der anderen, und wenn ich mich einer zu sehr näherte, zog sie noch eine.

Und danach zu urteilen, wie sie reagierte, als sie mich vorm Bahnhof sah, hatte sie offenbar noch eine gezogen.

»Hey«, sagte Michelle angespannt und steckte die Hände in die Manteltaschen.

»Hey«, antwortete Nico und warf einen gelangweilten Blick in unsere Richtung, während sie sich ihren Mantel anzog und sich den schwarz-weißen Smiley-Schal um den Hals schlang.

»Hey«, sagte ich, keine Ahnung warum. Wahrscheinlich hoffte ich, ihre Antwort mir gegenüber würde wärmer ausfallen. Dass sie reagieren würde, wie Lewis gegenüber Michelle reagieren würde. Dass sie mich angrinsen und küssen würde.

Aber sie nickte nur und sagte: »Hey.«

Ich wartete, dass noch etwas kam, sie erklärte, mich vermisst zu haben, wie sie es vorher geschrieben hatte, oder dass sie fragte, wie mein Weihnachten war. Doch sie sah mich gar nicht an, sondern fummelte nur an ihrem Schal herum, und ich konnte mir absolut nicht erklären, warum sie sich so verhielt.

Sie wusste doch, dass ich kommen würde.

Sie hatte mich darum gebeten.

Liegt es daran, dass Michelle dabei ist?

Ich hatte keine Ahnung, ich war mir nur sehr unseres Schweigens bewusst. Wenn uns irgendwer beobachtet hätte, hätte die Person wohl gedacht, dass Michelle und ich bloß irgendwelche Mädchen waren, die Nico ein Kompliment für ihr Singen machten, nicht, dass Nico und ich noch vor einer Woche rumgeknutscht hatten, bis ich eine Pause brauchte, um wieder zu Atem zu kommen.

Ich traute mich nicht, Michelle anzusehen, so sehr schämte ich mich. Ich konnte ihre Wut buchstäblich spüren, als sie stocksteif neben mir stand, während Nico ihre Handykamera benutzte, um ihren Pony zu richten und neuen pinken Lippenstift aufzutragen. Und es war noch nicht mal Nicos unverschämte Gleichgültigkeit, sondern, dass es Michelle war. Bei meinem zwanghaften Bedürfnis, von allen gemocht zu werden, hätte ich Nico eigentlich dafür beneiden müssen, dass sie keinen Drang verspürte, sich bei meiner besten Freundin beliebt zu machen, doch es war mir unbegreiflich, wie sie nicht merken konnte, was es mir bedeutet hätte, wenn sie sich etwas Mühe mit Michelle gegeben hätte.

»Der letzte Song war toll«, sagte ich gutgelaunt, und es erinnerte mich an den Ton, den meine Mutter anschlug, wenn sie mich als Kind dazu bringen wollte, einen Löffel Hustensaft zu nehmen. »Der über den Kurzfilm. Ist der von dir?«

Sobald ich es gesagt hatte, verfluchte ich mich, denn so hätte es nicht laufen sollen.

Ich wollte nicht, dass Michelle sie so erlebte.

Uns so erlebte.

Nico als cool und einsilbig und mich leicht manisch, wie ich versuchte, sie für mich zu gewinnen.

»Schön wär’s.« Nico schnaubte. »Das ist Laura Marling.«

Und wer bist du?, hätte ich beinah gefragt.

Als wir uns zum ersten Mal trafen, hatte Nico mit solcher Bewunderung über Musik gesprochen, dass ich mir gewünscht hatte, sie würde so auch von mir reden. Wenn ich sie nach einem Song fragte, fing sie normalerweise einen zwanzigminütigen Monolog darüber an, welche Alben ich mir anhören müsste und in welcher Reihenfolge, bis sie mit roten Wangen und ganz außer Atem nach meinem Handy verlangte, damit sie mir eine Playlist zusammenstellen konnte.

Aber diese Nico?

Ich wusste überhaupt nicht, wer sie war.

Inzwischen denke ich, ich hätte darauf bestehen sollen, dass sie mir sagt, was los ist, denn mir war klar, dass etwas nicht stimmte. Es passierte erst langsam und dann ganz plötzlich. Als wir uns kennenlernten, war noch alles toll. Alles, was sie sagte, brachte mich zum Lachen. Machte mich unruhig. Wenn wir uns trafen, tauchte sie mit einem strahlenden, gefährlichen Lächeln auf, voller Pläne und Versprechen und Orte, die sie sehen wollte. Doch als der Sommer allmählich verging und die Schule wieder begann, war Nicos lässiges Auftreten etwas Manischem gewichen.

Sie wirkte, als wäre sie im Zeugenschutzprogramm, sprunghaft und unruhig. Sie sah sich ständig um. Guckte ständig auf ihr Handy. War immer in Bewegung. Nie ruhig. Doch wenn ich sie fragte, ob alles okay sei, zuckte sie bloß die Achseln und sagte, es ginge ihr gut.

Also beließ ich es dabei.

Keine Ahnung warum.

Ich hatte wohl zu viel Angst davor herauszufinden, dass es keinen Grund dafür gab.

Keine Entschuldigung.

Dass das eben Nico war.

Ich weiß nicht, ob sie die grüblerische Künstlerin für Michelle gab oder für mich und ich den Wink einfach nicht verstand, aber als sie gelangweilt seufzte, klatschte ich beinah. Es war eine ziemlich überzeugende Performance, selbst für Nico. Wie sie so dastand mit verschmiertem Eyeliner und runtergekauten schwarzen Fingernägeln. Ganz Alternative Brighton Teenager – groß A, groß B, groß T –, zu cool, um sich darum zu scheren, was meine beste Freundin von ihr hielt. Sie war gut, dass muss ich ihr lassen. Hätte ihr Gitarrenkoffer noch auf dem Boden gelegen, ich hätte eine 1-Pfund-Münze reingeworfen.

Aber ich durchschaute es.

Durchschaute sie.

Und ja, vielleicht kannte ich sie nicht. Nicht wirklich. Und vielleicht versuchte ich, uns zu etwas zu machen, was wir nie sein würden, doch als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, zitterten ihre Hände, als sie nach mir griffen, und sie sagte meinen Namen auf diese zärtliche, zugewandte Art, wie nur sie ihn aussprach.

Das war echt.

Wenn auch nichts anderes echt war, das zumindest war es.

»Okay, na dann«, sagte Michelle scharf. »Wir gehen dann weiter.«

Sie hakte sich bei mir unter, und als sie anfing, mich wegzuziehen, bekam ich Panik, weil ich nicht wusste, wann – oder ob – ich Nico wiedersehen würde. Und so platzte ich heraus: »Was machst du heute Abend?«

Wenn ich nur daran denke, würde ich selbst jetzt noch am liebsten vom Erdboden verschluckt werden, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich sie das fragte. Schließlich hatte Nico mir keinerlei Anzeichen dafür gegeben, sich auch nur im Geringsten zu freuen, mich zu sehen, geschweige denn, mit mir Silvester verbringen zu wollen.

»Weiß noch nicht.« Schniefend sah sie sich um und griff nach ihrem Gitarrenkoffer. »Ich schreib dir, ja?«

Dann war sie weg.

4

Michelle kochte, aber sie hatte offenbar beschlossen, sich eine weitere Rede nach dem Motto Vergiss sie. Du verdienst was Besseres, Mara zu verkneifen, und direkt überzugehen zu: »Okay. Neuer Plan. Wir gehen heute Abend zur Party bei Louise.«

»Auf keinen Fall«, sagte ich und strich mir die Haare hinter die Ohren zurück, weil der Wind gerade wieder auffrischte.

»Warum nicht?«

»Erstens mal ist es keine Party. Louise will einfach chillen.«

Michelle zuckte die Achseln. »Nenn es wie du willst, aber du hast recht, wir werden garantiert machen, was wir immer machen. Streiten, wer die Musik auswählt, wo wir Essen bestellen und welchen Film wir gucken. Nur, dass wir heute um Mitternacht Auld Lang Syne singen und die Flasche Sekt trinken, die Erins Schwester beim Pub Quiz gewonnen hat, aber nicht trinken kann, weil sie schwanger ist.«

»Ja, aber es werden nur Pärchen sein, Michelle.«

»Stimmt doch gar nicht«, sagte sie und zog an ihren Handschuhen.

»Wohl. Du und Lewis, Erin und Dean und Louise und Arun. Alles Pärchen.«

Was okay war, als ich noch dachte, ich könnte Nico überzeugen mitzukommen.

»May ist Single«, erwiderte Michelle.

»May kommt aber nicht, oder? Weil es nur Pärchen sind.«

»Was macht May dann heute Abend?«

»Sie geht mit Chesca auf eine Brighton-College-Party.«

Michelle verzog das Gesicht. »Himmel. Lieber würde ich mir mit einer rostigen Pinzette die Zehennägel ausreißen.«

Das war auch eine Art, es auszudrücken.

Und trotzdem würde ich lieber auf eine Brighton-College-Party gehen als Silvester alleine zu verbringen und auf eine Nachricht von Nico zu warten.

Gerade als ich das dachte, sagte Michelle: »Du wirst Silvester auf jeden Fall nicht allein zu Hause sitzen und darauf warten, dass Nico sich meldet.« Sie klatschte in die Hände. »Okay. Neuer Plan. Gesichtsmasken und Harry und Sally.«

»Michelle, wir haben so lange, wie ich mich zurückerinnern kann, jedes Silvester mit unseren Eltern Harry und Sally geguckt.«

»Na und?«

»Wir sind fünfzehn. Sollten wir nicht versuchen, in irgendeinen Club reinzukommen, und uns mit Ecstasy abschießen?«

»Du willst in einen Club und dich mit Ecstasy abschießen?«

»Natürlich nicht! Mir wird von Wick Vaporub schon ganz komisch. Kannst du dir mich auf Ecstasy vorstellen?«

Sie nickte ernst. »Du würdest garantiert sterben.«

»Ich mein ja nur. Ich wollte heute Abend mal was anderes machen. Ich wollte Konfetti und Luftballons.«

Und dass Nico um Mitternacht auftaucht und mir mitten auf der Tanzfläche eine romantische Rede hält.

Michelle hakte sich bei mir unter und zog mich an sich. »Nächstes Jahr, versprochen.«

»Versprochen?«

Michelle blieb stehen und hielt den kleinen Finger hoch. »Versprochen.«

Ich verhakte meinen kleinen Finger mit ihrem.

Da fiel mir auf, dass wir vorm Café meiner Eltern standen. In meiner Eile, von Nico wegzukommen, hatte ich nicht protestiert, als Michelle mich weitergezogen hatte. Aber ich dachte, wir wären einfach rumgelaufen – irgendwohin, nur weg –, bis wir außer Sichtweite waren und ich die Schultern hängen lassen konnte. Eigentlich wollte ich nichts anderes als nach Hause gehen. Mich in die warme Umarmung meines Zimmers mit meinen Büchern und meinem Kissen und dem Schwarz-Weiß-Poster der Mondphasen zurückziehen. Wo ich von den sicheren, engen Wänden, die Michelle und ich nach zu vielen Folgen Friends im Sommer lila gestrichen hatten, beschützt wäre.

Doch Michelle war eben Michelle, und weil sie das wusste und mich davon abhalten wollte, den Rest des Tages auf dem Fußboden liegend in Endlosschleife The Blower’s Daughter zu hören, hatte sie mich an den einen Ort gebracht, an dem ich immer wahrhaftig glücklich war.

Meine Mutter räumte draußen gerade einen Tisch ab. Als sie uns sah, stellte sie lächelnd das Tablett ab, kam zu uns rüber und umarmte uns beide gleichzeitig. Ihr Geruch – nach Zuhause und ihrem Granatapfel-Shampoo, das mich immer vage an einen weit entfernten Ort denken lässt, an den ich mich nicht erinnere – reichte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, während ich mein Gesicht an ihrem Hals vergrub und sie mit beiden Armen festhielt.

»Alles okay, Süße?«, fragte sie, als ich sie schließlich wieder losließ, und strich mir über die Haare.

»Bin bloß müde«, log ich, doch ich bemerkte den Blick, den sie und Michelle wechselten, als meine Mutter die Arme um unser beider Schultern schlang und uns hineinführte.

Zum Glück hatte ich gar keine Gelegenheit, weiter über den Blick nachzudenken, denn wir wurden sofort freudig von meinem Vater begrüßt.

»Hey, hey, hey!«, rief er strahlend hinterm Tresen stehend, dann warf er sich das Geschirrtuch über die Schulter und deutete hinter sich auf den Herd. »Ich hatte gehofft, ihr würdet kommen. Ich hab Beyoncé Bhatura gemacht.«

»Was ist Beyoncé Bhatura?«, fragte die Person neben uns am Tresen.

Michelle deutete mit dem Daumen auf mich. »Wir wollten mit zwölf nach London abhauen, um Beyoncé zu sehen, aber wir haben es nur bis zum Ende der Straße geschafft, bevor Vas mich mit seinem Chana Bhatura zurücklockte.«

»Okay«, nickte die Person. »Wenn das so gut ist, dafür Beyoncé aufzugeben, nehm ich das.«

»Siehst du?«, sagte ich zu Michelle. »Du hast Beyoncé aufgegeben.«

Michelle guckte völlig unbeeindruckt. »Komm endlich drüber hinweg, Mara.«

»Niemals«, entgegnete ich, während wir nach einem Tisch suchten.

»Hey, Mara«, hörte ich eine Stimme, und dann sah ich an einem Tisch Mrs Preston sitzen, die mich anstrahlte.

»Hey, Mrs Preston.« Ich lächelte freundlich. »Wie geht es Ihnen?«

»Wunderbar. Sieh dir das an.« Stolz zeigte sie mit ihrem Messer auf das Egg Naan vor sich. »Ein doppeltes Eigelb. Dein Vater sagt, das bringt Glück. Das verheißt doch nur Gutes fürs nächste Jahr, oder?«

»Nicht für die armen Küken, die bei lebendigem Leibe geschreddert werden, damit Sie Ihr doppeltes Eigelb-Glück bekommen«, meldete sich Max zwei Tische weiter zu Wort, woraufhin alle im Café zu kauen aufhörten und von ihren Tellern aufblickten.