WENN DIE TOTEN SPRECHEN - John Newton Chance - E-Book

WENN DIE TOTEN SPRECHEN E-Book

John Newton Chance

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jonathan Blake pflegte stets seine Termine einzuhalten. Es gab schon viele Treffpunkte in seinem Leben, aber keiner war so ungewöhnlich wie das einsame englische Waldhaus.

Statt Tee und Kekse am offenen Kamin erwarteten ihn dort - zwei Tote!

 

»Ein Meister des Unheimlichen, Makabren, und zugleich ein moderner Autor.«

- Evening Standard

 

Der Roman Wenn die Toten sprechen von John Newton Chance (*1911; † 3. August 1983) erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1974.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

John Newton Chance

 

 

Wenn die Toten sprechen

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 228

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

WENN DIE TOTEN SPRECHEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Jonathan Blake pflegte stets seine Termine einzuhalten. Es gab schon viele Treffpunkte in seinem Leben, aber keiner war so ungewöhnlich wie das einsame englische Waldhaus.

Statt Tee und Kekse am offenen Kamin erwarteten ihn dort - zwei Tote!

 

»Ein Meister des Unheimlichen, Makabren, und zugleich ein moderner Autor.«

- Evening Standard

 

Der Roman Wenn die Toten sprechen von John Newton Chance (*1911; † 3. August 1983) erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1974.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   WENN DIE TOTEN SPRECHEN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der Nachmittagshimmel war grau und wolkenverhangen, die Bäume trugen buntes Herbstlaub. Die fast windstille Luft roch nach Holzrauch. Irgendwo vor mir hörte ich einen Fasan auffliegen. Unter den Bäumen standen einige luxuriöse Landhäuser im rustikalen Stil: Fensterrahmen und Fensterläden sehr weiß gestrichen, auf alt gemachte Dachziegel sehr braun und bemoost. Aus einigen Kaminen stieg Rauch auf.

Insgesamt standen fünf solcher Landhäuser in dem großen Park zwischen den Bäumen; die Lichtungen waren erst vor kurzem vergrößert worden, um hinter den Häusern Stellplätze für Autos zu schaffen. Die Grundstücke waren nicht durch Zäune abgetrennt. Diese wenigen Luxushäuser standen auf einem kleinen Stück des ehemaligen Rockingham-Besitzes, der von einer fünf Meilen langen Mauer umgeben war.

Auf dem Hügel in der Mitte stand noch immer das alte Herrenhaus mit seinen Nebengebäuden. Es war in teure Apartments aufgeteilt worden.

Als ich durchs Tor kam und die Häuser vor mir hatte, fuhr ich nur noch Schritttempo und achtete darauf, ob ich jemanden zu sehen bekam. Aber an diesem Oktobernachmittag schien niemand im Freien zu sein.

Ob jemand am Fenster eines der Häuser stand, war schwer zu erkennen, denn die Gebäude waren so im Park verteilt, dass sie ganz allein zu stehen schienen, und hatten alle etwas andere Giebelrichtungen. Hinter einigen standen Autos; ich zählte drei.

Ich bog zwischen Bäumen nach links ab, folgte dem Weg und kam zu dem letzten Haus. Auch hier viel weiße Farbe, efeubewachsene Mauern, kleine Fenster, Dachgauben des altmodischen Steildaches.

Ich hielt vor dem Eingang, blieb noch einen Augenblick sitzen und sah mich unauffällig um, während ich vorgab, etwas aus dem Handschuhfach zu holen. Ich überzeugte mich davon, dass ich meinen Revolver in der Manteltasche hatte, und öffnete dann die Autotür.

Während ich meinen Koffer aus dem Wagen nahm, hatte ich wieder Gelegenheit, mich umzusehen, aber der Park schien menschenleer zu sein. Es roch nach feuchtem Laub und Holzrauch, so dass ich mich plötzlich an eine friedlichere Jugendzeit erinnert fühlte.

Ich ging auf die weiße Eingangstür des Hauses Flavia zu. Ich hatte Herzklopfen, mein Magen rebellierte, und meine Knie zitterten etwas. Ich wäre am liebsten stehengeblieben und hätte rasch eine Zigarette geraucht, aber das hätte von einem der anderen Häuser aus beobachtet werden können.

An der Tür benützte ich meinen Schlüssel, der einwandfrei aufsperrte. Wegen des wolkenverhangenen Himmels und der Bäume war es im Haus düster, aber die ganze Atmosphäre war trotzdem behaglich und warm.

Ich schloss die Tür hinter mir, stellte meinen Koffer auf einen Stuhl – ein Sheraton-Stuhl, der zu dem Tisch in der Diele passte – und betrat das Wohnzimmer durch eine Glasschiebetür. Ich blieb unter der Tür stehen und sah zum Fenster hinüber.

Im ersten Augenblick wurde mir fast schlecht, und ich zuckte zusammen, als habe mich eine eisige Hand im Nacken gepackt. Ich ging wieder in die Diele hinaus und zündete mir eine Zigarette an. Nach den ersten Zügen machte ich mir Vorwürfe, weil ich so feig gewesen war. Meine Reaktion ließ sich nicht mit einem Schock entschuldigen, denn ich hatte gewusst, was mir bevorstand. Ich drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus und ging ins Wohnzimmer zurück.

Das Telefon lag umgekippt auf dem Teppich; die Schnur führte zur Wand hinüber, wo der Stecker aus der Dose gezogen war. Einige der großgeblümten Sessel standen merkwürdig zueinander, und die beiden Sofas am Kamin waren ebenfalls zur Seite geschoben worden. Ein Couchtisch war umgestürzt und lag zwischen zersplitterten Gläsern. Vor dem linken Sofa lagen ein Siphon und zwei Flaschen mit Scotch und Gin.

Ich sah wieder zu den durch Holzstege unterteilten Fenstern hinüber. Draußen war alles ruhig und friedlich.

Sir Stanislaus Kempinski lachte mich an. Er lag wie ein Seestern auf dem Rücken. Sein Hinterkopf fehlte.

Esmé Phillips, sein Diener, lag auf der anderen Seite des Raumes mit dem Gesicht nach unten. Seine weiße Jacke war zwischen den Schulterblättern dunkel verfärbt. Er hatte die Arme ausgestreckt, und die Hände lagen flach auf dem Teppich, als betete er zu dem umgekippten Telefon.

Im Haus war es totenstill. Ich ging zu Stan hinüber und bückte mich, um auf seine Armbanduhr zu sehen. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr. Die Uhr stand.

In diesem Augenblick klingelte irgendwo in der Diele ein Telefon. Ich richtete mich auf, ging hinaus und entdeckte den Apparat in einer Nische unter der Treppe.

»Ja?«, sagte ich.

»Stan?«, fragte eine Frauenstimme.

»Nein. Stan ist noch nicht hier.«

»Oh! Mit wem spreche ich dann?«

»Ich heiße Blake. Ich bin mit Stan befreundet. Er hat mich für ein paar Tage eingeladen.«

»Aha.«

»Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Ach, das ist nicht weiter wichtig. Aber wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Er hat gesagt, es könnte spät werden. Vielleicht sogar sehr spät.«

»Oh, die Sache mit der Fregatte, nehme ich an. Sagen Sie ihm bitte, dass Gloria angerufen hat?« ,

»Und was ist, wenn er in der Zwischenzeit anruft? Vielleicht wird er irgendwo aufgehalten. Geben Sie mir Ihre Nummer, dann rufe ich Sie an, sobald ich etwas höre.«

Sie zögerte.

»Ja, das wäre keine schlechte. Idee«, stimmte sie dann zu. »Die Nummer ist Worley Heath drei-zwo-eins.«

»Gut. Ich richte ihm jedenfalls aus, dass Sie angerufen haben.«

»Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Blake.«

Ich legte auf, las die Nummer, die ich mir notiert hatte, und verglich sie mit der am Telefon. Das Ortsnetz hieß in beiden Fällen Worley Heath, so dass der Anruf aus einem der Nachbarhäuser gekommen sein konnte.

Ich warf noch einen Blick ins Wohnzimmer, bevor ich in die supermoderne Küche ging. Ich erinnerte mich gut an Stans Gewohnheiten und fand Bier in dem großen Kühlschrank. Das kalte Bier brannte in meiner trockenen Kehle. Ich stellte das Glas ab und öffnete die ins Freie führende Küchentür. Draußen standen zwei Flaschen Milch, zwischen denen die Morgenzeitungen steckten. Ich holte alles herein und schloss die Tür.

Als ich die Zeitungen auf den Küchentisch legte, fielen einige Briefe heraus. Ich sah mir die Umschläge an. Eine Drucksache, drei Umschläge, die Rechnungen zu enthalten schienen, und zwei Privatbriefe.

Mir lief plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken, und ich sah aus dem Fenster zu den dunklen Bäumen hinüber. Rotgoldene Blätter segelten dort lautlos zu Boden.

Das Telefon klingelte wieder. Diesmal benützte ich den Apparat in der Küche.

»Kann ich bitte Mr. Phillips sprechen?«, fragte ein Mann.

»Mr. Phillips ist noch nicht hier. Soviel ich weiß, kommt er mit Sir Stanislaus.«

»Oh. Mit wem spreche ich, bitte?«

»Ich heiße Blake. Ich bin hier Gast. Kann ich etwas bestellen?«

»Danke, das ist nicht nötig. Richten Sie ihm bitte nur aus, dass ich später noch mal anrufe.«

»Wer ruft später wieder an?«

»Ich... oh, sagen Sie ihm einfach, dass Fred angerufen hat. Er weiß dann schon Bescheid.«

Ich legte den Hörer auf, trank noch einen Schluck Bier und merkte dann, dass ich noch immer meinen Mantel anhatte. Ich zog ihn aus und hörte ein dumpfes Poltern, als ich ihn auf einen Stuhl legte. Ich erinnerte mich an den Revolver und steckte ihn in die Jackentasche.

Im Haus war es totenstill. Ich ging ins Wohnzimmer zurück. Es wurde allmählich dunkel. Ich würde bald Licht machen müssen, aber ich zögerte noch, weil Licht die ganze grässliche Szene wie in einer Nahaufnahme zeigen würde.

Das Telefon klingelte zum drittenmal. Ich benützte wieder den Apparat in der Diele.

»Störungsdienst«, meldete sich eine Männerstimme. »Ist die Leitung jetzt wieder in Ordnung?«

»Scheint so«, antwortete ich. »Ich bin allerdings eben erst angekommen. Hat sich jemand bei Ihnen beschwert?«

»Diese Nummer war anscheinend stundenlang besetzt. Heute Morgen hat ein Anrufer pausenlos versucht, Sie zu erreichen, und uns schließlich verständigt. Anscheinend war die Nummer blockiert, weil jemand vergessen hatte, den Hörer aufzulegen.«

»Oh... Und Sie waren dann hier?«, fragte ich gespannt.

»Nein. Kurze Zeit später hieß es, jetzt sei die Nummer wieder frei, aber der Teilnehmer melde sich nicht. Ich habe gesagt, ich würde mich darum kümmern.«

»Wann war das? Ich meine, wann hat das Telefon wieder funktioniert?«

»Hmmm, um Viertel nach zehn, glaube ich. Wir haben uns leider erst jetzt darum kümmern können.«

»Danke«, sagte ich.

Als ich auflegte, war mir klar, dass die Mörder an dieser Störung schuld gewesen waren: das Telefon im Wohnzimmer war nicht aufgelegt gewesen. Aber kurz nach zehn hatte jemand den Stecker herausgezogen und damit erreicht, dass jetzt die übrigen Telefone klingelten.

Es wurde Zeit, dass ich mir das Haus ansah. Ich hatte den Eindruck, schon Stunden hier zu sein, aber als ich auf meine Uhr sah, stellte ich fest, dass es nur knapp fünfzehn Minuten waren. Und in dieser Viertelstunde war dreimal angerufen worden.

Ein Anrufer war der Fernmeldemonteur gewesen – ein Mann, der jede beliebige Leitung anzapfen konnte, indem er vorgab, sie zu prüfen oder zu reparieren.

Ich hatte das Gefühl, hier im Haus völlig abgeschnitten zu sein. Einen Augenblick lang spürte ich die kindliche Angst in mir aufsteigen, die Bäume und sogar die halb unter ihnen versteckten Häuser rückten von allen Seiten lautlos und bedrohlich näher.

Rechts neben dem Wohnraum lag ein kleines Speisezimmer: Mahagonitisch, vier Stühle, Sideboard und Besteckschrank. Der Tisch war für drei gedeckt – zum Frühstück. Das überraschte mich, und ich drehte mich an der Tür nochmals um, weil ich mich davon überzeugen wollte, dass ich richtig gesehen hatte.

Oben waren vier Schlafzimmer, zwei große und zwei sehr kleine, alle luxuriös eingerichtet, um ein Maximum an Komfort und den Schlaflosen Unterhaltung zu bieten. In Stans Zimmer lagen seine Sachen und ließen es bewohnt wirken. Zwei weitere Räume, ein großer und ein kleiner, waren Gästezimmer: charakterlos, bis jemand ihnen durch seine Sachen eine persönliche Note gab. Das letzte kleine Zimmer gehörte Phillips. Auf seinem Bücherregal sah ich, was er als Bettlektüre bevorzugte: Horror-Geschichten, Alles über Horror-Geschichten, Gespenster-Geschichten, Play girls, Tom Jones, Sakis beste Stories, Chinesische Küche, Ming-Porzellan und Pariser Akte. In dem Raum verteilt waren ,seine Dienerlivree, eine schwere Luftpistole, ein Kleinkalibergewehr, ein Expander, der an der Tür hing, eine Fechtmaske und zwei Florette und eine kleine Statue der Venus von Milo, auf deren Kopf ein kleiner Zylinder saß.

Auf dem Tisch am Fenster lag ein aufgeschlagener Vormerkkalender, in den er für diesen Tag gekritzelt hatte: Maurice – 10.30.

Die Tür zwischen den beiden großen Schlafzimmern führte ins Bad.

Auf dem Spiegel über dem Waschbecken stand mit Zahncreme geschrieben: Maurice 8.30.

Ich setzte mich auf den Wannenrand und zündete mir noch eine Zigarette an.

 

Ich kam die Treppe herunter, ging wieder in die Küche und sah mir nochmals die Briefe an. Draußen war es inzwischen noch dunkler geworden. Ich verließ das Haus durch die Hintertür, schloss ab und steckte den Schlüssel ein.

Im Wald war es still; das vermodernde feuchte Laub dämpfte meine Schritte. Ich ging auf das große Apartmenthaus zu, bis ich es durch die Bäume vor mir sah, und machte dann einen weiten Bogen, um auch an den kleineren Häusern vorbeizukommen – an den Landhausvillen, wie die Immobilienmakler sie nannten.

Die Häuser standen als Fremdkörper unter den Bäumen des schönen alten Parks. Hier und dort sah ich Licht hinter Fenstern, während ich den Fußwegen folgte.

Die kleinen Häuser glichen sich nicht wie ein Ei dem anderen, sonst hätten sie nicht für teures Geld Käufer gefunden, aber sie hatten alle das gleiche Vorbild: das echt viktorianische Haus, das Stan Kemp gehörte – oder gehört hatte. Sir Stanislaus Kempinski hatte oft darüber gelacht, wie anders sein abgekürzter Name klang.

»Richtig englisch, was, alter Junge?«, hatte er jedes Mal gefragt.

Ich kam ganz in die Nähe eines der Häuser und begegnete dort einem Mann mit einer Schrotflinte unter dem Arm. Er baute sich vor mir auf.

»Was tun Sie hier?«, wollte er wissen.

»Das ist meine Sache.«

»Die Grundstücke hier sind Privatbesitz.«

»Ich bin auch privat hier.«

Er zeigte mir die Zähne, aber er verzog die Lippen nicht etwa, um zu grinsen.

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen«, stellte er fest.

»Ich war auch noch nie hier«, bestätigte ich. »Ich bin auf Besuch hier.«

Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu, als wolle er meine Glaubwürdigkeit abschätzen.

»Bei wem?«

»Bei Sir Stanislaus.«

Er nickte, starrte mich nicht mehr an und sah über meine linke Schulter hinweg in den Wald hinein.

»Aha. Wir müssen vorsichtig sein, wissen Sie. Hier treibt sich alles Mögliche Gesindel herum. Auch Wilderer.«

»Um diese Zeit würde ich nicht wildern«, versicherte ich dem Unbekannten. »Die Morgendämmerung ist dafür günstiger, habe ich gehört.«"

»Ich wusste gar nicht, dass Sir Stanislaus hier ist«, meinte er.

»Er kommt heute Abend«, sagte ich.

»Oh?«

Ich hatte den Eindruck, er sei etwas verwirrt. Aber ich wartete auf eine bestimmte Reaktion und neigte vielleicht dazu, mehr zu sehen, als es in Wirklichkeit bei meinem Gegenüber zu sehen gab.

»Sie wohnen hier, nehme ich an?«

»Ab und zu«, antwortete er. »Ich bin oft im Ausland. Rauchen Sie eine mit?«

Er bot mir eine Schachtel Zigarillos an. Wir zündeten uns beide einen an.

»An Ihrer Stelle wäre ich mit Waldspaziergängen vorsichtig«, sagte er, sah sich wieder um und atmete beim Sprechen Rauch aus.

»Warum?«

»Wir haben hier ein paar ziemlich wilde Schützen«, erklärte er mir. »Diese Leute haben eine Waffe, aber keinerlei Erfahrung.«

»Haben hier alle Waffen?«

»Außer mir noch zwei. Zum Beispiel eine junge Frau namens Gloria. Sie schießt hervorragend. Sie könnte einen in die Luft gewordenen Penny treffen, aber wenn sie aufgeregt ist, würde sie Ihnen auch noch den Kopf abschießen.«

»Wohnt sie hier?«

»Das habe ich eben gesagt.«

»Nein, das haben Sie nicht. Sie haben nur von einer jungen Frau namens Gloria gesprochen.«

»Bleiben Sie lange hier?«, wollte er wissen.

»Das weiß man bei Stan nie. Manchmal muss er mitten in der Nacht nach Jugoslawien reisen, aber dafür behält er einen beim nächstenmal gleich eine Woche da.«

»Sie kennen ihn gut?«

»Ich habe ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen.«

Er nahm seinen alten Hut kurz ab und setzte ihn wieder auf. Ich sah, dass er einen Bürstenhaarschnitt hatte.

Dann wurde ich misstrauisch, weil ich nicht wusste, ob er mich absichtlich hier festhielt.

»Ich muss jetzt zurück, falls er inzwischen angekommen ist«, behauptete ich.

»Er weiß gleich, dass Sie da sind. Ihr Wagen steht doch vor dem Haus?«

»Aber ich muss ihm etwas ausrichten. Von Gloria.«

»Sie kennen Gloria?«, fragte er scharf.

»Sie hat angerufen. Ich kenne sie nicht persönlich. Nur dem Namen nach.« Ich setzte mich in Bewegung. »Vielleicht treffen wir uns gelegentlich wieder.«

»Nehmen Sie sich vor den Waffen in acht«, mahnte er.

Er beobachtete mich, bis ich zwischen den Bäumen verschwand. Ich spürte seinen Blick auf meinem Rücken.

Als ich am Waldrand entlang auf die Lichtung zuging, auf der Stans Haus stand, sah ich jemanden auf dem überdachten Stellplatz eines anderen Hauses stehen. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass ich nur eine Gestalt ausmachen konnte. Der helle Fleck war das mir zugewandte Gesicht.

Die Gestalt sah nicht etwa kurz zu mir hinüber und wandte sich dann ab, sondern beobachtete mich auf dem ganzen Weg bis zu den Büschen vor Stans Haus. Die Atmosphäre wurde selbst außerhalb des Hauses immer gespannter. Mein Gefühl von vorhin – dass Bäume und Häuser drohend zusammenrückten – schien sich zu bewahrheiten.

Ich spürte eine unangenehme Spannung in mir. Ich wünschte mir, jemand würde mit einer offenen Herausforderung an mich herantreten. Dann hätte ich wenigstens gewusst, wo ich stand. Das Schweigen und die Häuser und die wachsamen Schatten und die allgemein feindselige Stimmung machten mich unsicher, weil ich nicht wusste, was ich davon halten sollte.

Vielleicht bildete ich mir die Feindseligkeit nur ein, vielleicht existierten die düsteren Schatten nur in meiner Phantasie, weil ich von der Schreckensszene im Wohnzimmer deprimiert war – und genau wusste, dass ich dorthin zurückkehren und sie wieder ansehen musste.

Dies war nicht das erste Mal, dass ich Ermordete gesehen hatte. Aber ich hatte noch nie das grässliche Gefühl gehabt, eine Art Bühnenbild vor mir zu sehen: wie ein Raum in einem Wachsfigurenkabinett, der absichtlich so arrangiert war, dass er jeden Hereinkommenden schockieren musste.

Trotzdem hatte ich gewusst, was mich hier erwartete. Aber auch das Schlimmste, auf das man gefasst ist und mit dem man rechnet, ist nur ein schwacher Abglanz der entsetzlichen Wirklichkeit, die sich nach vielen Stunden in eine erstarrte, blutgetränkte Falle verwandelt hat.

Ich blieb noch eine Minute oder länger im Freien, bevor ich die Hintertür aufschloss. Als ich sie hinter mir zumachte und den Schlüssel umdrehte, machte ich mir selbst Vorwürfe: »Du bist verweichlicht. Du verträgst nichts mehr.«

Ich behielt meine Handschuhe an und machte als erstes einen Rundgang durchs Erdgeschoss, zog überall die Vorhänge zu und schaltete dann das Licht ein. Im Wohnzimmer zögerte ich besonders lange, nachdem ich die Vorhänge zugezogen hatte. Licht aus der Diele fiel in einem hellen Streifen über den Teppich. In diesen Streifen ragten zwei Männerbeine hinein.

Ich beschloss, im Wohnzimmer kein Licht zu machen, ging in die Küche und öffnete die Briefe. Bevor ich sie las, holte ich mir ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank und versuchte damit, das psychologisch bedingte Gefühl, einen ausgetrockneten Hals zu haben, zu bekämpfen. Ich wünschte mir plötzlich, jemand käme ins Haus, um mich anzugreifen – dann hätte ich Gelegenheit^ mich zu bewegen, etwas zu tun, meinen Körper einzusetzen.

Irgendwo in weiter Ferne hörte ich einen Hund sekundenlang heulen, dann herrschte wieder Stille. Ich nahm den ersten Brief vom Tisch. Auf der Briefkarte stand kein Absender, nur das gestrige Datum. Der mit der Maschine geschriebene Text bestand aus einem einzigen Satz:

 

Lieber Stan,

Leider hat Gloria das Boot verkauft, aber Maurice hat vor, abends vorbeizukommen, so dass Aussicht auf eine neue zufriedenstellende Vereinbarung besteht.

C.

 

Entweder absichtlich geheimnisvoll oder von jemandem in aller Eile getippt. Stans Geschäfte waren nicht immer harmlos und offen gewesen, aber ich hätte nicht erwartet, dass seine Korrespondenz so mysteriös sein würde, weil sie fremde Leser dazu bringen konnte, an beiden Seiten der Briefkarte zu riechen. Das tat ich auch – allerdings ohne Ergebnis.

Das einzige, was die Spannung noch etwas mehr steigerte, war die Tatsache, dass ich hier zum drittenmal las, dass Maurice kommen würde.

Der zweite Brief war auf einer anderen Maschine geschrieben: mit Perlschrift, nicht mit Pica wie der erste, und auf blauem Briefpapier. Kein Datum; als Adresse nur Das Apartment.

 

Liebling,

sei doch nicht so grässlich wegen M. Er ist ganz und gar nicht, was Du denkst. Wenn Du ihn kennenlernst, wirst Du der gleichen Meinung sein, deshalb ist Deine Eifersucht überflüssig. Schließlich muss es doch jemanden geben, nicht wahr, Schätzchen?

Alles Liebe von MIR