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Jonathan Blake soll im Auftrag eines Geheimdienstes den Aufenthaltsort eines Mörders ermitteln. Eine schwierige Aufgabe, denn Blake hat keine Anhaltspunkte außer einem undeutlichen Foto.
Aber im Vordergrund des Fotos ist ein Mädchen zu erkennen - klar und deutlich...
Der Roman Falsche Namen und Gesichter von John Newton Chance (*1911; † 3. August 1983) erschien erstmals im Jahr 1974; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
John Newton Chance
Falsche Namen
und Gesichter
Roman
Apex Crime, Band 129
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
FALSCHE NAMEN UND GESICHTER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Jonathan Blake soll im Auftrag eines Geheimdienstes den Aufenthaltsort eines Mörders ermitteln. Eine schwierige Aufgabe, denn Blake hat keine Anhaltspunkte außer einem undeutlichen Foto.
Aber im Vordergrund des Fotos ist ein Mädchen zu erkennen - klar und deutlich...
Der Roman Falsche Namen und Gesichter von John Newton Chance (*1911; † 3. August 1983) erschien erstmals im Jahr 1974; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1975.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das Mädchen im Vordergrund sah fröhlich und lebendig aus; ihr sorglos frisiertes, blondes Haar und die lachenden, braunen Augen strahlten so viel Vitalität aus, als würde sie im nächsten Augenblick zu sprechen beginnen - obwohl es sich doch nur um ein zweidimensionales Bild handelte.
Vielleicht kam es daher, dass sie sich besonders eindrucksvoll gegen den düsteren Hintergrund abhob - denn dort, hinter ihr, im Schatten, stand ein Mann. Er trug einen langen, konturenlosen, schwarzen Mantel, der zum größten Teil von den Schultern des Mädchens verdeckt wurde. Eine Hand, eine seltsame Klaue mit gebogenen Fingern, fasste nach ihr, als wollte sie die rechte Schulter des Mädchens packen.
Nur an der Körperhaltung, der Hand, den Schultern und der Kopfform war zu erkennen, dass es sich um die Gestalt eines Mannes handeln musste; sonst deutete nichts weiter auf das Geschlecht des düsteren, verwischten Schattens hin.
Denn der Mann hatte kein Gesicht. Was man sah, erinnerte an einen gefüllten Sack, mit ein paar Schatten dort, wo sich die Augenhöhlen befinden mussten, und einem verwischten Strich für den Mund.
»Das Ganze erinnert mich an ein Ektoplasma, ein konturenloses Gespenst, das hinter einer allzu eifrigen Spiritistin auftaucht«, sagte ich.
»Das haben Sie wieder einmal treffend ausgedrückt, alter Junge«, antwortete die Frau und drückte auf den Knopf am Projektor.
Danach waren noch einige weitere Fotos auf der Leinwand zu sehen, aber sie unterschieden sich nicht wesentlich von dem ersten. Die strahlende Vitalität des Mädchens wurde womöglich noch ein wenig deutlicher, und die Gestalt des Mannes hinter ihr schien zugleich noch mehr an Prägnanz zu verlieren.
»Das ist alles«, sagte Joy zuletzt und schaltete den Projektor ab, so dass die Leinwand nur noch eine hell schimmernde Fläche in dem dunklen Zimmer war.
Ich langte nach meiner Schreibtischlampe und knipste sie an.
»Und wofür das Ganze, wenn man fragen darf?«, sagte ich.
Joy brachte eine Pfeife aus ihrer Tweedjacke zum Vorschein und stopfte sie mit Tabak aus einem Beutel, der so aussah, als sei er eine zweckentfremdete Geldbörse aus der Zeit von Queen Victoria.
»Für Sie, mein Junge«, erwiderte sie und nickte dabei, als amüsiere sie meine Verwirrung über alle Maßen.
»Ich komme nicht ganz mit - aber das Mädchen würde mir vermutlich recht gut gefallen.«
»Liza Grimaldi«, sagte Joy und steckte ihren Tabaksbeutel weg.
»Italien - oder London, East End?«
»East End, das Land der hoch in den Himmel ragenden Konservenfabriken und der weiten Ebenen für Protestversammlungen aller Art. Aber eigentlich meine ich nicht diesen Teil vom East End. Es gibt nämlich immer noch das wirkliche East End, ein fast schon vergessener Stadtteil, wo die Menschen noch Menschen sind, wo sie einander kennen. Einzelne, versprengte Viertel der alten Wohngegend, wo man in engen Straßen beisammen wohnt, Rücken an Rücken mit dem Nachbarn, und mit einem Klo auf dem Hinterhof neben der alten Wäschemangel. Wellington Street Nummer zweiundzwanzig in Wapping.«
Ich betrachtete die kleine, vierschrötige Frau in ihrer Tweedjacke und dem Rock aus grobem, grauem Tweed, ihren Schuhen mit den flachen Absätzen, dem nach hinten gekämmten Haar, das zu einem Knoten aufgesteckt war. Die Karikatur einer passionierten Reiterin, mit Ausnahme ihrer leuchtend blauen Augen, die zu lachen verstanden, während der Mund zugleich nur kaum merklich zuckte. Diese erstaunliche Art zu lachen zeigte sie auch diesmal, während sie mich über die Rauchschwaden aus ihrer kleinen Pfeife hinweg betrachtete.
Ich fühlte mich ausgesprochen unbehaglich.
»Hören Sie, das Foreign Office verhandelt mit mir normalerweise nicht um Mitternacht in der Prärie«, sagte ich. »Außerdem dachte ich, Sie kennen längst jeden in unserem Land, der nicht in unser Land gehört.«
»Wir kennen jeden, aber wir wissen manchmal nicht, wer er ist«, sagte sie freundlich. »Wie Ihnen bekannt ist, arbeiten wir häufig bei solchen Detailfeststellungen mit der Spezialabteilung beim Scotland Yard zusammen. Aber in diesem Fall wissen auch unsere Kollegen vom Yard nicht, wer er ist. Also sind wir auf Sie gekommen. Genau gesagt, weil ein alter, gemeinsamer Freund Sie uns empfohlen hat - vor allem deshalb, weil Sie einmal zusammen mit einem Mann namens Griswold eine Bank ausgeraubt haben.« Sie kicherte.
»Das höre ich zum ersten Mal«, erwiderte ich. »Ich hab’ mir zwar schon hier und da ein paar Sporen verdient, aber nicht in den Gewölben einer Bank, soweit ich mich erinnere. Und ich kenne auch niemanden, der Griswold heißt.«
»Vielleicht hat er sich inzwischen einen neuen Namen zugelegt.«
»Ach, auch das noch. Die Sache wird von Minute zu Minute klarer, wie mir scheint. Und was hat dieses Mädchen damit zu tun?«
»Wir wollen nur wissen, wer der Mann ist, der hinter ihr steht.«
»Meine sehr verehrte Dame, ich bin zurzeit bei einer höchst respektablen Firma als Industrieberater beschäftigt...«
»Industriespionage«, unterbrach sie mich und rauchte still vor sich hin.
»Ich kenne keinen Griswold. Der Mann bei der Spezialabteilung, der mich Ihnen empfohlen hat, ist vermutlich Bogey Shifnal, ein Mensch, der anscheinend so sehr an meinem raschen Ende interessiert ist, dass er mich allen möglichen Leuten empfiehlt, die in einer besonders gefährlichen Sache einen Freiwilligen fürs Himmelfahrtskommando brauchen.«
»Na, wenn schon? Sie sind doch unverheiratet, oder? Sie sind ein unabhängiger Mensch. Sie brauchen sich weiß Gott keine Sorgen zu machen.«
»Meine Haut, so wenig attraktiv sie auch manchen Vorkommen mag, ist wahrscheinlich die einzige, die ich jemals bekommen werde. Und wenn ich auch hier und da unter hohem Blutdruck leide, habe ich doch noch keine Lust, mir diese köstliche Flüssigkeit mit Formaldehyd wechseln zu lassen.«
»Sie haben eine viel zu düstere Phantasie«, sagte sie. »Zunächst geht es ja nur darum, das Mädchen zu finden.«
»Warum? Ist sie verschwunden?«
»Nein. Aber wenn Sie das Mädchen besser kennen, werden Sie auch das gesichtslose Ungeheuer hinter ihr, den ektoplasmischen Bruder, finden.«
»Hat sie denn einen Bruder?«
»In dem Umschlag auf Ihrem Schreibtisch finden Sie die knappen Details. Eine jüngere Schwester, die Mutter, Vater gestorben. Die Mutter ist eine Art Sekretärin und Laufmädchen bei einer Baufirma. Liza führt elektrische Schreibmaschinen und ähnliche Geräte vor.«
»Als da wären?«
»Wir haben keine genaueren Informationen.« Sie grinste.
»Und in wessen Auftrag führt sie das Zeug vor?«
»Eine Großhandelsfirma in Aldgate. British Mains Equipment. Sie gehört einem Pakistani und einem jüdischen Mitbürger namens Levi. Beide sind inbrünstige kapitalistische Kommunisten, aber relativ inaktiv, wie wir annehmen. Auf politischer Ebene, natürlich.«
»Alle Kommunisten sind Kapitalisten, und ich bin obendrein auch noch Fatalist. Aber das soll Sie nicht bekümmern. Ich versuche nur, mir darüber klarzuwerden, wie und wo ich etwas mit einem Griswold zu tun haben konnte. Sind Sie sicher, dass er sich Griswold nannte - damals, als er mit mir in Beziehung stand?«
»So lautet der Name in Ihrer Akte...«
»Meine Akte? Wo habe ich denn eine Akte?« Ich richtete mich auf.
»Bogey Shifnal hat eine kleine Privatkartei«, sagte sie. »Die war uns schon oft sehr nützlich.«
Ich hatte schon den einen oder anderen Auftrag für Bogey erledigt, und er hatte mir auch schon manchmal helfend unter die Arme gegriffen, aber ich hatte gehofft, er würde sein Wissen über mich in seinem Kopf aufbewahren. Es gefiel mir gar nicht, dass er stattdessen eine höchst undezente Akte angelegt hatte, die schließlich alle möglichen Leute in die Hände bekommen konnten.
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte sie. »Ich kann mir gut vorstellen, was Sie jetzt denken, aber wir haben schließlich alle irgendwo unsere Akten. Speziell in unserer Abteilung. Die Leute bei uns essen mit Akten, schlafen mit ihnen, saugen sie in sich ein statt Whisky und errichten ihnen zuliebe ganze Büros. Als ob Sie das nicht wüssten.«
»Aber niemand versucht, Druck auf mich auszuüben, oder?«
»Natürlich nicht. Niemand kann Sie zwingen, uns zu helfen. Auch, wenn es, wie in diesem Fall, um das Wohlergehen unseres Landes geht. Aber Sie sind in unseren Augen so etwas wie ein Soldat im Glied.«
»Sie vergessen: Wenn ein Soldat im Glied gegen seinen Befehl aufmuckt, wird er nicht selten erschossen.«
»Dann ist es eben nicht ratsam, gegen seinen Befehl aufzumucken - ganz einfach, mein alter Junge.«
»Sie sind wirklich die blutdürstigste alte Hexe, die ich je kennengelernt habe.«
»Das glaube ich kaum, mein Junge. Denken Sie doch einmal an Laura und Flo, an Janet und Maureen...«
»Was wissen Sie über die?«, fragte ich leicht entsetzt.
»Nichts. Aber ihre Namen stehen auch in der Akte, das ist alles, alter Junge.«
Ich lehnte mich zurück und versuchte, mich zu entspannen. Das war die einzige Haltung, die ich gegenüber solchen Eröffnungen einnehmen konnte. Und ich wechselte das Thema.
»Warum ist dieser Mann so wichtig?«
»Es ist wichtig für uns zu wissen, wer er ist, weil wir wissen, dass er ein - sagen wir, ein Liquidator ist.«
Ich schaute sie scharf an.
»Ein Profi-Killer?«
»So kann man es auch ausdrücken, alter Junge.«
»Solche Leute sind mir höchst unsympathisch.«
»Sie sind doch gut als Revolverschütze, oder?«
»Nicht, wenn der Gegner auch einen Revolver hat. Meine Hand zittert dann leicht.«
»So einfach wird es freilich nicht sein«, sagte sie. »Es geht bestimmt nicht um ein Revolverduell. Wir müssen wissen, von wem er hergeschickt wurde, um andere zu liquidieren. Das ist sehr wichtig.«
»Also soll ich ihn erst bei seinen reizenden Taten beobachten und danach erschießen?«
»Keineswegs. Die Sache ist wesentlich komplizierter.«
»Hören Sie, für solche Dinge haben Sie schließlich Ihre Spezialisten. Warum kommen Sie zu mir, einem Angestellten bei einer ehrenwerten Firma, und organisieren eine revolverschwingende Konkurrenz?«
»Es gibt da eine Möglichkeit, die ich vorhin schon angedeutet habe, alter Junge. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Sie entweder den Killer kennen, oder den Mann, den er liquidieren soll.«
»Das könnte mir behilflich sein, wenn ich mich aus der Schusslinie drücken will. Andere Vorteile kann ich darin kaum entdecken.«
»Seien Sie doch einmal im Leben ernst, alter Junge.«
»Ich meine es todernst. Wenn dieser Mann hierhergekommen ist, um zu morden - warum legen Sie ihm dann nicht einfach das Handwerk?«
»Das wissen Sie ebenso gut wie ich. Er kennt unter anderem unsere leitenden Mitarbeiter. Wir wollen nicht mit solchen Lappalien in Verbindung gebracht werden, verstehen Sie? Sie finden heraus, wer er ist und weshalb er hergekommen ist, woraus wir auch seine Gründe erkennen können - und wenn nicht, dann müssen Sie diese auch herausfinden, basta.«
»Also mache ich mich an die Arbeit, kaufe mir eine elektrische Schreibmaschine und flirte von da an mit dem Mädchen, bis mir jemand die kalte Nase einer Luger in den Nacken drückt.«
»Das kann ich Ihnen natürlich nicht versprechen, alter Junge«, sagte sie. »Es könnte ebenso gut eine russische Kanone, ein chinesischer Knallfrosch oder ein Assegai sein. Wer kann das schon in diesem Stadium erraten? Sehen Sie, das eben ist unser Problem, alter Junge. Wir wissen zu wenig.«
»Also noch einmal klar und deutlich: Hat meine Firma etwas damit zu tun?«
»Nein. Nur Sie allein. Aber Sie können gern den Namen Ihrer Firma mitbenützen, vorausgesetzt, man erfährt hier nicht, was Sie wirklich tun. Sie werden sich eben ein paar Tage unbezahlten Urlaub geben lassen.«
»Ich muss aber eine Kontaktstelle haben.«
»Sie können mich über Null-Einundzwanzig erreichen. Ich bin auf jeden Fall dort. Und sollten Sie den Mann gefunden haben, dann töten Sie ihn erst, wenn es gar nicht anders geht. Sobald wir ihn kennen, wäre es nützlich, wenn wir ihn noch eine Weile frei arbeiten ließen.«
Ich sah eine ganze Reihe von Problemen vor mir, aber nicht diejenigen, die sich mir später tatsächlich stellten.
»Dieser Mann...« Ich deutete auf die Leinwand. »Trug er eine Maske, hatte er sein Gesicht bandagiert, oder was?«
»Wir nehmen an, das Foto ist lediglich unscharf.«
»Aber es sieht so aus, als wollte er nach dem Mädchen greifen.«
»Er steht in Wirklichkeit einige Meter hinter ihr. Das können Sie natürlich nicht sehen. Außerdem sitzt das Mädchen in einem Sessel. Passen Sie auf, ich zeige Ihnen die Fotos noch einmal.«
Und sie schaltete den Projektor wieder ein. Es sah so aus, als hätte sie recht, und als befinde sich zwischen dem Mann und dem Mädchen ein Abstand von mehreren Metern. Ansonsten fand ich nicht mehr heraus als beim ersten Betrachten der Fotos.
»Warum ist er überhaupt auf den Fotos drauf?«, fragte ich. »Die Bilder wurden doch in einem Innenraum geknipst. Er kann also gar nicht zufällig ins Bild gekommen sein. Das Mädchen sieht so aus, als würde es darauf warten, dass der Verschluss der Kamera klickt.«
»Die Antwort darauf interessiert Sie, nicht wahr, alter Junge? Also, machen Sie sich auf die Socken, diese und ein paar weitere Antworten zu finden.«
»Wann soll ich damit beginnen?«
»Sofort.«
»Man kann doch nicht mitten in der Nacht eine elektrische Schreibmaschine kaufen.«
»Es heißt, in Aldgate kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit alles nur Erdenkliche kaufen.«
»Ich weiß nur so viel von diesem Stadtviertel, dass Jack-the- Ripper dort gelebt hat, und dass dort die Morde auf der Ratcliff Flighway stattfanden. Außerdem ist mir der Limehouse Blues ein Begriff. Keine sehr aktuelle Auswahl aus meinem Allgemeinwissen.«
»Ihr Allgemeinwissen wird sich erstaunlich schnell erweitern, alter Junge«, sagte sie. »Das können Sie mir glauben.«
»Oh, daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt«, antwortete ich.
Kurz nach 3.30 Uhr begann ich mich in der Gegend von Aldgate umzusehen. Ich näherte mich dem Kern des Viertels durch eine Gegend mit neuen Wohnblöcken, angesichts derer ich mich, wie schon so oft, fragte, ob man wegen solcher Architekten nicht doch die Todesstrafe wieder einführen sollte. Doch hinter dieser tristen Betonopulenz begann die Welt früherer Zeiten, eine Welt aus alten, schmalen Straßen, Geschäften und dem berühmten Pub an der Ecke.
In einer dieser Straßen fand ich die Mains Equipment Company, einen alten Laden mit zwei Schaufenstern, in denen Waschmaschinen, Staubsauger, Schreib- und Rechenmaschinen herumstanden, und zwar nebeneinander und teilweise noch originalverpackt.
Unter der Glasscheibe der Tür hing ein Schild: Nur für Wiederverkäufer.
Ich hatte einen Stadtplan bei mir und suchte unter einer Straßenlaterne die Wellington Street. Sie verlief genau hinter dem Geschäft, also in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Das erklärte vermutlich, weshalb das Mädchen diesen Job erhalten hatte, aber vielleicht erklärte es auch eine Reihe von anderen Dingen.
Während ich die Karte betrachtete, öffnete sich die Tür des Ladens. Ein Mann beugte sich heraus und holte ein paar Milchflaschen von der Türschwelle. Ich sah, wie er mich betrachtete, obwohl ich so tat, als würde ich ihn gar nicht sehen, und als wäre ich ganz in meinen Stadtplan vertieft.
»Verlaufen?«, fragte der Mann.
»Ja, und je öfter ich diesen Plan anschaue, desto weniger kenne ich mich aus.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
Ich blickte auf und ging dann zu ihm hinüber.
Seine Brille mit der Nickeleinfassung funkelte in dem Licht der Straßenlampe. Er hatte sein Haar glatt nach hinten gekämmt, einen Schnurrbart unter der Nase und Augen, die mich an halbierte, harte Eier erinnerten, und plötzlich wurde mir klar, dass er genau wie Dr. Crippen aussah.
»Ich suche ein Haus in der Wellington Street, aber zuvor möchte ich noch eine Kneipe finden, wo ich eine Tasse Tee und einen Bissen zu essen bekommen kann.«
»Wellington Street?« Er zischte die Konsonanten, als ob er ein wenig lispelte, und sprach das W in Wellington wie ein V aus, so dass ich vermutete, ich hatte es mit Mr. Levi persönlich zu tun. »Teufel, Teufel!« Er schlug sich auf den Bauch. »Das ist ja genau hinter meinem Haus. Ich meine, die Wellington Street. Wen wollen Sie denn dort besuchen?«
»Eine Miss Grimaldi.«
Er lachte, aber seine Augen waren aufmerksam und neugierig hinter den dünnen Brillengläsern.
»Ihr Problem ist gelöst«, sagte er. »Kommen Sie rein. Trinken Sie eine Tasse mit mir. Sie haben nämlich noch eine lange Wartezeit vor sich, mein Freund. Ist es eine geschäftliche Sache?«
Die Augen waren so klein und glänzend wie Johannisbeeren.
»Man hat uns den Auftrag gegeben, nach ihr zu forschen. Vielleicht bedeutet es eine angenehme Botschaft für Miss Grimaldi, aber das muss sich erst noch heraussteilen.«
»Oh, dann sind Sie also ein Detektiv, der für einen Rechtsanwalt arbeitet«, sagte er und nickte. »Und Sie sind es gewohnt, zu dieser Nachtzeit zu arbeiten, weil Sie in Scheidungsfällen auch um diese Zeit unterwegs sein müssen, wie?« Er lachte. »Kommen Sie rein.«
Er drehte sich um und ging voraus in den dunklen Laden. Auf der Rückseite brannte ein Licht in einem offenen Durchgang.
Wir betraten ein Wohnzimmer, in dem zahllose Stapel von Papier die Möbel zierten. Die Einrichtung sah so aus, als sei sie von dem letzten und dem vorletzten Besitzer übernommen worden. Und die Papierstapel sahen aus wie Rechnungen, Kontoauszüge und Werbematerial.
Er schlurfte in die Küche, die an den Wohnraum grenzte. Ich hörte ein leises Knallen, dann das Zischen des Gaskochers, und als er zurückkam, blies er das Streichholz aus, das er in der Hand hatte. Er schlurfte, weil er uralte Hauspantoffeln trug, die ihm mindestens um drei Nummern zu groß waren.
»Miss Grimaldi arbeitet für unsere Firma«, sagte er und zerrieb das Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie führt die Schreibmaschinen vor. Hervorragende elektrische Ausstattung. Breiter Wagen. Vielleicht können Sie Ihre Firma dafür interessieren. Die Mädchen schreiben doppelt so schnell wie auf einer anderen Maschine.«
Ein Pfeifkessel machte sich bemerkbar, und Mr. Levi schlurfte wieder hinüber in die Küche.
Dann kam er zurück mit zwei Tassen kochend heißem Tee, der so stark war, dass man die Tür damit hätte streichen können. Er schaufelte acht oder neun Löffel Zucker in seine Tasse und trank dann, als würde er das dicke Gebräu durch den Schnurrbart sieben.
»Ah! Gut, dieser englische Tee.« Er nickte genießerisch.
»Ist Miss Grimaldi oft unterwegs, um die Maschinen vorzuführen?«, fragte ich.
»Oh, ja, die meiste Zeit. Wir haben einen Jungen, der die Maschinen transportiert, und sie fährt in irgendein Büro. Er bringt die Maschine, sie führt sie vor. Ein sehr geschicktes Mädchen. Sie verkauft viele Maschinen. Der Preis ist aber auch extrem günstig.«
Er setzte seine Tasse ab, stand auf und durchsuchte einen Stapel von hochglänzenden Blättern, zog eines heraus und legte es vor mich auf den Tisch.
»Nehmen Sie das in Ihre Firma mit«, sagte er. »Ich mache Ihnen einen Sonderpreis, einschließlich des breiten Wagens, wie ihn die Anwälte brauchen.«
»Ich werde meinem Chef darüber berichten, aber Sie wissen ja: Anwälte bekommen alles zu einem ganz besonderen Rabatt.«
»Schufte, Vagabunden, Taugenichtse«, schimpfte Levi. »Ich habe früher auch Rechtsanwälte beschäftigt. Aber jetzt verteidige ich mich lieber selbst, wenn es darauf ankommt. Es ist billiger, und man verliert ja ohnehin, also arbeitet man wenigstens in die eigene Tasche.«
»Hatten Sie schon viele Prozesse?«, fragte ich.
Seine Augen funkelten; er bedachte mich mit einem scharfen Blick. Dann trank er wieder einen Schluck Tee, ehe er sich entschied, dass er es wagen konnte, mir noch mehr zu verraten.
»Ich füge mich nicht gern, verstehen Sie«, sagte er. »Und es gibt Zeiten, wo es gegen das Gesetz ist, wenn man sich nicht fügt.« Er zuckte mit den Schultern. »Bisher lief es allerdings nur auf Geldstrafen hinaus. Mein Partner dagegen, Bhutta Gen, ist in der Hinsicht weniger glücklich. Er hat bereits zwei Gefängnisstrafen bekommen, auf Bewährung allerdings. Es wäre höchst unangenehm, wenn er sitzen müsste, das habe ich ihm oft genug gepredigt. Aber er ist ein unhöflicher Mensch. Sein Englisch ist gut, aber ich bin sicher, er hat als erstes die unhöflichen Wörter gelernt, denn die gehen ihm am leichtesten über die Zunge.«
»Wohnen Sie beide hier?«
»Nein. Das ist meine Wohnung. Er hat mehrere Frauen. Das ist auch so eine Sache, die ihm eines Tages eine Gefängnisstrafe einbringen wird, aber wenn ich ihn davor warne, kommt er nur wieder mit seinen Unhöflichkeiten.«
»Wofür ist er denn verurteilt worden?«
»Widerstand gegen die Staatsgewalt, was sonst? Er geht zum Demonstrieren... Mit lauter solchen verdammten Transparenten, und zwei Fingern hochgehoben gegen die Polizei, und ich sage ihm, das ist verrückt, aber nein. Er tut es immer wieder. Gerade zum Trotz.«
Er schien absichtlich darauf hinzuarbeiten, dass ich die beiden für harmlose Gesetzesbrecher hielt, für unermüdliche Liberale, mit denen ich sympathisieren würde.
Plötzlich hörte ich eine bellende Stimme von oben, aus dem ersten Stock. Ein durchdringender Kontraalt, der an das Muhen einer Kuh erinnerte, später aber deutlicher wurde, während sich die bellende Stimme näherte.
»Mose, Mose, wo bist du denn? Der Mann ist hier, Mose. Um Himmels willen, möchtest du, dass wir in unseren Betten erschlagen werden? Der Mann ist hier! Mose!«
In diesem Augenblick platzte eine sehr große Frau ins Zimmer, die sich einen Pelzmantel als provisorisches Negligé um die Blößen hielt - eine Frau, die aussah wie eine pelzverbrämte Galionsfigur.
»Mose, ich sage dir...«
Dann sah sie mich, und augenblicklich verschwand ihr Ausdruck panischer Angst. Sie strahlte mich an.
»Ach so, du hast Besuch, wie nett. Guten Morgen. Sie müssen eine Tasse Tee trinken. Nicht das Zeug, das sich Mose braut. Das ist höchstens gut, um den Weg damit zu teeren. Ich mache Ihnen einen Spezialtee, den Sie nicht vergessen werden, denn ich sehe, dass Sie ein Mann mit Geschmack sind...«
Währenddessen segelte sie hinaus in die Küche, und wieder hörte ich das puffende Geräusch und danach das Zischen des Gasbrenners. Mose trank fast ununterbrochen Tee durch seinen Schnurrbart und beobachtete mich über den Rand der Tasse hinweg.
Seine Frau strahlte, segelte herum, sprach vom Tee und vom Wetter, vom Geschäft und der Synagoge, vom Rabbi und von Schreibmaschinen, und alles in einem so lebhaften Ton, dass man nicht umhin konnte, ihr zuzuhören.
Nur von einem sprach sie nicht mehr, nämlich von dem Mann, der sie zunächst so beunruhigt zu haben schien. Der Mann, der sie beide in ihren Betten töten würde.
Allmählich wurde es richtig interessant.
Mose hatte mich zweifellos eingeladen, weil er fürchtete, ich sei hinter einem seiner Geheimnisse her, und weil er annahm, ein Feind, den er im Auge behielt, sei weniger gefährlich als ein Feind auf der anderen Seite seiner Schwelle.
Aber bei diesem Unterfangen war es geschehen, dass ich zufällig mitbekam, wie gefährlich der Besuch eines weiteren, bisher unsichtbar gebliebenen Mannes für ihn sein konnte.