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Die Anwendung fallbasierter Lehr- und Lernmethoden in der Pflegeausbildung zum Pflegefachmann bzw. zur Pflegefachfrau ist mit dem neuen Pflegeberufegesetz von 2020 verbindlich festgelegt. Die Perspektive von Lehrkräften an Pflegeschulen zum fallbasierten Lernen und deren Umsetzung in der Pflegeausbildung findet in der Pflegeforschung bisher wenig Beachtung. Das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit ist es daher, empirische Erkenntnisse zum praktisch-pädagogischen Einsatz fallbasierter Lehr- und Lernmethoden aus der Perspektive des Lehrenden an Pflegeschulen zu sammeln. Dazu wurden Interviews mit Pflegepädagogen durchgeführt, die an verschiedenen Pflegeschulen unterrichten. Aus den Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass sich fallbezogenes Lernen als State of the Art im Pflegeunterricht etabliert hat. Die Pflegepädagogen erleben dabei praktische Herausforderungen bei der Umsetzung, wie z. B. heterogene Lerngruppen oder methodenimmanente Grenzen.
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Seitenzahl: 131
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Abbildung 1: Kategoriensystem aus den Daten
Tabelle 1: Typologie fallbezogener Methoden
Tabelle 2: Systematik fallbezogenen Lernens
Tabelle 3: Kriterienraster fallbasierter Lernmethoden für die Pflegeausbildung
Tabelle 4: Fragenkatalog zum Interview
Tabelle 5: Stichprobe
Tabelle 6: Checkliste Gütekriterien
B. Befragter
B.A. Bachelor of Arts
BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BMG Bundesministerium für Gesundheit
CAS Cognitive Apprenticeship
I. Interviewer
KPH Krankenpflegehilfe
M.A. Master of Arts
MPH Master of Public Health
M. Sc Master of Science
o. S. ohne Seite
OSCE Objective Structured Clinical Examination
PBL / POL Problembasiertes Lernen / Problemorientiertes Lernen
PICO-Schema Formulierungshilfe für evidenz basierte Fragstellungen
PubMed englischsprachige Meta-Datenbank
SP Simulationspatient
SimNAT Simulations-Netzwerk Ausbildung und Training
VIFSG Verband zur Integration und Förderung des Skills-Lab-Konzeptes in den Gesundheitsberufen
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Problemstellung
2.1 Problemstellung und theoretische Grundannahmen
2.2 Forschungsstand
3 Zielsetzung und Fragestellung
4 Methodisches Vorgehen
4.1 Forschungsdesign
4.2 Erhebungsverfahren
4.3 Sample
4.4 Auswertung
4.5 Gütekriterien des Forschungsvorhabens
4.6 Forschungsethische und Selbstreflexive Überlegungen
5 Empirische Ergebnisse
5.1 Fallbasiertes Lernen an Pflegeschule gewachsen und etabliert
5.1.1 Erfahrungsschatz
5.1.2 Weiterentwicklung
5.2 Gestaltung des fallbasierten Lernens
5.2.1 Fallkonstruktion
5.2.2 Didaktische & Methodische Gestaltung
5.3 Schüler reagieren unterschiedlich
5.3.1 Positive Reaktionen
5.3.2 Negative Reaktionen
5.4 Erleben praktischer Herausforderungen
5.4.1 Heterogene Lerngruppen
5.4.2 Methodische Grenzen und Stolpersteine
5.4.3 Akzeptanz und Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis
5.5 Berufliche Handlungskompetenzen schülerorientiert vermitteln
6 Diskussion
6.1 Theoretische Relevanz
6.2 Praktische Relevanz
6.3 Stärken und Schwächen dieser Arbeit
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
„Wir können das besser lernen, wenn Sie ein praktisches Beispiel dazu geben.“ So oder so ähnlich klingen die an Pflegepädagogen gerichteten Wünsche der Schüler, die einen Sachverhalt im Unterricht besser verstehen möchten. Infolgedessen verwenden Lehrende oft Fälle, um Inhalte für Schüler besser zugänglich zu machen. Das Schülerzitat entspringt aus den eigenen Lehrerfahrungen, die Rahmen des Studiums gesammelt wurden.
Der Autor konzipiert in der folgenden Darstellung ein Forschungsprojekt, welches die Art, den Umfang und die Anwendung fallbasierter Lerntechniken an Pflegeschulen untersuchen soll. Mit Blick auf die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die generalistische Pflegeausbildung rückt fallbasiertes Lernen in den Mittelpunkt der pflegedidaktischen Überlegungen. Bisher liegen jedoch kaum systematische Veröffentlichungen zur Arbeit mit Fällen in der Pflegeausbildung vor (Hundenborn, 2007, S. 1). Daher stellt sich für Lehrende die Frage, welche Fälle sich für den theoretischen Unterricht eignen und welche Kompetenzen dadurch gestärkt werden. Das Verständnis für diese Lerntechnik variiert zwischen den Lehrenden in der Pflegeausbildung enorm. Deshalb soll das vorliegende Forschungsprojekt mithilfe einer empirischen Forschungsmethode ermitteln, inwieweit fallbasiertes Lernen an Pflegeschulen Einzug erhalten hat. Dafür sollen Lehrende an Pflegeschulen qualitativ befragt werden, welche Erfahrungen sie mit dieser Methode in der Pflegeausbildung sammeln konnten. Diese Erkenntnisse dienen dazu, die bisher wenig beach-tete subjektive Perspektive der Lehrenden zu beleuchten, um daraus Empfehlungen ableiten zu können für einen gezielten Einsatz fallbasierter Lerntechniken in der theoretischen Pflegeausbildung.
Die vorliegende Forschungsarbeit beginnt mit Kapitel zwei, welches den Forschungsgegenstand beschreibt. Kapitel drei erläutert die Zielsetzung und die Fragestellung der Forschungskonzeption. Danach wird das methodische Vorgehen skizziert. Es folgt die Darstellung der empirischen Ergebnisse aus den qualitativen Interviews, die im anschließenden Abschnitt Diskussion erörtert werden. Den Abschluss bildet das Fazit.1
1
Zur besseren Lesbarkeit wird im Verlauf der Ausarbeitung auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Alle Personenbezeichnungen gelten für beide Geschlechterformen und implizieren keine Benachteiligungen.
Das folgende Kapitel erläutert zunächst die Problemstel-lung und die theoretischen Grundannahmen. Das Teilkapitel 2.2 zeigt den Forschungsstand zur definierten Thematik.
Die Arbeit mit Fällen in Lehr- und Lernprozessen in der pflegeberuflichen Aus- und Weiterbildung ist nicht als Neuheit zu betrachten. Im Zuge des Diskurses zur Professionalisierung pflegerischen Handelns und durch die in den 1990er-Jahren einsetzende Akademisierung der Pflegeausbildung wurde zunehmend eine „theoretisch-didaktische Begründung des Unterrichts“ gefordert (Dieterich & Reiber, 2014, S. 21). Somit besteht das professionelle Handeln eines Pflegepädagogen darin, eine methodischgeleitete Bearbeitung von Fallarbeit für die Pflegeausbil-dung zu realisieren. Der Fallbezug wird aus professions-theoretischer Perspektive als konstitutives, also essenzielles, Merkmal des professionellen Pflegehandelns betrachtet (Hundenborn, 2007, S. 1).
Die Anwendung fallbasierter Lernmethoden in der Pflegeausbildung ist sowohl auf gesetzlicher als auch auf curricularer Ebene verbindlich festgelegt. Die Pflegeberufe- Ausbildung- und -Prüfungsverordnung (PflAPrV) fordert in den drei Prüfungsteilbereichen (mündlich, schriftlich, praktisch) der Pflegeausbildung stets eine „Fallbearbeitung“ oder eine „fallbezogene Aufgabenstellung“2. Die PflAPrV gilt als „Ergänzung und Ausgestaltung“ (Kostorz, 2019, S. 15) des seit 2020 geltenden Pflegeberufegesetzes (PflBG). Die Anforderungen gelten sowohl für die berufliche als auch für die hochschulische Pflegeausbildung.
Die bundeseinheitlichen Rahmenpläne der Fachkommission (2020, S. 12-15) für schulinterne Curricula an Pflegeschulen fordern die Orientierung an Pflege- und Berufssituationen. Sie empfehlen dementsprechend explizit fallorientiertes Vorgehen im Pflegeunterricht wie z. B. in CE 02 „Zu Pflegende Menschen in der Bewegung und Selbstversorgung unterstützen“ (2020, S. 41), in CE 04 „Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fördern und präventiv sichern“ (2020, S. 62) oder in CE 05 „Menschen in kurativen Prozessen pflegerisch unterstützen und Patientensicherheit “ (2020, S. 77) beschrieben. Dabei werden konkret fall-bezogene Lernmethoden als „Anregungen für Lern- und Arbeitsaufgaben“ oder als „Anregungen für das Lernen insimulativen Lernumgebungen“ vorgeschlagen, wie beispielsweise die fallspezifische Analyse von Motivationsfaktoren (S. 41), Durchführung und Reflexion von typischen Pflegehandlungen (S. 43 & 44), Rollenspiele (S. 35 & 62), Fallbesprechungen (S. 62), ethische Falldiskussionen (S. 76), fallbasierte Unterrichtseinheiten (S. 77) oder fallbezogener Austausch (S. 209).
Das fallorientierte Vorgehen ist in Form von Lernsituationen zu gestalten. Lernsituationen konkretisieren die zugrunde liegende Pflegesituation der curricularen Einheiten beispielhaft (S. 23). Das bedeutet die Arbeit mit Fällen in Form von Lernsituationen ist curricular obligat in der Pflegeausbildung.
Übergeordnetes Ziel dieser Vorgehensweise ist die Vermittlung von beruflicher Handlungskompetenz (S. 14) bei den Schülern. „Handlungskompetenz wird verstanden als die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ (KMK, 2021, S. 15). Zur Handlungskompetenz gehören die Dimensionen Fach-, Selbst-, und Sozialkompetenz. Immanenter Bestandteil der drei genannten Dimensionen sind Methodenkompetenz, kommunikative Kompetenz und Lernkompetenz (2021, S. 15-16).
Für die Pflegeausbildung definiert der Rahmenlehrplan Kompetenz „[…] als die Fähigkeit und Bereitschaft, in komplexen Pflege- und Berufssituationen professionell zu handeln und sich für die persönliche und fachliche Weiterentwicklung einzusetzen.“ (Fachkommission nach § 53 Pflegeberufegesetz, 2020, S. 12) Der Erwerb der Kompetenz erfordert handlungsorientierte Lernprozesse an verschiedenen Lernorten (2020, S. 12).
Aus den beschriebenen normativen und curricularen Vorgaben resultiert die Anforderung, dass Lehrende an Pflegeschulen verschiedene fallbezogene Lernprozesse sicher anwenden müssen und die Umsetzung zu den essenziellen pflegedidaktischen Aufgaben in der Ausbildung von Pflegefachfrauen und Pflegefachmännern gehört. In welcher Art und in welchem Umfang Fallarbeit an Pflegeschulen unterrichtet wird, ist jedoch empirisch wenig erforscht. Hundenborn (2007, S. 1) identifiziert, dass kaum systematische Veröffentlichungen zur Arbeit mit Fällen in der Pflegebildung vorliegen. Eine ähnliche Erkenntnis vertreten Dieterich und Reiber (2014, S. 21) auch noch sieben Jahre später, indem sie registrieren, dass für Schulen des Gesundheitswesens „[…] keine empirischen Erkenntnisse darüber vorliegen, in welcher Art und in welchem Umfang die Arbeit mit Fallbeispielen den Unterricht prägen […].“ Es fehlen aktuelle Erfahrungsberichte von Lehrenden an Pflegeschulen in Deutschland, die Erkenntnisse über den alltäglichen Einsatz des genannten Ansatzes in der Pflegeausbildung liefern. Konkret ergeben sich die Fragen, ob und wie Fallmethoden aktuell systematisch an Pflegeschulen angewendet werden und welche praktischen Stolpersteine sich in der Anwendung mit den Schülern ergeben. Zu Annäherung an die Problemstellung folgt eine theoretische Einführung in das Forschungsthema. Dazu recherchierte der Autor in pädagogischer Fachliteratur. Die Darstellung der aktuellen Forschungspublikationen folgt in Kapitel 2.2.
Zunächst stellt sich die Frage, was der Terminus „Fall“ konkret bedeutet. Eine in der Literatur mehrfach rezipierte Beschreibung zum Terminus und auf der Basis von pädagogischer Literatur zusammengestellte Auslegung verfasste Steiner (2004, S. 14):
Ein Fall ist eine Abfolge konkreter Begebenheiten (Ereignisse, Vorkommnisse, Geschehnisse) von und mit handelnden Individuen (Menschen oder Figuren) in einem spezifischen situativ-geschichtlichen Kontext. Wesentlich für einen Fall ist seine prozesshafte zeitliche Dimension: Der Fall besteht aus einer Sequenz von Ereignissen, mentalen Zuständen und Geschehnissen mit Individuen als Akteuren. Die Sachverhalte des Falles können einen realen Bezug zur Wirklichkeit haben oder imaginär sein.
Das Fallverständnis von Steiner stößt in der Literatur auf positive Resonanz. So stützen sich unter anderem Muster-Wäbs, Ruppel und Schneider (2017, S. 15) in ihren Überlegungen zum problemorientierten bzw. fallorientierten Lernen auf diese Beschreibung. In der professionsspezifischen Literatur der Pflegedidaktik basieren die theoretischen Begriffsklärungen von Hundenborn (2007, S. 36) und Schrems (2022, S. 14) ebenso auf die Steiner’sche Auslegung. Die Definition des Begriffs „Fall“ unterscheidet sich jedoch von Profession zu Profession und variiert sogar im intraprofessionellen Rahmen (Steiner, 2004, S. 14). Somit ergibt sich eine verwirrende Begriffsvielfalt in der Definition eines „Falles“, die sich gleichermaßen im Kontext des fallbasierten Lernens in der Pflegeausbildung offenbart. Bezeichnungen für fallbezogene Lernmethoden wie Fallstudienarbeit, Fallarbeit, Fallmethode, fallorientierte Methode etc. werden oftmals synonym verwendet (Dieterich & Reiber, 2014, S. 22; Hundenborn, 2007, S. 35). Es ist festzustellen, dass es auch international keinen Konsens über die Definition des fallbasierten Lernens gibt (Thistlethwaite et al., 2012, S. 422).
Eine allgemeine Definition, was fallbezogenes Lernen im Bildungssektor bedeutet, skizziert Steiner (2004, S. 10) auf Grundlage pädagogischer Literatur in seiner Dissertation:
Fallbezogene (oder fallorientierte bzw. kasuistische) Methoden (Vorgehensweisen, Verfahren) bezeichnen hier als Oberbegriff diejenigen Verfahrensweisen, bei denen die Bearbeitung eines (Einzel-) Falles zu Lern-, Ausbildungs-, Untersuchungs- und Forschungszwecken eingesetzt wird. Bei kasuistischen Verfahren bestimmt der konkrete Fall und dessen Bearbeitung durch die Lernenden oder Forschenden die „Choreographie“, den Verlauf einer spezifischen Ausbildungssequenz, eines Untersuchungs- oder Forschungsprojektes.
Das genannte Verständnis zum Thema fallbezogene Lehrmethoden rezipieren ebenso Dieterich und Reiber (2014, S. 22) in ihren didaktischen Begleitband für Lehrende in der pflegebezogenen Aus-, Fort und Weiterbildung. Die Definition bestimmt eine konsequente systematische Orientierung am Fall und identifiziert ein umfassendes Anwendungsfeld fallbezogener Methoden im Bildungsfeld. Sie können in der Allgemeindidaktik, der Professionsdidaktik/Hochschuldidaktik (v. a. für Berufsgrundausbildung), Professionsentwicklung (v. a. Fortbildungen, Supervisionen etc.), Forschung im Berufsfeld und in weiteren spezifischen pädagogisch-didaktischen Arbeitsfeldern zum Einsatz kommen (Steiner, 2004, S. 180-181). Steiner (2004, S. 20) unterstreicht den Wert fallorientierter Methoden für die berufliche Ausbildung und denkt dabei explizit an die „anspruchsvolle Berufstätigkeit“ Unterricht oder Pflege.
Büscher und Gronemeyer-Bosse (2009, S. 33) erkennen viele Unterrichtssituationen, die fälschlicherweise als Fallarbeit deklariert werden: So helfen beispielsweise Erfahrungsberichte, Praxissituationen, Fallbeispiele, um abstraktes Wissen besser verständlich zu machen. Sie können aber ebenso einen interessanten Einstieg in den Unterricht darstellen. Solche Situationen sind allerdings nicht als Fallarbeit zu verstehen. Fallarbeit ist ein „methodisch geleitetes, sequenzielles, zielgerichtetes Vorgehen“ (2009, S. 33), das auf vorhandenes Wissen zurückgreift und neue Handlungsoptionen erarbeitet. Der Fall ist dabei als Ausgangspunkt des Lernprozesses zu sehen (S. 33).
Eine Voraussetzung für die adäquate Anwendung von Fallarbeit, ist eine Lehrkraft, die über die notwendigen Kompetenzen zum Vorgehen verfügt. Diesen Aspekt betrachtet Hundenborn (2007, S. 213) als häufiges Problem im fallbasierten Lernen. Möglicherweise besteht eine Scheu davor sich damit auseinanderzusetzen, weil die Lehrkräfte an Pflegeschulen keine Erfahrung damit haben oder selbst nicht in dieser Form ausgebildet worden sind (2007, S. 213). Die fehlende Vertrautheit verursacht wiederum eine Unsicherheit darüber, was am Fall tatsächlich gelernt wird (S. 213). Die Vorbereitung eines fallbasierten Unterrichts erfordert zudem einen hohen Zeitaufwand, der abschrecken könnte (S. 212). Daher sollten Pflegelehrkräfte sich im gängigen pflegerischen Handlungsfeld auskennen, damit eine praxisnahe Diskussion erfolgen kann (S. 213).
Des Weiteren stellen fallbasierte Lehr- und Lernmethoden an einer Pflegeschule nicht den Ernstfall dar, weil kein Entscheidungs- oder Handlungsdruck wie in der Pflegepraxis besteht (Hundenborn, 2007, S. 210). Handlungsoptionen werden in diesem Rahmen lediglich „spielerisch“ ohne Konsequenzen erörtert (2007, S. 210). Eine adäquate Reflexion sollte in einem handlungsentlastenden Raum stattfinden, was die berufliche Praxis häufig nicht hergibt (S. 210). Das fallbezogene Lernen ist als stark kognitive Methode verankert und vermittelt nicht die sinnlichen Eindrücke (Darmann-Finck, 2013, S. 30). Das Erleben einer komplexen Pflegesituation kann nur in der Praxis erfolgen, weil auch jegliche Form der Dokumentation bereits Selektion aufweist (2013, S. 30). Somit kann das Lernverfahren lediglich eine sinnvolle und notwendige Vorübung für reale Handlungs- und Entscheidungssituationen sein (Kaiser, 1983, S. 132-133).
Insgesamt steht im Rahmen der Fallarbeit die Exemplarität im Mittelpunkt, nicht die Repräsentativität (Kade, 1990, S. 124). Es schließt allerdings nicht aus, Fälle miteinander zu vergleichen, um Ähnlichkeiten oder Differenzen zu erschließen (1990, S. 123). Dabei ist das Ziel, die eigenen „Blindstellen, Wahrnehmungs- und Deutungseinschränkungen“ in der >Interpretationsgemeinschaft< aufzudecken und zu korrigieren (1990, S. 123).
In der Zielstellung dieser Lernmethode kongruieren verschiedene Autoren, die zwei Aspekte fokussieren: Die Schüler sollen durch Fallarbeit im Unterricht ein Hermeneutisches Fallverstehen sowie Problemlösungs- und Entscheidungskompetenz entwickeln, welches sie dazu befähigt, begründete situationsgemäße Handlungsentscheidungen in der späteren praktischen Berufstätigkeit zu treffen (Hundenborn, 2007, S. 40; Steiner, 2004, S.174; Dieterich & Reiber, 2014, S. 25-27).
Des Weiteren bestehen in der Literatur verschiedene Fallkategorisierungen von fallbezogenen Lehrmethoden. Unter anderem entwickelte Steiner (2004, S. 173) ein Orientierungsraster für fallorientierte Vorgehensweisen (s. Tabelle 1). Die vier Falltypologien Fallmethode, Falldialog, Einzelfallprojekt und Fallarbeit charakterisieren vier Oberbegriffe für fallbezogene Lehrmethoden, je nach Intention und Beziehung. Demnach unterscheiden sich fallbasierte Lehrmethoden in der Beziehung der Schüler zum Fall, die wiederum als Nichtbeteiligte des Falls agieren können („Papierfall“) oder als Mitbeteiligte am Fall arbeiten („Real-fall“) (2004, S. 173 & 175-176). Das zweite Kriterium zur Unterscheidung ist die Intention der Schüler, welche entweder eine tiefergehende Interpretation einer abgeschlossen Fallgeschichte beabsichtigen oder Fälle als Veränderung einer offenen Fallausgangssituation erschließen möchten (S. 173-175). Die Fallbearbeitung einer offenen Ausgangsposition ist zur Förderung der Entscheidungs- und Problemlösungskompetenz gedacht (S. 174). Die Interpretation einer abgeschlossenen Fallgeschichte dient dem Aufbau der hermeneutischen Kompetenz (S. 174). Die letztgenannten Kompetenzdimensionen sind von Steiner zwar als Textform erläutert, allerdings nicht in der ursprünglichen Heuristik integriert. Nach der Idee Hundenborns (2007, S. 40) modifiziert der Autor die Heuristik Steiners und integriert die beiden Kompetenzdimensionen der Vollständigkeit halber in Tabelle 1.
Tabelle 1: Typologie fallbezogener Methoden nach zwei Kriterien kategorisiert: Intention der Schüler bzw. welche Beziehung der Schüler zum Fall hat (Quelle: Steiner, 2004, S. 173; Hundenborn, 2007, S. 40, eigene Darstellung)
Steiner (2004, S. 180-181) schlägt zu jeder Fallkategorie und zu unterschiedlichen didaktischen Feldern eine Vielzahl konkreter Methoden vor. Hundenborn (2007, S. 52-114) greift die Steiner’sche Fallkategorisierung speziell für die fallorientierte Didaktik in der Pflege auf, rezipiert und ergänzt weitere Umsetzungsmöglichkeit der vier Falltypologien. Im Rahmen dieser Kategorisierung stellen sich verschiedene Anforderungen an einen Fall in der Pflegeausbildung. Hundenborn (2007, S. 56-67) bündelt die in der Literatur gestellten vielschichtigen Anforderungen an einen Fall, der als Fallmethode in der Pflegeausbildung eingesetzt werden kann. Hierzu stellt sie elf Kriterien auf, die den Fall auf ihre Eignung prüfen. Die Kriterien können nicht nur zur Fallkonstruktion in der Fallmethode angewendet, sondern auch als Analyse- und Evaluationsmuster verwendet werden (2007, S. 56).
Eine weitere Systematik fallbezogenen Lernens entwickelte Darmann-Finck (2010, S. 348-359) auf der Basis von beruflichen Handlungskompetenzen (s. Tabelle 2). Sie erarbeitete im Rahmen einer empirischen Analyse der Pflegeunterrichtswirklichkeit drei Zieldimensionen, die berufliche Handlungskompetenzen beschreiben. Ausgehend davon spezifiziert sie die Zieldimensionen und offeriert dafür geeignete Methoden fallbezogenen Lernens am Lernort Schule (2010, S. 354).
In der näheren Betrachtung kongruieren sowohl die Fallkategorisierung von Steiner bzw. Hundenborn als auch die Systematik von Darmann-Finck in der Idee, fallbasiertes Lernen als Instrument zur Förderung der Entscheidungsbzw. Problemlösekompetenz und der Reflexionskompetenz (zeigt sich in der Hermeneutischen Fallkompetenz) bei Schülern zu nutzen.
Tabelle 2: Systematik fallbezogenen Lernens nach Beruflichen Kompetenzen (Quelle: Darmann-Finck, 2010, S. 354)
Ziele für den Lernort Schule
Geeignete Methode fallbezogenen Lernens am Lernort Schule
Regelgeleitetes Handeln
Erklären, Analysieren,
Entwickeln und Bewerten von Problemlösungen auf der
Basis von Reqelwĭssen
Fallstudien (Kaiser, 1983),
Problemorientiertes Lernen (Schwarz-Govaers, 2003)
Reflexive Könnerschaft
Systematisches Verstehen und Reflektieren von
authentischen beruflichen
Situationen, Einüben von Kommunĩkatĩon
Situiertes Lernen (Holoch, 2002), Szenisches Spiel (Oelke, Scheller & Ruwe, 2000), Biografieorientiertes Lernen, Fallbesprechungen (Gudjons, 1997), Rollenspiel (VanMents. 1998)
Verantwortliches Handeln
Reflexion von gesellschaftlichen Abhängigkeiten in ihrerwidersprüchlichen Struktur