Falsch erzogen - Mona Krassu - E-Book

Falsch erzogen E-Book

Mona Krassu

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Solveig Eckstein hat viele Träume. Zum Beispiel diesen, eine herausragende Schauspielerin zu werden. Bereits in den ersten Schuljahren liest sie Gedichte von Eva Strittmatter. Obwohl sie diese nicht versteht, ist sie vom Klang der Worte begeistert. Solveigs Liebe zur Literatur und zum Schauspiel festigt sich, als sie im Rahmen der Timurarbeit die Schauspielerin Eleonore Sattler kennenlernt. Diese Frau gibt ihr Halt in einer Zeit, in der sich die Eltern immer öfter streiten und schließlich trennen.Anfangs aus Unwissenheit, später als Auflehnung gegen ihren Stiefvater Hartmut, gerät Solveig zunehmend in Konflikt mit dem Diktaturstaat DDR.Heimlich trifft sie sich mit anderen Jugendlichen im Bau, einem Abrisshaus, in dem sie die Musik von Udo Lindenberg hören und selbst texten und musizieren.Was passiert in einer Diktatur mit Kindern, die schon als Schüler nicht ins sozialistische System passen? Die Genossen und Funktionäre in der DDR haben ihre Methoden. Sie nutzen auch die Mittel der Medizin, wenn es darum geht, junge Menschen auf Linie zu bringen.Wie Mädchen und junge Frauen in den sogenannten Tripperburgen gedemütigt und misshandelt wurden, ist unfassbar. Im Roman Falsch erzogen erzählt Mona Krassu die Geschichte eines dieser Mädchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 637

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Impressum

 

1. Auflage: August 2020

© Edition Outbird

www.edition-outbird.de

 

Autorin: Mona Krassu

Coverfotografie: Ronny Röder

Covergestaltung: Tristan Rosenkranz, Dana Wetzel, Benjamin Schmidt

Lektorat: Klaus Rosenkranz, Tristan Rosenkranz

Buchsatz: Benjamin Schmidt

Herausgeber: Tristan Rosenkranz

Autorenporträt: Adelheid Garschke

 

ISBN: 978-3-948887-05-6

Preis: 6,99€

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

Nie wieder wollte ich auf einem Hocker sitzen, so reglos, so machtlos,

beraubt meines Willens.

Ich schwor es mir, nie wieder.

Und doch muss ich es tun. Jetzt, hier vor dem Publikum, muss ich es tun.

Ich werde die Augen schließen. Ich werde nicht ich sein.

Eine Andere werde ich sein, weil ich es sonst nicht aushalten kann auf diesem Hocker.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Teil

 

 

 

Vater verbot mir das Husten. Da war ich vier, glaube ich. Wir saßen am Abendbrottisch.

„Du hast keinen Husten“, sagte er, nahm meine Schnitte vom Teller und wollte sie mir in den Mund schieben. Ich presste die Lippen aufeinander. Ich konnte nicht vom Brot abbeißen, weil ich nicht husten durfte. Meine Wangen brannten, als hätte Vater mich geschlagen. Und da war so ein Druck im Bauch und auch im Kopf. Es war ein Gefühl, als würde mein Bauch nach innen platzen.

Vater schrie: „Wir brauchen das Geld. Mit dem bisschen Husten kann sie in den Kindergarten gehen.“ „Wenn sie krank ist, ist sie krank“, sagte Mama. Da hustete ich los. Ich hustete so sehr, dass mir der Hals weh tat. Ich dachte, ich könne nie wieder aufhören zu husten. Bis Vater mich anschrie: „Hör mit dem Gespinne auf!“

Er schlug auf meine Hand, die ich mir vor den Mund hielt. Ich rannte raus, versteckte mich auf dem Abort, hinter einem Vorhang, zwischen Wischeimern und Kohleschütten. Dort hatte ich mein Bummiheft versteckt. Ich setzte mich auf einen Eimer, schaute das Heft an, bis Mama mich holte.

„Wir müssen dir mal einen neuen Bummi kaufen“, sagte sie, „oder gleich ein Buch.“

Sie zog mir das Nachthemd an, deckte mich zu, legte mir das Heizkissen unter meine Füße. Vater kam an mein Bett. Ich hielt die Luft an, um nicht zu husten. Er strich mir die Haare aus der Stirn und sagte: „Ist ja wirklich heiß, deine Stirn.“

Ich habe nicht viele Erinnerungen an meine Kindergartenzeit, aber dieses eine Abendessen kann ich aufsagen wie meinen Namen oder das Einmaleins.

Und dann war da noch der Tag, an dem mich niemand aus dem Kindergarten abholte. Den kann ich auch aufsagen wie meinen Namen oder das Einmaleins.

Die Erzieherin schaute auf die Uhr. Dann schaute sie mich an und schüttelte den Kopf. Ich mochte sie. Ich kuschelte mich manchmal an ihren dicken Bauch. Dann strich sie mir über den Kopf. Wenn sie sich zu mir herunter beugte, kratzte der Dederonstoff ihrer Kittelschürze an meiner Wange. Sie hieß Schneegas. Die Kinder aus der großen Gruppe nannten sie Schneegans.

An jenem Nachmittag schaute Frau Schneegas oft zur Tür und auf ihre Armbanduhr. Dann nahm sie mich an die Hand und stieg mit mir die Treppe runter. Wir gingen in das Zimmer, in dem es immer nach Kaffee roch. Dort saß eine Frau und tippte auf einer Maschine herum. Neben der Maschine stand ein schwarzer Kasten mit einer Drehscheibe. Ich wollte damit spielen, aber Frau Schneegas verbot es mir. Sie zeigte auf das Ding und fragte, ob jemand meinetwegen angerufen hätte. Die Frau schaute mich lange an, als überlege sie, was mit mir nicht stimme. Dann schüttelte sie den Kopf.

Frau Schneegas zeigte auf einen Kinderstuhl. Ich setzte mich. Sie ließ mich mit der Frau allein. Zapp zapp zapp, zipp zapp, ratsch. Es gefiel mir, was sie machte. Ihre Finger tanzten wie kleine Puppen zu den Geräuschen. Zapp zapp zarappzapzapp.

Später stand Frau Schneegas in Jacke und Straßenschuhen vor mir. Ich erinnere mich noch an ihre Schuhe. Es waren schwarze Lackschuhe und die Absätze klopften laut, wenn sie auftrat. Solche Schuhe wollte ich auch haben. Mama sagte: „Wenn du größer bist, vielleicht.“ Sie kaufte mir Elefantenschuhe. Ich glaube alle Kinder trugen damals Elefantenschuhe.

Frau Schneegas heftete einen Zettel an die große Eingangstür. Dann zog sie mir Jacke und Schuhe an.

Sie hängte mir die Brottasche um. Dabei sah sie mir ins Gesicht und sagte:

„Du wirst jetzt nicht weinen.“

Und weil sie das sagte, wurde ich traurig und heulte, dass mir der Rotz aus der Nase lief. Sie blieb stehen, beugte sich wieder zu mir herunter und sagte:

„Mein Sohn spielt nur mit tapferen Mädchen. Und die kriegen vielleicht auch ein Eis am Stiel.“

Ich wischte mir den Rotz mit dem Ärmel meiner Strickjacke ab und holte tief Luft. Frau Schneegas hielt mir ihr Taschentuch an die Nase und ich musste kräftig schnauben.

„So und jetzt wird nicht mehr geheult, es gibt gar keinen Grund zum Weinen“, sagte sie.

Irgendwann stand mein Vater vor der Wohnungstür von Frau Schneegas. Er umarmte mich und er weinte.

„Vati, du musst nicht weinen, ich habe Eis am Stiel gegessen. Das schmeckt besser als Mettwurstbrot“, sagte ich. Meine Wange brannte von seinem Schlag, gleichzeitig drückte Vater mich an sich. Ich weiß nicht warum. Mama hätte es mir bestimmt erklärt. Aber Mama war nicht zu Hause. An diesem Tag nicht und am nächsten auch nicht.

Papa machte alles falsch. Er vergaß Tee zu kochen und er hatte auch keine Brause eingekauft. Das Brot schnitt er so dick, dass ich kaum abbeißen konnte.

„Ich will, dass Mama wieder da ist“, sagte ich.

Papa schickte mich ins Bett, obwohl ich noch nicht aufgegessen hatte. Dann war Mama wieder da und Vater weinte, als er sie sah. Ins Gesicht schlug er sie aber nicht. Lange standen sie im Türrahmen und umarmten sich. Vater kochte Fleischbrühe für Mama. Er massierte ihr die Schultern und die Füße.

Mama wurde dicker und dicker, obwohl sie gar nicht so viel aß. Sie war fast so rund wie Frau Schneegas. Vater schien sich nicht darüber zu wundern.

Ich musste meinen Spielzeugschrank aufräumen. Mutter sortierte meine Sachen aus. Sogar meine Ziehharmonika wollte sie wegschmeißen.

„Die habe ich schon gesucht“, sagte ich, „Frau Schneegas hat gesagt, wir sollen alle unsere Musik mitbringen.“

„Dann bring sie zur Flurgarderobe“, sagte Mutter.

Gerettet, dachte ich und spielte darauf rum, bis Vater mit der Walze drohte. Er malerte mein Zimmer. Ich bekam ein neues Bett, ein richtig großes. Mein kleines Bett stellte Vater unters Fenster.

„Soll ich da meine Puppen reinsetzen?“

Vater lachte und sagte: „Du wirst schon sehen, wer darin schläft.“

Mama wurde noch runder. Sie ging nicht mehr, sie watschelte, und sie hielt sich bei jedem Schritt den Rücken. Eines Nachmittags schrie sie und hielt sich den Bauch. Sie stand plötzlich in einer Pfütze. Und ich dachte, bei mir schimpft sie immer, wenn ich in die Hosen mache. Vater rannte weg. Wohin weiß ich nicht. Er musste es sehr eilig haben, denn er hatte noch seine Pantoffeln an. Auch ließ er die Tür offen. Mama schrie immer lauter und ich hatte Angst. Ich weinte, obwohl ich tapfer sein wollte.

Vater kam zurück und er brachte zwei Männer mit, die ganz weiß angezogen waren. Sie kümmerten sich um meine Mama, während Vater mich zur Nachbarin brachte. Ich wollte aber bei Mama bleiben.

„Du bist jetzt unsere Große, also benimm dich“, sagte er, schnipste mit den Fingern und zeigte dann auf mich. Ich schnaubte in das Taschentuch, das die Nachbarin mir gegeben hatte. Sie sagte, es gäbe keinen Grund zu weinen.

„Ich habe gar nicht geweint“, sagte ich.

„Du schwindelst, du hast rote Augen“, sagte Frau Becker.

„Das war nur der Wind“, sagte ich.

Frau Becker lachte. Ich glaube, sie lachte mich aus.

Bis zum Abend spielte sie mit mir `Flieg mein Hütchen`. Dazu hatte sie eine Wolldecke auf dem Küchentisch ausgebreitet. In die Mitte hatte sie eine Plastescheibe gestellt, auf der Stäbe angebracht waren. Sie ragten in den Himmel, wie die Stuhlbeine unserer Küchenstühle, wenn Mama den Fußboden wischte. Mit einem Knopf musste man auf eine Öse drücken. Die Öse sprang davon. Wenn man Glück hatte, landete sie auf einem der Stäbe. Ich gewann fast jedes Spiel. Ich glaube, Frau Becker verlor absichtlich. Wir spielten, bis es dunkel wurde.

Frau Becker schaltete das Licht an. Sie räumte Spiel und Decke in den Schrank. Sie fragte mich, welchen Tee ich am liebsten trinke. Ich zuckte mit den Schultern. Sie nahm eine Tüte aus ihrem Küchenbüfett und schob den Wasserkessel in die Mitte der Ofenplatte. Ich wartete darauf, dass der Kessel pfeifen würde, aber sie nahm ihn vorher vom Ofen. Wenig später roch es in ihrer Küche nach Pfefferminz.

Ich durfte auch sagen, wie viele Scheiben vom Brot ich essen mochte, und ob ich Käse oder lieber Wurst auf dem Brot haben wollte. Mama fragte mich das nie. Vater auch nicht. Ich wusste nicht, ob es eine richtige und eine falsche Antwort auf die Fragen von Frau Becker gab, also schwieg ich und bekam Mettwurstbrot. Ich aß es auf, obwohl Mettwurst mir gar nicht schmeckte. Frau Becker sagte: „Alle Kinder essen gerne Mettwurst, stimmst?“ Sie nickte mir zu. Ich biss vom Brot ab und schluckte den Bissen runter, ohne zu kauen. Das machte ich immer so, wenn ich Mettwurstbrot essen musste.

„So jetzt hilfst du mir beim Abräumen und dann husch.“ Sie zeigte auf das Bett, das in der Kammer hinter der Küche stand. „Aber das ist doch dein Bett.“

„Ich schlafe auf dem Sofa. Dein Vater ist ein anständiger Mann“, sagte sie. „Er bleibt bei deiner Mutter, bis das Kind da ist.“

Ich erschrak so sehr, dass ich mich verschluckte und Frau Becker mir auf den Rücken klopfte, bis ich wieder Luft bekam.

„Was denn, das wusstest du nicht?“ Frau Becker kniff mich in die Wange.

„Hast wohl gedacht, deine Mutter hat einen Ball verschluckt.“

Ich stellte mir vor, wie man Mama den Bauch aufschnitt und ein Ball aus ihr heraus rollte. Ich dachte, ein Ball wäre mir lieber. Mit dem könnte ich wenigstens spielen.

 

 

*

 

 

Es dauerte lange, bis Mama wieder nach Hause kam. Vater holte sie ab und ich musste wieder zu Frau Becker. Wir spielten nicht `Flieg mein Hütchen`, weil ich auf dem Fensterbrett saß. Ich wollte Mama als Erste sehen und dann auf sie zu rennen. Sie würde mich hochnehmen und wir würden uns beide im Kreis drehen, so schnell als würden wir fliegen.

„Komm runter da, du fällst mir bloß“, sagte Frau Becker gerade, als ich Vater sah. Er trug Mamas Tasche. Mama lief hinter ihm her. Sie hatte ein Bündel auf den Armen, das mit Tüchern umhüllt war, wie der Stollenteig, wenn sie ihn zum Bäcker brachte. Aber dieses Bündel lag nicht auf dem Holzbrett.

Ich rannte ihnen bis zur Haustür entgegen. Mama beugte sich zur mir, drückte ihre Wange an meine.

„Sei vorsichtig“, sagte sie. „Du erdrückst sonst deine Schwester.“

Ich sollte mir meine Schwester anschauen. Sie schrie und sie war ganz rot. Sogar ihre Hände waren rot und schrumpelig. Mit ihrer schrumpeligen Hand umfasste meine Schwester den Zeigefinger meiner Mama.

„Sag guten Tag zu Sanne“, sagte Mama.

Ich lachte. „Was soll denn das für ein Name sein! Sanne, Sanne hat kein Licht an der Tanne“, rief ich.

Vater gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. Er nannte meine Schwester Suse. Ich nannte sie Sirene, weil sie so oft heulte, meist in der Nacht. Dann hätte ich ihr am liebsten mein Kopfkissen auf den Mund gedrückt. Mama eilte jedes Mal ins Zimmer, nahm sie auf den Arm, küsste ihre Stirn. Wenig später hörte ich meine Schwester leise schmatzen und ich sah Mamas Brustwarzen. Sie erschienen mir ungeheuer groß.

Manchmal, wenn ich allein war, schaute ich mir im Spiegel meine Brustwarzen an, und ich verstand nicht, warum Mamas Brustwarzen so groß waren. Ich dachte, daran ist Susanne schuld. Überhaupt war sie an allem schuld. Alles war anders, seit sie da war. Mama und Vater stritten sich oft. Sie schrien sich an, redeten aber sonst kaum miteinander.

Meine Schwester war auch daran schuld, dass ich beim Spielen im Kindergarten manchmal einschlief. Frau Schneegas rüttelte mich wach und schickte mich auf den Spielteppich zu den anderen Kindern. Wir spielten Bauplatz. Die Jungs hatten sogar Helme auf den Köpfen. Ich fand das Spiel blöd. Ich saß am Rand und schaute den anderen zu.

Als Mama kam, lief Frau Schneegas gleich auf sie zu. Sie flüsterten und Frau Schneegas zeigte auf mich. Ich dachte, Mama wird mit mir schimpfen. Sie nahm mich aber an die Hand und schwieg. Sie schwieg die ganze Zeit.

Abends stritt sie mit meinem Vater. Ich kroch nicht, wie sonst, unter die Bettdecke. Ich lauschte. Heimlich spielte ich den Schiedsrichter.

„Wir können das Bett doch auch ins Schlafzimmer stellen. Die Schneegas hat mich heute schon angesprochen, weil Solveig beim Spielen einschläft“, hörte ich Mama sagen.

Vater schrie. „Das kommt nicht in Frage. Ich muss lernen. Du wolltest, dass ich studiere. Ein Maurer ist dir ja nicht gut genug.“

„Und du wolltest das Kind“, sagte Mama. Vater sagte nichts mehr. Er ging einfach. So schnell hatte Mama noch nie gewonnen.

In der Nacht wurde ich wach, weil Vater schimpfte. Sein Schimpfen klang anders als sonst, irgendwie so, als würde er weinen. Er schlug auf irgendetwas ein. Es polterte und klirrte. Meine Schwester schrie. Mama stürmte ins Zimmer. Vater wankte hinterher.

„Verschwinde!“, sagte Mama. Vater zog und zerrte an ihrem Nachthemd. Ich sah wieder Mamas Brustwarze.

„Ich habe auch noch Bedürfnisse“, sagte Vater. Ich verstand nicht, was er damit meinte. Susanne schrie. Vater tobte. Ich zog mir das Kissen übers Gesicht und weinte heimlich. Ich dachte, alles wegen Susanne. Susanne war auch daran schuld, dass ich jetzt öfter mit Frau Becker `Flieg mein Hütchen` spielte. Aber das war nicht schlimm.

Es war auch nicht schlimm, dass ich jetzt gern in den Kindergarten ging. Inzwischen war ich in der großen Gruppe. Frau Schneegas nannte ich aber immer noch nicht Schneegans. Dazu hatte ich sie zu lieb.

Wenn wir draußen spielten, saßen alle Erzieherinnen auf der Bank. Obwohl ich in der großen Gruppe war, rannte ich oft zu Frau Schneegas. Manchmal durfte ich eine Weile auf ihrem Schoß sitzen. Die Jungen in meiner Gruppe lachten mich deshalb aus. Sie kreuzten beide Zeigefinger und sangen: „Zisch aus, zisch aus, leer dir mal die Hosen aus.“

Das war mir egal. Frau Schneegas sagte: „Du bist eben anhänglich.“ Sie hob mich von ihrem Schoß, zog mir die Mütze aus der Stirn und sagte: „Geh spielen!“

Meine neue Erzieherin, Frau Fröhlich, sagte: „Mit der kleinen Eckstein stimmt was nicht. Die ist kein Kind.“ Ich wusste nicht, warum sie das sagte. Vielleicht war es, weil ich nicht kletterte. Ich stieg immer nur bis zur dritten Sprosse, dann sprang ich vom Gerüst. Ich konnte auch nicht so schnell rennen wie die anderen. Was ich aber besser konnte als alle anderen, war singen.

Frau Fröhlich hatte ein Radio aus Pappe gebastelt. Das stellte sie auf das Fensterbrett. Dann schlug sie ein paar Mal aufs Tamburin und los ging der Sängerwettstreit. Ich war immer die erste am Radio. Ich drehte am Mantelknopf und sang. Meist sang ich die Schlager nach, die aus dem roten Radiokasten in unserer Küche kamen. Wenn Vater nicht zu Hause war, sangen Mutter und ich zusammen. Mutter schwenkte dann ihre Kaffeetasse und schunkelte mit mir.

Ich holte tief Luft und sang: „Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen.“ Das Wort ´geschehen´ sang ich ganz langgezogen. Das hatte ich zu Hause geübt. Weil Katja im Fernsehen das auch so gemacht hatte.

Frau Fröhlich gefiel das Lied aber nicht. Sie runzelte die Stirn und fragte mich, ob ich nicht ein anderes Lied singen möchte, eines, das ich bei ihr gelernt habe.

„Die klingen aber nicht so schön“, sagte ich. Ich musste mich setzen und ein anderes Kind stellte sich ans Radio. Als Mutter kam, ging Frau Fröhlich mit ihr in das Zimmer, in dem es immer nach Kaffee roch. Seitdem durfte ich nie wieder mit Mutter ‚Licht an, Spott aus` im Fernsehen gucken. Mutter sagte. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“

Auch Mutter sang immer seltener. Ich glaube, daran war auch meine Schwester schuld. Meist blieb das Radio aus, weil Susanne so laut schrie.

Mutter schnaufte oft, wenn sie Susanne wusch und wickelte. Sie rannte ständig vom Herd zum Wickeltisch. Ich sollte spielen oder malen oder runter in den Hof gehen. Im Hof lernte ich Mike kennen. Er war jünger als ich, aber größer. Deshalb behauptete Mike, er sei der Bestimmer. Ich ließ mir aber nichts sagen von ihm und so wurde ich der Bestimmer.

Ich dachte mir Spiele für uns aus. Wir spielten ´Mutter, Vater, Kind´, wobei ich der Vater sein wollte. Das gefiel Mike nicht. Deshalb spielten wir ´Cowboy und Indianer´ oder wir fuhren mit unseren Rollern um die Wette. Das gefiel mir aber nicht, weil ich immer verlor. Ich kam erst über die Ziellinie, also unter der Wäscheleine durch, als Mike schon die nächste Runde gedreht hatte.

Manchmal schaute Frau Becker aus dem Fenster, wenn wir um die Wette schimpften und dabei immer lauter schrien. Sie schüttelte den Kopf. Ihre grauen Locken wirbelten durcheinander und sie sagte: „Hört auf damit, auf der Stelle. Solch kleine Münder und so böse Worte. Passt nur auf, dass euch der Kellermann nicht hört. Der sperrt euch sonst da unten ein.“

Abends im Bett dachte ich mir Geschichten über den Kellermann aus. Ich erzählte sie Mike. Er lachte darüber, vermied es aber zur Kellertür zu schauen. Als seine Mutter ihn zum Essen rief, rannte er sofort zu ihr. Ich hatte keine Angst. In meiner Phantasie sah der Kellermann aus wie unser Essenkehrer, nur ohne Zylinder. Dafür trug er eine schwarze Kapuze, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Er trug immer eine Schaufel bei sich. Ich weiß nicht warum. Im Gesicht sah er ein bisschen aus wie mein Vater. Das sagte ich aber niemandem, nicht einmal Mike.

Wir spielten immer öfter Fangen und Verstecken. Wer den anderen fand, durfte ihn in den Keller sperren. Ich fand Mike öfter als er mich. Mike sperrte mich dafür länger im Keller ein. Das störte mich nicht. Ich spielte dann Kellergeist. Ich spukte, erschreckte andere Geister, die ich mir einbildete. Einmal beschmierte ich mir das Gesicht mit Kohlenstaub. Mike erschrak, als er mich aus dem Keller holte. Ein anderes Mal leckte ich Kohlenstaub. Ich schmierte mir auch meine Hände damit ein. Als Mike die Kellertür öffnete, rannte ich schreiend auf ihn zu. Mike erschrak so sehr, dass er zu seiner Mutter rannte und sein Zimmer den ganzen Nachmittag nicht wieder verließ. Von da an musste ich alleine spielen. Mike kam nur noch in den Hof, wenn ich nicht da war. Frau Becker sagte, das käme davon, wenn man die kleineren Kinder erschrecke. Sie sagte auch, dass sie enttäuscht von mir sei, weil ich mich gar nicht wie ein Mädchen benähme. Sie schien aber nicht böse auf mich zu sein, denn sie spielte immer noch mit mir `Flieg mein Hütchen`, wenn es regnete.

An meinem siebten Geburtstag schenkte sie mir sogar ihre Puppe. Sie hatte die Zöpfe der Puppe mit Schleifen geschmückt und ihr ein neues Kleid gestrickt.

„Sie heißt Ursula“, sagte Frau Becker. „Ursula war die einzige Puppe, die ich als Kind hatte. Ich habe sie immer mit in den Luftschutzbunker genommen.“

Ich wusste nicht, was ein Luftschutzbunker war. Ich fragte aber nicht. Ich drückte Ursula an mich und knickste, weil Frau Becker so feierlich gesprochen hatte. Eigentlich gefiel mir Ursula gar nicht. Ihr Gesicht war bleich, die Haare gingen ihr aus und man musste aufpassen, dass man sie nicht fallen ließ, denn sie war aus Porzellan.

Überhaupt hatte ich viele Puppen. Sie saßen die meiste Zeit auf einem Regalbrett, das Vater über meinem Bett angebracht hatte. Ich mochte keine Puppen. Ich beneidete die Jungs aus meiner Gruppe um ihre Kipperautos. Da konnte man wenigstens Sand aufladen und ihn woanders wieder abkippen. Ich stellte mir vor, ich würde Susanne auf so ein Kipperauto setzen und sie einfach woanders abladen.

 

 

*

 

 

Kurz nach meinem siebten Geburtstag kam ich in die Schule. Zur Schuleinführung musste ich weiße Strumpfhosen und einen bunten Rock anziehen. Auch bekam ich jetzt rote Lackschuhe. Mutter sagte, ich dürfe mit den Schuhen nicht stolpern, weil sie dann nicht mehr glänzen würden. Ich fragte, ob der Lack von den Schuhen dann abplatze. Mutter lachte wieder so, als hätte ich was ganz Dummes gesagt. Ich stolperte mit Absicht, weil ich die Schuhe nun nicht mehr tragen wollte.

Die meisten Kinder trugen jetzt Clogs. Clogs waren aus Stoff und fetzten mehr als Lackschuhe, das sagte ja schon der Name. Clogs hatten auch keine Schnürsenkel oder Schnallen. Man schlüpfte einfach hinein. Mutter sagte: „Solche Dinger kaufe ich dir nicht, davon bekommst du krumme Beine.“

Ich schaute mir die Beine der anderen Mädchen in meiner Klasse an. Manche sahen aus wie die Klammern, in denen Wörter versteckt waren. Und manche Mädchen hatten Beine ohne Waden. Ich trug also freiwillig meine Lackschuhe, obwohl mir die Clogs besser gefielen.

„Hör auf, so zu glotzen“, sagte Ina.

„Lass die doch, die ist nur neidisch“, sagte Gabi und kicherte.

Ich lächelte Ina und Gabi an. „Wen meint ihr denn?“

Sie wandten sich von mir ab. Ich fand sie sowieso doof, weil sie über meine Strickhosen lästerten. Mutter nannte sie Beathosen. Sie sagte: „Das ist modern so, und außerdem ist es praktisch.“

Ich schnitt absichtlich Löcher in die Hose. Mutter strickte sie jedes Mal wieder zu. Es war, als könne sie zaubern. Sie klapperte mit den Nadeln und schimpfte auf mich. „Pass auf, dass du nicht dauernd hängen bleibst. Oder gefällt es dir mit kaputten Hosen rumzulaufen?“, sagte sie.

„Das sind keine richtigen Hosen“, sagte ich. Zur Strafe bekam ich Fernsehverbot. Mutter war stolz auf diese Hosen, weil sie an die Seiten ein Zopfmuster gestrickt hatte.

„Das kann nicht jeder so akkurat stricken wie deine Mutter“, sagte Frau Becker.

„Dann soll Mutter die Hosen selber anziehen“, sagte ich und Frau Becker lachte.

Die anderen Mädchen in meiner Klasse trugen keine Strickhosen mit Zöpfen. Sie trugen Niethosen mit Schlag oder Stoffhosen, die wie Niethosen genäht waren. Marion und Kerstin hatten auch keine Niethosen, dafür aber selbst genähte Hosen aus Rundstrick. Sogar diese Rundstrickhosen sahen besser aus, als meine Strickzopfhosen.

In den Pausen standen wir am Fenster, oder wir saßen auf den Nachtspeicheröfen und stierten auf die Niethosenbeine. Die Aufsicht scheuchte uns jedes Mal vom Ofen.

„Erwische ich euch noch einmal, gibt es einen Eintrag ins Hausaufgabenheft.“ Zum Glück wechselte die Aufsicht jeden Tag.

Später waren uns die Hosen egal, weil es den Jungs egal war, welche Hosen oder Röcke oder Schuhe wir trugen. Sie neckten uns, spielten Fangen und Verstecken mit uns.

„Ihr seid nicht solche Streber wie die“, sagte Ronny. Das ´Die´ zog er so in die Länge, dass ich mir vorstellte, er zöge einen Kaugummifaden bis zu den anderen Mädchen.

In der Hofpause durften wir sogar Schiedsrichter sein, wenn er und die anderen Jungs Fußball spielten. Mitspielen durften wir aber nicht.

Nach der Schule ging ich manchmal mit zu Kerstin. Sie wohnte mit ihrer Mutter allein. Die Wohnung lag im Hinterhaus. Im Hof gab es wilde Katzen. Bis auf die zwei rothaarigen gefielen mir alle. Wir sollten die Katzen nicht anfassen und auch nicht füttern. Sie hätten die Räude, sagte eine alte Frau, die auch im Hinterhaus wohnte, aber trotzdem den ganzen Tag aus dem Fenster schaute.

Wir spielten Federball im Hof oder hüpften über ein Seil. Kerstins Mutter war nett zu mir. Manchmal brachte sie uns Kuchen oder Lutscher und Limonade, die sie selbst gemacht hatte. Sie ging nicht in die Fabrik, obwohl Kerstin keinen Vater hatte. Zu Hause erzählte ich von Kerstin und ihrer Mutter. Ich durfte Kerstin trotzdem nie zu mir einladen. Im Zimmer sei kein Platz. Wegen Sanne, sagte Mama.

Vater sagte, ich solle mit meiner Schwester spielen, anstatt fremde Leute anzuschleppen. Sanne war jetzt drei und lief mir dauernd nach. Manchmal schubste ich sie mutwillig. Dann saß sie auf ihrem Hintern und plärrte und ich hatte meine Ruhe, weil Mutter dann angerannt kam und sie tröstete.

Mamas Geburtstag war der letzte Tag im September. Frau Becker hatte es mir auf dem Kalender gezeigt. Sie malte einen roten Punkt unter das Datum und ich durfte den Kalender mitnehmen, damit ich nicht vergaß, für Mama etwas Schönes zu basteln. Frau Becker sagte, ich könne ihr auch einen Topflappen häkeln. Sie schenkte mir Wolle und eine Häkelnadel und begann damit Maschen zu legen. So nannte sie die Schlaufen, durch die sie dann den Faden zog. Ich stellte mich bewusst ein bisschen ungeschickt an. Frau Becker sollte nicht merken, dass ich das Häkeln schon gelernt hatte.

Mein Topflappen hatte nicht die quadratische Form, die er haben sollte. Mama freute sich trotzdem. Sie strich mir über den Kopf und sagte: „Der ist viel schöner so. Nicht so langweilig wie die anderen Topflappen.“ Sie hängte ihn aber nicht an den Haken neben dem Herd. Ich sah den Topflappen nie wieder.

Am Abend ihres Geburtstages rosterten wir im Hof. Vater entzündete die Holzkohle auf dem Rost, den er selbst gebaut hatte. Er trank Bier und pfiff einen Schlager. Manchmal spritzte er das Bier auch auf die Rostbrätel, obwohl Mama sie schon darin eingelegt hatte. Er briet auch Roster für Frau Becker und die Fischers aus dem Nachbarhaus und den Polsterer von gegenüber. Er sagte: „Für meine schöne Frau tue ich alles.“

Wir saßen auf den Küchenstühlen im Hof, um den Rost herum. Mama scheuchte mich auf, weil Sanne quengelig wurde. Ich sollte mit ihr Ball spielen oder ihr das Rollerfahren beibringen. Vater lobte mich dafür und auch dafür, dass ich mich so gut in der Schule mache, wie er sagte. Das war die Gelegenheit. Ich fragte, ob ich nicht endlich die Beathosen gegen echte Niethosen eintauschen dürfe.

Vater knallte den Teller auf die Stiege, die uns als Tisch diente. Das Geschirr klirrte. Am Hals seiner Bierflasche rutschte Schaum nach unten und tropfte auf den Boden. Er fasste mich am Kinn. Sein Griff war derb, aber ich heulte nicht, weil Susanne sonst wieder geweint hätte. „Ich arbeite Tag und Nacht um euch am Kacken zu halten. Und du hast nichts anderes zu tun, als um diesen Schnickschnack zu betteln.“

„Lass sie“, sagte Mama. Sie sprach leise. Sie sah Vater nicht an.

Als ich im Bett war, schrie Vater Mama an: „Du setzt ihnen diese Flöhe ins Ohr. Eine verwöhnte Brut seid ihr, alle drei.“

Ich hörte Glas klirren. Ich hörte Mutter weinen und kroch unter meine Zudecke. Es half nicht. Auch meine Schwester weinte jetzt. Ich legte mich zu ihr ins Kinderbett und erzählte ihr eine Geschichte. Nicht die vom Kellermann. Es war eine Geschichte von einem Mädchen, dass immer die schönsten Sachen bekam, und dessen Mutter immer Kuchen backte und zu all den Freunden des Mädchens nett war. Sanne schlief schnell ein. Ich hörte Mutter beim Weinen zu.

 

 

*

 

 

Wir saßen jetzt öfter im Hof. Vater hatte eine Bank aus Brettern und Leisten gebaut. Die Sitzfläche strich er rot, die Flanken und Füße gelb und die Lehne schwarz. Die Leute blieben vor dieser Bank stehen. Manche lachten, andere schüttelten die Köpfe, auch Frau Becker. Sie saß dann trotzdem beinahe jeden Nachmittag auf der Bank. Wahrscheinlich nannte Vater die Bank deshalb Rentnerbank. Auch rosterten wir öfter. Und die Erwachsenen spielten mit uns Federball, bis es dunkel wurde.

Sie tranken Schnaps und wir Limonade. Mir gefielen die Farben des Schnapses. Er schillerte blau, grün und orange in den Gläsern. Auch die Flaschen waren schön. Frau Wittmann bat darum, sie nicht wegzuschmeißen. „Ich sammle Bols-Flaschen. Die wird es hier bald nicht mehr geben.“

Ich schaute mir die leeren Flaschen an. „Warum trinkt ihr die Flaschen denn aus? Voll sind sie doch viel schöner“, fragte ich. Sie lachten über meine Frage und stießen auf mich an.

Mama schüttelte den Kopf. „Unsere Solveig wieder“, sagte sie und Vater stieß sie in die Seite. Frau Wittmann gab mir ihr Glas: „Trink mal einen Schluck.“ Ich hielt mir die Nase zu und trank. Ich bekam Gänsehaut und trank ein großes Glas Limo hinterher. Die Erwachsenen lachten auch darüber.

Mike lachte am lautesten. Er war wieder öfter im Hof. Wir spielten nicht Fangen und Verstecken, wir sperrten uns auch nicht im Keller ein. Wir spielten Federball. Eine Wäscheleine war unser Netz. Mike gewann fast jedes Spiel. Es störte mich nicht.

Mama sagte: „Unsere Solveig ist dumm und ängstlich. Die bringt es mal nicht weit.“ Sie lachte, aber mir war zum Heulen. Ausgerechnet meine Mama sagte so etwas über mich. Ich sah, wie sie Susanne über den Kopf strich und ich musste mehrmals schlucken.

Vater trank an jenem Abend noch mehr als sonst. Es wurde dunkel, wir saßen immer noch im Hof, auch Susanne. Sie rieb sich die Augen und quengelte.

Mutter sagte: „Rainer, die Kinder sind müde.“

Vater erhob sich, aber nur um sich noch ein Bier aus dem Kasten zu nehmen. „Dann geh doch hoch“, sagte er. Mutter blieb aber sitzen und nippte am Schnapsglas.

Ich legte Susannes Kopf auf meinen Schoß und erzählte ihr meine Geschichten. Ich dachte mir fast jeden Abend neue aus. Ein paar hatte ich schon in mein Schulheft geschrieben. Im Schreiben und Lesen war ich die Beste in meiner Klasse. Auch im Singen bekam ich immer eine Eins. Mama beachtete aber nur die Dreien, die ich im Rechnen bekam. Sie unterschrieb die Rechenarbeiten kopfschüttelnd. Wenn Vater dann nach Hause kam, sagte sie:

„Ich mache mir Sorgen um Solveig. Sie hat die Schlauheit nicht gerade mit Löffeln gefressen.“

Ich hörte, wie Vater ein Bier öffnete. Ich hoffte, er würde zu mir ans Bett kommen, mir einen Kuss auf die Stirn geben und über Mama lachen. Früher hatte er das manchmal getan.

Jetzt hörte ich ihn schimpfen.

„Sind eben nicht alle so schlau wie du“, sagte er. „Immer musst du alles schlecht machen. Geh in dein Scheißbüro. Da kannst du mit deinem Chef über unsere Dummheit herziehen.“

Er wurde immer lauter und betitelte Mutters Chef als Nichtsnutz und Sesselfurzer. Eigentlich war Mutters Chef immer nett zu mir. Neulich schenkte er mir eine Sparbüchse, ein Haus mit einem Schlitz im Dach. Über den Fenstern stand das Wort Sparkasse. Ich sollte mein Taschengeld dort hineintun und es zählen. Dann würde ich auch das Rechnen besser lernen. „Darauf kommt es an im Leben“, sagte er und strich mir über den Kopf, was mir aber nicht gefiel. Das durfte nur mein Vater. Aber Vater kam immer seltener an mein Bett. Überhaupt kam er immer später nach Hause und dann stritten sie, um Geld und um Susanne und mich. Mutter nannte mich Vaters Goldpüppchen. Vater schrie, sie werde aus Susanne auch einen Sesselfurzer machen. Sie stritten, wenn wir neue Kniestrümpfe oder Schuhe brauchten. Sie stritten wegen meiner Zensuren im Rechnen. Sie stritten auch, wenn Susanne oder ich am Essen rummäkelten. Mutter sagte immer, Susanne sei der reinste Sonnenschein gegen mich. Ich hatte Angst, sie wollten mich loswerden. Ich stellte mir vor, sie würden mich einfach vergessen, bei einem der Waldspaziergänge, die wir manchmal unternahmen. Ich erzählte Kerstin davon und sie petzte es ihrer Mutter.

Frau Slotkowicz lud mich zu einem Picknick ein. Sie schmierte aber keine Brote. Sie kochte auch keinen Tee und machte keine Limonade. Stattdessen nahm sie Kerstin an die eine und mich an die andere Hand. Sie ging mit uns in den Wald. Sie zupfte Kräuter und Blüten und sagte, das könne man essen. Es sei sehr nahrhaft. Ich tat nur so, als würde ich die Blätter und Halme runterschlucken. Ich verzog mich ins Gebüsch, pullerte und spuckte das Zeug dabei wieder aus.

Frau Slotkowicz ging mit uns ans Flussufer. Sie schöpfte Wasser mit den Händen und trank es. „So jetzt weißt du, wie du im Wald überleben kannst.“

„Und was mache ich im Winter?“, fragte ich.

Frau Slotkowicz überlegte eine Weile. „Dann trinkst du eben Schnee“, sagte sie. „Ohne Essen kommt man schon eine Weile aus.“

Ich fragte, woher sie das wisse.

„Meine Mutter hat es mir beigebracht. Sie musste das wirklich durchmachen. Und sie hat es überlebt.“

Ich staunte. Auch Kerstins Mund stand offen.

 

Meine Angst war nicht mehr so groß. Aber sie war immer noch da. In den Geschichten, die ich mir vor dem Einschlafen ausdachte, bauten sich Kinder Hütten aus Holz und Laub. Sie besiegten den Waldschrat und kämpften gegen wilde Tiere. Ich erzählte sie Mike.

Er sagte: „Du spinnst.“ Da wollte ich nicht mehr mit ihm spielen. Aber dann tat er mir leid, weil sie seinen Vater abholten. Es waren drei Männer. Sie trugen keine Uniformen. Es sah trotzdem aus, als würden sie marschieren. Sie schritten direkt auf Büchners Wohnungstür zu, klingelten, klopften, zeigten Ausweise und betraten die Wohnung. Ich versteckte mich im Hausflur. Es dauerte gar nicht lange, bis sie mit Mikes Vater zurückkamen. Herr Büchner lief zwischen den Männern. Es sah aus, als müssten sie ihn halten, weil er dauernd stolperte. Die Hände hatte er auf dem Rücken. An seinen Handgelenken glänzten silberne Armreifen. „Handschellen“ nannte es Frau Becker.

Ich sah Mike am Küchenfenster. Er schaute seinem Vater nach. Er drückte die Stirn gegen die Scheibe und weinte das Fensterglas nass. Als mein Vater davon erfuhr, ging er runter in den Hof und zerhackte die Bank, obwohl es Nacht war und die Axtschläge im Hof hallten.

Wenig später zogen Mike und seine Mutter in eine andere Stadt. Jetzt stand ich am Küchenfenster und weinte. Ich würde Mike nie besuchen können, weil seine Mutter niemandem die neue Adresse verriet. Warum wusste ich nicht. Auch Frau Becker zuckte mit den Schultern, als ich sie danach fragte.

Wir saßen nur noch selten im Hof. Vielleicht weil es keine Bank mehr gab.

 

 

 

*

 

 

Dieser Sommer sei besonders heiß, sagte Frau Becker. Sie trug nur ihre Unterwäsche unter der Schürze. Trotzdem musste sie dauernd ihre Brille abnehmen, um sich den Schweiß vom Gesicht zu tupfen. Ich rollte meine Kniestrümpfe runter. Susanne tat es mir nach.

Mutter schimpfte darüber: „Rollt eure Strümpfe hoch. Die Rolle drückt auf eure Adern. Ihr bekommt Krampfadern.“ Sie zog Susannes Strümpfe hoch bis über die Knie.

Ich hörte nicht auf Mutter. Ich zog meine Strümpfe aus und lief barfuß, wenn sie nicht hinsah.

Am Morgen der Zeugnisausgabe band Mutter mir das Halstuch um. Ich hatte den Pionierknoten oft geübt, konnte ihn aber immer noch nicht. Mutter schaute mich ernst an. Sie zog sogar die Stirn in Falten. „Wird schon nicht so schlimm werden“, sagte sie.

Zeugnisausgabe war in der letzten Stunde. Vorher bekamen wir von den Lehrern vorgelesen. Wir hatten den Spruch mit bunter Kreide an die Tafel geschrieben: „Es ist schon immer so gewesen, am letzten Schultag wird vorgelesen.“

Die Lehrer schmunzelten und hatten tatsächlich Märchenbücher oder Tiergeschichten dabei.

Vor der letzten Stunde gab es noch eine Hofpause. Wir blieben auf der Treppe vor der Eingangstür stehen. Ich stand mit Kerstin und Doreen ganz oben. Wir rätselten, was die Patenbrigade wohl für Überraschungen mitbrachte.

„Bestimmt bloß Bücher, die keiner lesen will“, sagte Doreen.

Ich will, dachte ich. Aber das sagte ich nicht.

Elke stupste mich in die Seite: „Du bekommst sowieso nichts davon ab. Das ist nur für die guten Schüler.“

Elke war die beste Schülerin der Klasse. Wir ließen sie stehen, gingen runter zu den anderen. Wir lästerten über Elkes Frisur. „Die hat bestimmt eine Ratte im Zimmer, die ihr jede Nacht die Haare anfrisst“, sagte Doreen.

Elke schien unsere Spötterei zu hören. Sie beugte sich vornüber, streckte uns die Zunge raus und verlor dabei das Gleichgewicht. Sie stürzte die Treppe runter, lag im Dreck und weinte. Wir lachten. Die Hofaufsicht rannte auf sie zu. Es war der Werklehrer. Er trug Elke ins Lehrerzimmer. Wenig später stand die Direktorin auf der Treppe. Sie schaute sich kurz um, packte Kerstin und mich am Arm und nahm uns mit. Elkes Gesicht war mit Pflastern beklebt. Ihre Lippen bluteten noch. Sie tupfte das Blut mit einem Taschentuch ab, wischte sich mehrmals die Augen trocken.

Wir sollten uns bei ihr entschuldigen. „Aber sie hat angefangen“, sagte ich.

„So!“, sagte die Direktorin. Sie glaubte mir nicht. Das sah ich an ihrem Blick.

„Sie hat mich beleidigt, hat gesagt, ich bin schlecht in der Schule.“

„Stimmt doch“, rief Elke. Ihre Lippe platzte wieder auf. Sie tupfte und guckte, als würde sie gleich sterben. Kerstin wickelte den Saum ihres Rockes um ihren Finger. Ich stupste sie in die Seite. „Sag du auch mal was“, flüsterte ich.

Es klingelte. Wir mussten Elke die Hand geben. Ich drehte das Gesicht zur Seite und berührte nur ganz kurz ihre Hand.

Wir rannten in unser Klassenzimmer. Unsere Klassenlehrerin fragte nicht, warum wir zu spät kamen. Sie nickte nur und wir setzten uns. Das heißt, Elke und Kerstin setzten sich. Ich blieb stehen, vor Schreck. Mein Vater saß in der letzten Reihe. Er trug seinen Anzug und einen roten Schlips mit dickem Knoten. Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Sonst sah ich ihn immer nur im Arbeitsanzug, von dem der Mörtel bröckelte.

Bei meinem Eintreten hob er das Kinn. War Vater stolz auf mich? Oder wollte er mich gleich auf dem Heimweg bestrafen? Als ich mein Zeugnis bekam, klatschte er als einziger. Elke hatte aber recht gehabt, ich bekam kein Buchgeschenk von der Patenbrigade, wegen der Drei in Mathe.

Als wir die Schule verließen, strich Vater mir über den Kopf, dann schimpfte er:

„Eigentlich wollte ich mit dir Eis essen gehen. Das hast du dir versaut. Man schubst nicht andere Schüler von der Treppe.“

Ich holte tief Luft. „Aber!“

„Mutter braucht davon nichts zu wissen. Reicht, wenn sie die Drei in Mathe sieht.“ Er flüsterte, als könne Mutter uns hören. Ich drückte seine Hand. Er sagte: „Bist eben nach mir geraten. Da kann man nichts machen.“

 

Erst am nächsten Morgen begriff ich, dass ich jetzt für acht Wochen nicht in die Schule musste. Ich schaute mir auf dem Kalender von Frau Becker an, wie lange acht Wochen waren. Dann nahm ich Anlauf und sprang zurück in mein Bett. Susanne wurde munter. Zum Glück heulte sie nicht. Sie lachte sogar. Ich legte den Zeigefinger über die Lippen und machte: „Pscht.“ Sie saß im Bett, versteckte sich unter ihrer Zudecke und kicherte.

Ich lag mit dem Gesicht zur Wand und stellte mir vor, wie es sein würde, acht Wochen lang jeden Tag Federball zu spielen, Eis zu essen, Baden zu gehen, Bücher zu lesen. Acht Wochen lang keine Hausaufgaben zu haben, acht Wochen lang nicht in das kluge Gesicht von Elke zu schauen. Acht Wochen würde Mutter keinen Grund haben, das Gesicht zu verziehen, wenn sie mein Hausaufgabenheft kontrollierte. Es würde kein Hausaufgabenheft geben und auch keine Dreien oder Vieren im Rechnen.

Mutter weckte mich trotzdem. „Träum dich aus, Solveig. Ich muss um acht im Büro sein.“ Sie schüttelte den Kopf: „Weißt du doch.“

„Aber ich muss nicht in die Schule.“ Ich drehte Mutter den Rücken zu. Sie klopfte mir auf den Hintern. „Aber in den Hort.“ Ich stand auf. Wenigstens durfte ich meine Stromerklamotten anziehen. Für die Ferienspiele sei das das Richtige, sagte Mutter.

Ferienspiele? Spielen konnte ich doch auch zu Hause.

An der Kreuzung gab Mutter mir einen Kuss auf die Stirn. Dann ging sie mit Susanne in den Kindergarten. Sie lief so schnell, dass Susanne rennen musste. Ich stand vor dem Horttor, hörte die anderen und setzte mich auf die Treppe vor dem Eingang. Ich hatte keine Lust auf Ferienspiele, was auch immer das sein mochte.

Elke kam an der Hand ihrer Mutter. Sie verpetzte mich bei der Hortnerin. Frau Gräfe trat vor die Tür. Sie sagte nichts, nahm mich an die Hand und ging mit mir rein.

„Hast du denn keine Hausschuhe mit?“

Ich schüttelte den Kopf. Sie schob den Vorhang vom Schuhregal zurück und zog ein paar Pantoffeln aus dem Regal. Jungspantoffeln! Im rechten Schuh war ein Loch, dort wo die große Zehe anstieß. Diese Pantoffeln würde ich nicht anziehen. Sie waren dreckiger als meine Straßenschuhe und sie stanken. Das konnte ich riechen, ohne mich zu bücken. Ich schüttelte den Kopf.

„Dann darfst du nicht rein“, sagte Frau Gräfe.

„Will ich auch nicht.“ Ich setzte mich auf die Bank und verschränkte die Arme vor der Brust.

Frau Gräfe schloss die Eingangstür ab, schob den Schlüssel in ihre Hosentasche und ging. Ich saß eine Weile nur da. Ich dachte, irgendwann muss sie aufschließen, dann springe ich raus und mache meine eigenen Ferienspiele. Es kam aber niemand mehr. Ich fegte alle Schuhe aus dem Regal und band wahllos Schnürsenkel zusammen.

Die Hortnerin schaute nach mir. Sie fasste sich an die Stirn, dann packte sie mich am Arm und drückte mich auf die Bank. Sie rief nach einer Sabine. So heißt meine Mutter auch, dachte ich. Vor mir stand eine Frau, die ihre Haare zu Affenschaukeln geflochten hatte. Sie runzelte die Stirn, als sie die Schuhe sah.

„Sabine, du passt auf, dass sie die Schuhe entknotet und geputzt wieder ins Regal stellt.“ Sabine prustete. Sie setzte sich zu mir. Bis zum Mittag hatte ich damit zu tun, die Knoten zu lösen und die Schuhe zu putzen. Die Hortnerin hatte mir sogar Schuhcreme und Bürste gebracht. Sabine half mir nicht, auch nicht beim Einräumen des Regals.

So hatte ich mir die Ferien nicht vorgestellt. Ich träumte von Federball und Baden gehen und Eis essen. Ich dachte mir eine Geschichte für Mutter aus. Sie musste erfahren, wie schlimm es war, in die Ferienspiele zu gehen.

Die Hortnerin kam mir zuvor. Sie passte Mutter an der Tür ab. „So ein schlechtes Benehmen können wir hier nicht dulden. Wenn das alle Kinder machen würden“, sagte sie und erzählte Mutter von den Schuhen. Ob sie solche Unarten zu Hause dulden würde, wollte sie wissen. Mutter nickte immer nur. Mit mir sprach sie den ganzen Abend nicht. Ich durfte auch keinen `Professor Flimmrich` im Fernsehen anschauen. Susanne bekam ein Eis, ich nicht. Zum Abendbrot bekam Susanne gebratenen Leberkäse mit Ei, mein Lieblingsessen, neben Eis und Schokolade. Ich bekam Mettwurstbrot.

Nach dem Abendessen schlug Mutter mein Rechenbuch auf. Sie kreuzte Aufgaben an.

„Die löst du, und zwar alle! Eher gehst du mir nicht ins Bett.“

Ich saß noch am Tisch, als Vater von der Schwarzarbeit nach Hause kam. Er schaute erst Mutter, dann mich an. Er sagte nichts, tröstete mich auch nicht. Er öffnete sich ein Bier und trank einen Schnaps dazu. Sein Gutenachtkuss schmeckte wie das bunte Zeug aus den schönen Bols-Flaschen.

 

Am nächsten Morgen zog Mutter die Vorhänge auf, obwohl es noch nicht hell war. Ich zog die Decke über den Kopf. Sie rief nach mir. Ich hörte, wie Susanne aus ihrem Kinderbett kletterte. Ich regte mich nicht. Mutter rief noch einmal nach mir. Ich blieb unter der Zudecke, obwohl die Luft knapp wurde. Mutter stürmte ins Zimmer. Sie entriss mir die Decke. Ich drehte mich zur Wand, rollte mich zusammen. Sie drohte mit noch mehr Rechenaufgaben. Ich stand auf, sagte nicht Guten Morgen, aß auch nichts vom Kuchen, der auf meinem Teller lag. Mutter räumte das Kuchenblech zurück ins Schlafzimmer. Dort stand es immer, oben auf dem Kleiderschrank. So konnte ich nur heimlich naschen, wenn es mir gelang, einen der Küchenstühle ins Schlafzimmer zu zerren und hoch zu klettern.

„Jammere mir ja nicht, du hättest Hunger.“

Ich schüttelte den Kopf: „Ich esse nur, wenn ich nicht in den Hort muss.“ Ich sagte es mit weinerlicher Stimme. Mutter lächelte trotzdem.

Sie drückte mir meine Stoffturnschuhe in die Hand. „Damit du nicht wieder fremde Hausschuhe anziehen musst.“

Sie hatte nicht einmal Zeit, mir den üblichen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie eilte mit Susanne davon. Ich hörte Susanne jammern und Mutter schimpfen. Ich war froh, dass ich nun allein gehen durfte. Mir kam der Gedanke, einfach wieder umzukehren. Aber ich hatte keinen Schlüssel für die Wohnung. Außerdem bog Elke gerade in unsere Straße ein, an der Hand ihrer Mutter.

Ich eilte voraus. Ich war eher im Hort als sie. Die Tür ließ ich zufallen, obwohl ich Elke und ihre Mutter schon auf dem Treppenabsatz sah. Ich zog meine Turnschuhe an, räumte meine Straßenschuhe ins Regal, zog den Vorhang zu.

Die Hortnerin schaute mir auf die Füße: „Das sind doch keine Hausschuhe.“

Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Das hatte ich vor dem Spiegel geübt, damit Elke Angst vor mir bekäme.

Ich musste meine Füße anheben und die Schuhsohlen zeigen. „Na schön, lass sie an“, sagte Frau Gräfe.

Lange hatte ich die Turnschuhe aber nicht an. Gleich nach der Begrüßung und dem Morgenlied mussten wir wieder unsere Straßenschuhe anziehen und in Zweierreihen antreten. Ausgerechnet Elke ging neben mir. Wir sollten uns anfassen. Ich zog meine Hand weg, immer wieder. Elke rief nach Frau Gräfe. Sie wollte petzen. Ich stieß sie in die Seite und schaute sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Elke biss sich auf die Lippen, schwieg.

Wir liefen über den Spielplatz, gingen durch einen Park und hielten vor einem Gebäude aus rotem Backstein. Über der Eingangstür hingen geschwungene Buchstaben aus Metall. Die Hortnerin fragte, wer das Wort lesen könne. Ich kniff die Augen zusammen, las erst jeden Buchstaben einzeln und setzte sie dann in Gedanken zusammen.

„Puppentruhe!“, rief ich. Die Hortnerin sah mich an, nickte. Sie beriet sich mit Sabine.

„Du darfst mitspielen“, sagte Sabine. Sie lächelte so, dass ihre Mundwinkel fast die Affenschaukeln berührten.

Ich bekam Herzklopfen, weil mir niemand sagte, was wir spielten.

Wir gingen hinein. Die anderen Kinder nahmen im Saal Platz. Sie saßen in Klappsesseln, die mit rotem Samt bezogen waren.

„Wehe einer von euch klebt Bonbons an den Sitz. Ist das klar!?“ Sie nickten, stierten zur Bühne, auf der nur ich stand. Ich, ganz alleine. Ich fror und ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen tun sollte. Meine Strickhosen hatten keine Taschen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, dachte aber, dass das blöd aussehen müsse.

Ich legte die Hände an die Hosennaht oder besser gesagt, an die Strickzöpfe meiner Hose. Fehlt bloß noch der Pioniergruß, flüsterte es in mir. Zwei Männer trugen einen Tisch auf die Bühne. Sie stellten ein Papptheater darauf und schoben eine Kiste hinter den Tisch. Sie verließen die Bühne und ich war wieder allein. Ein anderer Mann kam, legte seine Hand auf meine Schulter und schob mich hinter das Papptheater. Er öffnete die Kiste und gab mir eine Handpuppe. Er selbst nahm sich für jede Hand eine. Er hatte den Kasper und einen Hund, ich hatte ein Mädchen mit blonden Wollhaaren, das mich an Elke erinnerte. Der Mann sagte, ich solle einfach tun, was mir einfalle. In meinem Bauch rumorte es und ich schnappte nach Luft.

„Keine Angst“, flüsterte er. Er fing an zu pfeifen und ließ den Kasper am Rand des Theaters hin und her tänzeln. Kaspar drehte sich immer wieder um und rief nach seinem Hund.

Ich ließ meine Elke hinter ihm her rennen und sagte: „Das ist mein Hund.“

Puppenelke hielt den Hund jetzt fest. Kaspar drehte sich zu uns um.

„Du weißt ja gar nicht wie er heißt“, sagte Kaspar und zeigte mir, also Puppenelke, eine lange Nase.

„Pfiffi“, sagte ich. Wir jagten uns, stritten uns, hauten uns sogar. Meine Puppenelke verlor beim Hauen ein Auge. Es rollte über die Bühne. Meine Mitschüler lachten und kreischten. Puppenelke war nun auf Kaspars Hilfe angewiesen und auch der Hund musste nach dem Auge schnüffeln. Am Ende waren sie Freunde. Meine Mitschüler klatschten laut und lang und der Mann sagte, ich sei ein Naturtalent.

Als Mutter und Susanne mich abholten, wies die Hortnerin auf meine Turnschuhe. „Hat sie keine Hausschuhe?“

Mutter rieb sich die Nasenwurzel. „Ich sehe nicht ein, ihr extra für die Ferienspiele welche zu kaufen. Ich kann das Geld nicht drucken.“

Ich kicherte. Zu Hause hätte sie nicht drucken, sondern scheißen gesagt. Das sagte sie immer, wenn sie mit Vater stritt. „Ich arbeite bis in die Nacht um euch am Kacken zu halten“, sagte Papa dann. Mutter seufzte nur. Dieses Seufzen musste Paps sehr wehtun, denn es hieß, hättest du doch dein Studium geschafft.

Ich erzählte Mutter nichts von der Puppentruhe. Auch nicht, als sie fragte, was wir den ganzen Tag gemacht haben.

„Wir haben Rechnen geübt“, sagte ich und verdrehte die Augen. Mutter nickte. Das fand ich komisch. War ich auch ein Naturtalent im Lügen?

Sanne quengelte, weil sie Pipi musste. Vielleicht hatte Mutter mir deshalb nicht zugehört. Trotzdem, sie hatte genickt. Also keine Rechenaufgaben am Abend. Seit der Puppentruhe überlegte ich, wie ich mir solche Handpuppen basteln könnte. Mit ihnen würde ich meine Geschichten nicht nur erzählen, sondern auch spielen.

„Mama, muss ich denn wirklich die ganzen Ferien in den Pantoffelhort?“

„Wir fahren ja auch noch in den Urlaub“, sagte sie.

„Wohin denn?“

Susanne fing an zu heulen. Mutter drückte mir ihre Tasche in die Hand.

„Du rührst dich nicht vom Fleck“; sagte sie. Sie schnappte Susanne, trug sie in eine Einfahrt und ich sah Susannes weißen Hintern und dazwischen einen Pipistrahl. Ich rührte mich aber doch. Ich wechselte die Straßenseite. Konnte Susanne nicht endlich aufhören, ein Baby zu sein!

„Mit mir hättest du geschimpft“, sagte ich,

„Deine Schwester ist auch erst Vier.“

Als wir nach Hause kamen, lag Papa auf der Couch im Wohnzimmer. Ich stürmte zu ihm, plapperte los. Ihm wollte ich alles von der Puppentruhe erzählen. Er sagte etwas, das ich nicht verstand, es klang wie Plage. Er drehte sich zur Wand, rülpste, schnarchte dann.

„Komm da weg“, rief Mutter.

Ich rüttelte an Papas Arm. „Lasst mich!“, sagte er. Ich rannte in mein Zimmer. Dort schimpfte ich mit meinen Puppen, bis Mutter kam und fragte, was ich denn zu schimpfen hätte, Susanne bekäme Angst davon. Susanne, Susanne immer nur Susanne. Ich verkroch mich im Schrank unter der Fensterbank und erzählte mir selbst eine Geschichte.

Ich hörte Mutter und Vater schimpfen, obwohl ich die Schranktür geschlossen hatte. Vater sprach wieder mit dieser weinerlichen Stimme und seine Zunge stieß an den Zähnen an. Susanne kam weinend ins Zimmer. Als sie sah, wie ich aus dem Schrank kroch, lachte sie aber. Ich malte Gesichter auf meine Fingerkuppen und spielte Puppentheater. Susanne schaute eine Weile zu, dann heulte sie wieder, weil Vater und Mutter noch lauter schrien.

Ich las ihr etwas aus meinem Heft vor. Draußen wurde es plötzlich still. Ich lauschte. Waren sie gegangen? Ich spähte in die Küche. Zwei Zigaretten qualmten im Aschenbecher. Daneben standen leere Gläser, an deren Rand ich die Abdrücke ihrer Lippen sehen konnte. Am Boden der Gläser klebte das orange Bolszeug.

Mutter rauchte nur, wenn sie sich sehr aufregte oder für eine Prüfung lernte. Vater rauchte immer, sogar wenn Susanne oder ich auf seinem Schoß saßen. Mutter schüttelte dann den Kopf und nahm ihm die Zigarette weg. Vater stieß uns vom Schoß und steckte sich eine neue Zigarette an.

 

Durch das Glas der Stubentür sah ich die Schatten meiner Eltern. Sie standen dicht beieinander. Ich stellte mir vor, Vater würde Mutter erstechen oder Mutter Vater. Das hatte ich heimlich im Fernsehen gesehen. Ich hämmerte gegen das Türglas. Ich stürmte ins Zimmer. Mutter und Vater waren nackt. Eine Hand meines Vaters umschloss Mutters große Brustwarze. Vielleicht waren ihre Warzen deshalb soviel größer als meine. Mutter legte einen Arm auf ihre Brust. Mit der anderen Hand bedeckte sie ihre Muschi. Ich sah trotzdem, dass ihre Muschi schwarz war.

„Verschwinde!“, schrie Vater. Er sprach noch immer so komisch. Zwischen seinen Beinen schaukelte eine Wurst und ich musste lachen. Mutter sagte, ich solle gehen und die Tür zu- machen. Auch sie sprach anders als sonst.

Erst als ich aus der Stube rannte, merkte ich, dass Susanne hinter mir stand. Der Rotz lief ihr aus der Nase. Sie heulte schon wieder oder immer noch. Ich wusch ihr das Gesicht und nannte sie Heulsuse. Dann stieg ich in den Keller und holte den Wurstteller. Wir aßen Wurst ohne Brot, soviel wir wollten. Später holte ich die Rosinen aus dem Küchenschrank und wir warfen sie uns gegenseitig in den Mund.

Mutter und Vater sahen wir an diesem Abend nicht mehr. Ich hörte sie nur atmen. Ich weiß nicht, warum sie so laut atmeten. Manchmal sprachen sie auch oder husteten.

Ich zog Susanne das Nachthemd an, kämmte ihr die Haare. Zähneputzen fiel aus, auch bei mir. Den Geschmack der Rosinen wollte ich solange wie möglich im Mund behalten. Susanne sagte: „Das war zöhn.“ Noch immer verwechselte sie sch und z beim Sprechen. Ich strich ihr über den Kopf. Sie schlief schnell ein. Ich dachte an mein Puppentheater.

 

Ich erwachte erst, als schon die Sonne ins Zimmer schien. Ich schaute nach Susanne. Sie musste schon aufgestanden sein. Aus der Küche drang leise Musik und ich hörte das Klappern von Geschirr. Ich stand auf, ging im Nachthemd in die Küche. Sie saßen am Frühstückstisch, alle drei, kauten, schlürften, sprachen nicht. Vater sah nicht mal auf, als ich kam. Ich sah trotzdem, dass seine Augen rot und geschwollen waren.

„Na, auch endlich wach“, sagte Mutter. Warum hatte sie mich nicht geweckt? Ich hatte Hunger auf Kuchen. Ich setzte mich an den Tisch, langte zum Teller. Mutter schlug mir auf die Hand. „Habe ich nicht gesagt, du sollst dich erst anziehen, dir das Gesicht waschen und Zähne putzen?“

Du warst gestern auch nicht angezogen, dachte ich.

„Nun lass sie doch heute mal“, sagte Vater. Er sprach durch die Zähne. Als er aufsah, bemerkte ich, dass die Haut um sein rechtes Auge nicht nur rot und geschwollen war, sondern blau, grün und lila schillerte. Vater sah schnell wieder auf seinen Teller.

Ich werde dich nie wieder Paps nennen, dachte ich.

„Vater und Mutter“, murmelte ich, während ich mir kaltes Wasser ins Gesicht warf und mir die Zähne putzte. Ich verbrannte mir die Zunge am Kakao, den Mutter mir einschenkte, als ich angezogen am Tisch erschien.

„Was bist du auch so gierig“, sagte sie. Sie begann den Tisch abzuräumen und ich schluckte meinen Kuchen schnell runter und legte mir noch ein Stück auf den Teller. Vater nahm eine Zigarette aus der Schachtel, obwohl im Aschenbecher noch eine qualmte. Mutter drückte sie aus. Vater nahm den Bodenschlüssel vom Haken.

„Es ist Sonntag, wir werden doch einen kleinen Ausflug machen“ sagte Mutter. Vater sagte, er habe keine Sonnenbrille. Er ging und ich wusste, er ging auf den Boden. Susanne lief zum Fenster. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Keine Sonne.“

Mutter nahm sie an die Hand, sah aber zu mir und sagte: „Zieh dir was Hübsches an. Wir gehen wenigstens spazieren.“ Ich wollte nichts Hübsches anziehen, weil Mutter die Kleider hübsch fand, die ich überhaupt nicht mochte. Sie waren inzwischen so kurz, dass man den Rand meiner Schlüpfer sehen konnte. So etwas trugen nur Kindergartenkinder. Ich war aber ein Schulkind und nach den Ferien würde ich schon in die zweite Klasse gehen.

„Aber...“ Mutter zog die rechte Augenbraue hoch und rieb sich die Nasenwurzel. „Ich muss was für die Schule basteln.“

„Es sind Ferien.“

„Na eben. Für diesen blöden Pantoffelhort.“

„Dann geh auf den Boden und lass dir von deinem Vater helfen. Ich gehe mit Sanne Eis essen.“

Das sagte sie bestimmt nur, um mich zu ärgern.

Vater stand am Schraubstock. Er hatte aber nichts eingespannt, zwischen den Backen war nur Luft. Als er mich sah, versteckte er etwas. Er drückte mich an sich. Ich machte mich los. Sein Atem stank noch schlimmer als sonst nach dem Bolszeug, und er sprach so, als würde er gleich einschlafen.

„Sie gehen“, sagte ich. „Und du sollst mir helfen.“

„Was denn helfen?“

„Ich muss ein Puppentheater bauen und solche Puppen auch.“ Ich ließ meine Finger zappeln. Vater nickte. Er setzte sich auf einen Schemel, wollte mich auf seinen Schoß ziehen. Ich machte mich steif. Er trank einen Schluck aus einer Flasche, die er unter der Werkbank versteckt hatte. Das Zeug sah aus wie Wasser, stank aber noch schlimmer als das bunte Zeug.

„Hör mal, du bist doch schon groß“, sagte er. Ich nickte. „Du musst mir versprechen, dass du niemandem sagst, was du gestern gesehen hast. Alle machen das, weißt du, aber niemand redet darüber, weil das keinen was angeht.“

„Aber die anderen haben nicht so ein Auge wie du.“

„Deine Mutter und ich, wir haben uns eben sehr lieb, mehr als die anderen. Und da passiert so was schon mal.“ Ich nickte, obwohl ich das nicht verstand. Als Mike und ich uns hauten, hatte ich ihn gar nicht lieb. Ich fragte aber nicht. Bestimmt hätte Vater dann nie mehr mit mir über so etwas geredet.

Ich sah mich auf dem Boden um. Ich durchwühlte Schränke und Truhen, fand alte Schulbücher. Bestimmt waren die von Mutter oder Vater. Pappe oder etwas Brauchbares fand ich aber nicht. „Haben wir denn keine Pappe, oder so was?“

Vater saß zusammengesunken auf dem Schemel. Er stierte vor sich hin. Im Schraubstock war noch immer Luft zwischen den Backen. Warum war er überhaupt auf den Boden gegangen, wenn er nichts zu werkeln hatte? Frau Becker sagte immer: „Dein Vater werkelt wohl wieder.“ Und runzelte dabei die Stirn, dass ihr die Brille von der Nase rutschte.

Ich zog Vater am Arm. Ich wollte, dass er von diesem Schemel aufstand, aufhörte zu stieren und endlich wieder lachte und mich neckte und mit mir Pappe und Stoff suchte. Ich rieb meine Wange an seinem Arm, die Härchen kitzelten. Vater strich mir über den Kopf. „Wir müssen zusammen halten, wir zwei“, sagte er.

„Was ist denn nun mit meinem Theater?“

„Scheint dir ja wichtig zu sein“, sagte er. Er stand vom Schemel auf, stieß ihn dabei um.

Er hielt sich an der Werkbank fest. „Wann brauchst du es denn?“

Ich antwortete nicht. Ich beobachtete eine Taube, die auf dem Dach war. Sie schiss genau auf die Fensterluke. Es wurde noch dunkler in der Bodenkammer. Vater hatte kein Licht gemacht. Vielleicht wollte er hier oben heimlich schlafen.

Ich zeigte auf das zugeschissene Fensterloch und lachte. Vater lachte nicht. Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken ständig die Augen. Ich schob eine Kiste an die Werkbank und setzte mich. Jetzt saß ich ihm gegenüber. Ich sah ihn aber nicht an, weil ich sonst auf das grün-blaue Auge geschaut hätte, dass mir Angst machte. Ich erzählte ihm vom Puppentheater. Vater nickte immer nur. Ich hatte gehofft, er würde sich freuen und mit mir das Theater bauen und auch mit mir spielen. Er wäre natürlich der Kasper. Allerdings, Puppenelke wollte ich nicht noch einmal sein, dann schon lieber ein Hund.

„Du gehst jetzt runter und malst das erst mal auf“, sagte er. „Weißt du, um etwas zu bauen, braucht man eine Zeichnung. Ich überlege in der Zeit, wie wir es machen.“

Er zwickte mich in den Arm, sagte: „Capito?“ Ich nickte, rannte los, drehte mich aber noch einmal um: „Warum malen wir denn nicht zusammen? Dann weißt du gleich, wie ich es meine.“

„Du sollst nicht malen, sondern zeichnen“ schrie er. Ich zog die Schultern hoch und ging. Die letzten drei Treppenstufen nahm ich mit einem Sprung. Frau Becker erschien im Hausflur. Sie hatte sich die Haare eingedreht und trug ein Netz über den Lockenwicklern.

„Du sollst nicht immer so rennen, schlägst noch lang hin. Warum geht ihr denn nicht baden?“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Dein Vater ist wieder oben, stimmt’s?“ Sie deutete mit dem Zeigefinger nach oben. Ich nickte. „Nicht gut“, sagte sie. Ich verstand nicht, was sie meinte. Wahrscheinlich tratschte sie nur. Das sagte Mutter manchmal und ich glaube sie meinte, Frau Becker redet dummes Zeug.

 

Mutter und Susanne waren schon zurück. Mutter stand am Herd. Sie wies mit dem Kopf zum Kühlschrank. Vater hatte ihn von seinem Schwarzarbeitergeld gekauft. Er war nicht neu, aber das war egal. Mutter war glücklich. Sie ging nun nur einmal in der Woche zum Fleischer und wir mussten die Wurst nicht mehr im Keller lagern, wo die Mäuse und Ratten sie anfraßen.

Wir haben dir ein Eis mitgebracht“, sagte sie. Ich wollte zum Kühlschrank, Mutter hielt mich fest. „Schau mich an.“ Ich schaute auf ihre Halskette, an der ein Kleeblatt aus Silber hing.

„Was du gestern gesehen hast, das behältst du für dich, verstanden!“