Fahrräder für Utrecht - Jochen Baier - E-Book

Fahrräder für Utrecht E-Book

Jochen Baier

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Beschreibung

Als Hauke seinen Großvater zum letzten Mal im Krankenhaus besucht, offenbart ihm dieser ein dunkles Kapitel seiner Vergangenheit: Im Zweiten Weltkrieg war er in den Niederlanden stationiert und unter anderem für die Registrierung der verhafteten Juden und die Beschlagnahmung der Fahrräder verantwortlich. In die Trauer um seinen Opa mischt sich schnell auch der Gedanke an Wiedergutmachung: Hauke startet mit seinen Freunden Safi und Lars die Aktion "Gebt den Holländern ihre Fahrräder zurück". Der Fahrradtour nach Holland schließen sich immer mehr Teilnehmer an – und so entsteht ein rasanter Roadtrip mit ungewöhnlichen Begegnungen. Eine sympathische und praktische Auseinandersetzung der jüngeren Generation mit der Schuld ihrer Großeltern.

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Seitenzahl: 454

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Jochen Baier

Fahrräderfür Utrecht

Roman

LangenMüller

For my dear Dutch friends Joyce and Reinier, for little Ezra, and, needless to say, the Meat-Man

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2017 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart © für das eBook: 2017 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten

Vorspann

Dies ist eine viel zu kurze Geschichte der Schuld, ein vager Versuch und ein ernst gemeinter dazu. Ein Roman und nicht mehr, das kann er nicht, und doch sammelt er alle Sorten von Wahrheiten. Besser als ein Geschichtsbuch womöglich, das leider viel zu selten mit dem Wort ›Versöhnung‹ endet.

KAPITEL 1 – Der letzte Nazi

Opa lächelte wie ein kleiner Junge und machte seine Augen zu. Das war es, dachte ich. Er hatte es geschafft. Dann doch noch ein kurzes Aufstöhnen. Der Hinterwandinfarkt verursachte einen letzten heftigen Schmerz, der mir aber unwichtig erschien gegenüber dem, was er in den letzten 72 der insgesamt 95 Jahre seines Lebens gespürt haben musste. Das wusste ich jetzt. Und gegenüber dem Leid, das Oma fühlen würde, wenn ich sie gleich mitsamt ihrer übergroßen bläulichen Seidenbluse in den Arm nehmen würde. Dort in der Halle, wo sie beim Kaffeeautomaten wartete, weil sie es nicht aushielt, ihren geliebten Heinrich sterben zu sehen – ein paar Monate wird sie haben, denke ich. Die Trudy. Ohne ihn.

»Gut, dass du da bist«, hatte Opa vor einer Stunde zu mir gesagt und dann eine ganze Weile geschwiegen, während immer wieder ein paar Tränen über seine Wangen huschten und von dem grellen Licht des Krankenzimmers in kleine, unvollständige Regenbogen verwandelt wurden. Immerhin. Zumindest dazu waren diese ungemütlichen Neonröhren anscheinend gut. So wie die Sonne damals, als Opa mich aus dem Badesee in der Eifel gerettet hatte und wir danach heulend am Ufer saßen. Mein Leben. Ich hielt seine Hand so fest ich konnte, obwohl ich Angst hatte, seine dünnen Finger könnten dem Druck vielleicht nicht standhalten. Die hässlichen braunen Flecken auf seinem Handrücken kamen mir mit einem Mal nicht mehr so schlimm vor. »Opa.« Meine Verzweiflung war stärker als die heimliche Abscheu vor dem Hässlichen, das dem Alter eben anhaftete, und ich packte umso fester zu, je mehr die Kraft in seiner Hand nachließ.

»Als ich jung war«, fing er an zu erzählen und machte erneut eine lange Pause. Ich strich eine seiner dünn gewordenen weißen Haarsträhnen nach hinten. Heute klebten sie auf seiner schweißnassen Stirn, statt so sorgfältig über die Seiten nach hinten gekämmt zu sein wie sonst.

»Erzähl mir davon«, sagte ich.

»Du weißt ja, dass ich in Holland war?« Natürlich, das wusste ich. Da hatte er Oma Trudy kennengelernt. Im Krieg mit der Wehrmacht – irgendwo in der Nähe von Utrecht, davon hatte er mir schon tausendmal berichtet, und ich merkte, wie ich anfing, seine Geschichten in meinen eigenen Worten zusammenzufassen, während er erzählte … Wie er dem Kommandanten Essen und Nutten zuführen musste, wie er Hunderte von Fahrrädern konfisziert hatte und wie er jeden Freitag beim Abtransport der gefangenen Juden zusehen musste, nachdem er sie registriert und ihre Habseligkeiten in verschiedene Haufen geordnet hatte. Die Puppen der kleinen Mädchen seien das Schlimmste gewesen, hatte er immer gesagt. Und dass er genau wusste, was mit den dazugehörigen Menschen passieren würde. Dass selbst die Kleinsten in Deutschland das wussten, wenn sie sich feine Kinderschuhe aus einem riesigen Haufen aussuchen durften, die die Nazis in ihren mittlerweile judenfreien Städten auf die Straße schütteten. Das werde ich nie vergessen. Manchmal wurden sie auch versteigert, und alle fanden das richtig. ›Von den Drecksjuden halt‹, so hieß es 1944, ›die es nicht anders verdient haben‹. Wo sollten die Treter denn sonst auch herkommen? Berge davon. In Bamberg, Speyer, Berlin oder Breslau. Deutschland produzierte Panzer, Munition und unendlich viel Leid, aber schon lange keine Schuhe mehr. »Jeder, der behauptet, er wusste damals nicht, wo die ganzen Schuhe herkamen, lügt«, hatte Opa immer wieder betont und dass ich niemals zu leichtgläubig sein soll.

»Ich habe dich auch belogen«, hörte ich seine Stimme, die mitten in meine vertrauten Gedanken hineinfuhr. In das Furchtbare, das ich aber zumindest für sicher geglaubt hatte. Die ganze grausige Wahrheit über Opa Heinrich und ›Heil Hitler‹.

»Wie bitte?«, fragte ich sicherheitshalber nach.

»Es war schlimm damals, weißt du?«, fuhr er fort. »Bevor ich Oma kennengelernt habe.«

Ich wartete.

»Da habe ich eine andere gehabt.«

»Was ist so schlimm daran?«, fragte ich nach, und er sah mir so fest er konnte in die Augen.

»Die Linda. Ich habe ihr ein Kind gemacht.«

»Was?« Das war heftig, obwohl ich im ersten Moment nicht einmal richtig begriff, was das bedeutete.

»Ich habe ihr ein Kind gemacht, ein Mädchen«, wiederholte er, und es gelang ihm, meinem Blick standzuhalten.

Es war noch nie die Rede davon gewesen, dass Mama eine Schwester hatte. Eine Halbschwester. »Ich habe eine Tante?«, fragte ich ungläubig.

»Ja, die kleine Annigje«, sagte Opa Heinrich, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt sei und als ob diese Frau für immer klein geblieben sei. Ein Kind, das mittlerweile knapp über 70 Jahre alt sein musste, wenn ich mich in der Aufregung nicht verrechnete. Mir fiel keine Erwiderung ein. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich, und Opa schien meine Unsicherheit zu spüren.

»Weiß Oma das denn?«

»Ja …« Er zögerte. »Schon.«

Es musste ihr jeden Tag wehtun.

»Ach du Scheiße.«

Jetzt blickte er doch für einen kurzen Moment zu Boden, um sich zu sammeln. »So war es«, bekräftigte er dann und erzählte, wie er ganz einfach davongefahren sei, als es ihm diese Linda offenbart hatte. Abgehauen und sie im Stich gelassen.

»Und dann?«

»Dann war ich auf immer verschwunden, und sie hat das Kind bekommen«, erzählte Opa weiter, und dass Annigjes Mutter danach noch jahrelang als ›Moffenhure‹ beschimpft wurde. Er presste seine Zähne zusammen. Die Nazi-Schlampe. Wie sie angespuckt und aus dem Krämerladen in ihrer Straße geworfen worden war. »Kauf in Deutschland ein«, hatten die Holländer gerufen, und alle fanden das richtig.

»Hat Annigje selbst denn auch Kinder?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Opa, »irgendwann hat sie einen lieben Mann kennengelernt. Arjen oder so ähnlich. Eine Tochter haben sie.«

»Hast du die ganzen Holländer denn mal kennengelernt?«, fragte ich nach.

»Ja.« Aber vor ein paar Jahren erst, da sei Linda schon tot gewesen, erklärte er. Heimlich hatte er sie getroffen, die Annigje und deren Familie, die ein kleines bisschen ja auch seine war. »Ich habe die Schuld einfach nicht ausgehalten«, sagte Opa. »Ich war nur ein Deutscher für sie – nie wieder haben wir uns gesehen oder auch nur geschrieben.«

»Warum hast du nie was gesagt?«, fragte ich und versuchte, den Vorwurf in meiner Stimme zu unterdrücken. Nicht ein einziges Wort, verflucht noch mal. Während der ganzen Zeit, die ich bei Opa und Oma gelebt habe, nachdem meine Eltern in dieser Dreckslawine in St. Moritz umgekommen sind. Als Kind nicht und als Erwachsenem erst recht nicht. 40 Jahre war ich jetzt. Fast 41. Keine Silbe.

»Oma Trudy hat es auch nicht gewollt.«

»Ach so – hat sie nicht?« Eine beschissene Entschuldigung, dachte ich.

»Aber es ist mein Fehler, nicht ihrer«, fuhr Opa fort. Er kniff seine Augen zusammen, sodass seine Stirn dicke Furchen zog, und dann erklärte er, dass er einer der allerletzten Überlebenden seiner Einheit war. »Sie sind alle tot – mit mir geht wahrscheinlich der letzte Nazi«, sagte er und wand sich, weil sich alles in seiner Brust zusammenzog, »aber die Schuld stirbt einfach nicht – selbst wenn die meisten von uns irgendwann verstanden haben, was wir da eigentlich taten.«

»Das heißt, du bist irgendwann aufgewacht?«, fragte ich und merkte, wie viel Hoffnung ich in diese Frage legte. Er schüttelte den Kopf. »Es war zu spät«, antwortete er, und dass er danach ja trotzdem hätte immer weitermachen müssen. »Auch deshalb«, sagte er, sei seine Schuld bis heute so sehr fühlbar.

Ich begann zu ahnen, worauf er hinauswollte, und fragte: »Findest du, dass ich sie besuchen sollte? Die Annigje und ihre Familie?« Es für ihn gutmachen oder so.

»Ich weiß nicht«, antwortete Opa. »Du bist genauso ein Moffe wie ich.«

»Irgendwann muss es doch mal gut sein, Opa.« Schließlich hatte ich nicht mehr mit den Drecks-Nazis zu tun als irgendein x-beliebiger Chinese. Wie sollte ich eine Schuld wiedergutmachen, an der er offenbar sein Leben lang gescheitert war? Sie hatte bestehen lassen? Ich glaube, Opa war klar, was ich in diesem Moment dachte, und er sagte für einen Moment lang nichts. Seine Augen zeigten, dass die Wahrheit anders war. Ein helles, fast goldenes Braun, genau wie meine.

»Versprich mir etwas, Hauke.«

»Was?«

»Mach es wieder gut.«

Ich nickte, obwohl alles in mir in Aufruhr war, und drückte die nächsten Minuten ganz ruhig seine Hand, während er starb. Das Ende des Januars wehte ein paar feine weiße Flocken gegen das Fenster, und wir sahen zusammen hinaus. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Die Schwester kam irgendwann herein und schloss seine Augen, die über die Jahre immer heller geworden waren. Man sagt ja, das ginge nicht, und ich hatte mich oft gefragt, warum sie sich ausgerechnet bei ihm so veränderten. Bis zu diesem Moment gerade, als ich ihm versprach, es wiedergutzumachen. Da hatten sie ihre eigentliche Farbe wieder erreicht.

KAPITEL 2 – Teselli

»Wow«, sagt Safi, meine türkische Freundin, die ich kenne, seit ich sie im Kindergarten mal an der Rutsche vorgelassen habe, und die der liebste Mensch ist, der mir je über den Weg gelaufen ist. Also abgesehen von Opa natürlich, der aber Juden deportiert und eine schwangere Frau mit ihrem Baby im Stich gelassen hatte. Meine Gedanken verirren sich, und ich höre unwillkürlich auf, meiner besten Freundin aus dem kleinen schwarzen Büchlein vorzulesen, in das ich vor knapp zweieinhalb Monaten meine letzte Erinnerung an Opa notiert habe und das ich immer noch in der Hand halte. Seine Geschichte fühlt sich auf einmal viel schwerer an als eben, denke ich und merke, dass ich schlucken muss. »Krass geschrieben«, sagt Safi jetzt. Ja. Krass, das sagt sie immer, wenn ihr vor lauter Rührung nichts mehr einfällt, und als ich nach oben schaue, merke ich, dass ihre Augen verdächtig glänzen. Wahrscheinlich hat sie sich deswegen gerade an den Pizzakartons zu schaffen gemacht, die jetzt präzise auf der Arbeitsplatte gestapelt sind – sie hasst es, wenn ich sehe, dass sie weint. ›Heulen ist für Jungs‹ sagt sie manchmal.

»Du musst ein Buch schreiben, Hauke.«

Ja, denke ich, aber ein Buch, das so persönlich ist, wird wahrscheinlich für immer auf meiner Schreibtischablage liegen bleiben – also, wenn es denn jemals geschrieben würde. Nutzlos vergammeln, weil ich mich ja sowieso nicht trauen würde, es an einen Verlag zu schicken. Vielleicht ja doch.

»Ich würde es sofort lesen«, fügt Safi hinzu, als Geschenk mit persönlicher Widmung natürlich, und dass es auch für mich selbst sehr wichtig sein könnte. Sie brächte mich schon dazu, es allen anderen auch zu schenken. Eine wichtige Geschichte sei das.

»Krass«, sage diesmal ich, nicht mehr und nicht weniger, aber instinktiv spüre ich, dass sie vielleicht recht haben könnte.

»Und das war es dann mit deinem Opa?«, fragt sie und zeigt auf das Notizbuch.

»Ja und nein«, antworte ich. Dass ich seither jede Nacht von ihm geträumt habe, will ich ihr dann aber doch nicht erzählen, weil es einfach zu wehtut. Bestimmt müsste ich dann ebenfalls weinen, und sie würde mir einen ihrer unnachahmlichen Sprüche reindrücken. Herzensgut, die Safi, aber rotzfrech war sie halt auch.

»Soll ich Geld nachwerfen oder erzählst du es mir auch so, mein lieber Herr Karmann?« Schon gut, natürlich tue ich das.

»Oma hat schrecklich geweint«, sage ich. »Gezittert vor Gewissheit und vor Angst.«

»Weil sie jetzt alleine ist?« Natürlich ist sie das.

»Ich habe sie in den Arm genommen und ihr von Opas eigentlicher Augenfarbe erzählt.« Das war natürlich gedankenlos und gleichzeitig das Beste, was ich in diesem Moment tun konnte. Ich wollte dieses wunderschöne Gefühl mit ihr teilen und habe gar nicht darüber nachgedacht. Dass er einen guten Abschied gefunden haben musste, hätte es eigentlich heißen müssen. Den einzig möglichen vielleicht, und im Grunde ein tröstlicher Gedanke, wenn er nicht ausgerechnet mit Linda zu tun gehabt hätte. Grundgütiger. Was hätte ich sagen sollen, wenn Trudy tatsächlich nachgefragt hätte? Dass ihr Mann von einer anderen Frau gesprochen hat, bevor er starb? Ich glaube, wenn es darum geht, Trost zu spenden, erweisen sich Männer fast jedes Mal als komplette Anfänger.

»Sie hat dann aber hoffentlich nicht nach dem Grund gefragt, oder?«

»Nein«, antworte ich. Zum Glück. »Ich glaube, das brauchte sie nicht.« Sie hatte ihren eigenen Abschied gefunden, als sie Opa einen sanften Kuss auf den Mund gegeben hat, bevor sie ging. Ein letzter Hauch der Liebe und gleichzeitig allumfassend.

»Ich verstehe«, bestätigt Safi, als ich ihr von meinem Gefühl erzähle, und fügt hinzu, dass sie mich dafür liebte, dass ich die Menschen um mich herum so sehr fühlen konnte. Vielleicht war das ja tatsächlich eine meiner wenigen großen Stärken.

»Ich habe jedenfalls den Mini im Parkverbot stehen lassen und uns ein Taxi besorgt.« Wir mussten schließlich raus aus diesem Krankenhaus. So viel wäre für jeden Vollidioten spürbar gewesen.

»Taxi?«, fragt Safi nach. »Weil du nicht mehr fahren konntest?«

»Nein, nein. Das war es nicht. Ich habe mich mit Oma auf die Rückbank gesetzt und sie die ganze Zeit so nah ich konnte im Arm gehalten.« Scheiß auf den Mini.

Safi lächelt, und irgendwie sieht sie von einer Sekunde auf die andere sehr glücklich aus. Vielleicht hat sie gerade genau das Bild vor sich, das der Taxifahrer von Zeit zu Zeit im Rückspiegel beobachtet haben muss. Geld hat er jedenfalls keines gewollt.

»Und dann?«, fragt Safi.

»Als wir in Menden waren, habe ich ihr einen Tee gekocht – mit einem ganz kleinen Schuss Milch, so wie sie ihn immer trinkt.« Das wusste ich, und auch, dass es Safi jedes Mal in Erstaunen versetzt, dass ich mir das für jede einzelne Person in meinem Umfeld merken kann.

»Als wir da am Tisch zusammensaßen«, fahre ich fort, »hat sie von Heinrich erzählt, und dass nichts mehr so sein würde, wie es war.« Das hatte ich befürchtet. »Er hat ihr jeden Tag gesagt, wie lange sie sich jetzt kennen. Bis auf den Tag genau, und dass er jeden weiteren bis zum Ende seines Lebens mit ihr zusammen verbringen will.«

»Hut ab«, bemerkt Safi, und ich verdränge den Gedanken, dass diese ständige Versicherung auch ein wenig mit Linda und seiner Treulosigkeit ihr gegenüber zu tun hatte. Dass er womöglich deshalb andauernd diese Beständigkeit beschworen hatte und sich selbst gleich mit. »Es war Liebe«, stellt Safi fest, und mir wird wieder warm in meinem Herzen. »Das hat Trudy auch gesagt.« Das ist das einzige Urteil, das zählt.

»Und hat sie auch was zu dir gesagt?«, fragt Safi weiter, nachdem sich ihre Rührung etwas gelegt hat.

»Wie sehr Opa Heinrich mich gemocht hat. Dass ich ihn glücklich gemacht habe und von seiner Angst, dass irgendjemand da draußen eines Tages meine Freundlichkeit ausnutzen könne.« Das passiert. »Dass er mir hoffentlich genug Warnungen mitgegeben habe, hätte er mal erwähnt, und ich habe Oma Trudy entgegnet, dass ich auf jeden Fall viel von meinem Opa gelernt habe. ›Er auch von dir‹ hat sie da geantwortet, und ich war ein wenig ratlos.«

»Warum?«, fragt jetzt auch Safi. »Was genau meinte sie?«

»Die Geschichte mit Lars und der Schwedin zum Beispiel.« Die kennen wir beide. Ich sollte unseren gemeinsamen Studienfreund mit Opas Auto aus Düsseldorf vom Flughafen abholen, und er hat mir nur seinen blöden Koffer in die Hand gedrückt und ist mit dieser schicken Blonden aus Stockholm abgezogen, die er auf dem Flug kennengelernt hatte. Zwischen zollfreiem Bordverkauf und Cuba Libre.

»Ich weiß noch, wie Opa Heinrich geflucht hat«, wirft Safi ein. ›Diese treulose Tomate‹ hat er Lars genannt und sich erst beruhigt, als ich ihm gesagt habe, dass es eigentlich ja nur da-rum gegangen war, meinem Freund einen Gefallen zu tun. Für IHN sei ich ja nach Düsseldorf gefahren und nicht für MICH. Lars sollte es gut gehen, und genau das tat es ja jetzt. Beim Kaffeetrinken auf der Rheinpromenade oder in der Düsseldorfer Altstadt oder wo auch immer. Das habe ich mir zumindest vorgestellt, als ich mit dem laut aufgedrehten ›Lars-Lieblingslieder-Kassetten-Mix‹ nach Kettwig und dann nach Menden zurückgefahren bin und Opas Geschimpfe ertragen habe.

»Heinrich habe jedenfalls nachher zugegeben, dass er Unrecht hatte und ich ihm auf einmal irgendwie weise vorgekommen sei«, füge ich unseren gemeinsamen Erinnerungen hinzu.

»Das hat ihn wohl überrascht«, vermutet Safi und lacht.

»Warum auch immer …« Damals war ich zwanzig und eigentlich alt genug, um weise zu sein, denke ich, aber für meinen Opa bin ich immer auch irgendwie ein Kind geblieben. Sonst ist so was wahrscheinlich eher typisch für Väter und Mütter – wenn man denn welche hat. »Der Heinrich hat sehr spät verstanden, dass du ein erwachsener Mann geworden bist«, hat Oma Trudy jedenfalls bestätigt, als wir an dem betreffenden Tag über Lars und seine Flugzeugaffäre gesprochen haben. Ich erzähle es Safi und kann ihr neuerliches Lachen nicht richtig deuten. Hält sie mich manchmal tatsächlich für kindisch und unreif? Eine kurze Unsicherheit, die sich darin auflöst, dass ich ihr etwas erzähle, das ich ansonsten bestimmt für mich behalten hätte. »Lach du nur, Frau Kurtuluş«, sage ich, »immerhin hat Oma dann noch erzählt, dass ich etwas ganz Besonderes sei und Opa Heinrich DAS von Anfang an gewusst hätte.«

»Das bist du«, bestätigt Safi jetzt mit plötzlichem Ernst, »ein toller Mann mit gerade genügend Kind in seinem Herzen.« Das geht durch und durch, und obwohl ich ein wenig rot werde, versuche ich, ihre Bemerkung zu ignorieren. Deswegen hatte ich es ja nicht erzählt. Mir geht es da wie den meisten Menschen, glaube ich. Wenn jemand etwas Schönes über uns sagt, wollen wir es manchmal nicht hören, und wenn es keiner tut, dann ist es auch nicht richtig. Ich erzähle weiter: »Oma hat jedenfalls gesagt, dass sie froh sei, dass ausgerechnet ich bei ihr war.« Und dann war sie so gerührt, dass sie mir fünf Stück Zucker in meinen Tee getan hat. So süß hatte ihn Opa immer gemocht, und weil ich das natürlich wusste, habe ich ihn einfach trotzdem getrunken. Und nach der dritten Tasse haben wir uns schließlich verabschiedet. »›Tot ziens‹, hat sie am Schluss gesagt«, erkläre ich Safi, und die Erinnerung friert mein Gesicht ein, weil ich während der gesamten Verabschiedung überlegt habe, wie oft ich meine Oma wohl noch sehen werde. Eine plötzliche Starre.

Safi tippt mit ihren Fingern auf den Tisch, und weil ich die Kraft ihrer Neugier am Klang erkennen kann, löse ich mich aus meiner Gefangenheit und überlege, was noch passiert ist.

»Ja …«, beginne ich, um das Trommeln abzustellen.

»Was?«

»Zwei Sachen.« Da ist das Trommeln wieder.

»Erstens: Ich habe der Türkenpuppe über die Wange ge-streichelt und ihr einen Gruß von dir ausgerichtet.«

»Er hatte sie immer noch?«, fragt Safi nach.

»Gott, Safi. Es hat ihn noch nie ein Geschenk so glücklich gemacht wie deine Puppe.« Die hatte sie ihm gegeben, als sie acht Jahre alt war und gesehen hat, dass er heimlich ein paar Tränen wegwischte, als er sie damit spielen sah. Die kleine Pausbäckige aus altem Porzellan mit welligem braunen Haar und einem hübschen Kleid, das hinten schlecht zusammengenäht war. Safi dachte wohl, dass Opa traurig sei, weil er keine so schöne Puppe hatte wie sie, und hat sie ihm einfach geschenkt, obwohl Locken-Teselli ganz eindeutig ihr größter Liebling war. Von Holland konnte sie ja damals nichts wissen und von den jüdischen Mädchen, die Heinrich Hermann Wollmicke mit seinem Registratur-Block getötet hatte.

»Glaubst du, sie hat es ihm leichter gemacht? Die Teselli? Das mit den Puppen der kleinen Mädchen aus Holland, von denen du erzählt hast?«

»Bestimmt«, antworte ich, und dass ich gerade daran gedacht habe. Ja. Soweit die unbändige Liebe eines kleinen Mädchens ihn mit seiner Schuld versöhnen konnte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. »Das hat sie getan, auch wenn er ewig gebraucht hat, um ihren Namen richtig auszusprechen.« Mit einem zweimal betonten ›L‹ nämlich. Schritt für Schritt. Und irgendwie bin ich dafür dankbar, dass mein Opa letztlich nicht die Tragik, sondern die Liebe in Safis Geschenk erkannt haben muss. Selbst wenn Heinrich Hermann Wollmicke, der Mörder, der keinen Trost verdient gehabt hätte, und mein Opa natürlich genau die gleiche Person waren. Fuck – ›dieselbe Person‹, korrigiere ich mich konsequenterweise, obwohl es für einen Moment lang sticht.

»Er fand es jedenfalls toll von dir.«

»Wie schön«, stellt Safi fest und schließt die Angelegenheit irgendwie ab, obwohl ich ihr gerade vorschlagen wollte, dass wir die Puppe jetzt vielleicht an irgendein süßes Mädchen auf der Straße verschenken könnten, falls die heute überhaupt noch mit Puppen spielen. Themenwechsel. »Und das Zweite?«, fragt sie.

KAPITEL 3 – Das Testament

»Und dann war da vor drei oder vier Wochen noch die Sache mit dem Testament«, beginne ich zu erzählen, und dass ich vorher eigentlich beschlossen hatte, mich nicht an mein Versprechen an Opa gebunden zu fühlen. Dass es eine weiße Lüge gewesen sei und es keine Rolle spielte, ob ich tatsächlich einen Versuch unternehmen würde, es ›wiedergutzumachen‹, wie er es ausgedrückt hatte. Als ob das ginge. Völkermord mit einem Entschuldigungsbesuch wiedergutmachen oder mit irgendetwas anderem. Ausgeschlossen. Einen Anfang wagen, höchstens, und einen kleinen Schritt gehen, denke ich, das könnte man vielleicht. Sich etwas Symbolisches ausdenken, das die Menschen von heute vor der Geschichte von damals zusammenführt. Wie ich diese naive Romantik an mir hasste.

»Hauke?«, fragt Safi in diesem Moment und beendet meine Überlegungen.

»Ja?«

»Was war das denn jetzt mit dem Testament?«

»Als Erstes hat der Notar eine Ergänzung vorgelesen, die Opa ihm letztes Jahr per Einschreiben zugeschickt hat«, beginne ich ansatzlos, um nicht erneut mit meinen Gedanken abzuschweifen. »Also falls die Ergänzung das eigentliche Testament überlagert.«

»Und, hat sie?«

»Nein«, sage ich. »Es ging nur darum, dass Annigje einen Haufen Briefe in einer Kiste auf dem Dachboden bekommen soll, und wo man diese Kiste genau findet.«

»Briefe von damals vielleicht?« Als er noch in Utrecht war. Statt E-Mails, so wie heute. »Du meinst, er hat ihr aus der Kaserne geschrieben?«, fragt Safi. Das könnte sein, denn schließlich hat Oma mir nichts zu der Kiste auf dem Speicher erzählen wollen. Hat weder Ja noch Nein gesagt, als ich sie gefragt habe, ob sie was wisse. »Nur, dass der Tag der Testamentseröffnung nicht der richtige Zeitpunkt sei, um überhaupt über irgendetwas zu reden.« Es sei ein Tag, um zuzuhören.

»Gut«, sieht Safi ein, »da hat es wenig Sinn, ins Blaue zu raten.« Ich nicke. »Im Haupttestament stand dann sowieso das Eigentliche. Dass die Deutsch-Niederländische Gesellschaft und die jüdische Gemeinde in Dortmund je 30000 DM in bar erben sollen, wohlgemerkt D-MARK, Safi. Und dass meine Eltern das Haus erben sollen, sobald auch Oma Trudy tot ist. Irgendetwas mit Vorerbe und Vermächtnis oder so.«

»Oh Mann«, sagt Safi, die natürlich weiß, dass meine Eltern schon vor fast dreißig Jahren gestorben sind – weit vor Opa Heinrich, und dass es auch die Deutsche Mark schon ziemlich lange nicht mehr gibt.

»Ein ziemlich alter ›letzter Wille‹, oder?«, fragt sie. Er datiert aus dem Jahr 1986. »Ja«, pflichte ich bei und erkläre, dass auch der an mich adressierte Brief, den Opa mitsamt seinem Haupttestament beim Anwalt hinterlegt hatte, aus genau dieser Zeit stammt. Als wir noch eine glückliche Familie waren und als ich noch zu jung war, um Opas Kriegsvergangenheit gänzlich zu verstehen. Also, falls das überhaupt geht.

»Liest du ihn mir vor?«, fragt sie, und ich stehe auf, um den Brief zu holen, den der Anwalt mir gegeben hat. Ein leises Stöhnen muss ich dabei von mir gegeben haben – vermute ich zumindest –, denn meine Kindergartenfreundin hält mich mit einem Mal ganz sanft und fest am Arm und sagt, dass es nicht sein müsse, wenn es mir zu schwerfalle. Sie meint es ernst und rücksichtsvoll, da bin ich sicher. Fühle es irgendwie an der Berührung ihrer Hand, glaube ich, und bin froh, so eine Freundin zu haben. Die einzige vielleicht, die mich ganz versteht. Sogar meine Verlustängste, die ich seit dem Tod meiner Eltern habe, und die jedes Beziehungsende zu einer echten Katastrophe werden ließen. So als ob es nicht sowieso schon unglaublich schwer wäre, sich mit einem Ende abzufinden. »Du hast komplett geliebt«, hat sie mal gesagt, und dass das nicht jeder von sich behaupten könne. Die Zeit und die Erinnerung daran bliebe für immer, und für einen Moment löste sich jede Angst in einer vorher unbekannten Dankbarkeit auf. Safi. Warum sollte ich ausgerechnet ihr diesen Brief verschweigen? Auf ihr Lächeln und ihre Klugheit verzichten? Und auf ihre Nähe? Unsere Nähe? »Danke«, entgegne ich also, und dass es ja echt blöd wäre, erst zu gackern und dann schließlich doch kein Ei zu legen. »Du bist meine beste Freundin«, sage ich noch dazu und bereue diese Bemerkung in der nächsten Sekunde, weil es doch so komplett überflüssig ist, das irgendwie gesondert zu erwähnen.

»Hier hab ich ihn«, rufe ich, als ich zurückkomme, um dem misslungenen Dialog noch eine weitere Überflüssigkeit hinzuzufügen. Den Brief halte ich ja ziemlich gut sichtbar in meiner Hand. ›Ach was. Sag bloß‹, wäre jetzt eine typische Reaktion, denke ich, aber meine türkische Freundin sieht heute mal über meine Unzulänglichkeiten hinweg und sagt einfach gar nichts, bis ich von mir aus anfange vorzulesen:

Menden, 16. Juni 1986

Geliebter Hauke,

ich werde nicht mehr da sein, wenn Du diese Zeilen liest, die Dich vielleicht ein wenig erschrecken werden. Es tut mir leid, falls das so ist. Von Holland habe ich Dir ja schon einige Male erzählt, aber dabei immer zwei Dinge weggelassen, über die ich noch nie mit irgendjemandem gesprochen habe. Noch nicht einmal mit Deiner Mutter oder Deinen Onkeln – aus Feigheit vielleicht oder aus Selbstschutz, vor allem aber, weil mir alles noch so nah ist, was ich im Krieg erlebt habe. Das ganze Elend, das mich auch nach so langer Zeit noch jede Nacht verfolgt. Wie soll man da eine richtige Familie sein? Wie soll man seiner eigenen Tochter in die Augen sehen, wenn die wirklich alles weiß, was ihr Vater angerichtet hat? Deiner Mutter? Oder ihren Brüdern?

Verdammt. Wie immer an dieser Stelle lasse ich für einen Moment das Blatt sinken, weil ich unwillkürlich über die Frage nachsinne, ob es tatsächlich der bessere Weg sein kann, etwas so Essenzielles auf immer zu verschweigen. Aus dem Augenwinkel sehe ich dabei, wie Safi mich genau beobachtet. »Eine gute Frage«, stellt sie dann fest und erkundigt sich ein paar Sekunden später, ob es wohl die Geschichte mit Linda und Annigje sei, die Opa mit seinen Worten gemeint habe.

»Ja«, antworte ich. »Er wusste nicht, ob er je den Mut haben würde, es mir zu erzählen, glaube ich.«

Safi nickt. »Es setzt jedenfalls viel Vertrauen voraus«, sagt sie. »Also, dass er es ganz am Ende doch noch getan hat, meine ich.«

»Mein Erzähl-mir-Gesicht?«, frage ich und sie lächelt. So viele Lebensbeichten, die ich schon abgenommen habe. Im Zug von Wildfremden oder in der Kneipe. Egal, wie grausam oder falsch ihre Geschichten waren, wie viele Leute sie hintergangen hatten oder wie viele das mit ihnen gemacht hatten – es war gut bei mir aufgehoben. Das spürten die Leute ganz instinktiv, meint Safi. Dass ich bereit war, ihnen einen Teil meiner Nähe zu geben. Vielleicht.

»Oder es liegt daran, dass er schlicht und ergreifend einen ehrlichen Abschied haben wollte, als er gemerkt hat, dass es vorbeigeht«, entgegne ich. Seine Schuld etwas erträglicher machen. Oder eben beides.

»Es ist aber noch nicht alles, was in dem Brief steht, oder?«, fragt Safi nach und drängt mich weiterzulesen.

»Es ist also NUR FÜR DICH bestimmt, was ich dir jetzt erzähle, lieber Hauke«, steht als nächste Zeile in Opas Brief, aber weil ich mich dadurch nach wie vor irgendwie unter Druck gesetzt fühle, lasse ich diese fürs Erste weg und lese den nächsten Abschnitt:

Nach einem Jahr in Utrecht habe ich eine Holländerin kennengelernt, die ich nach einer Weile in jeder freien Minute besucht habe. Linda Kerkhof mit wunderschönen langen Haaren, die sie kunstvoll geflochten um ihren Kopf herumgeschlungen trug. Ein tolles Mädchen. Geliebt habe ich sie und hatte gleichzeitig Angst, zu meiner Liebe zu stehen. Wollte mir Zeit lassen und ihr auch. Herausfinden, ob so eine Liebe zwischen einem Besatzer und einem Kriegsfeind überhaupt funktionieren kann. Ob wir über-haupt noch das sein konnten, was man für die Liebe braucht. Zwei Menschen.

»Das stimmt«, bemerkt Safi, »mehr braucht es nicht«, aber sie kennt den Rest des Briefes noch nicht, der davon handelt, dass selbst die Liebe manchmal nicht genug ist.

Am Frühlingsanfang wollte ich es ihr endlich sagen, dass ich sicher war, dass wir beide für immer zusammengehören, aber an genau jenem Tag hat Linda mir dann eröffnet, dass sie ein Kind von mir bekommt, und ich habe nicht mehr ein oder aus gewusst. Gott, warum habe ich nicht einfach trotzdem das getan, was ich geplant hatte, und ihr den ganz feinen Silberring geschenkt, den ich bei einem anderen Soldaten für meine Uhr eingetauscht hatte? Ihr meine Liebe gestanden – ich konnte es nicht. Grundgütiger. Nicht zu sagen, dass man liebt, ist wahrscheinlich der größte Fehler, den man machen kann, Hauke. Und ich habe genau diesen Fehler gemacht. Ihr stattdessen vorgeworfen, ob sie denn nicht hätte aufpassen können und man als Frau doch wohl wissen müsse, wann es Zeit sei. Ich werde nie vergessen, wie sich ihr Gesichtsausdruck in diesem Moment veränderte – so als ob sie in meinen Armen stirbt. Es war doch so eine schöne Nachricht für sie gewesen, das pure Glück für eine Frau und einen Mann, und weil es für jeden Liebenden auf der ganzen Welt das Gleiche ist, dachte sie wohl, ich würde ihr ebenfalls vor lauter Freude um den Hals fallen und alles wäre gut.

»Shit«, sagt Safi jetzt, weil sie mittlerweile ahnt, was als Nächstes kommt, und meine Finger machen kleine Knitter in das Papier.

Aber ich habe sie im Stich gelassen, Hauke. In diesem Moment, an dem alten Schuppen hinter ihrem Haus, wo wir manchmal alleine sein konnten. Die Linda und ich. Zwischen den Häusern bin ich nach vorne auf die Straße gegangen und habe mir ihr Fahrrad geschnappt, weil ich einfach keine Perspektive gesehen habe und nur noch weg wollte. Wie soll man innerhalb weniger Sekunden über den Rest seines Lebens entscheiden? Ob man bereit ist für ein Kind und alles, was dieses Kind tun könnte? Was man diesem Kind sagt, wenn es fragt, warum ich in Holland war und in Utrecht seine Mutter kennengelernt habe? Wortlos davongeradelt bin ich und habe Linda zurückgelassen. Endgültig, und es gab nichts, was sie hätte tun können, außer mir hinterherzuschreien, dass ich letztlich noch ein schlimmerer Nazi sei als alle anderen. Herr, sei mir gnädig. Sie hat mich geliebt, Hauke, denn sonst wäre sie niemals auf die Idee gekommen, etwas so Ungeheuerliches laut über die Straße zu brüllen. Ein sicheres Todesurteil ist das im Grunde gewesen, also zumindest, wenn irgendjemand auch nur das Geringste davon mitbekommen hätte. Ich weiß es nicht. Vielleicht war es sogar das, was sie eigentlich wollte.

Geheult habe ich, als ich mit dieser merkwürdigen Entschlossenheit geflüchtet bin und der Oberst mich zu allem Überfluss noch lobte, als ich bei meiner Einheit ankam. Dass es gut sei, wenn ich beim Konfiszieren der Fahrräder auch mal selbst mit Hand anlegte. Gar nicht schlecht so als Bürohengst, hat er über den Hof gerufen, und ich war zum Glück weit genug entfernt, sodass er meine Tränen nicht sehen konnte. Sonst hatte ich die holländischen Fietsen ja nur katalogisiert, nachdem die anderen sie den Leuten weggenommen hatten.

Gott, Hauke, ich fühlte mich schlimmer als diese ganzen hundertprozentigen Nazis, die ich irgendwann angefangen hatte zu hassen. Das Allerletzte war ich – und das in den Augen der Frau, die ich eigentlich liebte. Ein Romeo aus dem Sauerland, der von vornherein zum Versagen verdammt ist. Weil er zu schwach ist, seinem Herzen zu folgen. Mein Leben habe ich verflucht und mich selber, und noch bevor mein Dienst anfing, habe ich mir eine der kleinen blauen Zyankalikapseln besorgt, die eigentlich für die gedacht waren, die in den Untergrund eingeschleust wurden. Ein schneller Tod, falls die irgendwann aufflogen.

»Er wollte sich umbringen?«, fragt Safi, die Opa Heinrichs Unfähigkeit, sich für die Liebe zu entscheiden, offensichtlich nicht nachvollziehen kann und schon eine Weile immer wieder mal den Kopf schüttelt. Als ob es so schwer ist zu verstehen, warum er wegradelte und warum er sich aus diesem Grund an jenem Frühlingstag umbringen wollte. Total überfordert. »Safi«, murmele ich und lese weiter.

Dann hat mir ausgerechnet eine Jüdin das Leben gerettet. Eine derjenigen, die ich für den Transport in eines der Konzentrationslager registriert habe. Rahel Eisenstein, das weiß ich bis heute und auch ihre Transportnummer. »Sie weinen ja«, hat sie gesagt, wahrscheinlich, weil sie gedacht hat, ich täte es wegen ihr und dem, was ihr bevorsteht. Von Linda konnte sie ja nichts wissen. »Sie sind nicht wie die anderen«, hat sie hinzugefügt, und sie meinte genau das Gegenteil von dem, was Linda mir gerade mal zwei Stunden zuvor hinterhergeschrien hatte. Dass ich der schlimmste, verantwortungsloseste Nazi sei, den es gäbe. »Vielleicht«, habe ich geantwortet, und weil sie dachte, dass auch ich in diesem Moment irgendetwas Gutes in mir fühlen konnte, hat sie mir das Versprechen abgenommen, es nach dem Krieg irgendwie wiedergutzumachen. Also Menschen das Leben zu retten, am besten. Nach dem Krieg, hat sie gesagt – Hauke, wie sich das eingebrannt hat. In meinem Herzen sei ich schließlich ein guter Mensch. Eigentlich – das könne sie fühlen. Und dann habe ich sie auf den Zug gesetzt und in den Tod geschickt, während sie mich auf ihre Art zurück ins Leben geschickt hat.

Wie ich das tun solle, Menschen retten, habe ich mich gefragt. Alles wiedergutzumachen oder auch nur einen kleinen Teil von dem, was ich angerichtet hatte, und obwohl mir keine richtige Antwort eingefallen ist, habe ich die Zyankalikapsel in der Latrine verschwinden lassen. Ich musste leben. Vorläufig. So furchtbar es auch war und so furchtbar es immer noch sein würde, wenn dieses ganze Morden und Vernichten ein Ende genommen hatte.

Ich setze erneut den Brief ab und warte vergeblich darauf, dass Safi irgendetwas sagt. So etwas formuliert wie die glasklare Erkenntnis, dass man so ein Verbrechen wie den Holocaust nie wiedergutmachen konnte. Und schon gar nicht vollständig. »Lies weiter«, sagt sie stattdessen nur, und ich hebe das Blatt an, das ich für einen kurzen Moment auf den Küchentisch gelegt hatte.

207 Personen habe ich damals nach Westerbork deportiert, weißt Du, Hauke? Zwei – Hundert – und Sieben, die von dort nach Auschwitz gebracht wurden, und ich habe mir immer gewünscht, dass irgendein glücklicher Zufall es fügt, dass ich bis zu meinem Lebensende auf diese Zahl komme. Ein Schiff vor dem Zerschellen rette oder nach dem Krieg Arzt werden kann. Chirurg vielleicht, aber wie hätte ich das gekonnt, wo ich doch Oma Traude, Deine Mutter und ihre zwei Brüder ernähren musste?

Daher war letzte Woche der schönste Tag in meinem Leben, und ich habe den Mut gefasst, dir wenigstens zu schreiben. Immerhin habe ich ja schon mal EINEN Menschen gerettet, als ich Dich in der Eifel aus dem See gezogen und in meinen Händen gehalten habe. So glückselig wie man nur sein kann. Am Ufer von Maria Laach. Und gleichzeitig habe ich in diesem Moment verstanden, dass es so etwas wie eine Gleichung ganz einfach nicht gibt. Selbst, wenn ich 206 weitere Leben retten würde, wären es ja nicht dieselben, die wir damals in Holland so abrupt beendet haben. Nicht dieselben, die wir unter Arrest setzten und in die Gaskammern schickten. Verstehst Du? Man kann es nicht aufrechnen, auch wenn ich mein Versprechen an Frau Eisenstein damals in meiner Dummheit so verstanden habe.

Umgekehrt geht die Gleichung aber ebenfalls nicht auf. So unendlich viel bedeutest Du für mich, mein lieber Hauke, so unendlich viel wie jeder Einzelne der Juden damals für seine Großväter, Väter oder Söhne bedeutet hat. Unendlich ist eben unendlich, und jeder Mathematiker versagt darin, mir das Gegenteil zu beweisen. Und selbst dann würde ich an das Wasser in Deinen nassen Haaren denken und wüsste es besser. Ich danke dem lieben Gott dafür, dass ich es sein durfte, der Dich aus dem Eifelmaar zog, mein geliebter Hauke, selbst wenn ich dadurch erkannt habe, dass sich meine dumme Hoffnung niemals erfüllen würde. Selbst wenn ich Tausend Haukes rettete, würden alle diese Juden aus Holland nicht wieder lebendig. Kein Ausgleich und kein Verzeihen. Und wenn ich mir schon selbst niemals verzeihen kann, wie sollen das dann diejenigen schaffen, die wir damals verfolgt, schikaniert und getötet haben? Oder deren Kinder?

Ich habe mich in meiner Verzweiflung entschieden, wenigstens etwas zu tun – so geringfügig und wenig es Dir und mir auch erscheinen mag. Ich habe gerade mein Testament gemacht und spende einen Teil meines Vermögens der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft. Das hast Du ja sicher mitbekommen, wenn Du diesen Brief von Dr. Wanst erhalten hast. Einfach weil kleine Schritte besser sind als keine. Und vielleicht kannst auch du ja helfen, indem Du Linda und unser gemeinsames Kind findest und ihm ein Stück von der Liebe abgibst, die ich versucht habe, Dir zu geben. Also falls Du mich jetzt nicht so sehr verachtest, dass Du mich für immer vergessen willst. Das könnte ich verstehen.

In Liebe, Dein Opa Heinrich

»Bist du deswegen darauf gekommen, dass es eine gute Geste wäre, Fahrräder zurück nach Holland zu bringen?«, fragt Safi, nachdem sie sich einen Moment gesammelt hat, und zeigt auf den Brief. »Also wegen Linda Kerkhof und dem Fahrrad, auf dem dein Opa abgehauen ist, meine ich. Und wegen den kleinen Schritten, die besser sind als nichts.«

»Schon«, antworte ich, »es war tatsächlich mein erster Gedanke. Dass ich nach Linda Kerkhofs Fahrrad suche und es ihr zurückgebe.«

»Aber?«

»Es fühlte sich merkwürdig an. Da wäre es ja nur um dieses eine Fahrrad gegangen, und wer weiß, welche alten Wunden man damit aufreißt und ob es ein Schritt nach vorne oder eher nach hinten ist – überhaupt, ich habe ja keinen Schimmer, wo dieser unglückselige Drahtesel überhaupt abgeblieben ist.« Noch nicht mal, wie Opa es geschafft haben soll, ihn nach dem Krieg bis nach Deutschland zu bringen.

»Und da hast du dich entschieden, das Ganze einfach größer aufzuziehen und Mitfahrer zu suchen?«, fragt Safi. »Damit es mehr Fahrräder werden?«

Ich schüttele den Kopf. »Wenn ich sooo schnell wäre, hätte ich schon längst einen Orden, und mir würde die blöde Firma gehören, die mich von montags bis freitags ausbeutet.« Sie lacht und zwinkert mir zu. »Erzähl’ es mir«, sagt sie, und ich erkläre ihr, wie sich die Idee zur »Wiedergutmachung« ebenso sachte wie unaufhaltsam entwickelt hat.

KAPITEL 4 – Pakk de fietsen terug

»Es hat eine Weile gedauert«, sage ich. »In meinem Kopf und auch in meinem Herzen«. Dass ich zunächst im Internet recherchiert habe, um mehr darüber herauszubekommen, wie die Nazis in Holland gewütet und welche Schuld Opas Einheit damals in Utrecht auf sich geladen hatte.

»›Kriegsverbrechen / Nazis / Niederlande‹ habe ich eingegeben«, erkläre ich, aber das hat überhaupt nicht geholfen. Da war nichts Substanzielles zu erfahren. »Erster Treffer: Man kann Kriegsverbrechen auf Ebay kaufen … Tolle Angebote auf Kriegsverbrechen. Jetzt neu oder gebraucht kaufen!Das stand da tatsächlich. Unfassbar.«

»Echt jetzt?« Safi schüttelt den Kopf.

»Probier es aus.« Es ist sonst wirklich kaum zu glauben, wie sehr das Netz versagt. Und als ich ihr dann die Fakten aufzähle, die ich nach dem Scheitern von Dr. Google am Geschichtsinstitut der Uni recherchiert habe, hört es sich an, als ob es eine reine Statistik sei. Auch das hilft nicht. Wahllos in verschiedene Zahlen gefasste Opfer, ohne dass man zu jedem Toten das Leid seiner Eltern und Kinder und der von ihm geliebten Menschen hinzurechnete. Und ohne die Schuldigen. Ohne meinen geliebten Opa oder irgendeinen anderen SS-Schergen. »Die Deutschen«, höre ich mich irgendwie moralisch murmeln, um der dummen Mathematik wenigstens eine sinnvolle Dimension hinzuzufügen.

»Wie? Die Deutschen?«, wirft Safi ein. Das ist ihr zu einfach. »Ich bin auch Deutsche«, gibt sie zu bedenken, und natürlich hat sie recht damit.

»Und überhaupt. Was macht es heute noch für einen Unterschied?«

Eigentlich keinen, oder? Ich nicke zustimmend, aber erinnere mich im gleichen Moment ganz exakt an mein erstes Treffen mit Annigje aus Holland. Meiner Tante. Vor der Kirche nach dem Gedenkgottesdienst für Opa. Seinem Seelenamt, genauer gesagt. Also der Messe, die im Sauerland immer sechs Wochen nach der Beerdigung stattfindet und zu deren Anlass sich Trudy durchgerungen hatte, auch meine neue niederländische Verwandtschaft einzuladen. Bei der Beisetzung wollte Oma sie ja noch nicht dabeihaben, obwohl Heinrich Hermann Wollmicke doch immerhin Annigjes Vater war. Ich konnte es sogar ein wenig verstehen, und umso gespannter und aufgeregter war ich an diesem Sonntag. Die erste Begegnung – und bereits nach Sekunden war ich ganz furchtbar enttäuscht, weil mir diese Frau auf den ersten Blick so fremd erschien. Weil sie ganz bewusst nur Nederlands gesprochen hat, glaube ich, mit all den Deutschen. So, als ob sie mit ihren naturblonden Haaren nicht sowieso schon ziemlich herausgefallen wäre aus der Gruppe der Sauerländer Frauen, die jeden Monat ein Vermögen für schlecht gemachte Strähnchen und Anti-Grau ausgeben.

»Überleg mal, Safi. Komplett blond. Obwohl sie definitiv über 70 Jahre alt sein muss.« Irgendwie schüchtern und verhuscht wirkte sie und gleichzeitig sehr entschlossen. Ich weiß noch, wie oft sie ihre Haare mit dieser feinen silbernen Spange ordnete, bevor sie anfing, in dieser merkwürdigen fremden Sprache zu reden, die niemand verstand. Konsequent. »Nur Nederlands«, erzähle ich Safi, die mir dann kurz und präzise auf Türkisch antwortet. »Lanet olsun«, sagt sie, was so viel heißt wie ›Verdammt noch eins‹.

»Es ist mir schon oft so gegangen«, fahre ich fort, und zwar nicht nur mit den Holländern. Diese Abgrenzung. Hier sind die Deutschen und da alle anderen – zum Beispiel, als wir mit der 6. Klasse in Leeds waren und uns ein paar betrunkene Arbeitslose als Nazis beschimpften. »Mit einer Zwille haben sie auf Martin geschossen, weißt du? Den Rothaarigen. Fuck. Wir waren 12 Jahre alt damals.«

»Kenne ich, die Geschichte«, entgegnet Safi etwas genervt und wirft dann ein, dass Annigje ja vielleicht überhaupt kein Deutsch spricht. »Hast du daran mal gedacht?«

»Ja, natürlich.« Als ob ich da nicht selbst draufgekommen wäre.

»Und?«

»Fast akzentfrei«, sage ich, und wie weh es getan hat, als wir uns nachher unter vier Augen dann auf einmal perfekt auf Deutsch unterhalten hätten.

Safi atmet schwer. »Das war sicher nicht angenehm.«

»Nein«, das war es nicht, auch wenn ich Annigjes stumpfe Verweigerung sogar irgendwie verstehen konnte. So eine Gedenkfeier für einen toten Nazi ist schließlich kein Ort für Europa. Oder gerade. Er ist ja schließlich tot.

»Aber dafür hat Annigje dann den Ausschlag gegeben, was meine ziemlich vage Idee mit den Fahrrädern anbelangt«, füge ich hinzu.

»Sie fand es gut?«, fragt Safi, und ich nicke. »Lustig fand sie es und irgendwie passend, obwohl sie nie erzählt bekommen hat, dass Opa Heinrich ausgerechnet mit dem Fahrrad von Linda abgehauen ist und es dann auch noch für die Wehrmacht katalogisieren musste.«

»Und warum dann?« Safi ist ratlos.

»Weil es irgendwie eine ›echt hollands‹ Idee ist.« Ein Gedanke, wie er holländischer wohl nicht sein könnte, hatte Annigje erklärt. »Warum denn das?« hakt Safi nach. »›Dass die Deutschen endlich die Fahrräder zurückgeben sollen‹, hat Annigje gesagt, sei in den Niederlanden auf jeden Fall der letzte Nazi-Witz, der sich gehalten hat.« Das Trauma, dass man ihnen damals ihre geliebten Fortbewegungsmittel gestohlen hatte, ist heute ein Spaß mit einem letzten, kleinen Funken Wahrheit. Das sollte man wissen.

»Nie gehört«, sagt Safi. Ich schließe mich an, denn so ging es mir ja auch bis zu meinem ersten Treffen mit meiner Tante. »Eigentlich peinlich, oder?« Immerhin sei es so etwas wie ein Treppenwitz unter unseren Nachbarn, den jeder kennt und der quasi bei jeder Gelegenheit auftaucht. »Ein Running Gag halt«, und Safi braucht ein paar Sekunden, um mich zu korrigieren und mir gleich noch einen weiteren Deutschenwitz reinzudrücken. »Na ja. Vielleicht eher … ein ›Marching Gag‹«, sagt sie und kneift ein Auge zu. Rotzfrech, wie gesagt.

»›Pakk de fietsen terug‹, hat Annigje gemeint«, erkläre ich weiter, und dass sie es »superpassend« fände. »Genau, Hauke. Bringt die Fahrräder zurück.« Safi nickt. »Ausgerechnet an dem betreffenden Tag ist sie außerdem bei der Polizeikontrolle hinter Utrecht gefragt worden, ob sie extra mit ihrem VW-Bus nach Deutschland fahre, um ein paar von den Fietsen zurückzuholen.« Ein Klassiker wahrscheinlich, aber nachher sei es ihr dann schon peinlich gewesen, dass sie gelacht habe, statt den Beamten zu erzählen, dass sie zum Grab ihres eigenen Vaters fuhr – des Deutschen, der damals als SS-Offizier in Utrecht war. Heinrich Hermann Wollmicke. Fahrraddieb. Der Mann, der sie gemacht und verraten hatte. Sie ihrem Schicksal überließ.

Stille. Die Kerzen auf dem Tisch wärmen unsere Gesichter, während unsere Rücken frieren.

»Es ist eine gute Idee«, stellt Safi schließlich fest und bindet ihr langes dunkles Haar ganz entschieden zu einem Zopf. »Und bald sind wir auf dem Weg.«

Oh Gott, ja, aber selbst wenn man mal darüber hinwegsieht, dass Lindas originales Fahrrad wirklich nirgendwo aufzutreiben war, habe ich schlicht und ergreifend keine Ahnung, wo uns das alles hinführt.

»Ich bin gespannt auf nächste Woche«, sage ich. Menden. Marktplatz. Da wollen wir anfangen, Fahrräder für Utrecht zu finden. Irgendwelche halt. Laut diversen Facebook-Gruppen und der Anmeldung beim Ordnungsamt: punkt 10 Uhr. Wir geben die Fahrräder zurück haben wir die Aktion genannt. Natürlich zweisprachig: We pakken de fietsen terug heißt es auf Niederländisch – also zumindest, wenn wir es halbwegs korrekt aus dem Internet zusammengeklaubt haben. »›Nazi-Fahrräder nach Holland‹ wäre wirklich zu heftig gewesen«, befindet Safi, und ich nicke halbherzig, weil wir diese Entscheidung ja eh bereits am Abend des Seelenamtes getroffen haben. Spontan. Als ich Safi zum ersten Mal davon erzählte, dass ich eine Fahrradtour nach Holland organisieren will, und sie ohne zu zögern zugesagt hat. Einfach so, weil ich ihr Freund bin, denke ich, und wir haben sofort angefangen zu planen, ohne dass uns auch nur die Grundidee völlig klar war. Ich bin unsicher. So wie überhaupt bei allem, was wir gerade tun. Wie viele Menschen haben einen guten Grund, bei unserer Aktion mitzumachen? Ob überhaupt irgendjemand kommt? Ich weiß es nicht.

»Gute Nacht«, sage ich und trotte in mein Schlafzimmer, während sie es sich auf der knallblauen Schlafcouch im Wohnzimmer bequem macht, weil nach Hause zu fahren doch ziemlich umständlich wäre. Außerdem gefällt ihr meine Bude, glaube ich, wahrscheinlich weil ich viel moderner eingerichtet bin als sie selber. Das bringt der Job als Designer bei einem buntstreifigen Sportartikelhersteller zum Teil automatisch mit sich, denke ich. Keinen Trend gilt es da zu verpassen, und immer muss man irgendwie jung bleiben. »Schlaf gut, Safi-Schatz.«

»Gute Nacht, mein deutscher Super-Freund«, antwortet sie und grinst.

KAPITEL 5 – Prolog:Kettwig – Menden

Am Tag vor dem Termin brechen wir nach Menden auf, und Lars, unser gemeinsamer Freund, ist auch dabei. Der mit der Schwedin am Flughafen. Wir kennen ihn seit den allerersten Uni-Tagen und besuchen ihn noch manchmal in der Cafeteria an der Hochschule in Essen, wo er seit unserer gemeinsamen Erstsemesterwoche bis heute am selben Platz sitzt. Jeden Morgen zwischen 11 und 12 Uhr, nur dass er früher die Aktionen der Studierenden geplant hat und heute für das Auslandsamt arbeitet. Die speckige Ledertasche hat er aber immer noch und auch die wilde Frisur mit den lockigen hellbraunen Haaren. Beliebt ist er, der lange Schlaks, und ein ziemlich liebenswerter Wirrkopf, dem man einfach nichts übel nehmen kann.

»Alles klar bei dir?«, frage ich ihn, aber bei Lars ist sowieso immer alles klar. »90 Kilometer«, sage ich, vielleicht vier Stunden. Zuerst nach Osten und damit in die Gegenrichtung von Holland. »Du weißt schon, dass Utrecht nordwestlich liegt«, frotzelt Safi und lacht, als wir von Kettwig aus nach links in den Ruhrtal-Radweg einbiegen.

Lars lacht mit, aber schließlich stellt er doch die Frage, mit der ich trotz seiner bewundernswerten Schicksalsergebenheit schon länger gerechnet hatte: »Warum fangen wir ausgerechnet in Menden an?« Als ich ihm erkläre, dass es Opa Heinrichs Geburtsstadt sei und der Ort, an dem er seit ein paar Wochen auf dem Friedhof läge, nickt Lars zustimmend und findet die Route gut gewählt. Außerdem erzähle ich ihm, dass Safi und ich überlegt hätten, dass man entlang der Ruhr die meisten Menschen auf einem Fleck finden könne. »Die Chancen stehen gut für Haukes Idee«, bekräftigt Safi. »Und für Opa Heinrich.« Menden im Sauerland also. Der subjektiv richtige Platz, um herauszufinden, ob es genügend Leute gibt, die bereit sind, ein Fahrrad über die Grenze zu fahren.

»Jedenfalls kann ich so auf dem Rückweg meine dicke Jacke einstecken«, bemerkt Lars spaßhaft. Die hat er nämlich in Kettwig vergessen, der Schussel.

»Willst du Opa Heinrich denn heute Abend noch auf dem Friedhof besuchen?«, fragt Safi, aber eigentlich kennt sie die Antwort bereits. Ein kurzes Nicken reicht. »Ich komme mit«, verkündet Lars, und obwohl ich nicht genau weiß, wie es sich anfühlen wird, wenn auch er dabei ist, macht es mich irgendwie glücklich. »Ich leih dir meine Kapuzenjacke«, antworte ich. Es könnte kalt werden, obwohl wir schon Ende April haben und das Jahr es langsam ernst meint mit dem neuen Anfang.

»Auf dem Friedhof kann es immer kalt sein«, stellt Lars betont bedeutungsvoll fest, und Safi verdreht die Augen. Zumindest lästert sie nicht auch noch über meine Ziphoods, denke ich erleichtert. Das tut sie sonst immer, weil sie findet, dass ich wirklich zu alt bin für knallrote Fleece-Klamotten aus dem Skater-Laden, mit denen ich mich deutlich von meinen Kollegen absetze, die stets die edelste Kollektion aus dem eigenen Haus tragen. »Du bist vierzig, Mann, keine achtzehn«, nörgelt sie dann, und ich antworte normalerweise, dass man sowieso früh genug in blassblauen Strickjäckchen herumlaufen müsse, hinter einem Rollator, und es mit den Ziphoods dann eh vorbei wäre. Da schüttelt sie nur den Kopf, und es fühlt sich so an wie bei einem alten Ehepaar. Oder wie bei Jack Lemmon und Walter Matthau vielleicht, was wohl daran liegt, dass wir beide uns schon so ewig kennen. Nur diese Schmetterlinge haben wir nie gefühlt, wahrscheinlich weil wir uns dafür einfach zu ähnlich sind. Wir lieben uns, das ist klar – nur eben anders. Ohne Romantik oder irgendwelches Verlangen, ohne »Schatz«, »Herzilein« und den ganzen aussichtslosen Blödsinn. Genau. Ich glaube, das kann man so sagen.

Die Fahrt ist still, außer dass Lars halblaut die Kilometer zurückzählt, die auf seiner Handy-App angezeigt werden, und eine Speiche an meinem Vorderrad klappert. »Fünf«, sagt Lars. Nach ein paar Minuten dann: »Vier.«

»Zuerst zum Friedhof, oder?«

»Drei.« Zwei und eins.

Durch den Eingang und an der kleinen Kapelle vorbei, die durch sauerländer Schlichtheit besticht. Hier macht es keinen Unterschied, ob sie katholisch oder evangelisch ist, calvinistisch genauer: »Kein Gold, kein Spaß, kein Garnix«, flüstere ich, so als stünde irgendjemand anderes in der Nähe.

»Soll ich eine Gießkanne vollmachen?«, bietet sich Lars an, und weil er es sich nicht nehmen lassen will, mir zu helfen, schleppen wir schließlich zwei von den grünen Ungetümen hinüber zu Opa. An den Kriegsgräbern vorbei, in denen die ›Söhne der Stadt‹ liegen, die für das Vaterland und Menden gestorben sind. Manche angeblich aber auch für die Dörfer drum herum, wenn ich die Inschrift richtig deute. ›Kameradschaftlich – Seite an Seite‹. In Stein gemeißelter Unsinn. Für ihren Führer haben sie getötet, und für ihn sind sie gestorben. Für niemanden sonst. In schlechten Momenten hat sich das Opa auch manchmal gewünscht, also dass er im Krieg gefallen wäre. »Am besten ganz am Anfang«, hat er dann gesagt, und ich erinnere ich mich daran, dass ich seine Verzweiflung als Kind natürlich nicht verstanden habe. Selbst als Erwachsener ist mir das nicht ganz gelungen – zumindest nicht, bevor Heinrich mir im Krankenhaus die Geschichte von Annigjes Mutter erzählt hat und davon, was er ihr angetan hatte.

Als wir schließlich an Opas Grab ankommen, ziehe ich als Erstes die Jacke über, die eigentlich für Lars gedacht war, und stehe eine Weile schweigend da. Neben Safi, die ziemlich bald ihren Arm um mich legt und irgendwann auch Lars umarmt, der sich zusammen mit seiner Gießkanne auf der anderen Seite postiert hat. ›Seite an Seite‹, denke ich unwillkürlich, ›kameradschaftlich‹, die ganze Truppe, nur dass wir keine Juden töten wollen. Dann ist es doch eigentlich etwas ziemlich Schönes, finde ich, mit dieser Kameradschaft.

Ich brauche einige Zeit, um mich ganz auf Opa zu konzentrieren, und fange deshalb irgendwann an, die schönen Erinnerungen in meinem Herzen zu sammeln. Wie wir zusammen Ostereier für Trudy bemalt haben und nachher selbst komplett in Orange eingesaut waren. »Oh«, hat Trudy gesagt und Opa von oben bis unten gemustert: »Ihr habt aber jetzt nicht ALLE bemalt, oder?« Und dann haben sie so gelacht, dass Opa fast den ganzen Tisch umgeworfen hätte, aber auch das konnte ich als Kind natürlich nicht verstehen. Oder wie wir Trudy zum Koninginnedag einen Riesenstrauß Blumen besorgt haben und einen Baumkuchen aus Iserlohn, wo es den besten in ganz Westfalen gibt. Überhaupt den besten auf der ganzen Welt, glaube ich. Königlich. Und wie Opa immer nach »Tabac« gerochen hat, wenn er mich in den Arm nahm.