Fang jetzt bloß nicht an zu lieben - Mhairi McFarlane - E-Book

Fang jetzt bloß nicht an zu lieben E-Book

Mhairi McFarlane

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Beschreibung

Obwohl Harriet Hatley die begehrteste Hochzeitsfotografin in Leeds ist, glaubt sie nicht an die Ehe und findet Romantik nur schwer erträglich. Als ihr langjähriger Freund ihr einen Heiratsantrag macht, gerät Harriet in Panik. Kurz darauf ist sie nicht nur Single, sondern braucht auch dringend eine neue Wohnung. Nur deshalb zieht sie bei Cal ein, ohne ihn vorher wenigstens einmal getroffen zu haben – mit einer unangenehmen Überraschung. Dann kommt Harriets bestgehütetes Geheimnis ans Licht und droht ihr Leben zu zerstören, und ausgerechnet Cals scharfsinniger Humor bewahrt sie vorm Durchdrehen. Doch reicht das, um sich gemeinsam der Vergangenheit zu stellen?   Die britische Bestseller-Autorin Mhairi McFarlane zeigt auch in ihrer 8. romantischen Komödie »Fang jetzt bloß nicht an zu lieben«, dass eine Frau durchaus von der großen Liebe träumen kann, ohne deswegen ihr Glück von einem Mann abhängig zu machen.   Entdecke auch die anderen humorvollen Liebesromane von Mhairi McFarlane: - Wir in drei Worten - Ich glaub, ich will (Kurzroman) - Vielleicht mag ich dich morgen - Es muss wohl an dir liegen - Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt - Sowas kann auch nur mir passieren - Aller guten Dinge sind zwei - Du hast mir gerade noch gefehlt

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Mhairi McFarlane

Fang jetzt bloß nicht an zu lieben

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hochsieder

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Obwohl Harriet Hatley die begehrteste Hochzeitsfotografin in Leeds ist, glaubt sie nicht an die Ehe und findet Romantik nur schwer erträglich. Als ihr langjähriger Freund ihr einen Heiratsantrag macht, gerät Harriet in Panik. Kurz darauf ist sie nicht nur Single, sondern braucht auch dringend eine neue Wohnung. Nur deshalb zieht sie bei Cal ein, ohne ihn vorher wenigstens einmal getroffen zu haben – mit einer unangenehmen Überraschung. Dann kommt Harriets bestgehütetes Geheimnis ans Licht und droht ihr Leben zu zerstören, und ausgerechnet Cals scharfsinniger Humor bewahrt sie vorm Durchdrehen. Doch reicht das, um sich gemeinsam der Vergangenheit zu stellen?

Die britische Bestseller-Autorin Mhairi McFarlane zeigt auch in ihrer 8. romantischen Komödie »Fang jetzt bloß nicht an zu lieben«, dass eine Frau durchaus von der großen Liebe träumen kann, ohne deswegen ihr Glück von einem Mann abhängig zu machen.

 

Entdecke auch die anderen humorvollen Liebesromane von Mhairi McFarlane:~ Wir in drei Worten~ Ich glaub, ich will (Kurzroman)~ Vielleicht mag ich dich morgen~ Es muss wohl an dir liegen~ Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt~ Sowas kann auch nur mir passieren~ Aller guten Dinge sind zwei~ Du hast mir gerade noch gefehlt

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Epilog

Danksagung

Im Gespräch mit Mhairi McFarlane

 

 

 

 

Für Shelley Summers & Jennifer Lee

Seelenverwandte

Prolog

Hi, sind Sie der Trauzeuge? Sie sind Sam? Ich bin Harriet, die Fotografin.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, hob sie die Nikon D850 an, die ihr um den Hals hing. »Ist der Bräutigam irgendwo in der Nähe?«

Verzweifelt blickte sie der Trauzeuge an. Ein dicker Schweißfilm ließ sein Gesicht glänzen, als hätte man es mit verquirltem Ei bestrichen, das bei 180 Grad eine hübsche goldene Glasur bilden würde.

Es folgte eine betretene Pause, in der Harriet sich fragte, ob der Mann sprechen konnte.

»Er ist gegangen, Harriet«, brachte Sam schließlich krächzend hervor, während sein Blick wild hin und her schoss. Er klang so bedeutungsschwer und bestürzt, als meinte er von uns gegangen.

»Wer ist gegangen?«

»Der Bräutigam!« Mit ausgestreckten Armen deutete der Trauzeuge auf den leeren Raum neben sich.

Harriet sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zum offiziellen Start.

»Holen Sie ihn her, sofort. Sonst steht sie am Ende ohne ihn da«, flüsterte sie hektisch.

»Genau das ist die Absicht«, erwiderte Sam, der aussah, als würde man ihm gerade auf einem Geisterschiff auf stürmischer See einen Fuß amputieren – ohne Narkose. »Er ist weg, endgültig.«

»Wie bitte? Weg? Im Sinne von …?«

»Im Sinne von abgereist, ohne die Absicht zu heiraten«, sagte Sam im Flüsterton. Seine Augen traten hervor.

»Was zum Henker!«, zischte Harriet. »Hat er gesagt … warum?«

»Ich habe ihm gesagt, dass er das nicht machen muss, wenn er sich unsicher ist, so als WITZ, und er sagte: Echt, meinst du das ernst, und ich: Warum? Und er: Weil ich das nicht machen will. Ich fragte ihn: Bist du nervös? Und er: Nein, aber hast du das ehrlich gemeint, dass ich das nicht durchziehen muss? Und ich musste sagen: Na ja, ich denke schon. Und er: Okay, dann geh ich jetzt, bitte sag, dass es mir leidtut.«

Sam ratterte den Bericht atemlos herunter und hielt dann inne, um Luft zu holen. Um sich zu beruhigen, legte er sich die Hand auf die makellose weiße Hemdbrust, und als er sie wieder wegnahm, blieb ein tragikomischer verschwitzter Handabdruck auf dem Stoff zurück.

»Ich muss Kit erklären, dass er sie sitzen gelassen hat. Verdammte Scheiße!«

»Er kommt ganz bestimmt nicht wieder?«, fragte Harriet.

Sam schloss die Augen, zweifellos wünschte er, er könnte sich aus dieser Kirche am Stadtrand von Leeds wegteleportieren. »Nein.«

Für eine derartige Situation hatte Harriet keinerlei Benimmregel parat. Man hatte sie angeheuert, die Sache von Anfang bis Ende zu fotografieren, von den Hochzeitsvorbereitungen bis zum ersten Tanz. Nicht immer lief alles nach Plan, manchmal betranken sich die Trauzeugen so, dass sie ihre Reden nur noch lallend vortragen konnten, oder der DJ spielte die unzensierte Version eines Lieds, und einmal war der Schokoladenbrunnen kaputt und pumpte etwas heraus, das wie eine Mischung aus Trockenfutter und Abwasser aussah. Aber die Ehe war immer geschlossen worden. Ein flüchtiger zukünftiger Ehemann war ihr trotz aller Krisen noch nie untergekommen.

»Weiß der Pfarrer Bescheid?«, fragte Harriet mit gedämpfter Stimme und einem aufgesetzten Lächeln, für den Fall, dass jemand sie beobachtete.

»Ja. Ihm hat er es immerhin selbst gesagt«, erwiderte Sam.

»Wo ist der Pfarrer jetzt?«

»Er steht hinter der Kirche und raucht.«

»Was? Dürfen Pfarrer überhaupt rauchen?«

»Keine Ahnung, aber in Anbetracht der Umstände stand mir nicht wirklich zu, ihm das auszureden.«

Harriet nickte. Darüber sollte Gott urteilen.

»Hab ich das angerichtet? Mit meiner blöden Bemerkung, dass er die Sache nicht durchziehen muss?«

Sam wirkte ehrlich den Tränen nahe.

»Nein!«, flüsterte Harriet mit Nachdruck. »So was geschieht doch nicht durch reine Suggestionskraft.«

»Ich sollte sie draußen abfangen, oder?«, meinte Sam. »Es wäre wohl noch schlimmer, wenn sie schon zur Tür hereinkommt.«

»O Gott, unbedingt«, sagte Harriet. Die öffentliche Demütigung wäre unerträglich, wenn sie im Brautkleid dastand und alle anderen zur selben Zeit davon erfuhren wie sie. Jene Kristina, die Harriet angeheuert hatte, machte nicht den Eindruck, dass sie besonders gut mit Enttäuschungen klarkäme, ganz zu schweigen von Katastrophen. Sie war zierlich wie ein Püppchen, hatte tiefschwarzes Haar und ein selbstbewusstes Auftreten, das an Arroganz grenzte. Der Bräutigam war zu beschäftigt gewesen, um Harriet in der Planungsphase kennenzulernen, und im Rückblick fragte sie sich, ob das ein Zeichen gewesen war.

»Wenn er wirklich, wirklich nicht wiederkommt …«

Sams gequälter Gesichtsausdruck war voller Panik. »Er kommt nicht wieder.«

»Ich kann nicht fassen, dass er Ihnen das angetan hat. Und ihr.« Harriet wurde bewusst, dass die Bemerkung etwas seltsam war, immerhin war sie dem Wichser nie begegnet. Ich kann nicht fassen, dass [ein völlig Fremder] so etwas macht.

Sie blickte auf den fröhlichen, erwartungsvollen Trubel hinter sich. Die Aussicht auf das, was den Leuten bevorstand, war deprimierend.

»Ich begleite Sie nach draußen«, sagte sie, und Sam nickte dankbar.

Mit gesenkten Köpfen schritten sie entschlossen zwischen den Stuhlreihen hindurch nach draußen und gingen den Pfad zwischen den moosbewachsenen Grabsteinen entlang. Als sie sich der Straße näherten, sah Harriet einen weißen, mit Schleifen geschmückten Rolls-Royce vorfahren, und ihr wurde buchstäblich übel. Die arme, arme Kristina.

Und der arme Sam. Er blies die Backen auf und atmete hörbar aus, steckte die Finger in seinen wilden Lockenkopf, doch dann fiel ihm offensichtlich ein, dass sein Haar voller Gel war.

»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Harriet, und Sam nickte. Er war nicht mehr in der Lage, mit Worten zu kommunizieren.

»Drücken Sie mir die Daumen«, quietschte er schließlich, als er auf den Wagen zuging.

»Viel Glück«, erwiderte Harriet leise, doch als die Worte nachklangen, erschienen sie ihr plötzlich extrem taktlos.

Ihr wurde bewusst, dass sie noch nicht einmal ertragen würde, zuzusehen, wenn die Braut zusammenbrach. Für heute war Harriets Mitarbeit zweifellos nicht mehr gefragt. Eilig ging sie in die entgegengesetzte Richtung, den Blick auf ihre kirschroten Doc Martens zwischen den Kirschblüten auf dem Gehsteig geheftet, und zählte zur Ablenkung stumm ihre Schritte: eins – zwei – drei – vier – fünf – se…

Ein Schrei erschütterte die Luft, und Harriet blieb wie angewurzelt stehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie eine ein Meter zweiundsechzig kleine Frau in einem exquisiten Meerjungfrauenkleid aus elfenbeinfarbenem Satin mit der Faust ausholte und Sam ins Gesicht schlug.

Sam taumelte rückwärts und hielt sich die blutende Nase. Wie ein wild gewordener Gorilla schoss der Brautvater aus dem Auto, und das Geschrei ging los.

1

Einen Monat später

Liest du mir noch mal die Menüfolge vor? Ich habe ganz vergessen, was es als Hauptgang gibt«, sagte Jonathan und lenkte den silberglänzenden Mercedes schwungvoll um die Kurve, wobei er einer Steinmauer gefährlich nahe kam.

Harriet war immer wieder überrascht, wie sehr sein Fahrstil sich vom gesamten Rest seiner Persönlichkeit unterschied. Mit dem Steuer in der Hand wurde aus dem sanften, vorsichtigen Jon ein übermütiger, geradezu großspuriger Typ.

Harriet entsperrte das Smartphone, scrollte zur entsprechenden Seite und las laut vor.

»Abgehangenes Filet vom Yorkshire-Reh … glasierte Möhren, alte Sorte … Bärlauch … Miso-Cashew-Rahmsauce.«

»Was genau ist Bärlauch eigentlich? Und um ehrlich zu sein, habe ich in Sachen Miso-Cashew-Rahmsauce auch nur eine recht vage Ahnung.«

»Dabei arbeitest du in der Lebensmittelbranche!«

»Nicht dort, wo es um Miso-Cashew-Rahmsauce geht.«

Zum Googeln tippte Harriet auf ihr Handy, wobei sie sich mit der freien Hand kurz an der Autotür abstützen musste, um die Reiseübelkeit abzuwehren.

»Bärlauch ist eine mehrjährige Zwiebelpflanze aus der Familie der Amaryllisgewächse. Knoblauchartig, wie es scheint.«

»Na gut. Und die wissen von meiner besonderen Unverträglichkeit?«

Allergisch gegen Salat. Manchmal dachte Harriet, dass diese drei Worte der Inbegriff von Jon waren. Wer in aller Welt war allergisch gegen Blattsalat? Man stelle sich die Blamage bei der Obduktion vor. Todesursache: Radicchio.

»Deine Mum hat gesagt, sie kümmert sich darum.«

Und wenn sie beschließen sollte, das abzustreiten, dann habe ich die WhatsApp als Beweis.

Der Umgang mit ihren Quasischwiegereltern war für Harriet in etwa so brisant, als hätte man ihr die Kommandozentrale der britischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg übertragen. Wenn man in der Nähe von Jacqueline Barraclough ein Nickerchen machte, dann behielt man ein Auge offen.

Harriet steckte das Handy zurück in die Handtasche und drehte am Lautstärkeregler, als im Radio Missing von Everything But The Girl kam.

»Meinst du, wir könnten das ausschalten, Hats? Wir haben Verkehr. Und ich bekomme gerade wieder Kopfweh«, bat Jon.

»Klar. Fahr einfach beim nächsten Rastplatz ran.«

»Hä?«

»Verkehr haben … Ach, egal.«

Jon warf ihr einen verblüfften Blick zu. Er gehörte zu den Menschen, die sich für unglaublich humorvoll hielten, doch sein Humor ähnelte eher einer Alarmanlage: Würde er sie einschalten, würde sie vielleicht funktionieren, aber meistens vergaß er, dass es sie gab.

»John F. Kennedy musste mehrmals am Tag Sex haben, sonst bekam er Kopfweh, weißt du«, erklärte Harriet.

»Wie unpraktisch bei seinem Arbeitspensum. Hätte es Ibuprofen nicht auch getan?«, sagte Jon.

»Nein, es musste Marilyn Monroe sein.«

»Aha.«

Harriet merkte, dass sie ihn etwas nervte. Solche Sachen konnte sie in Anwesenheit seiner verklemmten Eltern nicht sagen, und sie waren kurz davor, in deren planetare Atmosphäre einzudringen. Jon hatte schon in den wachsamen Modus gewechselt und wollte, dass Harriet es ihm gleichtat. Wie ein Schauspieler, der sich am Set in seine Rolle einfühlen musste, bevor es hieß: Kamera läuft.

»Ich geh mal davon aus, dass sie für Joffrey Baratheon Chicken Nuggets und Pommes auffahren lassen«, meinte Harriet.

Jon sah sie von der Seite an. »Ach komm, so schlimm ist er doch gar nicht. Er wird bald zwölf, fast erwachsen! Ich finde, jedem Kind steht eine doofe Phase zu.«

Harriet erwiderte nichts darauf, denn Jons Mutter Jackie, sein Vater Martin senior, der ältere Bruder Martin junior, dessen Frau Melissa und ihr elfjähriger Sohn Barty (Bartholomew, wenn er geschimpft wurde, was Harriets Meinung nach viel zu selten geschah) befanden sich alle zusammen in einer verdammt doofen Phase.

Was seine Familie betraf, lebte Jon in einem eigentümlichen Zustand der Verklärung. Er leugnete gar nicht, dass sie sich wie die letzten Deppen aufführten, alles andere wäre kaum möglich gewesen. Doch er konnte sich nie dazu durchringen, ihnen böse Absichten zu unterstellen, wodurch er ihrem Kern nie wirklich auf den Grund kam.

Immer hatten sie es gut gemeint.

Für diese seinem Wunschdenken entsprungene These fehlte bislang jeglicher Beleg. Jons Analyse zufolge schienen sie alle an einem Locked-in-Syndrom zu leiden, angesichts der tragischen Unfähigkeit, die ihnen innewohnende Nächstenliebe offen zu zeigen.

»Wir sind gleich da.« Jon sah auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ich denke, uns bleibt eine Stunde zum Duschen und Umziehen, und dann ist Zeit für einen Gin Tonic an der Bar.«

»Das klingt gut«, sagte Harriet, um Frieden zu schließen, und Jon strahlte glücklich.

In gewohnt großzügiger Manier hatte Jon Abendessen und Übernachtung für sie alle in einem Landhotel in den Yorkshire Dales gebucht, um den vierzigsten Hochzeitstag seiner Eltern zu feiern.

Wie immer graute es Harriet vor dem Familientreffen, aber natürlich kam sie mit, denn man konnte sich die Familie seines Freundes eben nicht aussuchen. Ebenso wenig konnte man Jon davon abbringen, sein nicht unbeträchtliches Gehalt derart freigebig auszugeben.

»Das letzte Hemd hat keine Taschen, Hats«, sagte er immer und zerstrubbelte ihr das Haar.

Er leitete die Tochterfirma einer Supermarktkette, die hochwertige Fertiggerichte entwickelte. Harriets beste Freundinnen Lorna und Roxy nannten ihn Captain Bratensoße, aber Jon fand den Spitznamen kein bisschen lustig.

»Ich bin doch nicht nur verantwortlich für Bratensoßen, sondern für alle möglichen Arten von Soßen und Würzmitteln im Luxussegment!«, erwiderte er dann immer leicht verärgert und wunderte sich, wenn sie mit noch größerem Gelächter darauf reagierten.

Harriet hatte Geld nie auf dieselbe Art erlebt wie Jonathan. Jeden Monat landeten große Mengen davon auf seinem Konto und wuchsen zu einem sperrigen, den Abfluss verstopfenden Fettberg an, wenn man sich ihm nicht wirksam mit Möbeln von Parker Knoll, teuren Restaurantbesuchen und Fünf-Sterne-Wochenenden entgegensetzte.

Gegen seinen Widerstand zahlte Harriet ihm regelmäßig Miete, seit sie in seine Villa in Roundhay gezogen war. Sie hatte sich ein paar grundsätzliche Regeln bewahrt und ließ nur selten zu, dass er alle Rechnungen übernahm – sie besaß Selbstachtung, ein eigenes Einkommen und einen Lebensstil, den sie sich leisten konnte, doch mit Jons Verschwendungssucht war es, als säße man zusammen in der Badewanne und versuche, das Wasser zu trennen.

Die vergangenen zwei Jahre, seit sie ein Paar waren, waren wie eine Ausbildung im guten Leben gewesen. Geld allein mochte einen zwar nicht glücklich machen, aber es war zweifellos eine bewusstseinsverändernde, das Leben prägende, süchtig machende Substanz. Es ermöglichte einem nicht nur Vergnügungen, wie Harriet festgestellt hatte, sondern bescherte einem auch innere Ruhe, Zuversicht und Komfort: ein sonniges Gemüt und ein Dasein ohne Spannungen, bei dem jede auf dem Lebensweg auftretende Hürde durch großzügiges Auftragen von Geld eingeebnet werden konnte.

Beispielsweise hatte der ursprüngliche Austragungsort dieser Feierlichkeit bei Martin und Mel Genörgel über die ungünstige Lage hervorgerufen, und sein Vater hatte Einwände gegen die trendige »pflanzenbasierte« Küche erhoben. (»Auf den Fotos sieht es aus wie das Zeug, das man den Affen im Zoo hinwirft!«) Also hatte Jon das Ganze in ein anderes Hotel verlegt, ohne auch nur zu schauen, wie viel es kostete. Jons Mantra war, dass alle zufrieden sein sollten, und da er in der Lage war, für diese Zufriedenheit zu sorgen, tat er es auch.

Er war – das sagte sich Harriet selbst und anderen immer wieder – ein unglaublich und geradezu grotesk netter Mensch. Was also sagte das über sie aus – in Anbetracht der wachsenden Zweifel, die sie beschlichen?

2

Sie passierten diverse Torpfosten, auf denen Eulenskulpturen saßen, und folgten den sanften Kurven der Auffahrt bis zum weitläufigen Gemäuer des Landhotels. In der kühlen Abenddämmerung fiel warmes gelbes Licht durch die Bleiglasfenster auf den makellosen Rasen, der mit beschirmten weißen Gartentischen gesprenkelt war.

Jons Mutter trat aus dem Haupteingang und ging ihnen entgegen, und entmutigt registrierte Harriet, dass seine Eltern wie üblich vor ihnen angekommen waren. Jons Vater gehörte zu den Menschen, die eine Reise grundsätzlich im Morgengrauen antraten.

Jacqueline trug eine bonbonrosa gestreifte Bluse mit aufgestelltem Kragen, eine Perlenkette und weiße Jeans, und mit perfekt manikürten, glänzenden, korallenfarbenen Fingerspitzen schob sie sich die wippende Föhnfrisur (frisch aus dem Salon) aus dem Gesicht. Sie war immer makellos herausgeputzt, wobei ihr die schneeweiße Strähne in dem blondierten Haar passenderweise die Aura einer bösen Disney-Hexe verlieh, wie Harriet fand. Im Gegenzug verhehlte sie nicht, was sie von Harriets »eigentümlich burschikosem Stil« (© Jacqueline) hielt.

Nach ihrer ersten Begegnung hatte Jon eine Nachricht von seiner Mum erhalten, während Harriet neben ihm saß. Typisch für Jon hatte er weder die nötige Verschlagenheit noch den gesunden Menschenverstand besessen, sie außer Sichtweite von Harriet zu öffnen.

 

Harriet ist ein nettes Mädchen, JJ. Sie hat ein schrecklich hübsches Gesicht, wie das Mädchen aus der Serie mit dem lahmen Detektiv mit der Gaumenspalte. Aber warum in Gottes Namen trägt sie diese scheußliche Brille? So was hat man zuletzt bei Eric Morecambe in den Siebzigern gesehen! Wirklich schade drum. Nachdem man heutzutage problemlos Kontaktlinsen kriegt, muss man fast davon ausgehen, dass die Brille so eine Art wütendes feministisches Statement sein soll.

 

»Was zum …!«, hatte Harriet gerufen und die Hand auf den Mund gelegt, um die Maischips mit BBQ-Geschmack nicht auszuspucken. »Was soll mit meiner Brille sein? Und warum sagt sie so was?«

»Sie findet dich wunderschön!«, sagte Jon und errötete, was Harriet zunächst für Scham hielt. Erst mit Verzögerung wurde ihr klar, dass er ganz gerührt über das war, was er als echtes Kompliment seiner Mutter verstand.

»Das sagt sie doch nur, damit sie danach ordentlich auf die vieräugige Emanzenschlampe einprügeln kann. Das sind die zwanzig Pence, die man fürs Klo bezahlen muss.«

»Du kommst mit Komplimenten echt nicht gut klar«, hatte Jon mit absurder Zärtlichkeit erwidert. Harriet hatte es aufgegeben, ihm die Nachricht seiner Mutter zu übersetzen. Das war, als wollte man einen Schlafwandler aufwecken.

»Na endlich!«, sagte Jacqueline, als sie aus dem Wagen stiegen, die steifen Glieder reckten und unbeholfen grinsten. »Wir waren kurz davor, einen Suchtrupp loszuschicken!«

Jon und Harriet waren nicht zu spät dran.

»Auf der B6160 war der Verkehr ein bisschen zäh«, sagte Jon. »Hallo, Mum. Wie sind die Zimmer? In Ordnung?«

»Okay. Dein Bruder hat um neue Kopfkissen gebeten, die waren steinhart.«

Aber klar. Martin Junior, ein humorloser kleiner Vogelmann mit aufgeplusterter Brust, startete immer mit einer Beschwerde, um von Anfang an klarzustellen, dass er seiner Umgebung überlegen war. Harriet mutmaßte, dass es ihm zwar gefiel, dass Jon die Rechnung übernahm, es ihn gleichzeitig aber zutiefst verunsicherte.

»Harriet, wie geht es dir?«, gurrte Jackie mit jener merkwürdig sarkastischen Intonation, die unter affektierten Menschen als guter Umgangston durchging.

»Danke, sehr gut. Und dir?«

»Ach, du weißt schon. Kann mich nicht beschweren.«

Wetten, doch.

Harriet hatte anfangs ehrlich versucht, mit Jackie warm zu werden. Bei ein paar Gläsern Wein zu viel hatte sie ihr einmal von Frau zu Frau erzählt, dass ihre Periode unregelmäßig kam. In der darauffolgenden Woche hatte Jackie Jon angerufen und ihm erklärt, dass Harriet ihre Fruchtbarkeit untersuchen lassen sollte.

»Wir checken schnell ein, gehen rauf und ziehen uns um und treffen euch um sechs, okay?«, sagte Jon.

»Das will ich hoffen, dass ihr euch umzieht!«, erwiderte Jackie mit gespielter Belustigung und musterte gequält Harriets übliche Jeans, T-Shirt und Doc Martens. »Bitte sagt, dass ihr was Schickes eingepackt habt!«

»Ich versuche, immer sportlich elegant zu sein, Mum!« Jon schien es für mütterliche Fürsorge zu halten und nicht die unverhohlene Stichelei gegen Harriet zu erkennen, die Jackie nur ungenügend verschleierte, indem sie so tat, als wandte sie sich an beide.

Obwohl sie wusste, dass Jons Familie eine echte Prüfung war, überraschten sie die mannigfaltigen Schrecken, wenn sie ihnen leibhaftig gegenüberstand, stets von Neuem. Eine gepfefferte Dosis Bombay Sapphire Gin war dringend geboten.

 

Ihr »Herrenhauszimmer« hatte ein urbaneres Flair, als Harriet in den Yorkshire Dales erwartet hätte. Stadt und Land trafen hier aufeinander. Auf dem Bett lag ein William-Morris-Quilt mit Vogel- und Obstmotiv, während ein Kabelknäuel mit altmodischen Glühbirnen als moderner Kronleuchter diente. Neben dem marmornen Kamin stand eine gewaltige frei stehende Kupferbadewanne mit dazugehörigem Waschkrug, um augenzwinkernd auf die Entbehrungen vergangener Jahrhunderte anzuspielen. Die Wände waren in einem dramatischen Rauchgrau gestrichen, von dem sich die zahnpastaweißen Stuckleisten grell abhoben.

Dank ihres Berufs war Harriet durchaus erfahren, was schicke Hotels anging, und dieses hier fiel in die Kategorie außergewöhnliche Luxusklasse. An einem Ort wie diesem war man praktisch dazu verpflichtet, ein Instagram-Bild mit Retrofilter unter dem Hashtag #dahabichnixdagegen oder #meinbüroheute zu posten. (Harriet war strikte Instagram-Verweigerin. »In meiner Freizeit mach ich keine Fotos!«, erklärte sie ihren besten Freundinnen Lorna und Roxy, wenn sie Harriet zum Mitmachen bewegen wollten.)

»Heilige Scheiße, Jon. Das muss ein Vermögen kosten«, platzte Harriet heraus, als sie den Rollkoffer rotierend zum Stehen brachte, und bereute sofort, dass ihre Bemerkung eher derb und geldgierig als dankbar geraten war. Trotzdem: Es musste ein Vermögen kosten.

»Na ja, es war nicht gerade ein Schnäppchen, andererseits feiert man ja auch nicht jeden Tag den vierzigsten Hochzeitstag!«

Harriet verkrampfte sich, als er beim Anblick der Taschentücher auf dem Nachtkästchen unvermeidlich danach griff und sich die Nase übertrieben lautstark schnäuzte, als wollte er die Hirnmasse durch die Nasenlöcher herauspressen. Ihr Magen revoltierte wie ein Mixer, in dem gefrorener Zement verquirlt wurde.

»Ich freue mich so, dass du da bist«, sagte Jon und schloss Harriet in die Arme, die ihn ihrerseits drückte und murmelte: »Danke, dass ich dabei sein darf.«

»Quatsch, natürlich bist du dabei! Bei dir klingt es so, als wärst du ein optionales Extra. Du gehörst doch zur Familie. Du bist mehr Familie für mich als die.«

»Ha, das will ich nicht hoffen«, sagte Harriet und entwand sich seinem Tentakelgriff. »Sonst ist das hier Inzest. Ich geh mich mal duschen, wenn das recht ist.«

»Nur zu!«, sagte Jon und fügte sich ihrer subtilen Weigerung, den Augenblick auf seine Weise zu deuten.

Er begann auf der Fernbedienung herumzudrücken. Woran lag es, dass ausnahmslos alle Männer in Hotelzimmern augenblicklich CNN in etwas zu hoher Lautstärke einschalten und in Socken auf dem Bett liegend fernsehen mussten? Wie oft hatte Harriet sich in einer großartigen Hotelsuite die Zähne geputzt, während der Nachrichtensprecher durch die Tür dröhnte, dass Gewalt und Plünderungen über Nacht weitergegangen waren und die Regierung dringend um Besonnenheit bat.

Sie zog den Reißverschluss ihres Koffers auf, kramte nach den Kleidern fürs Abendessen, einem neuen BH und einer frischen Unterhose und verfluchte sich innerlich, dass sie wegen Jackie am liebsten vor lauter Sturheit im selben T-Shirt zum Essen erscheinen würde. Oder noch besser in einem T-Shirt, auf dem AGGROMODUS AKTIVIERT stand, und Crocs mit England-Flagge.

Im Badezimmer, das vom Boden bis zur Decke mit weißen Metro-Fliesen gekachelt war und an ein superschickes Sanatorium erinnerte, stand Harriet unter dem tellergroßen Duschkopf und ließ den brühheißen Wasserstrahl auf sich prasseln. Das Haar hatte sie zu einem schlappen Dutt zusammengebunden. Sie hatte eine unglaublich dicke, strohblonde Mähne, die man für einen Segen halten mochte, doch sie ließ sich nicht anders bändigen als in dem langen, hoch angesetzten geflochtenen Glockenstrang, der zu ihrem Markenzeichen geworden war. Als Teenager hatte sie sich an einer Kurzhaarfrisur versucht, doch das Haar hatte wie eine Buchsbaumhecke vom Kopf abgestanden. Im Biologieunterricht in der Schule hatten sie einmal Haare, die sie sich vom Kopf gepflückt hatten, unter dem Mikroskop untersucht, und ihres hatte ausgesehen wie eine Weizenähre.

Als sie sich abgetrocknet und die Unterwäsche angezogen hatte, nahm sie das Kleid vom Sessel in der Ecke, dessen Polster ein chinesisches Motiv zierte. Ein Badezimmer mit Sessel, das war mal nobel.

Harriet kaufte sich selten Kleider, dieses hier aber hatte sie vor ein paar Monaten aus dem Schaufenster einer Boutique in einem pittoresken Dorf angelacht. Sie musste eineinhalb Stunden totschlagen, bevor Andy und Annette sich das Jawort gaben, und war hineingegangen, um den Stoff zu befühlen. Natürlich hatte sich der gelangweilte Verkäufer auf sie gestürzt und darauf bestanden, dass sie absolut umwerfend darin aussehen würde, und das war’s gewesen.

Es war ein smaragdgrünes, hochgeschlossenes Cheongsam, das so eng an den Unterschenkeln anlag, dass sie sich nur in Tippelschritten fortbewegen konnte. Eigentlich hatte sie heute Abend nicht unbedingt etwas derart Auffallendes tragen wollen, aber ihr Kleiderschrank gab nicht allzu viel her, und immerhin hatte es sie knapp zweihundert Pfund gekostet.

Sie musste sich eingestehen, dass die geliebte schwarze Hornbrille nicht wirklich dazu passte. Ärgerlicherweise würde Harriet also Jackie den Gefallen tun und Kontaktlinsen tragen. Behutsam tuschte sie ihre Wimpern und schlang Unmengen Haar zu einem Knoten, den sie mit Haarklammern befestigte. Sie drehte den Kopf hin und her, um ihr Werk zu begutachten. Es sah aus, als säße ihr eine riesige Zimtschnecke auf dem Kopf, aber das musste genügen. Die Kette mit dem kleinen Schlüssel, die sie immer trug, ließ sie im Ausschnitt verschwinden.

Als sie aus dem Badezimmer kam, stand Jon nackt in der Kupferwanne, goss sich Wasser aus dem Krug über den Kopf und prustete, als er versehentlich Wasser schluckte. So früh am Abend hatte sie nicht damit gerechnet, einem Penis von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, und sie kreischte kurz und hielt sich die Hand vor die Augen.

»Dir auch einen schönen Abend!«, sagte sie.

»Ihr kennt euch doch schon!«, sagte Jon fröhlich und fing an, sich energisch das Haar trocken zu rubbeln, sodass sein Gesicht unter dem Handtuch verborgen war, während sein Geschlechtsteil sacht in ihre Richtung schlenkerte wie ein Windsack in einer sanften Brise.

Jon war der Inbegriff des guten Fangs – solvent, zuverlässig. Er war gut aussehend wie ein Katalogmodel, hochgewachsen, hatte ordentlich geschnittenes dunkelbraunes Haar, strahlte keinerlei Bedrohlichkeit aus, war sauber gebügelt und hatte einen schlanken Körper, der an den Kanten langsam etwas weicher wurde. Und sein Penis hatte eine absolut annehmbare Größe. Wie Lorna sagte: Die extragroßen waren nur Garanten für ständige Blasenentzündungen.

Welches Monster wäre unzufrieden mit einem Mann wie Jonathan Barraclough?

»Wow!«, rief Jon, der sich glücklicherweise das Handtuch um die Lenden gewickelt hatte, bevor er das Wasser einigermaßen aus den Augen geblinzelt hatte und Harriet durch den Schleier erkennen konnte. »Meine Freundin, das Supermodel!«

»Ha, danke.« Harriet quälte sich in schwarze Samtpumps, die sie sonst nur auf Beerdigungen trug. Sie hatte nie ganz verstanden, warum bequeme flache Schuhe als respektlos gegenüber den Verstorbenen galten. »Ist das nicht zu viel?«

»Kein bisschen. Ernsthaft, du siehst großartig aus«, sagte Jon und kletterte aus der Wanne, was gar nicht so einfach war, nachdem sie die Ausmaße Gibraltars hatte. »Wirklich. Wow. Ich verstehe gar nicht, warum du dich nicht öfter schick machst, wo du doch so eine Wucht bist.«

»Das bin nicht wirklich ich.«

»Das bist du. Du siehst dich bloß nicht so, wie die anderen dich sehen. Stell dich hin, ich will dich ganz genau betrachten.«

Peinlich berührt stand Harriet auf, während Jon pfiff und mit einer imaginierten Groucho-Marx-Zigarre herumwedelte.

»Ich bin der größte Glückspilz auf Erden!«

3

Ich sag dir, ich würde nicht einmal nach Bristol ziehen, wenn man mich dafür bezahlt. Das ist die reinste Brutstätte von Querulanten und unzufriedenen Gammlern«, wetterte Jonathans Vater Martin senior mit der üblichen Vehemenz, als Jon und Harriet das ihnen vorbehaltene Esszimmer mit den karierten Seidenvorhängen und einem Hirschkopf an der Wand betraten.

»Guten Abend allerseits!«, sagte Jon. »Hält Dad schon seine erste Rede?«

»Dein Cousin zieht nach Temple Meads … o Gott! Das bist doch nicht du, Harriet?«, rief Jacqueline, griff sich an die Brust und taumelte einen Herzinfarkt simulierend rückwärts, während Jons Vater sagte: »Nun denn! Es geschehen noch Zeichen und Wunder!«

Jacqueline stürzte herbei, um am Stoff an Harriets Taille zu zupfen und ihn zurechtzurücken, und Harriet versteifte sich bei dieser ungebetenen physischen Einmischung.

»So! Perfekt.« Dann fügte sie hinzu: »Es ist so schön, dich mal im Kleid zu sehen.«

Angesichts des triumphierenden Tonfalls, der besagte: Da siehst du, welche Komplimente man dir macht, wenn du dich nur ein bisschen bemühst, wünschte Harriet, sie hätte sich doch für ein wütendes feministisches Statement in robusten Hosen entschieden. Mit Terroristen verhandelte man nicht.

»Danke. Und alles Gute zum Hochzeitstag.« Harriet lächelte erst Jacqueline und dann Martin senior an, der durch sie hindurchsah. Er war Ehemann und Consigliere und hatte den geröteten Oberhaus-Teint eines Mannes, der viele Jahrzehnte lang gut gegessen und getrunken hatte. Seine wichtigste Rolle in der Ehe schien zu sein, teuren Alkohol zu trinken und ganz richtig, Jackie, das Verhalten war absolut unterirdisch zu brummen, um Jacquelines Geschichten über das vielfältige Unrecht, das man ihnen antat, zu unterstreichen.

Hinter ihnen kamen Jonathans Bruder Martin junior und dessen Frau Mel mit dem missmutigen dünnen Barty in Hemd und Krawatte herein. Der Junge besuchte eine Privatschule, und seine Eltern zogen ihn so adrett an, dass er aussah, als stammte er aus einer Ära, in der Kinder Süßigkeiten mit Schillingen bezahlten und mit Steckenpferden spielten.

»Du liebe Güte, Harriet! Ich habe dich gar nicht erkannt! Ich dachte schon, Jon hätte eine neue Freundin!«, rief Martin junior aus.

»Ja, ist es nicht ganz unglaublich!«, stimmte Jackie ein. Es?

»Es ist so ungewohnt, dich in einem Kleid zu sehen … ein bisschen so, als wärst du ein Transvestit«, gluckste er, und Harriet war sprachlos angesichts dieser Grobheit, während die anderen sich krummlachten.

»Ja, sieht sie nicht umwerfend aus?«, meinte Jon, der wieder einmal auf selektive Wahrnehmung schaltete. Warum fühlte sie sich von Jon derart untergraben? Ich will deren Anerkennung doch gar nicht.

»Warum hat sich Tante Harriet ein Faschingskostüm angezogen?«, sagte Barty und sah zu seiner Mutter auf, während alle über seinen altklugen Scharfsinn johlten.

Bartys üblicher Modus Operandi war, seinen Eltern Fragen über die Anwesenden zu stellen, die nur knapp an einer Beleidigung vorbeischrammten. »Warum haben Onkel Jonathan und Tante Harriet keine Kinder?«, war letztes Weihnachten seine scheinbar unschuldige Frage gewesen, als sie gerade über dem Krabbencocktail saßen.

»Weil sie nicht verheiratet sind«, hatte sich Bartys Großmutter um eine Antwort gewunden, und Harriet war nah dran gewesen, sie zu korrigieren. Harriet hatte keinerlei moralische Einwände gegen die Ehe, sie hatte nur auch keinerlei Interesse daran. Es erschien ihr falsch, allein deshalb zu heiraten, um jemandem einen Gefallen zu tun oder die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen. Von Anfang an war sie in dieser Sache Jon gegenüber unmissverständlich deutlich gewesen, bevor er Gelegenheit hatte, irgendwelche Andeutungen fallen zu lassen. Und wann immer das Thema aufkam, bekräftigte sie ihre Haltung: Nein, für mich ist das nichts. Jetzt nicht. Und später auch nicht. Es hatte nichts persönlich mit Jon zu tun, es hatte persönlich mit ihr zu tun.

»Harriet hat gesagt, du hast in der Küche wegen der grünen Gefahr Bescheid gegeben«, sagte Jon zu seiner Mutter, als sie sich an den Tisch setzten, ihnen eine marmorierte Terrine vom Schwein serviert wurde und auf Jons Teller das dekorative Salatblatt fehlte.

»Oh, damit man der Mutter die Schuld in die Schuhe schieben kann, wenn sie es vergessen?«, gab sich Jacqueline gespielt amüsiert mit einem Blick auf Harriet.

»Jon hat mich gefragt, ob ich Bescheid gesagt hätte, und ich habe ihm erzählt, dass du dich darum kümmern wolltest«, erklärte Harriet.

»In Gottes Namen, das war doch nur ein Witz!«, erwiderte Jacqueline tadelnd mit einem Wink in Harriets Richtung, während der Kellner ihr nachschenkte. Angriffe als Spaß ausgeben und Harriet dann Überempfindlichkeit vorwerfen, wenn sie sich verteidigte? Jacqueline Barraclough würde heute Abend wieder einmal die volle Punktzahl einheimsen.

»Ich denke, es ist Zeit für einen Toast«, sagte Jon und hob seinen Malbec an, als alle anderen ihre Gläser in der Hand hielten, bis auf Barty, der geräuschvoll am Strohhalm in seiner Cola saugte. »Auf unsere wunderbaren Eltern und die bemerkenswerte Leistung von vierzig glücklichen Ehejahren. Eure Rubinhochzeit! Mögen wir alle so viel Glück haben. Und so viel Ausdauer.« Er lachte über seinen eigenen Witz.

Beim Anstoßen bemerkte Harriet, wie Martin junior mit sauertöpfischer Miene seinen im Rampenlicht stehenden Bruder musterte.

»Vielleicht will Dad ja auch ein paar Worte sagen?«, warf er dann auch demonstrativ ein, doch sein Vater hielt beim Grog-Trinken nur kurz inne, um zu sagen: »Meine Frau spricht für mich, so halten wir es seit vierzig Jahren«, und so misslang dieser Schachzug.

»Danke, dass ihr das organisiert habt. Ich habe wirklich wunderbare Söhne!«, meinte Jacqueline.

»Zeit für das Geschenk, oder?«, sagte Martin junior und nickte Barty zu. »Leg los!«

Barty behielt stur seine ratlose Miene bei, bis Melissa sich zu ihm hinunterbeugte und nachdrücklich in sein Ohr flüsterte. Barty rutschte vom Stuhl, ging ans andere Ende des Zimmers und trug ein glitzerndes, mit Geschenkschleife versehenes Päckchen herbei. Schweigend überreichte er es seiner Großmutter, die es mit ausgiebigem Gurren entgegennahm.

»Für mich?!«, fragte Jackie.

»Was sagt man da, Barty?«, flötete Mel vom anderen Tischende.

»Glückwunsch zum Hochzeitstag, Grandma«, brummte Barty widerwillig, bevor er zu seinem Stuhl zurückstampfte.

Sie riss das Geschenkpapier ab und förderte ein gerahmtes Foto zutage, das Martin und Jacqueline als junges Paar an ihrem Hochzeitstag auf den Stufen vor dem Standesamt zeigte. Martins Mähne war damals noch dunkelbraun. Jacqueline trug ein überraschend geschmackvolles schlichtes Achtzigerjahre-Hochzeitskleid aus cremefarbenem Satin und einen langen Schleier, der mit einem Haarreif an ihrem Kopf befestigt war.

»Oh, Marty! Melly! Und Bartholomew natürlich. Das wäre doch nicht nötig gewesen!«

Barty sah aus, als stimmte er ihr zu.

»Seht mal, was sie für uns gemacht haben«, sagte Jacqueline und hielt Jon und Harriet das Bild hin, als hätten sie die Übergabe nicht miterlebt.

»Du siehst wunderschön aus! Das Kleid hat dir wirklich gut gestanden«, sagte Harriet und war froh, dass sie etwas sagen konnte, das sowohl wahr als auch nett war.

»Du hättest meine Abendgarderobe geliebt, Melissa. Ich hatte so einen supersüßen Glockenmantel«, sagte Jacqueline, um klarzustellen, dass sie nur eine stilbewusste Schwiegertochter hatte.

»Ja, Mum hat an ihrem großen Tag wirklich umwerfend ausgesehen«, stimmte Jon zu, legte seine Hand auf die von Harriet und sah sie mit besitzergreifender Bewunderung an.

Das war der Moment, in dem Harriet eine leise Ahnung beschlich, ein merkwürdiges übersinnliches Unbehagen, doch sie beschloss, es zugunsten eines weiteren Glases Wein zu ignorieren.

4

Sie schafften es ohne Kontroversen bis zur Schokoladenmousse an Himbeer-Coulis mit einem Tonkabohneneis-Häubchen, bis Martin junior die Bemerkung fallen ließ: »Und wie läuft’s mit der Hochzeitsfotografiererei, Harriet?«

Er betonte das Wort so, als handle es sich um die unzureichende Verbrämung für einen Escortservice. Vielleicht lag es an den großen Mengen guten Rotweins, aber Harriet spürte, wie ihre diplomatische Haltung langsam zu schwinden begann. Sie hatte bei der Schwiegerverwandtschaft schon viele Male gedacht, sie wäre mit ihrer Geduld am Ende, und hatte doch weiter durchgehalten.

Seit zwei Jahren war sie penibelst höflich zu ihnen, doch wozu eigentlich? Sie blieb ja trotzdem die ungeliebte Außenseiterin. Was auch immer die richtige Kombination war, um den Safe zu knacken und von den Barracloughs akzeptiert zu werden, die magischen Zahlen wollten ihr nicht einfallen.

»Gut, vielen Dank«, antwortete Harriet.

»Hast du viel zu tun? Viele Buchungen? Brummt das Geschäft?«

»Ja. Die Menschen scheinen sich vom Heiraten nicht abhalten zu lassen. Trotz der sprunghaft ansteigenden Scheidungsraten.«

»Das ist aber ganz schön zynisch.« Martin machte sich bereit zum Sprung. Da wären wir also, dachte Harriet.

»Das sollte ein Witz sein. Ich finde es romantisch, dass sich niemand davon abhalten lässt.«

»Du wirkst nicht besonders scharf auf Hochzeiten, dafür, dass du deine Karriere darauf aufbaust.«

»Du hättest wahrscheinlich auch nicht mehr so viel dafür übrig, wenn du zweimal die Woche auf einer wärst.«

Er schwenkte den Wein im Glas, den Stiel zwischen den Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger, als wäre er auf einer Weinprobe.

»Warum machst du es dann, wenn es dir nichts bedeutet?«

»Ich glaube nicht, dass Harriet diese Einstellung hat«, warf Jon schwach ein und wurde ignoriert.

»Es bedeutet mir sehr viel, es ist mir wichtig, meine Arbeit für das Paar gut zu machen.« Harriet legte eine Pause ein. »Du hast mit Immobilien zu tun, aber deswegen ziehst du doch auch nicht jeden Monat um.«

»Erzähl ihnen von der Hochzeit vor einem Monat, Hats«, sagte Jon leicht verzweifelt. »Wie der Bräutigam die Fliege gemacht hat.« Er blickte in die Runde. »Im Ernst. Alle waren schon in der Kirche, und die Braut kommt im Rolls vorgefahren und erfährt, dass er sich vom Acker gemacht hat. Wie Lord Lucan, nur dass er das Kindermädchen nicht umgebracht hat. Wie ungeheuerlich! Könnt ihr euch das vorstellen?«

Melissa zog schockiert die Luft ein, und Harriet krümmte sich innerlich, dass das Unglück anderer als spannende Anekdote herhalten musste, um ihren eigenen Beliebtheitswert zu steigern.

»Das war’s eigentlich schon. Viel mehr weiß ich auch nicht«, sagte sie vorsichtig. »Er war in der Kirche, überlegte es sich anders und verschwand. Die Braut erfuhr es bei der Ankunft. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist oder warum er abhaute.«

»Was für ein schrecklicher Kerl«, sagte Jon. In Anwesenheit seiner Eltern benutzte er keine Schimpfwörter. »Das Leben einer jungen Frau derart zu zerstören!«

»Sicher haben die auch eine Menge Geld dabei verloren«, meinte Jons Dad. »Wenn man am selben Tag absagt, kriegt man nichts zurückerstattet.«

Alle nickten betroffen und murmelten: »Schrecklich.«

»Aber warum überlegt man sich so was in diesem Augenblick anders?«, fragte Melissa. »Es ist so …« Sie suchte nach einem Wort, und Harriet mutmaßte, dass es mit später Erkenntnis zu tun hatte. »… willkürlich.«

Es war das exakte Gegenteil von willkürlich, dachte Harriet. Es war eine bewusste, absichtsvolle Entscheidung in einer sehr spezifischen Angelegenheit. Und genau deshalb war es so verletzend. Harriet konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie skrupellos man sein musste, wie herzlos, um jemanden, den man doch eigentlich lieben sollte, auf diese Weise zu verlassen. Und denjenigen aus dieser Fallhöhe abstürzen zu lassen.

»Vielleicht war es ja wie in diesem Film«, meinte Jacqueline. »Wie heißt der noch? Der mit Dustin Hoffman?«

»Rain Man?«, fragte Martin junior.

»Nein, der, in dem er reinrennt und das Mädchen vom Heiraten abhält. Die Reifeprüfung, das war’s!«

»Ich habe keine andere Frau gesehen«, sagte Harriet. Wobei natürlich denkbar war, dass diese Andere zwar physisch nicht anwesend war, der Bräutigam aber nicht aufhören konnte, an sie zu denken. Oder an ihn? Nein, man sollte einer derart schrecklichen Episode nicht Glanz verleihen, indem man dem Mann irgendein romantisches Hollywoodkomödien-Motiv unterstellte.

Ob Kristina wohl ihr Hochzeitskleid feierlich im Garten verbrannt und zugesehen hatte, wie es in einer weißen Rauchfahne aufstieg? Um mit einer solchen Erfahrung fertigzuwerden, musste man sie sich offensiv zu eigen machen – so wie ein Pirat seine Narbe mit Stolz trug.

Die Nachspeisenteller waren abgeräumt, da bemerkte Harriet, dass Jonathan jemandem an der Tür nachdrücklich Zeichen gab. Er hatte ihr nichts von irgendeiner Tortenpräsentation oder dergleichen erzählt, und sie fragte sich, ob er und sein Bruder sich jetzt einen Wettbewerb im Zurschaustellen von Zuneigungsbeweisen liefern würden. Vielleicht würden sie demnächst hinauseskortiert, um einen Doppeldecker mit einem Transparent vorbeifliegen zu sehen.

Die Gespräche verstummten, als der Kellner auf Harriet zuging und mit übertriebener Geste einen Teller mit einer silbernen Haube vor ihr abstellte. Harriet blickte sich um. Keiner der anderen hatte so etwas.

Der Kellner beugte sich vor und zog den Deckel fort. Auf einem großen weißen Teller lag eine kleine viereckige Schachtel aus königsblauem Samt.

Harriet runzelte die Stirn. Sie sah auf. Nicht nur, dass kein anderer einen merkwürdigen Teller mit winziger Samtschachtel vor sich stehen hatte, darüber hinaus deuteten die aufmerksamen Blicke der anderen darauf hin, dass sie nicht annähernd so verwirrt waren wie Harriet selbst.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Mach sie auf!« Jon zitterte geradezu vor Vorfreude, und Harriet wurde leicht übel. Es war undenkbar, dass Jon so rücksichtslos, so taktlos, so bescheuert war! Bitte nicht, lieber Gott, nein. Was war hier nur los?

Sie nahm die Schachtel und drückte auf die kleine Verriegelung. Schwerfällig klappte sie auf. Auf weißem Seidenfutter lag ein Ring – ein quadratischer Diamant, flankiert von zwei kleineren, an einer Platinschiene.

Einen winzigen Augenblick lang herrschte Stille, die Harriet vorkam wie ein Abgrund, in den sie geradewegs hineinzustürzen drohte.

»Das ist ein Ring?«, sagte sie, weil ihr die Worte fehlten, und der angehaltene Atem der anderen brach sich in hysterischem Gelächter Bahn.

»Harriet entgeht so leicht nichts!«, johlte Martin junior.

»Ja, das ist ein Ring«, bestätigte Jon, während er in ihrem Gesicht nach Zustimmung suchte. »Lass uns das anständig machen.«

Er nahm ihr die Schachtel aus der feuchten, schlaffen Hand und schob seinen Stuhl zurück, um Platz zu schaffen, damit er auf die Knie gehen konnte.

»Oh, JJ!«, blökte Jackie aus dem Off, als er endlich die richtige Stellung auf dem Teppich fand. Sie war hingerissen, ihren jüngsten Sohn in der Rolle des Mr Darcy zu erleben.

Als sie Jons ernstes Gesicht sah, hatte Harriet den aufrichtigen Wunsch, sich zu übergeben. Man stelle sich das vor: auf einen Heiratsantrag zu reagieren, indem man auf den Antragsteller kotzte. Da würde selbst der durchgebrannte Bräutigam vor Neid erblassen.

Harriet drehte sich der Kopf, und ihr Herz raste, und zwar nicht im guten Sinne.

»Harriet Hatley, du machst mich zum glücklichsten Mann auf Erden. Willst du mich für den Rest meines Lebens so glücklich machen und mich heiraten?«

Die beiden stummen Sekunden, die auf diese Frage folgten, fühlten sich an wie eine ganze Kulturepoche. Verzweifelt versuchte Harriet herauszufinden, was das Beste war – was sie tun sollte –, ohne Zeit zum Nachdenken zu haben.

»Ja«, gab sie sich schließlich mit piepsiger Stimme geschlagen. »Ja, natürlich.«

Was darauf folgte, nahm sie nur mehr verschwommen wahr. Im Raum erschallte Applaus, Jon zielte mit seinem unbeholfenen Kuss halb auf ihre Lippen, halb auf die Wange, und Martin junior röhrte: »Na also, jetzt ist Champagner gefragt!«, nahm eine Messingglocke und läutete – ein Geräusch, das in Harriets Kopf wie eine Alarmanlage nachhallte –, um die Lakaien herbeizuzitieren und seine Freigebigkeit zu beweisen, indem er ein paar Flaschen Moët auf Jons Rechnung setzen ließ.

Der griff in diesem Augenblick nach Harriets linker Hand, schob ihr den Ring auf den Finger und plapperte: »Gefällt er dir? Er gehörte meiner Großmutter mütterlicherseits. Vor zwei Monaten hat Mum ihn zufällig auf dem Dachboden entdeckt und aufarbeiten lassen. Du hast es ihr zu verdanken, dass sie mich auf die Idee gebracht hat, ihn tatsächlich zu nutzen!«

Oh, das glaub ich gern.

»Hast du deine Aversion gegen Hochzeiten also überwunden!«, freute sich ihr Schwiegervater in spe etwas hämisch und deutete auf den Ring, und bevor Harriet darauf reagieren konnte, sagte Jon: »Es ist was anderes, wenn es die eigene ist, stimmt’s, Hats?«

War Harriet eine Leibeigene ohne Mitspracherecht aus vergangenen Zeiten?

Sie blickte ihre zukünftige Schwiegermutter an, die sie angrinste wie eine Rassekatze, die eine Krähe verschluckt hatte.

»Ja, er ist wunderschön. Danke, Jacqueline.«

»Willkommen in der Familie, Harriet.«

5

Im Laufe der folgenden Stunde klammerte Harriet sich an den Satz »Es gibt so viel, worüber ich nachdenken muss« wie an eine Rettungsinsel. Wie an ein Fass, das die Niagarafälle hinunterstürzt.

»Wo willst du dein Kleid kaufen?«, wollte Jacqueline wissen. Keine Ahnung, es gibt so viel, worüber ich noch nachdenken muss.

»Was ist dir lieber: eine Hochzeitsfeier in der Stadt oder auf dem Land?«, fragte Jons Vater. Oh, ich weiß nicht, es gibt noch so viel, worüber ich mir Gedanken machen muss.

Und es stimmte auch, es gab viel, worüber sie nachdenken musste. Zum Beispiel darüber, was gewesen wäre, wenn sie Nein gesagt hätte. Im Stillen warf sie sich ihre Feigheit vor, aber selbst wenn sie sich imstande gefühlt hätte, es durchzuziehen und sich dem unvermeidlichen Krach zu stellen, wusste sie doch, dass es nur ein Bruchteil dessen war, was ihr und Jon bevorstand: Sie mussten dringend reden.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als in den darauffolgenden anderthalb Stunden wiederholt und überschwänglich Meineid zu leisten. Beizupflichten, dass sie jetzt eine vom Schicksal begünstigte Frau war mit einem grenzenlosen Budget, um ihre High-Society-Hochzeit zu planen – und war Jonathans Geste heute Abend nicht süß!

»Ich hatte schon geahnt, dass er dir die entscheidende Frage stellen will«, erzählte Martin junior. »Na ja, du bist vierunddreißig, oder? Fünfunddreißig ist endgültig die Zäsur.« Er tippte sich an die Nase und starrte auf ihren Bauch, und Harriet hatte das dringende Bedürfnis, ihm den Champagner ins Gesicht zu kippen.

Immerhin konnte sie ehrlich sagen, dass sie nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, dass Jonathan ihr an diesem Abend einen Antrag machen wollte. Sie ignorierte dabei, dass sie die Sache auch deshalb nicht vorhergesehen hatte, weil sie Jon niemals für derart durchgeknallt gehalten hätte zu denken, es sei auch nur annähernd fair, romantisch oder angemessen, es in Anwesenheit seiner Eltern, seines Bruders, seiner Schwägerin und seines Neffen zu tun.

»Es ist ein so schöner Gedanke, dass euer Hochzeitstag der Tag unserer Verlobung ist«, sagte Jonathan zu seiner Mutter und lächelte dabei derart einfältig, dass Harriet sich fragte, ob das, was sie bislang für pflichtschuldiges Wohlwollen gehalten hatte, nichts als Arschkriecherei war. Nach dem Schlag, der ihr versetzt worden war, fühlte sie sich außerstande, zwischen rationaler Analyse und blinder Wut zu unterscheiden.

Als alle anfingen zu gähnen und man sich einig wurde, dass der Abend ganz unglaublich gewesen, aber es vielleicht doch an der Zeit war, ins Bett zu gehen, wusste Harriet nicht, was sie denken sollte. Was geschehen war, war unerträglich, doch was ihr bevorstand, würde höchstwahrscheinlich viel schlimmer werden.

»Jedes Mal, wenn ich den Ring an deinem Finger sehe, platze ich vor Freude«, sagte Jon und nahm sie an der Hand, als sie die mit dickem Teppich belegten Stufen zu ihrem Zimmer hinaufstiegen.

Sie zitterte bei der Aussicht auf das, was sie vorhatte. Es würde ganz und gar furchtbar werden, aber er hatte ihr wirklich keine Wahl gelassen. Es war Harriet noch nicht einmal gewährt, ein dominierendes Gefühl zu haben – die Wut auf Jonathan und das Mitleid mit ihm rangen miteinander. Egal, wie sehr er das, was kam, verdient hatte, er hatte das, was kam, nicht verdient.

Harriet befürchtete, dass er versuchen würde, sie zu küssen, und sie ihn fortschieben müsste, also ließ sie seine Hand los, steckte die Schlüsselkarte ins Schloss und trat entschlossen ins Zimmer. Rasch durchquerte sie den Raum, zog den Ring vom Finger, legte ihn auf einer antiken Kommode ab und drehte sich dann mit verschränkten Armen um. Jon beobachtete sie dabei, wirkte aber unbeeindruckt.

»Mach dir keine Sorgen um den Ring«, sagte er. »Er ist eine Menge wert, aber ich habe ihn schon bei der Hausratversicherung gemeldet, und die deckt auch ab, wenn wir ihn hier verlieren oder beschädigen. Zieh ihn also ruhig wieder an und komm her, meine atemberaubende Verlobte.«

Er sah aus wie ein Kind im Freizeitpark, dem man erklärt hatte, dass alle Fahrgeschäfte kostenlos waren.

»Jon.« Harriets Stimme war so tief und düster, dass sie gar nicht wie sie selbst klang. »Was zum Henker ist in dich gefahren?«

Unversehens veränderte sich Jons Miene, doch er blieb regungslos stehen wie eine Wühlmaus, die im Unterholz Gefahr witterte.

»Hätte ich meiner Mutter nicht anbieten sollen, dass sie bei der Anprobe des Hochzeitskleids dabei ist? Ich werde sie zurückpfeifen, wenn es dir zu viel wird, versprochen. Ich weiß ja, dass du so viel Tamtam nicht magst.«

»Nein!«, kreischte Harriet, weil sie nicht fassen konnte, dass er noch immer nicht verstand, was er angerichtet hatte, und Jon zuckte zusammen. Ihr wurde bewusst, dass sie ihre Gefühle in Schach halten musste, damit man in den anderen Zimmern nichts mitbekam. »Ich meine, warum hast du mir einen Antrag gemacht? Vor deiner kompletten verdammten Familie?«

»Weil ich dich sehr gerne heiraten möchte«, erwiderte er und stützte einen Ellbogen auf dem Kaminsims ab, während das Lächeln langsam wieder in sein Gesicht zurückkehrte. Ihr war klar, dass er ziemlich betrunken und in Hochstimmung war, und so voll Ehrfurcht darüber, der zukünftigen Mrs Barraclough (junior) gegenüberzustehen, dass sein Glück für sie beide ausreichte. Ihr Genörgel könnte seiner unaufhaltsamen, unüberwindlichen Freude nicht standhalten. Ganz bestimmt würde sie sich von seiner rauschhaften Gewissheit anstecken lassen, dass ihnen die reine Glückseligkeit bevorstand. Als wäre Verliebtheit eine ansteckende Krankheit.

»Ich habe immer ganz klar gesagt, dass ich nicht heiraten will. Das weißt du. Darüber habe ich dich nie im Zweifel gelassen.«

»Äh. Aber … warum hast du dann Ja gesagt?«, erwiderte Jon, und obwohl Harriet mit dieser Reaktion gerechnet hatte, musste sie die Fingernägel in die Handfläche graben, um nicht loszubrüllen.

»Meinst du das ernst? Was blieb mir denn anderes übrig? Vor deinen Eltern? Kannst du dir nur annähernd vorstellen, was für eine Tortur das für mich war?«

Jon straffte die Schultern, während er ihre Worte auf sich wirken ließ. Gleichzeitig war offensichtlich, dass er panisch nach einem Ausweg suchte: Okay, sie ist wirklich wütend, lass mich nachdenken, Konfliktlösung, wie kann ich mich dafür entschuldigen, dass ich bei dem Antrag derart danebengegriffen habe, sie besänftigen und ihr das Gefühl geben, sie zu verstehen? Damit wir uns versöhnen, im Bett löffelliegen und vielleicht sogar über die Angelegenheit lachen können? Was bin ich nur für einer!

»O Gott, Hats, es tut mir leid. Du hast völlig recht. Ich habe nicht nachgedacht, wie das für dich sein könnte. Als meine Mutter den Ring gefunden hat, war ich so aufgeregt, sie hat gemeint, sie gibt ihn mir, wenn wir uns hier sehen, aber ich konnte es nicht erwarten, und dann hat sich die Idee in meinem Kopf festgesetzt. Und Mum hat geschworen, dass ich ihnen damit die Schau nicht stehle, nett, wie sie ist.«

Es war so typisch für Jon, dass er unvorsichtig genug war, die ruhmreiche Schlüsselrolle seiner Mutter in dieser beschissenen Darbietung hervorzuheben. Anders als Jon war Jackie nicht arglos, ihr musste klar gewesen sein, wie übergriffig diese Aktion war und dass die Familie sich in eine private Angelegenheit einmischte. Ohne jeden Zweifel hatte sie den Plan ausgeheckt, kaum dass sie den Ring gefunden hatte, und es war nicht schwer gewesen, ihren Sohn in die richtige Richtung zu bugsieren. Wenn Barty in dieser Version von Game of Thrones den Joffrey abgab, dann war Jackie Lady Olenna Tyrell. Sag’s ihr, Harriet soll ruhig wissen, dass ich es war.

»Irgendwie sind mir die Pferde durchgegangen. Jetzt ist mir klar, dass du den Eindruck haben musstest, dass ich dich damit in die Enge treibe.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, ich war in der Enge. Ich will nicht heiraten! Das weißt du. Wir haben uns ganz ausdrücklich darüber unterhalten.«

»Ja aber …« Er hob die Arme und ließ sie wieder fallen als Ausdruck seiner Ratlosigkeit. »Die Leute sagen doch ständig irgendwelche Sachen, die sie nicht meinen. Ich sage jeden Sommer, dass ich meinen Job hinschmeiße und Paddellehrer werde. Ich dachte einfach, du willst witzig sein. Und dass dich die Vorstellung wegen deiner Arbeit ein bisschen langweilt. Ich dachte, wenn es eine Hochzeit ganz nach deinem Geschmack ist …«

»Nach meinen Geschmack? Denkst du wirklich, dass ich die Chance ergreife, weil du mir anbietest, dafür zu bezahlen? Meinst du, ich werfe meine Überzeugungen mal so eben über Bord?«

»Nein!«

Aber er tat es doch, er dachte, dass sein Reichtum alles richten konnte. Wenn er den roten Teppich ausrollte, dann bekäme er im Gegenzug seinen Willen. Jon war kein zynischer Mensch, aber so funktionierte seine Rechnung.

»Du hast wirklich geglaubt, dass meine dummen Klein-Mädchen-Einwände sich schon verflüchtigen, wenn ich eine Party organisieren darf? Eine von diesen lächerlichen feministischen Ideen, die im echten Leben keine Rolle spielen?«

»Bitte, Hats, ich käme nie auf die Idee, dass deine Meinung keine Rolle spielt, das weißt du. Jetzt bist du ein bisschen ungerecht«, sagte Jon, und Harriet unterdrückte einen Schrei. »Wahrscheinlich dachte ich einfach … Es klingt vielleicht lächerlich, aber ich dachte, fragen kostet nichts. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Du könntest ja Nein sagen.«

»Nur stimmt das nicht ganz, wenn Publikum anwesend ist, Jon.«

Noch dazu ein feindseliges Publikum.

An dieser Stelle schien seine selbstzufriedene Blase endgültig zu platzen, und er kam mit bittend erhobenen Händen einen Schritt auf sie zu.

»Verdammte Scheiße, das habe ich gründlich in den Sand gesetzt.«

Harriet schwieg. In ihren Ohren und Augen wirkte es noch immer nicht wie echte Zerknirschung. Sie hatte den Eindruck, dass er ihr noch immer nicht glaubte. Harriet hatte ihm ein Hindernis in den Weg gestellt, das er überwinden musste, mehr nicht. Wenn sie es dabei beließen, dann hätte sich der Traum bis morgen behauptet, so mächtig war er. Jon würde fröhlich pfeifen und sich insgeheim überlegen, wie er eine lustige Version dieser Auseinandersetzung in die Hochzeitsrede einfließen lassen könnte. Was war ich nur für einer!

»Also … Willst du die Verlobung offiziell lösen oder das Ganze einfach nur auf Eis legen? Wir können ja sagen, dass wir eine lange Verlobungszeit wollen. Aber bitte behalte den Ring. Er steht dir so gut. Wir können ihn ein Symbol unserer Verbindung oder so nennen.«

Der Ring. Nach allem, was sie gesagt hatte, zerbrach er sich den Kopf über ein Schmuckstück. Harriet spürte ein Kribbeln an der Wirbelsäule, und zum zweiten Mal an diesem Abend wurde ihr achterbahnabfahrtsartig übel. Wie war es nur so weit gekommen? Wer war sie? Und plötzlich war die Antwort glasklar. Das, was ihr das Bauchgefühl schon eine ganze Weile hatte sagen wollen. Sie hatte die Botschaften wie ungeöffnete Rechnungen ignoriert, und nun stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür.

Tief holte sie Luft.

»Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein, Jonathan. Es ist vorbei.«

6

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an, und seine Haut nahm eine schreckliche, kalkweiße Tönung an, kreidebleich wie die Zierleisten. Seine Seele erstarb in Echtzeit.

Schließlich sagte er: »Das meinst du nicht ernst …? Du willst dich trennen?«

»Ja.«

»Weil ich einen Heiratsantrag vermasselt habe? Harriet, das ist lächerlich. Es steht dir absolut zu, wütend zu sein, aber bitte mach kein übertriebenes Drama daraus.« Kurz hielt er inne. »Du musst mich nicht noch mehr bestrafen, um mir klarzumachen, wie sauer du bist.«

Sie schluckte schwer, als ihr die Tränen hochstiegen. »Ich würde so was nie sagen, ohne dass ich es meine, nur um dich zu bestrafen. Das wäre widerlich.«

»Warum sagst du es dann ausgerechnet jetzt?«

»Du hast das Thema mehr oder weniger erzwungen«, brachte sie mühsam heraus.

»Also warst du auch vor dem Antrag nicht mehr glücklich?«

Tief einatmen. Sag es.

»Nein.«

»Wirklich?«, sagte Jon mit gebrochener Stimme, die ihrem Herz einen Stich versetzte.

»Ja.«

»Du liebst mich nicht?«

Harriet schloss die Augen. »Nicht so, wie ich sollte.«

»Was zum Teufel soll das bedeuten?«

»Einfach nur … genau das.« Sie machte die Augen wieder auf. Es war, als wäre Jon in seinen Kleidern geschrumpft. Sie hasste sich selbst.

»Wie liebst du mich denn? Wie einen Hamster?«

»Ich habe das Gefühl, dass wir uns auseinandergelebt haben.«

»Oh, heute Abend werden wohl die üblichen faulen Klischees aufgefahren! Was kommt als Nächstes? Du liebst mich, aber du bist nicht verliebt in mich?«

Harriet sagte nichts.

Irgendwie war ihr immer klar gewesen, dass diese Unterhaltung kaum weniger traumatisch für sie sein würde als für Jon, weshalb sie sie auch am liebsten vermieden hätte. Harriet hatte kein Talent für Feindseligkeiten.

Trotzdem war das Gespräch noch schlimmer, als sie es sich hätte vorstellen können. Dem Bild im Kopf fehlte die hässliche, dumpfe Leere, die sie umgab, als sei der Sauerstoffgehalt in der Luft plötzlich abgefallen.

Jon ging durchs Zimmer, setzte sich aufs Bett und stützte den Kopf in die Hände. Als er wieder zu ihr aufsah, waren seine Augen rot gerändert.

»Eben noch war ich drauf und dran, die Liebe meines Lebens zu heiraten. Das kann doch alles nicht wahr sein.«

»Du warst nicht drauf und dran zu heiraten«, sagte Harriet leise und wischte sich mit der Hand über die Augen. Angesichts von Jons Kummer wäre es ihr manipulativ erschienen zu weinen, also unterdrückte sie die Tränen so weit wie möglich.

»Nein. Nein, offenbar nicht. Scheiße.«

Voller Verzweiflung streckte er die Arme aus.

»Ich versteh das nicht, wir waren doch glücklich. Du hast doch vollkommen glücklich gewirkt. Verdammt noch mal, Harriet?«

»Ich war glücklich! Und wie! Ich bereue nicht, dass wir zusammen waren.« Das war nicht die ganze Wahrheit, doch es gab Momente, in denen eine Lüge aus Barmherzigkeit ihre Berechtigung hatte. »Aber wir sind so verschieden, Jon. Das hat der heutige Abend bewiesen.«

»Was soll ich tun, was kann ich tun, damit du bei mir bleibst?«

Ein tiefer Atemzug. Sag es.

»Nichts.« Harriet versuchte, es sanft klingen zu lassen, auch wenn es alles andere als sanft war. »Ich packe meine Sachen und bestelle mir ein Uber, falls es in der Nähe so was gibt.«

Jons Kopf fuhr hoch. »O nein, doch nicht um diese Uhrzeit. Mach dich nicht lächerlich. Ich kann auch auf dem Boden schlafen, wenn du willst.« Harriet war sich nicht sicher, ob dieses Angebot ritterlich oder märtyrerhaft zu deuten war – egal wie, es machte sie wütend.

»Ich würde morgen äußerst ungern deiner Familie unter die Augen treten«, sagte sie.

Jon schwieg. Offensichtlich wurde ihm bewusst, dass auch er ihnen entgegentreten müsste, und trotz ihres geteilten Kummers empfand sie eine gewisse Selbstgerechtigkeit darüber, dass ihm nun endlich aufgehen musste, wie bescheuert es gewesen war, die ganze Sippe in die Sache hineinzuziehen.

»Wir könnten morgen in aller Früh aufbrechen«, meinte Jon.

Harriet dachte nach. Das schien tatsächlich sinnvoller, als um Mitternacht zu versuchen, hier aus der Pampa wegzukommen. Das Problem an Jons Plan aber war, dass sie noch viele Stunden in seiner Gesellschaft verbringen müsste. Er würde die Zeit nutzen und versuchen, sie umzustimmen, und selbst wenn nicht, war die Aussicht, mit jemandem, von dem man sich eben erst getrennt hatte, viele Stunden auf engstem Raum zu verbringen, alles andere als verlockend. Noch schlimmer wäre allerdings, wenn sie kein Taxi auftreiben könnte und dann zerknirscht auf Jons Angebot zurückkommen müsste. Außerdem war es eine Illusion zu denken, sie könnte vom Schauplatz des Verbrechens fliehen, da sie ohnehin in sein Haus zurückkehren und in seinem Gästezimmer übernachten musste. Fürs Erste konnte sie die Nähe zu Jon nicht vermeiden.

»In Ordnung«, sagte sie schließlich. »Aber ich schlafe auf dem Boden.«

»Sei nicht dumm«, sagte Jon, und sie wusste, dass er zu sehr Kavalier war, um das zuzulassen.

Die Inspektion des Bettzeugs ergab, dass sie die Teile unmöglich auseinanderdividieren konnten, doch das Bett war riesig, und sie beschlossen, es sich zu teilen. Beschämenderweise stellte sich dabei auch heraus, dass Jonathan jemanden beauftragt hatte, Rosenblütenblätter darauf zu verteilen. Harriet musste sie wortlos zur Seite wischen, als wären es Flusen. Nacheinander zogen sie sich im Badezimmer um und lagen dann, ein Polster zwischen sich, im Dunkeln und bemühten sich, geräuschlos zu atmen, während sich der Raum mit der Kakofonie ihrer Gedanken füllte.

 

Im Morgengrauen wurde Harriet vom Geräusch der Toilettenspülung geweckt. Schwach und grau fiel die Sonne an den Seiten der Brokatvorhänge herein. Das grausige Drehbuch ihrer Trennung hatte sie den Großteil der Nacht wach gehalten, sie hatte sämtliche Tiefpunkte rekapituliert, und unter den Nachwehen hatte ihre Haut noch immer gekribbelt. Erst jetzt in der Morgendämmerung bemerkte sie die Champagnerflasche auf einem Couchtisch, die ganz offensichtlich während des Abendessens dort deponiert worden war und ungeöffnet in dem Kühleimer im geschmolzenen Eis stand, daneben zwei schimmernde Sektflöten.

»Harriet. Bitte verlass mich nicht.«

Sie blickte zu Jon, der mit tränenüberströmtem Gesicht im Halbdunkel stand.

»Bitte. Ich flehe dich an. Du brichst mir das Herz. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Harriet. Bitte. Bleib bei mir.«

Mit heiserer Stimme sagte Harriet: »Das kann ich nicht. Es tut mir leid.«

»Und wenn wir uns auf eine Pause einigen, eine Trennung auf Zeit?«

»Es würde nichts ändern.«

»Gibt es einen anderen?«

»Nein, definitiv nicht.«

Schnaufend unterdrückte Jon ein Schluchzen.

»Weißt du, fast wünschte ich, da wäre jemand. Dann gäbe es wenigstens einen Grund. Einen Menschen, gegen den ich antreten kann.«

»Jon«, sagte Harriet so behutsam wie möglich, während ihr selbst eine Träne über die Wange lief. »Du hast nichts falsch gemacht. Von dem Antrag abgesehen.«

»Abgesehen davon, dass ich nicht der bin, den du willst.«

Er bedeckte das Gesicht mit der Hand und weinte, die Art Weinen, die einem den Brustkorb durchschüttelt. Sie konnte ihn nicht in den Arm nehmen, die Berührung wäre ihr falsch vorgekommen. Und zum ersten Mal, seit gestern Abend die Zimmertür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, ließ Harriet den Tränen freien Lauf, wobei sie sich mit dem Schlafanzugärmel grob das Gesicht trocknete.