Fashion Victim - Corrie Jackson - E-Book

Fashion Victim E-Book

Corrie Jackson

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Beschreibung

»Rose Hotel. Zimmer 538. Sie ist tot.« Als Sophie Kent, eine junge, aufstrebende Journalistin eines Nachts diese anonyme SMS bekommt, ist ihr sofort klar: Das könnte die Story ihres Lebens sein. Doch als sie die übel zugerichtete Frauenleiche in Zimmer 538 sieht, ist Sophie erschüttert. Das Opfer ist Natalia, ihre Informantin und Model der Londoner Fashion Week. Sophie beginnt zu recherchieren. Nach und nach deckt sie grausame Abgründe der Mode-Industrie auf – und riskiert für die Wahrheit schließlich ihr eigenes Leben.

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Für James T. C. B

Übersetzung aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer

ISBN 978-3-492-97617-6 Juli 2017 © Corrie Jackson 2016 Titel der englischen Originalausgabe: »Breaking Dead«, Twenty7/Bonnier Publishing UK, London 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2017 Covergestaltung: semper smile, München Coverabbildung: Gordan/shutterstock (Rahmen); tugolukof/shutterstock (Frau); Gile68/shutterstock (Frame) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

 

 

Wie in dem Ohr des Mohren ein Rubin,

So hängt der Holden Schönheit an den Wangen

Der Nacht; zu hoch, zu himmlisch dem Verlangen.

 

– William Shakespeare, Romeo und Julia

 

 

Ihre Haut ist perfekt.

Rosa und straff. Die kalte Nachtluft überzieht sie mit einer Gänsehaut. Bei diesem Anblick durchfährt es mich heiß. In mir erwachen Verlangen, Begehren und Wut. Rasende Wut, die ich kaum ertragen kann.

Sie liegt mit ausgestreckten Armen und Beinen auf der Matratze, die Augen geschlossen; das dunkle Haar hängt ihr in nassen Strähnen in die Stirn. Ich ziehe an meiner Zigarette. Beobachte sie durch den Rauch. Sie dreht den Kopf von mir weg. Egal. Ich muss ihr Gesicht nicht sehen. Ich kenne es so gut wie mein eigenes. Kann mir die dunkle Wölbung über ihren Augenlidern vorstellen, den Erdbeermund.

In der Ferne schreit ein Fuchs. Ich neige den Kopf, drehe die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Brise, die durch die Fenster des Schuppens hereinweht, zupft an meinem Haar wie ein Kleinkind mit klebrigen Händen. Ich drücke ihr die Zigarette in die Halsgrube.

Das heiße, rote Zischen verbrennender Haut.

Mein Körper summt.

Jemand bewegt sich neben mir, bricht den Zauber.

»Bereit?« Seine Stimme klingt barsch.

»Lass dir Zeit. Die geht heute nirgends mehr hin.« Mein Blick gleitet zu den Fesseln an ihren Handgelenken, dem Klebeband über ihrem Mund.

Schatten stehen an der Wand, schauen uns zu, warten darauf, dass sie an der Reihe sind. Das Ende ist nah, da bin ich mir sicher. Diese violetten, schmerzerfüllten Nächte sind nicht mehr genug. Sie ist nicht mehr genug. Ich sehe doch, wie schnell uns das Lächeln gefriert und die Blicke sich wieder trüben, sobald es vorbei ist.

Er geht an mir vorbei. Ein Hauch von altem Schweiß und Birnenbonbons streift mich. Ich höre, wie das Bonbon gegen seine Zähne klackt.

Er kniet sich neben sie. Schnallt seinen Gürtel auf. Ich kann nicht wegsehen. Sie dreht sich zu mir. Ein stilles Flehen in der Dunkelheit. Ihre Pupillen glänzen schwarz wie Lakritz.

Mein Daddy mochte Lakritz am liebsten. Wenn er mich angefasst hat, hat er mir hinterher immer eine Lakritzschnecke gegeben.

Ich starre auf die Wunde, die an ihrem Hals Blasen wirft.

Jetzt ist ihre Haut perfekt.

1

Februar 2014

Die dünne Frostschicht auf dem Rasen knirschte unter meinen Schritten, während ich am Absperrband entlangging und mir einen Überblick verschaffte. Ein Teil der Axt schimmerte im winterlich blauen Licht auf. Der Rest steckte im Schädel des Jungen. Auf dem buttergelben Griff stand der Name des Herstellers, ich konnte ihn aus der Entfernung nicht entziffern. Dann eben später, auf den Fotos. Solche Details bezog ich gerne in meine Artikel mit ein.

Die bitterkalte Luft schmerzte beim Einatmen. Eine unheimliche Stille lag über der Szenerie. Ich hatte gerade mit dem Fotografen in einer angrenzenden Straße die Zeugen eines Überfalls interviewt, als plötzlich Sirenen durch die Luft schrillten. Wir folgten dem Blaulicht und trafen nur Sekunden nach der Polizei im Milton Way ein. Die Spurensicherung hatte gerade erst ihre Arbeit aufgenommen – nicht, dass es Zweifel an der Todesursache gegeben hätte.

»Ach du Scheiße.« Ned Masons Stimme klang leise, wie aus weiter Ferne, obwohl er so dicht neben mir stand, dass ich noch den kalten Rauch seiner letzten Zigarette riechen konnte. »Ist das eine Axt?«

Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern betätigte hektisch den Auslöser. Offenbar hatte er sich schon wieder gefangen und hielt die entscheidenden Details fest. Das hochgerutschte Hosenbein über der dünnen, dunklen Wade. Den abgenutzten Turnschuh, den der Junge verloren hatte. Die Haarbüschel zwischen der klebrigen roten Schweinerei. Mein Blick kroch weiter, über den dunkelblauen Parka. Eine Erinnerung stieg in mir auf. Ich schüttelte sie ab und konzentrierte mich auf die ausgestreckten Arme des Jungen. Noch immer krallten sich die Finger in das mit Raureif überzogene Gras, an dem er sich hatte fortziehen wollen.

Ned sah sich um. »Die Kavallerie rückt an.«

Ein untersetzter Beamter stürzte mit einer Abdeckplane unter dem Arm auf uns zu.

»Können Sie mir etwas über den Jungen sagen?«

Er musterte mich aus kleinen Frettchenaugen. »Wer will das wissen?«

Ich streckte ihm meinen Presseausweis entgegen. »Sophie Kent, London Herald.«

»Na dann, Sophie Kent. Wenn Sie hier irgendwo ein Gesicht finden, anhand dessen wir ihn identifizieren können, sag ich dem Chief Bescheid.«

Ich zückte meinen Notizblock, obwohl mir seine Miene mehr als deutlich verriet, dass es Zeitverschwendung war. »Wer hat ihn gefunden? Wie lange liegt er schon hier?«

Der Beamte deckte die Leiche ab und zog die Plane zurecht, wobei er über der Axt kurz zögerte. Als er sich wieder aufrichtete, war er noch eine Spur bleicher.

»Tut mir leid, Schätzchen. Ich hab striktes Fraternisierungsverbot mit eurer Zunft. Schade eigentlich. Mit Ihnen würd ich gern mal fraternisieren.« Er grinste mich unverhohlen an, doch die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich ging nicht auf die Bemerkung ein. Kaum verwunderlich, dass der Druck zunahm. Mein Chefredakteur würde das hier einen VWM nennen. Einen Verdammt Wichtigen Mord – und zwar mit Großbuchstaben und Ausrufezeichen. Der zwanzigste tote Teenager, seit der Commissioner vor neun Monaten öffentlich ein härteres Durchgreifen gegen Straßenkriminalität verkündet hatte. Diesen Jungen würde die Presse zum Symbol des Versagens der Londoner Polizei stilisieren. Kein Wunder, dass der Beamte nicht zum Plaudern aufgelegt war.

Er stapfte zurück zu den vor der Sozialsiedlung aufgereihten Polizeibussen und hinterließ dabei grüne Fußspuren im Frost.

Ned schielte angestrengt auf seine Kamera. »Ich hab was von der Leiche und was von der Axt drauf. Sonst noch was?«

Ich sah hinüber zum Parka des Jungen, zum runden goldenen Logo auf dem Ärmel. Vor meinen Augen tauchte der gleiche Parka auf – nur, dass er einen dürren weißen Körper mit silberblonden Haaren verhüllte –, und ich kniff die Augen fest zusammen.

Dann holte ich tief Luft und bemühte mich um einen ruhigen Tonfall. »Schieß ein paar Fotos von der Menge, den Trauernden. Ich will Nahaufnahmen von den Blumen und Botschaften, die hier niedergelegt werden. Alles, was mir seine Geschichte erzählt.« Der Junge mochte als Symbol für die schwindende Polizeipräsenz in der Hauptstadt enden, aber ich würde dafür sorgen, dass man ihn nicht auf eine Nummer in einer Statistik reduzierte.

Ned tat so, als würde er nicht merken, dass ich um Fassung rang. Er maß die Szene mit scharfen, grauen Augen. »So was sieht man auch nicht jeden Tag, hm?«

Ich räusperte mich, trat auf der Stelle, um meine Füße aufzuwärmen. Ein grüner Rucksack lag neben der Leiche, der Inhalt war auf dem Boden verteilt. Eine Plastikbrotdose neben einer ramponierten Ausgabe von Romeo und Julia. Der Umschlag eines Biologiebuchs flappte im Wind. »Er war noch jung. Auf dem Heimweg von der Schule, der arme Junge.« Meine Stimme brach.

Dieses Mal warf mir Ned einen besorgten Blick zu. »Alles okay?«

Ich betrachtete den Himmel, der in der Dämmerung immer dunkler wurde. »Mir geht’s gut.«

Ned zögerte, dann hängte er sich die Kamera um den Hals. »Sobald ich fertig bin, komme ich wieder.«

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge wie ein in die Jahre gekommener Boxer. Mit vierundsechzig war Ned deutlich älter als andere Fotojournalisten, aber was ihm an jugendlicher Finesse fehlte, machte er mit seiner Erfahrung wett. Ned mochte zwar mit einem Bein in »Gottes Abflughalle« stehen, wie er sich ausdrückte, aber ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er das perfekte Bild liefern würde.

In der Ferne dröhnten die Rotoren eines Fernsehhubschraubers. Mit klopfendem Herzen beobachtete ich das um sich greifende Chaos. Hier und da klammerten sich ein paar Augenzeugen aneinander, verloren im zuckenden Blaulicht. Reporter und Filmteams eilten zwischen ihnen hin und her wie ein paar Eichhörnchen auf Speed. Wenn ich mich dazugesellte, stünde ich am Ende mit denselben O-Tönen da. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.

Also sah ich mich in der Hochhaussiedlung um. Der Mord war hinter einer Reihe parkender Autos geschehen, auf dem Brachland vor einem der Häuser. Aus einer Wohnung auf der rechten Seite im dritten Stock hätte man die beste Sicht. Ich lief zum Haus und nahm immer zwei Stufen auf einmal, wich einem benutzten Kondom und einer leeren Burger-King-Box aus. Oben angekommen, rang ich nach Atem. Beißender Uringestank stieg mir in die Nase.

Ich klopfte an die erste Tür.

Eine ältere Dame öffnete. Sie war klein, etwa so groß wie ich, und rund wie ein Fass. Um ihren Hals hing eine Kette mit Christophorus-Anhänger.

»Hallo, ich arbeite für den London Herald. Können Sie mir etwas über den Vorfall da unten erzählen?«

»Ich hab nix gesehen«, meckerte sie. Sie schob sich die dicke Brille auf dem Nasenrücken nach oben, und ein tiefroter Abdruck kam zum Vorschein. »Aber ist doch klar. Drogen. Ich wohne seit über vierzig Jahren hier, früher war das mal ’ne anständige Gegend. Wissen Sie, wie viele Kinder hier in letzter Zeit umgebracht worden sind?«

Das wusste ich in der Tat. Schließlich hatte ich über die meisten berichtet.

Am Ende des Flurs sah ich eine große junge Frau, die gerade in ihrer Wohnung verschwand. »Warte!« Sie drehte sich um, und in ihrem Blick sah ich so heftige Angst, dass ich für einen Moment aus dem Konzept geriet. Ich musterte ihr Gesicht, das von den dunkelbraunen Haaren eingerahmt wurde, die zarten, elfenhaften Züge und vollen Lippen, die sie nervös hochzog, sodass ich ihre Zahnlücke sehen konnte. Sie starrte auf den Boden und hielt mit aller Kraft die Tränen zurück. Ihr Kinn verzog sich vor lauter Anstrengung. »Hey, ist alles in Ordnung?«

Das Mädchen wischte sich mit zitternder Hand über die Augen. Ein blauer Schmetterling zierte den unteren Teil ihres Mittelfingers. Sie wollte die Tür schließen, doch ich hielt sie auf.

»Bitte, ich will dir nur helfen.«

Das Mädchen sagte nichts. Aber sie ließ die Tür für mich offen. Ich folgte ihr in ein winziges, von Zigarettenrauch vernebeltes Wohnzimmer. An den feuchten Wänden wölbte sich die gelbe Farbe wie Akne. Hier drinnen war es kaum wärmer als im Freien. Ich zog den Mantel enger um mich und wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie ließ sich nur auf das graue Sofa fallen, schlug ein langes, dünnes Bein über das andere und steckte sich eine schon halb heruntergebrannte Zigarette an. Der Rauch stieg an die Decke.

»Kanntest du das Opfer?«

Sie starrte mich mit leerem Blick an. Im Bücherregal sah ich ein russisches Wörterbuch.

»Kommst du aus Russland?« Ich setzte mich neben sie. Etwas zuckte durch ihren veilchenblauen Blick. »Wie heißt du?«

Sie zog lange an der Zigarette und blies den Rauch in einem weißen Strom aus. »Natalia.«

Ihre Stimme klang tiefer, als ich erwartet hatte. Trotz der Kälte trug sie nur ein T-Shirt und einen kurzen, geblümten Rock.

»Wie alt bist du?«

Sie zögerte kurz. »Achtzehn.«

»Wie lange bist du schon in London?«

Natalia drückte die Kippe in einem überquellenden Aschenbecher aus. »Drei Monate.«

Sie ging nicht weiter darauf ein, und ich drängte sie nicht. Halb unter dem Sofa lag eine schwarze Mappe mit goldener Prägung: Models International. Das erklärte die feinen Gesichtszüge und die schlanke Gestalt.

»Wohnst du allein hier?«

Natalia steckte sich mit zitternden Händen eine neue Zigarette an. »Mit Eva. Sie ist bei einem Casting.«

Mein Abgabetermin saß mir im Nacken, und unruhig ging ich zum Fenster hinüber. Die Tüllgardine fühlte sich zwischen meinen Fingern feucht an.

Die Spurensicherung baute gerade ein weißes Zelt über der Leiche auf. Der blaue Parka. Ich schüttelte den Kopf. »Weinst du deswegen? Hast du irgendwas gesehen?«

Natalia rappelte sich hoch und trat neben mich ans Fenster. Wässriges Tageslicht sickerte durch die schmutzige Scheibe, und ich sah mir ihr Gesicht genauer an. Haut wie Perlmutt, auf der Wange ein hässlicher blauer Fleck. Sie schaute aus dem Fenster und schlug sich die Hand vor den Mund. Ein Armband aus blauen Flecken leuchtete an ihrem Handgelenk. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass sich ihr Haar aus dem Dutt löste und ihr auf die Schultern fiel, sie verlor das Gleichgewicht. Ich manövrierte sie zurück zur Couch.

»Natalia, willst du mir nicht sagen, was mit deinem Gesicht passiert ist?«

Sie versank in ihrem Sofa und zog sich den Rock straff über die bleichen Oberschenkel. Das runde braune Muttermal, das einem alten Penny ähnelte, war jedoch immer noch sichtbar.

»War ein Unfall. Bin ausgerutscht.« Sie sah mich tieftraurig an. »Bitte, gehen Sie.«

»Ich gehe erst, wenn du mich dir helfen lässt.«

Natalia biss sich auf die Unterlippe. »Ich kann hier nicht reden. Lieber woanders.«

»Wo?«

Sie zuckte mit den Schultern, ihr Blick war voller Angst. Ich schnappte mir ihr Handy und wählte meine Nummer. In meiner Handtasche klingelte es. »Ich schicke dir nachher die Adresse von einem Pub hier in der Nähe. Können wir uns heute Abend dort treffen?« Natalia schüttelte den Kopf. »Morgen?« Sie nickte fast unmerklich.

Vor der Wohnung lehnte ich mich an die kalte Betonwand. Ich durfte jetzt nicht stehen bleiben. Ich wusste genau, was dann passieren würde.

An der dritten Tür erfuhr ich, dass das Opfer der vierzehnjährige Jason Danby war, ein Musterschüler und leidenschaftlicher FC-Millwall-Fan, der bei seiner Tante Mary im Wohnblock gegenüber gelebt hatte. Sein älterer Bruder Jermaine war Mitglied in einer berüchtigten Gang namens The Red-Skilled Boys und hing oft in der Siedlung herum. Sein Markenzeichen: ein dunkelblauer Parka. Ein ältlicher Herr mit grau meliertem Haar erzählte mir, er habe einen Schrei gehört, aus dem Fenster geschaut und das Blut aus dem Schädel des Jungen fließen sehen. Er habe gedacht, es sei Jermaine, bis er den Rucksack erkannt habe. Er nahm meine Karte und schloss kopfschüttelnd die Tür.

Unten auf dem Rasen näherte sich ein Pathologe dem Zelt. Mach weiter. Ich schloss die Augen und rief mir die Szene ins Gedächtnis. Blutverschmiertes Gesicht, blütenweiße Socken. Erfrorene Fingerspitzen, klebrige Axt. Mach weiter.

Wie von selbst bewegte sich meine Hand zu dem kleinen silbernen T, das an einer Kette um meinem Hals hing. Ich spürte die vertraute Form, drückte mir die Enden in die Fingerspitzen. Plötzlich überkam mich das Grauen, schwer wie nasse Erde. Ich wappnete mich für den Zusammenbruch. Mein Herz hämmerte wie wild. Mein Atem ging hektisch. Eine kalte, eiserne Faust schloss sich um mein Herz. Ich grub mir die Fingernägel in die Handflächen und hoffte, es werde vorübergehen. Die Übelkeit wich einem dumpfen Schmerz. Ich heulte auf, und trat mit aller Kraft gegen die Wand.

Dann stolperte ich weiter, hämmerte an die nächste Tür. Die billige Sperrholzplatte vibrierte unter meinen Knöcheln. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ein drahtiger Junge mit Afro und blauer Kapuzenjacke spähte hindurch.

»Ja?«

»Sophie Kent, ich arbeite für den London …«

Er schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich klopfte erneut.

»Verpiss dich«, klang es gedämpft und wütend von der anderen Seite.

Ich warf mich gegen die Tür. »Ich will wissen, was du gesehen hast! Hör auf, dich zu verstecken, du Idiot. Ich will helfen!«

»Sophie?« Ned fasste mich bei der Schulter. »Was machst du da?«

Ich schüttelte ihn ab und taumelte gegen die Betonwand. »Ich hab den Namen rausgefunden. Jason Danby.« Tränen verschleierten mir den Blick. »Er war erst vierzehn, Ned. Vierzehn. Seine Tante wohnt in Block C. Ich muss mit ihr reden.«

»Um die Tante kümmern sich bestimmt schon jede Menge anderer Leute. Außerdem solltest du lieber keine Angehörigen befragen. Nicht in deinem Zustand.«

»Was soll das denn bitte heißen?«

Ned fummelte an seinem Kameragurt herum. »Ich meine bloß, du bist heute erst zurückgekommen, und dieser Tatort ist …«

»Ned, da drüben liegt ein Teenager mit einer Axt im Hirn. Können wir dieses Gespräch vielleicht auf später verschieben?«

Er zuckte mit den Schultern und setzte zu einer Antwort an, doch ich wandte mich ruckartig ab und stürmte die Treppe hinunter, hin zu Block C. Zu Mary Danby. Zur Story.

Die eisige Luft brannte mir in der Lunge.

Mach weiter, verdammt noch mal.

2

Eine Woche später

»Verdammt noch mal, Sophie, was hast du dir dabei gedacht?« Philip Rowley streckte das schmale Gesicht aus den Papierbergen auf seinem Schreibtisch hervor wie ein Maulwurf, der nach frischer Luft schnappt.

»Sie hat dir doch gar nicht die ganze Geschichte erzählt. Ich habe bei ihr geklingelt, und sie wollte nicht mit mir reden …«

»Also hast du sie angeschrien?«

»Ich habe nicht geschrien.« Mary Danbys müde Stimme hallte in meinem Kopf nach. »Hätte sie mich ausreden lassen, hätte sie mit mir gesprochen, da bin ich mir sicher.«

Rowley sah mich mit versteinerter Miene an. »Erzähl doch keinen Scheiß, Sophie. Das ist nicht nur eine völlig ineffiziente Vorgehensweise, um jemanden zum Reden zu bringen, es ist auch noch Belästigung. Ich habe dir schon vor einer Woche gesagt, du sollst die Frau in Ruhe lassen. Und jetzt muss ich erfahren, dass du zurückgegangen bist und sie wieder befragt hast.« Rowleys schrille Stimme hatte ihm den Spitznamen »der Heuler« beschert, aber ich hütete mich, seine Autorität infrage zu stellen. Vom ersten Moment an war mir klar gewesen, dass ich mich vor ihm ganz besonders würde beweisen müssen. Rowley, ein knallharter Mann aus Yorkshire, verachtete den Geldadel genauso sehr wie das Privatschulwesen, und ich war mit beidem aufgewachsen. Mit Sicherheit störte er sich an meinem geschliffenen Akzent, aber einen gewissen Respekt schien er trotzdem vor mir zu haben. Ich hatte ihm mehr als genug Exklusivstorys geliefert, und außerdem wusste ich mit ihm umzugehen: Fass dich kurz, und sag niemals Nein.

»Hör mal, Mary Danby hat sich der Presse gegenüber mehrfach ausführlich geäußert. Sie hat die Polizei öffentlich beschuldigt, die Ermittlungen im Fall ihres Neffen zurückzufahren. Ich wollte nur ein Zitat von ihr.«

Rowley lehnte sich in seinem quietschenden Ledersessel zurück. »Und, hast du was bekommen außer ›Verpissen Sie sich, verdammt noch mal‹?«

Ich seufzte. »Na gut. Vielleicht hab ich’s ein bisschen übertrieben.«

»Ein bisschen?« Rowleys Glatze verfärbte sich dunkelrot. Er setzte die Hornbrille auf und griff nach einem Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. »Hier steht, du hast ihr damit gedroht, die Tür einzutreten.«

Ich schnaubte. »Die Tür eintreten? Hast du mich schon mal angesehen?« Ich hätte noch mehr sagen können, überlegte es mir aber in Anbetracht seiner Gesichtsfarbe anders und starrte stattdessen aus dem Fenster. Draußen über dem Hyde Park türmten sich dicke Wolken am Himmel auf und verhießen weitere Regenfälle. Von Rowleys Eckbüro aus sah man einen Teil des Kensington Palace, was ihm mit seiner sozialistischen Ader bestimmt gewaltig gegen den Strich ging.

»Einer der Gründe, warum ich dich eingestellt habe, war dein besonderes Talent, Leute dazu zu bringen, sich zu öffnen. Du bist erst seit Kurzem wieder zurück, und das ist schon die zweite Beschwerde über dein Verhalten.« Rowleys Heulen wurde etwas sanfter. »Hier geht es nicht um Mary Danby, oder?«

Ich hatte keine Lust auf seinen mitleidigen Blick und konzentrierte mich demonstrativ auf die gerahmten Fotos hinter ihm. Rowley mit David Cameron an der Downing Street Nummer 10, mit Angela Merkel bei einem NATO-Gipfel, auf dem roten Teppich hinter George Clooney. Er mochte noch so sehr auf Mann-aus-dem-Volk machen, er hatte eine Schwäche für die Reichen und Schönen.

»Ich muss los. Ich habe in einer Dreiviertelstunde einen Interviewtermin in Brixton.«

Rowley seufzte. »Sophie, erinnerst du dich noch daran, was ich an deinem ersten Arbeitstag zu dir gesagt habe?«

Ich nickte. »Kenne immer deine Schlagzeile.«

»Ganz genau. Die Schlagzeile ist die Wahrheit. Und die Wahrheit verkauft den Artikel, egal, ob du fünfzig Wörter schreibst oder fünftausend. Wenn du die Essenz der Geschichte nicht in einer Zeile zusammenfassen kannst, dann vergiss es.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Das gilt nicht nur für den Journalismus, sondern auch fürs Leben. Und wenn ich dich so anschaue, sehe ich keine Schlagzeile mehr.«

»Philip …«

»Lass mich ausreden. Mir ist klar, dass du eine Menge durchgemacht hast, aber wir sind hier kein Wohltätigkeitsverein. Wir stecken tief in den roten Zahlen.« Er setzte die Brille ab. Plötzlich wirkte er mitgenommen. »Und nicht nur wir: der Mail, der Times und dem Telegraph geht es genauso. Man hat uns an die Wand gestellt und abgedrückt. Jetzt geht es nur noch darum, wer von uns als Letzter ausblutet. Die Etats sind gekürzt, wir erreichen kaum noch Leser, und außerdem sollen wir uns über Nacht in digitale Zauberer verwandeln. Unsere Klickzahlen beschäftigen mich mittlerweile mehr als die Titelseite. Aber das ist die Herausforderung: weniger ausgeben und gleichzeitig mehr Inhalte generieren. Wir steuern auf eine ungewisse Zukunft zu, und trotzdem verdienen die verbliebenen Leser Journalismus auf höchstem Niveau. Wo ist dein Niveau, Sophie? Wo ist deine Schlagzeile?«

Er beugte sich vor, der Blick hart wie lackiertes Holz. »Die Sophie Kent, die ich kenne, würde niemals eine Informantin bedrohen. Sie wüsste außerdem, dass nur hirnverbrannte Trottel verkatert zur Arbeit kommen. Du hast Talent, Sophie. Mehr als die meisten hier. Aber du bist vom Weg abgekommen. Du bist ein langatmiger, aufgeblähter Text, der zusammenhanglos von einem Satz zum nächsten stolpert und dem die Struktur fehlt, die Essenz.«

Ich konzentrierte mich auf meine Hände, da ich meiner Stimme nicht traute. Die Trauer drohte mich zu überwältigen. An manchen Tagen konnte ich sie regelrecht schmecken und spülte sie mit Hochprozentigem wieder runter. An anderen Tagen rann sie mir wie ein Narkosemittel durch die Adern und betäubte mich von innen. Aber das konnte ich vor Rowley nicht zugeben. Die Zeitungsbranche war im Krieg, und er musste sich auf seine Soldaten verlassen können.

»Tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht’s gut.« Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch ich hörte selbst, wie hohl meine Worte klangen.

Rowley verschränkte die Arme vor der Brust. »Weißt du was? Du hättest dir eine Auszeit nehmen sollen, nachdem es passiert ist. Dann hätte ich dich nicht zwingen müssen, nachträglich Sonderurlaub zu nehmen.« Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass eine Woche lange genug war.«

Die Erinnerung an einen sich scheinbar unendlich ausdehnenden scharfkantigen Moment durchfuhr mich. »Glaub mir, hier bin ich besser dran.«

»Nicht, wenn es auf Kosten der Zeitung geht. Ein Haufen nörgelnder Wutbürger hat mir gerade noch gefehlt. Du kannst froh sein, dass Mary Danby auf eine Anzeige verzichtet.«

Ich lehnte mich nach vorne. »Sie wusste doch eigentlich nur, dass ich für den London Herald arbeite. Woher kennt sie meinen Namen?«

Rowley schob die Papiere auf seinem Schreibtisch mit seinen kleinen, gepflegten Händen zurecht. »Keine Ahnung. Sie hat mit Mack gesprochen. Der hat ihr den Stachel dann gezogen.« Ich schnaubte verächtlich, woraufhin Rowley mir einen strengen Blick zuwarf. »Er sorgt sich um dich. Er meint, die Beschäftigung mit Mord und Totschlag stehe deinem Genesungsprozess im Weg und ich solle dir lieber etwas weniger Anspruchsvolles übertragen. Lifestyle, oder Mode.«

Bei meinem Gesichtsausdruck zuckten Rowleys Mundwinkel. »Wenn sich nichts ändert, lässt du mir keine andere Wahl.«

Ich war in Gedanken immer noch bei Mack. Was für ein Arschloch.

»Wie dem auch sei.« Rowley klang gereizt. »Darum geht’s jetzt nicht. Du schickst Mary Danby eine handschriftliche Entschuldigung. Nicht auf London-Herald-Papier, falls sie damit irgendwo hausieren geht.« Rowley wandte sich wieder seinem Bildschirm zu und erklärte unser Gespräch damit für beendet.

Ich war schon fast zur Tür hinaus, als er noch etwas hinterherschob. »Du musst dich nicht aufopfern, Sophie. Falls du mehr Zeit brauchst, sag mir Bescheid. Drei Monate sind nicht besonders lange, wenn man einen nahen Verwandten verloren hat.«

Im Flur vor Rowleys Büro summten grelle Neonröhren vor sich hin. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand. Aus der Nachrichtenredaktion drang eine Kakofonie aus klingelnden Telefonen und klappernden Tastaturen. Links von mir prangte in übergroßen Metallbuchstaben der Schriftzug THE LONDON HERALD. Rechts von mir flackerten die Nachrichten über eine Wand aus Fernsehern. Festungen, gebaut aus Bildschirmen, zwei oder drei pro Person, standen auf unordentlichen Schreibtischen. Überall Papierstapel; selbst im digitalen Zeitalter arbeiteten Journalisten lieber mit handfesten Informationen. Ich manövrierte durch das Großraumbüro, den Blick starr auf den Teppich gerichtet, und ließ mich schließlich auf meinen Schreibtischstuhl fallen.

Mein Handy vermeldete piepsend den Eingang einer SMS.

Lust auf ein Feierabendbier und reden?

Ich starrte auf die Nachricht und ging im Kopf mögliche Antworten durch, aber wem machte ich hier etwas vor?

Okay. Such was aus, wo uns keiner kennt.

Er schickte mir den Namen einer Bar in Soho, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Ich knallte das Handy auf den Schreibtisch und schnappte mir meinen Mantel. Rowley und Mary Danby mussten warten.

Ich wurde erst noch woanders gebraucht.

3

 

Sie saß am gleichen Tisch wie immer, gekrümmt wie ein Fragezeichen.

Ich durchquerte den düsteren Pub und legte meine Tasche auf dem Stuhl ihr gegenüber ab. »Entschuldige die Verspätung.«

Natalia Kotow stierte ins Leere. Als ich ihr die Hand auf die Schulter legte, zuckte sie derart zusammen, dass sie ihr Getränk verschüttete.

»Ah, du bist’s.« Das Morgenlicht wurde von den dreckigen grünen Fensterscheiben gefiltert und verlieh ihrer Haut einen kränklichen Ton. Die blauen Flecken in ihrem Gesicht und an ihren Handgelenken waren verschwunden, aber die unsichtbaren Spuren, die sie hinterlassen hatten, entgingen mir nicht. Sie schob ein Glas über den klebrigen Tisch. »Ich hab Orangensaft bestellt. Okay?«

Bis auf zwei Männer in Maleranzügen an der Theke war der Pub leer. Sie saßen vor einem tragbaren Radio, aus dem der Kommentar zu einem Pferderennen plärrte. In den farbbespritzten Händen hielt jeder von ihnen ein Glas Bier, obwohl es erst elf Uhr morgens war.

Ich lehnte mich an das Polster, das nach altem Zigarettenrauch und Schweiß stank. »Und, bereit für die Fashion Week?«

»Meine erste Show ist Samstag. Bennett Turner. Morgen ist Anprobe.« Sie sagte es fast beiläufig, aber am hellen Klang ihrer Stimme erkannte ich, dass sie sich darauf freute.

»Wie schön. Vor ein paar Tagen hatte dich noch niemand gebucht.«

»Ändert sich schnell.« Natalia spielte am Kragen ihres schwarzen Pullovers herum und wippte nervös mit dem Bein. Mittlerweile war ich mit ihrer unruhigen Art vertraut – sie schien ständig auf der Flucht. Aber heute traten ihre Tics deutlicher zutage als sonst.

»Hast du diese Woche mit deiner Mutter telefoniert?«

Natalia trank einen großen Schluck aus ihrem Glas. »Mamma macht sich Sorgen. Piotr ist krank. Hat eine Entzündung hier.« Sie deutete auf ihre Brust.

Ein sanftes Klopfen setzte ein. Regen schlug gegen die Scheibe.

»Natalia, wegen unserem letzten Treffen … du bist abgehauen, bevor wir uns wirklich unterhalten konnten.«

Sie griff nach der Zuckerdose aus Porzellan, leerte sie und reihte die Zuckertütchen, nach Farben sortiert, nebeneinander auf, wobei sie peinlich genau darauf achtete, dass die Kanten einander nicht berührten. Ich beobachtete sie einen Augenblick lang und dachte an unser erstes Treffen zurück, einen Tag nachdem Jason Danby ermordet worden war.

Natalia wirkte damals so fragil wie ein Gespinst aus Zucker. Sie wich mir aus, arrangierte die Zahnstocher in langen, geraden Linien. Als ich sie damals danach fragte, erwiderte sie nur: »Ich mag es ordentlich.« Sie erzählte mir, wie sie zu Hause in Russland das Bettlaken immer tadellos über die Matratze gespannt hatte, die sie mit ihrem Bruder teilte. Ihre Mutter hatte sie ihr kleines Geisterkind genannt. »Wenn du ein Zimmer verlässt, milaya moya«, hatte sie gescherzt, »ist es, als wäre nie jemand darin gewesen.«

Seit unserer ersten Begegnung hatten wir uns jeden Tag im The Goat in Boots auf der Brixton High Road getroffen. Ich hatte das Gefühl, unsere Treffen könnten zu einer Enthüllung führen, einem Geständnis, einer Art Beichte. Natalia war selbstsicher und wirkte für ihr Alter sehr reif, aber sie hatte auch eine verletzliche Seite, so, als müsste das Kind in ihr erst noch erwachsen werden. Sie öffnete sich langsam, erlaubte sich mehr und mehr, mir ihre Gefühle zu zeigen. Sie erzählte von ihrer Vergangenheit. Von ihren vier kleinen Brüdern in Iwanowo (»da werden keine Träume wahr«) und ihrer Mutter, die drei Jobs gleichzeitig hatte, um Essen auf den Tisch zu bringen. Wenn sie Heimweh verspürte, was nicht selten vorkam, wickelte sie sich in die grüne Wolldecke ihrer Mutter und atmete den schwindenden Duft von Tannen und Kiefern ein. Mit ein bisschen Konzentration, so behauptete sie steif und fest, hörte sie dabei die beruhigende Stimme ihrer Mutter, die mit jedem Winter schwächer wurde.

Natalia waren diese schweren Jahre anzusehen, dennoch lachte sie oft. Sie sprach in höchsten Tönen von ihrer Agentin Cat Ramsey, die für sie eine Art Ersatzmutter war, genauso wie von ihrer Mitbewohnerin und Model-Kollegin Eva Kaminski. Ab und zu fragte ich sie nach den blauen Flecken, dann wich sie mir jedoch konsequent aus.

»Wir müssen uns darüber unterhalten, was du mir letztes Mal erzählt hast.«

»Wieso?« Gerötete Haut schimmerte unter dem verblassten Concealer hindurch. Sie reckte trotzig das Kinn.

Ein Mann schlurfte an uns vorbei und hinterließ einen beißenden Bleichmittelgeruch. »Weil wir etwas dagegen unternehmen können«, sagte ich leise.

Natalia trank aus. »Ich nehme noch einen. Willst du auch?«

Ich stand auf. »Die nächste Runde geht auf …«

»Nein!« Sie sprang auf. »Ich zahle.«

Ich schaute ihr verwirrt hinterher, wie sie am defekten Spielautomaten vorbei zur Bar ging. Ihre Beine steckten streichholzdünn in der engen Jeans. Ich seufzte und schlug meinen Notizblock auf. Mitten auf der Seite von gestern stand in blauer Schrift ein einziges, unterstrichenes Wort: Vergewaltigt.

Natalia kam mit einem Glas in der Hand und einer Tüte Chips zurück. Sie riss das Tütchen auf, und saurer Zwiebelduft stieg mir in die Nase. Fragend hielt sie mir die Chips hin. Ich schüttelte den Kopf.

»Das war ein großer Schritt, dass du mir dein Geheimnis anvertraut hast.« Natalia kaute geräuschvoll auf ein paar Chips herum und vermied es, mich anzusehen. »Weißt du, wer dir das angetan hat?«

Sie schnappte sich das Glas und leerte es zur Hälfte. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Blödes Teil. Ist kaputt. Weißt du, wie spät ist?«

Ich seufzte. Natalia war wie ein Stern am mondhellen Himmel. Um sie genauer zu sehen, musste ich den Blickwinkel ändern, und darin war ich in letzter Zeit nicht besonders gut.

Ich schaute auf meine Uhr. »Halb zwölf. Wieso?« Natalia wischte den feuchten Glasabdruck auf der Tischplatte weg. »Ist alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie durcheinander.«

»Sophie, ich kann nicht mehr sagen.«

Ich klappte den Notizblock zu. »Ich kann schon nicht mehr zählen, über wie viele Vergewaltigungsprozesse ich für den London Herald berichtet habe. Weißt du, was die meisten Vergewaltiger gemeinsam haben?« Natalia knüllte die leere Chipstüte zusammen, ihre Knöchel traten weiß hervor. »Sie sind Wiederholungstäter.« Natalia schien nicht ganz zu verstehen. »Das heißt, dass sie mehrere Frauen vergewaltigt haben, und keiner hat sie daran gehindert. Ich will dich wirklich nicht unter Druck setzen. Du schuldest niemandem irgendwas. Du darfst so lange schweigen, wie du willst.« Ich lehnte mich über den Tisch und legte meine Hände auf ihre. »Aber du hast die Wahl. Du kannst diesen Mann anzeigen. Und wenn du so weit bist, werde ich für dich da sein.«

Natalia zog die Hände weg und rieb sich mit dem Daumen über den Mittelfinger, wobei sich das Schmetterlingstattoo verzerrte. Ihre Fingernägel waren bis aufs Blut heruntergekaut. »Dann ist es vorbei mit meiner Karriere.«

»Weil er in der Modebranche arbeitet?«

Sie nahm noch einen großen Schluck und sah mich müde an. »Wieso muss ich es sagen? Wieso nicht …« Sie brach ab und kaute am Daumennagel.

»Letzte Woche, die blauen Flecken – war er das?« Natalia stapelte die Zuckertütchen zu einem wackeligen Turm. »Wurdest du vergewaltigt?« Natalia schnippte gegen die Ecke eines Tütchens, und der Turm geriet ins Wanken.

Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sah ihr direkt in die Augen. »Weißt du was, Natalia? Ich glaube, dass wir uns heute treffen, weil er sich mit dem falschen Mädchen angelegt hat. Du willst nicht, dass er damit durchkommt und anderen Frauen vielleicht das Gleiche antut.« Ich drückte ihre Hand. »Du hast dich mit mir getroffen, das Schwierigste liegt jetzt hinter dir. Sein Name brennt dir doch auf der Zunge. Du musst ihn einfach nur aussprechen.«

Natalia saß wie erstarrt da. Als sie schließlich antwortete, klang ihre Stimme so dünn wie nie. »Nach London kommt Mailand, dann Paris. Es muss geheim bleiben.«

»Versprochen. Sag mir den Namen, und wir warten, bis die Shows vorbei sind, bevor wir irgendwas unternehmen.«

Natalia leerte das Glas und wickelte sich einen roten Schal um den Hals. Sie griff nach ihren Zigaretten und lächelte mich entschuldigend an. »Ich brauche eine Minute.«

»Soll ich dir Gesellschaft leisten?«

Natalia schüttelte den Kopf. »Du rauchst nicht. Ich komme wieder. Dann reden wir.«

Ein kalter Windstoß fuhr durch den Pub, als Natalia die Tür öffnete. Ich lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche in meiner Umgebung. Glas auf Holz, das Klirren leerer Flaschen, der feuchte Husten des Barkeepers. Meine Gedanken wanderten zu Rowley und seinem enttäuschten Blick. Er hatte recht. Ich war vom Weg abgekommen. Hatte das Ziel aus den Augen verloren. Ich klammerte mich nur noch an einen seidenen Faden. Und Rowley hatte mich durchschaut.

Da wurde die Tür aufgerissen, und Natalia stürzte sichtlich erschrocken herein.

»Hey, was ist …«

»Ich muss gehen.«

Ich schaute an ihr vorbei Richtung Tür. »Ist was passiert?« Natalias Tasche verfing sich unter dem Tisch, und sie riss panisch an dem Gurt, wobei sie das Gleichgewicht verlor.

»Warte!« Enttäuschung stieg in mir auf, und ich packte sie fester am Arm als beabsichtigt. »Denk doch mal nach, Natalia. Wenn du wegläufst, hat er gewonnen. Willst du das wirklich?«

»Du glaubst, dass ich das will?«, zischte sie wütend. »Ich habe gar keine Wahl!«

»Ich kann dir helfen.«

»Niemand kann mir helfen.«

Natalia durchquerte den Pub mit drei großen Schritten und war verschwunden.

Ich stand auf, sank dann aber auf meinen Stuhl zurück. Was hätte es für einen Sinn? Je mehr ich sie jagte, desto weiter würde sie sich von mir entfernen.

»Deine Freundin hat wohl die Schnauze voll, hm?« Die barsche Stimme des Barkeepers riss mich aus meinen Gedanken. »Schade. Hatten uns gerade an eure Damenkränzchen gewöhnt.«

Ich blieb im Eingang der Bar stehen, kämpfte mit dem Klettverschluss meines Regenschirms und blinzelte in die Dunkelheit. Wo zum Teufel war er? Buntglaslampen auf den Tischen verströmten ein mutterleibartiges Licht. Es roch nach süßen Cocktails, der Boden klebte unter meinen Füßen. Aus den Lautsprechern hämmerten die Bässe im Rhythmus meiner pulsierenden Kopfschmerzen.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Die Kellnerin trug eine Hornbrille und einen gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau.

»Ich bin verabredet.« Ich wollte seinen Namen nicht laut aussprechen und drängte mich an einer Gruppe bärtiger Hipster vorbei, die Cocktails aus Einmachgläsern tranken. Er saß, gegen das leberfarbene Vinyl gelehnt, an einem Ecktisch. Bourbon, BlackBerry, dunkelblauer Anzug (»aus Mailand, maßgeschneidert«).

Ich zwängte mich auf die Sitzbank ihm gegenüber. Er entspannte sich. »Hast du ja super ausgesucht, Mack.«

»Hör bloß auf, Kent. Du wolltest doch nicht gesehen werden.«

Zwei Schnapsgläser standen auf dem Tisch. Mack schob mir eins davon zu, und ich leerte es, ohne mit der Wimper zu zucken. Er fuhr mit einem langen, knochigen Finger am Rand seines Glases entlang und beobachtete mich. Wahrscheinlich hielt er das für verführerisch. Alles an Mack Winterson wirkte aufgesetzt.

Sein BlackBerry vibrierte. »Ich muss kurz antworten.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich ein Mädchen mit einer Strickmütze und Hotpants, das breitbeinig auf dem Schoß eines Typen mit fettigen blonden Haaren saß. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie nickte. Dann kletterte sie von seinem Schoß und zog ihn in eine dunkle Ecke.

Mack tippte auf dem BlackBerry herum, sein Ehering glänzte golden. Ich stürzte auch den zweiten Shot herunter und nahm das Brennen dankbar in Kauf.

»Langsam, ich will dich hier nicht raustragen müssen.«

Ich sagte nichts dazu. Schon mein ganzes Leben lang wurde ich unterschätzt, es war mir völlig egal. Es hatte auch seine Vorteile.

»Du hast es dir mit Rowley verschissen, na und? War bestimmt nicht das letzte Mal.«

Sollte das eine Drohung sein? Ich konnte nicht klar denken, die Ränder meiner Wahrnehmung waren verschmiert wie der Lippenstift einer Betrunkenen.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, erwiderte ich leise, wünschte mir aber gleichzeitig, er könnte es hören. Ich schob das leere Glas von mir weg. »Ich brauche noch einen. Das Zeug wirkt nicht.«

Mack gab der Kellnerin ein Zeichen. »Mach dir nichts draus, Kent. Früher oder später nimmt er jeden in die Mangel. Heute warst du eben dran.«

Die Verlogenheit sickerte ihm aus allen Poren. Ich wollte ihn daran erinnern, dass Rowley überhaupt erst durch ihn von Mary Danby erfahren hatte, aber das wusste er natürlich selbst. Er tat zwar so, als stünde er hinter mir, aber wir wussten beide, was wirklich Sache war. Er hatte mir nie verziehen, dass ich ihn einmal vor Rowley in den Schatten gestellt hatte. Ich war damals noch nicht lange beim London Herald gewesen. Ein Mann namens Steven Wright, besser bekannt als der Suffolk-Würger, hatte sich auf brutalste Weise an Prostituierten vergangen. Mack wurde auf die Story angesetzt, kam aber mit leeren Händen zurück. Also schickte Rowley mich. Ich ergatterte ein Exklusivinterview mit einem der Opfer, und mein Artikel schaffte es auf die Titelseite. Man überreichte mir die Druckplatte – ein Erinnerungsstück für jeden Journalisten, der beim London Herald seine erste Titelstory veröffentlichte. Ich hatte den mürrischen Ausdruck auf Macks Gesicht nicht vergessen.

Seither stand unser Arbeitsverhältnis auf wackeligen Beinen. Doch vor kurzem hatte sich etwas verändert.

Ich murmelte etwas von wegen Toilette, zwängte mich aus der Bank und tastete mich durch ein Labyrinth dunkler Flure. Zum Glück war die Toilette frei. Ich wischte eine dünne weiße Koksschicht vom Klodeckel, setzte mich und stützte den Kopf in die Hände.

Was trieb ich hier eigentlich?

Als Chef der Nachrichtenredaktion stand Mack unter immensem Druck, die Verkaufszahlen zu erhöhen. Er beherrschte die Konzernspielregeln perfekt und machte der Chefetage weis, er sei der richtige Mann für den Job. Aber er hatte einfach keinen Riecher für heiße Storys. Er ackerte sechzehn Stunden am Tag, und am Ende kam kaum etwas dabei heraus. Der Stress nagte an ihm. Er fühlte sich in die Enge getrieben und ließ es an seinen Mitarbeitern aus. Die meisten hielten ihn für ein Arschloch, aber ich verstand ihn. Mein Leben war in letzter Zeit nicht gerade ein Ponyhof, und ich erkannte eine verkorkste Existenz, wenn ich sie vor mir hatte. Wir mussten uns nicht unbedingt mögen, um uns gegenseitig Ablenkung zu verschaffen. Zumindest sagte ich mir das, als ich zum ersten Mal in der leeren Redaktion seine Hose aufknöpfte. Zwei Monate später waren wir kein Stück weiter. Der gleiche Mist wie sonst, nur in einer anderen Bar. Scharfzüngiger Small Talk. Wir wussten beide, wo der Abend enden würde, und waren nicht froh darüber.

»Was treibst du da drin? Hier gibt’s Leute, die kacken müssen.«

Ich wankte zum Spiegel und strich über meine hellblonden Haare, atmete tief durch und richtete mich auf, wie von einer unsichtbaren Macht nach oben gezogen.

»Ich wollte dich gerade schon als vermisst melden.« Mack ließ sein silbernes Feuerzeug auf- und zuschnappen und musterte mich fragend. Er schob einen weiteren Shot über den Tisch. »Kopf hoch. Wir werden die Stellung schon halten, bis die große Sophie Kent zurück auf ihr Podest geklettert ist.« Sein schmallippiges Lächeln strafte seine Worte Lügen.

Ich kippte den neuen Shot und fuhr mir mit dem Handrücken über den Mund. »Wir hauen ab.«

Als ich durch die Schatten taumelte, legte Mack mir eine Hand an die Hüfte. Ich zuckte zurück. Noch fünf Minuten, dann würden die Shots endlich wirken.

Dann konnte er mich berühren, wo er wollte.

4

 

Die Luft stand. Mein Mund schmeckte nach Wodka. Ich lag still da, während Erinnerungsfetzen vom Vorabend in meinem Kopf herumschwirrten, ohne dass ich sie einordnen konnte. Ich richtete mich vorsichtig auf und wartete ab, bis das Zimmer sich nicht mehr drehte. Es war noch dunkel. Ich schaute auf mein Handy. Sechs Uhr achtunddreißig.

Mack schnarchte neben mir, an der Wand machte ich eine Kommode aus, und aus dem Flur fiel ein dünner Lichtstrahl auf gerahmte Fotos. Mack mit einer hübschen Blondine in einem Konfettiwirbel. Wir hatten selten über sein Privatleben gesprochen, aber es kursierte das Gerücht, seine Frau habe beschlossen, die Stadt sei nichts für sie, und sei mit den Kindern nach Wiltshire gezogen. Bei dem unberechenbaren Arbeitsalltag eines Redakteurs war eine anderthalbstündige Anfahrt schlicht undenkbar, deshalb schlief Mack unter der Woche meistens in einer winzigen Wohnung über einer Reinigung in der Litchfield Street.

Ich suchte das Zimmer nach meinen Klamotten ab und vermied es, mir das andere Foto anzusehen. Zwei kleine Jungs, dunkelhaarige, schmächtige Kopien ihres Vaters. Ich sammelte die verstreuten Kleidungsstücke auf und betete, dass Mack nicht aufwachte. Ich war schon auf dem Weg zur Tür, als mein Handy laut piepste. Rasch huschte ich ins Bad und stieß mir dabei unglücklich den Zeh.

Sobald ich die Nachricht geöffnet hatte, war der Schmerz wie weggeblasen.

Rose Hotel. Zimmer 538. Sie ist tot.

Eine unterdrückte Nummer.

Wer ist tot?

Ich setzte mich auf den Marmorfußboden und wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. Vielleicht war die Nachricht ein schlechter Scherz. Seit es diverse Apps gab, mit denen man anonyme SMS verschicken konnte, erreichten mich zehnmal so viele Nachrichten von Verrückten wie zuvor. Aber was, wenn es doch kein Scherz war? Das Rose Hotel lag nur ein paar Minuten entfernt. Und wenn mir das einen Grund verschaffte, noch schneller aus der Wohnung zu verschwinden, umso besser.

Ich zog mich hoch, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und rieb an dem Kissenabdruck auf meiner Stirn. Dann drehte ich meine Unterhose auf links, warf mir die Klamotten von gestern über und schlich auf Zehenspitzen aus der Wohnung. Auf der Fußmatte im Flur lag eine Zeitung. Die Ausgabe vom vierzehnten Februar. Einen fröhlichen Valentinstag allerseits.

Langsam verwandelte sich Schwarz zu Blau, der Tag brach an. Ich vergrub das Kinn in meinem Schal und überquerte die Shaftesbury Avenue. Busse schoben sich die Straße entlang, die Fenster waren vom heißen, ungeduldigen Atem der Pendler beschlagen. Ich bog in die Old Compton Street ab und blieb vor einem winzigen vietnamesischen Restaurant stehen, das nach Käsefüßen roch. Die Backsteinfassade des Rose Hotel war hell erleuchtet, die grün-weißen Markisen flatterten im Wind. Ich zog meinen Notizblock hervor und notierte die Nummernschilder aller Autos, an denen ich vorbeiging. Die goldene Regel für Journalisten: alles aufschreiben. Willkürliche Informationsfäden verwoben sich später oft zu einem vollständigen Bildteppich.

Ein korpulenter Portier in einem flaschengrünen Mantel hielt mir lächelnd die Tür auf. Drinnen blieb ich kurz stehen und scannte die Lobby. Der Marmorboden glänzte wie eine Eislauffläche. Rosa Sessel standen kreisförmig im Zentrum, von der verzierten Decke hing ein prachtvoller Kronleuchter. Der Duft von gebuttertem Toast stieg mir in die Nase, und mein Magen knurrte. Ich ging in die Hocke und kramte umständlich in meiner Tasche, während ich die Lobby nach jemandem absuchte, der verstört oder aufgewühlt wirkte. Das war immer meine erste Anlaufstelle; Leute verraten einem alles Mögliche, wenn sie unter Schock stehen.

Nichts deutete darauf hin, dass die Nachricht sich schon verbreitet hatte. Falls es überhaupt eine Nachricht gab. Das Ausbleiben der Polizei deutete jedenfalls darauf hin, dass ich meine Zeit verschwendete. Ganz sicher war das allerdings nicht. In einem Etablissement wie diesem würde ein Skandal nicht an die große Glocke gehängt werden. Sollte tatsächlich jemand tot sein, wusste das Hotelpersonal offenbar noch nichts davon. Gut möglich, dass der Tatort noch nicht einmal abgesperrt war.

»Kann ich etwas für Sie tun?« Ein feingliedriger Hotelangestellter stand plötzlich neben mir und sah mich erwartungsvoll an.

Ich lächelte so breit, wie es mir mein Kater erlaubte. »Alles in Ordnung, danke.«

Tu so, als gehörtest du dazu. Selbstsicherheit hat dir in diesem Job noch jede Tür geöffnet. Ich ging an der verspiegelten Bar vorbei zur Treppe und zog mich am eichenen Geländer hoch. Die Treppenabsätze waren leer. Wenn die Polizei schon eingetroffen wäre, würde es vor Uniformierten nur so wimmeln. Ich wäre niemals so weit gekommen, wenn die Spurensicherung hier schon herumschnüffeln würde. Im fünften Stock meldete sich fauchend mein Kater, und ich klammerte mich mit verschwitzten Händen an das Geländer, um wieder zu Atem zu kommen.

Der Straßenlärm klang nur gedämpft in diesen Winkel des Hotels, es war, als hätte jemand der Stadt einen Knebel verpasst. Auf dem Flur zu meiner Rechten hörte ich das vertraute Knistern eines Funkgeräts. Ich hielt den Atem an. Das Blut rauschte mir laut in den Ohren. Der Flur war nur schwach beleuchtet; der smaragdgrüne Teppich schluckte das meiste Licht. Ich schlich weiter bis zur Ecke und drückte mich an die Wand.

»Optimal ist es nicht, aber wir müssen wohl das Beste draus machen.«

Er sprach bedächtig und mit melodischer Stimme, ich entspannte die geballten Fäuste und riskierte einen Blick um die Ecke. Detective Chief Inspector Sam Durand steckte den rotbraunen Schopf in ein Hotelzimmer. Mit seinen eins fünfundneunzig füllte er den gesamten Türrahmen aus. Was will der denn hier? Normalerweise tauchte zu diesem Zeitpunkt noch niemand von seinem Rang am Tatort auf. DCI Durand war einer der wenigen Beamten, die die Karriereleiter hinaufgeklettert waren, ohne sich in ein komplettes Arschloch zu verwandeln. Einige waren machtgeile Narzissten, andere hielten sich streng an die Vorschriften und gingen keinerlei Risiken ein. Durand dagegen war scharfsichtig und glänzte durch ein fast schon unheimliches Talent, die Menschen zu durchschauen. Und er hatte keine Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen. Dank des Abhörskandals um Rupert Murdoch war meine Schublade mit DCI-Visitenkarten ungefähr so nützlich wie ein Bikini in einem Schneesturm. Anders als die meisten seiner Kollegen erkannte Durand jedoch die Vorteile einer symbiotischen Beziehung mit der Presse, insbesondere mit mir. Mir war egal, warum er mich bevorzugte. Ich wusste diesen Vorteil für mich zu nutzen.

Im Grunde lief in meinem Job alles auf gutes, altmodisches Vertrauen hinaus. »Mit Vertrauen ist es wie mit der Jungfräulichkeit«, hatte Durand mir einmal gesagt. »Wenn du es einmal verloren hast, dann für immer.« Ich verstand die Warnung und arbeitete unaufhörlich daran, unser Vertrauensverhältnis zu festigen. Ab und an tat ich ihm einen Gefallen.

Vor vier Jahren hatte ein Mann namens Ardit Dushku in Peckham mehrere Frauen angegriffen, sie missbraucht und anschließend sterbend auf der Straße liegen lassen. Nach dem fünften Opfer erstellte die Sonderkommision unter Leitung von Detective Inspector Durand ein detailliertes Täterprofil, in dem auch von einem Wagen die Rede war, den man an drei Tatorten gesichtet hatte. Ich recherchierte damals in die gleiche Richtung, ging aber noch einen Schritt weiter, indem ich die Exfrau des Täters ausfindig machte und um ein Gespräch bat. Als ich in die Auffahrt des heruntergekommenen Bungalows an der A3 einbog, fiel mir damals etwas ins Auge: ein angekratzter blau-gelber Aufkleber mit dem Schriftzug ELBASANI 1913. Jemand hatte offensichtlich versucht, ihn zu entfernen. Später besuchte ich eine Pressekonferenz, auf der DI Durand vor über dreißig Journalisten verkündete, der Verdächtige fahre einen silbernen Honda mit dem Aufkleber eines albanischen Fußballvereins auf der Heckscheibe. Als er geendet hatte, nahm ich ihn beiseite und verriet ihm, wo er diesen Aufkleber finden könne. In dem anschließenden Prozess – Dushku plädierte auf Unzurechnungsfähigkeit – bewies der Aufkleber, dass er die Morde im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte begangen hatte. Ein Geisteskranker hätte nicht die Weitsicht besessen, dieses eine belastende Merkmal zu entfernen, das seinen Wagen identifizieren konnte. Der Aufkleber änderte alles. Durand wurde befördert, und das erleichterte mein Leben um ein Vielfaches. Es half, dass Durand mich für anständig hielt. Was ich auch war. Meistens jedenfalls.

»Lacey, sichern Sie das Stockwerk bis zu den Aufzügen. Hier ist eine Liste mit den belegten Zimmern. Die Spurensicherung sollte in zehn Minuten hier sein.«

Ein Beamter mit Plastiküberziehern an den Schuhen ging an meinem Versteck vorbei, und ich drückte mich noch dichter an die Wand. Aus dem Zimmer drang ein leises Murmeln, dann Durands Stimme, die jetzt weicher klang. »Jemand muss den Flur bewachen. Andrews, können Sie das übernehmen?«

Kurz darauf hörte ich ein Keuchen und spähte wieder um die Ecke. Police Constable Doug Andrews hatte sich vorgebeugt, die Hände auf den Knien, und atmete geräuschvoll durch den Mund ein und aus. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Er hatte mehr als zwei Jahre Einsatzerfahrung und schon eine Menge Leichen gesehen.

Was befand sich in dem Zimmer?

Ich zog meinen Notizblock hervor und zeichnete rasch einen Grundriss des Stockwerks auf. Sechs Zimmer grenzten an den Flur, durch den ich gekommen war, um die Ecke lag ein kürzerer Flur mit zwei weiteren Zimmern, darunter die 538. Ich notierte mir, später einen Blick in den Belegungsplan zu werfen.

Ich spähte erneut in den Flur. Lacey würde jeden Moment zurückkehren. Ich straffte die Schultern und schlenderte um die Ecke, als hätte ich jedes Recht der Welt, hier zu sein.

Andrews sah mir misstrauisch entgegen. »Wie zum Teufel sind Sie hier reingekommen?«

»Pures Glück.«

Er reckte die Brust vor, um Mannhaftigkeit bemüht. Meinetwegen musste er sich die Mühe nicht machen. Ich hatte es selbst schon oft genug erlebt. Meistens war es nicht der Anblick der Leiche, von dem man würgen musste, sondern der Geruch von billigem Parfüm auf verwesendem Fleisch, der sich in der Nase verbiss und den man noch Tage danach zu schmecken schien.

Ich zog eine Dose Pfefferminzbonbons hervor und hielt sie ihm hin. »Hier, das hilft.« Er musterte mich misstrauisch, griff dann aber doch nach der Dose. Ich nickte in Richtung der Tür. »So schlimm?«

Sein Mund verzog sich, während er gierig das Bonbon lutschte. »Das können Sie sich gar nicht vorstellen.«

Police Constable Andrews war nicht gerade mein größter Fan. Wir waren uns zum ersten Mal vor zwei Jahren an seinem allerersten Tatort begegnet. Es ging damals um einen Mord an einem Ehepaar in Shepherd’s Bush. Jemand hatte die beiden in ihrem Haus erschossen, Blut an die Wände geschmiert und dem Hund die Kehle durchgeschnitten. Andrews war damals weiß wie eine Wand, und seine Hände zitterten, also forderte ich ihn dreist auf, mich durchzulassen. Er hielt mich für eine höherrangige Beamtin in Zivil und ließ mich passieren. Erst eine Viertelstunde später wurde ich rausgeschmissen und stellte mich grinsend bei Andrews vor. Er war bis auf die Knochen blamiert. Diesen Fehler beging er nicht noch einmal.

»Gibt es Hinweise auf ein Verbrechen?« Er blitzte mich wütend an. »Wo ist überhaupt Ihr Chef? Warum hat sich Durand den Fall geschnappt? Das hier ist der Zuständigkeitsbereich von Belgravia.«

Inhaltsverzeichnis

Cover & Impressum

Motto

Ihre Haut ist perfekt …

Kapitel 1 – Februar 2014

Kapitel 2 – Eine Woche später

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Ich kann sie an mir riechen …

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Er lächelt mich an, …

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Danksagung

Guide