Faszination Freiheit - Bodo Müller - E-Book

Faszination Freiheit E-Book

Bodo Müller

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Beschreibung

Mitten durch Deutschland zog sich eine der am schärfsten bewachten Grenzen der Welt. 28 Jahre lang haben Menschen versucht, sie zu überwinden. Der Drang nach Freiheit beflügelte ihre Phantasie und ihren Erfindergeist. In geheimen Verstecken bastelten Ostdeutsche an kuriosen Fortbewegungsmitteln, die ihnen die Flucht ermöglichen sollten. Es entstanden Mini-Flugzeuge und sogar U-Boote. Andere konstruierten eine Seilbahn über die Mauer, flogen gekaperte Agrarmaschinen, obwohl sie es nie gelernt hatten, oder wagten sich mit einem Surfbrett über die Ostsee in Richtung Dänemark. Bodo Müller hat die Akteure von damals befragt. Er erzählt ihre spannenden Fluchtabenteuer und berichtet vom ungebrochenen Freiheitswillen, der viele zum Äußersten trieb.

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Seitenzahl: 271

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Bodo Müller

FaszinationFreiheit

Die spektakulärstenFluchtgeschichten

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

2. Auflage, August 2019entspricht der 7. Druckauflage von August 2019© Christoph Links Verlag GmbH, 2000/2013Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,unter Verwendung von Fotos von Jürgen Ritter undaus dem Privatarchiv BethkeSatz: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag

ISBN 978-3-96289-050-6

eISBN 978-3-86284-462-3

Inhalt

Vorwort

Endstation Freiheit

135 Schüsse auf die »Friedrich Wolf«

Ein Bus als Panzer

Zu Fuß über die Ostsee

Die Seilbahn über die Mauer

Todesschüsse vor Tunnel 57

Die Erfindung des Aqua-Scooters

Schwimmend in die Freiheit

Ikarus aus Mecklenburg

Die Flugzeugwerft in der Küche

Mit 20 Tonnen durch die Sperranlagen

Surf for Freedom

Flug über die Mauer

Eine Chronik weiterer spektakulärerFluchtfälle (1961 – 1989)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsnachweis

Danksagung

Zum Autor

Vorwort

»Wenn uns der König nicht ziehen lässt«, sprach Dädalus zu seinem Sohn Ikarus, »bauen wir uns Flügel wie die Vögel und fliegen in die Freiheit.« Die bekannteste Flucht der Antike endete tragisch: Ikarus stürzte vor den Augen seines Vaters ins Meer und starb. Ähnlich wie den kretischen König Minos in der Sagenwelt gab es in historischer Zeit immer wieder Herrschende, die versuchten, das Recht ihres Volkes auf Freiheit einzuschränken.

Immer wieder riskierten Eingesperrte ihr Leben, um künstlich geschaffene Grenzen zu überwinden.

Im 20. Jahrhundert setzte sich das Recht auf Freiheit als international anerkanntes Grundrecht durch. Es fand Aufnahme in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündet wurde. In der DDR gab es dieses Grundrecht auf Freiheit jedoch nie. Solange die Grenzen noch offen waren, flohen die Menschen millionenfach vor der stalinistischen Diktatur. Das SED-Regime wusste sich gegen den Massenexodus nicht anders zu helfen, als seine Staatsbürger buchstäblich einzumauern. Am 13. August 1961 begann es in Berlin mit dem Bau einer 155 Kilometer langen Mauer um den Westteil der Stadt, zog an die 1300 Kilometer Stacheldrahtverhau von der Ostsee bis zum Vogtland und versperrte auf 278 Kilometern Länge den freien Zugang zum Meer. In den Folgejahren wurden zudem noch die Grenzen der »sozialistischen Bruderländer« vor flüchtigen DDR-Bürgern gesichert. Der kleine Staat DDR mit seiner stets kränkelnden Wirtschaft leistete sich das personell aufwendigste und finanziell teuerste Grenzregime im Europa des 20. Jahrhunderts. Doch weder Mauer und Stacheldraht noch Minenfelder und Selbstschussanlagen konnten den Freiheitswillen der Ostdeutschen brechen.

Seit dem Mauerbau 1961 bis Jahresende 1988 überwanden mindestens 40 101 DDR-Bürger die Sperranlagen. Im Wendejahr 1989 waren bis einschließlich Juli noch 795 Sperrbrecher erfolgreich. Ab August setzte dann ein Flüchtlingsstrom ein, der nicht mehr zu bremsen war. Zu Tausenden flohen die DDR-Bürger über Ungarn und die ČSSR in den Westen. Andere besetzten die bundesdeutschen Botschaften in Ostberlin, Prag, Budapest und Warschau und ertrotzten die freie Ausreise.

Am 9. November 1989 erreichte der Druck auf die innerdeutsche Grenze seinen Höhepunkt. Nachdem sich in jener Nacht die Tore geöffnet hatten und Hunderttausende in die Freiheit strömten, war die technisch aufwendigste und teuerste Grenze reif für die Müllhalde der Geschichte.

Zählt man über 28 Jahre alle DDR-Bürger zusammen, die erfolgreich die Sperranlagen überwanden, und addiert jene, die mit genehmigter Ausreise gehen durften, über Drittländer flohen, aus Gefängnissen freigekauft wurden oder von einer Westreise nicht zurückkehrten, so kommt man auf eine Zahl von mindestens 960 605 Menschen, die dem SED-Staat den Rücken kehrten. Es war der größte Flüchtlingsstrom im Europa des Kalten Krieges. In keiner Statistik aufgelistet ist die Zahl jener, deren Flucht scheiterte und die von Jahr zu Jahr immer mehr die Haftanstalten füllten. Man griff sie nicht nur auf dem Todesstreifen oder im davor liegenden Grenzgebiet auf. Viele Fluchtwillige wurden bereits in ihren Heimatorten bei der Vorbereitung verraten und dem gefürchteten Staatssicherheitsdienst ausgeliefert. Mindestens 938 Menschen starben infolge des ostdeutschen Grenzregimes. Die Opfer wurden zum überwiegenden Teil an der Grenze erschossen, von Minen oder Selbstschussanlagen getötet oder ertranken in der Ostsee. Es ist aber auch der Tod von 27 Angehörigen des DDR-Grenzdienstes sowie von 21 fahnenflüchtigen Sowjetsoldaten zu beklagen.

In den 28 Jahren vom Mauerbau 1961 bis zum Mauerfall 1989 versuchten mindestens 5609 DDR-Bürger über die Ostsee zu fliehen. Nur 913 Flüchtlinge erreichten ihr Ziel in Schleswig-Holstein, Dänemark oder Schweden. 4522 Ostdeutsche verfingen sich im engmaschigen Netz von Grenzhelfern, Volkspolizei, Grenzbrigade Küste und Staatssicherheit und mussten für Jahre ins Gefängnis. 174 Ostsee-Flüchtlinge bezahlten ihren Freiheitswillen mit dem Leben. Auf der Ostsee starben mehr Menschen als an der Berliner Mauer.

Dieses Buch handelt von den Menschen, die bereit waren, für ihr Grundrecht auf Freiheit ihr Leben zu riskieren. Mit Kreativität, Erfindungsgeist und manchmal dem Mut der Verzweiflung suchten sie nach Wegen, um diese Grenze zu überwinden. Sie gruben Tunnel, panzerten Fahrzeuge, konstruierten U-Boote oder schwammen um ihr Leben. Und manche bauten sich – wie Ikarus und Dädalus – große Flügel, um über den Todesstreifen hinweg in die Freiheit zu schweben.

Die Geschichten in diesem Buch basieren auf den Angaben der Flüchtlinge beziehungsweise ihrer Angehörigen sowie zahlreichen Dokumenten. Anhand der ausgewählten Schicksale wird exemplarisch ein Stück deutsch-deutsche Geschichte erzählt.

Bodo MüllerLübeck-Travemünde, im Juli 2019

Endstation Freiheit

Lokführer Harry Deterling wohnt mit seiner Frau Ingrid und den Kindern Manfred, Hans-Joachim, Dirk und Ronald in Oranienburg bei Berlin. Im Jahr 1961 erhält er ein monatliches Einkommen von 481 Mark. Damit lässt es sich in der DDR einigermaßen leben. Die Frau ist zu Hause und kümmert sich um die Kinder.

Am 13. August 1961 hören sie in den Nachrichten vom Mauerbau. Schon am Abend desselben Tages sagt er seiner Frau: »Ich will nicht eingesperrt sein. Und unsere Kinder sollen sich frei entwickeln können. Lass uns fliehen.«

Wie aber kann er mit Frau und vier Kindern im Alter zwischen einem und sieben Jahren in den Westen fliehen? Er sieht für sich und seine Familie zunächst keine Möglichkeit, die Sperranlagen zu überwinden.

Wenige Tage später sollen alle Arbeiter und Angestellten im Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf per Unterschrift ihre »Zustimmung zu den Maßnahmen des 13. August« erklären. Von den rund 1000 Mitarbeitern unterschreiben die meisten. Lokführer Deterling ist fassungslos, wie seine Kollegen den Buckel krümmen und auch noch beurkunden, dass sie es begrüßen, nun hinter Stacheldraht leben zu müssen.

Nur knapp 200 Mitarbeiter weigern sich, darunter auch Deterling. Im Oktober 1961 unterwerfen sich dann die wenigen noch standhaften Kollegen. Harry Deterling ist der Letzte, der nicht unterschreibt.

Der Lokführer wird zum Parteisekretär zitiert. Dieser verlangt die sofortige Unterschrift und droht mit Konsequenzen. Doch Deterling bleibt standhaft:

»Ich habe einen Bruder in Düsseldorf. Wenn du mir garantierst, dass ich ihn einmal im Jahr besuchen darf, dann unterschreibe ich.« Deterling verlässt das Büro im aufrechten Gang.

Zur selben Zeit wird sein Heizer Hartmut Lichy bedrängt, sich für den Dienst an der Waffe bei der Kasernierten Volkspolizei (KVP) zu verpflichten. Er bittet seinen Chef um Rat. Deterling sagt: »In der Verfassung steht, dass niemand zum Dienst an der Waffe gezwungen werden darf.«

Beim nächsten Musterungsgespräch zitiert der Heizer seinen Lokführer. Der KVP-Offizier will wissen:

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Mein Lokführer, der weiß alles.«

Anfang November 1961 erscheinen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes im Bahnbetriebswerk Pankow-Heinersdorf:

»Herr Deterling, wie kommen Sie dazu, den Heizer Lichy von der Pflicht zur Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik abzuhalten?«

Lokführer Deterling erinnert daran, dass er als Schulkind den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges erleben musste. Er unterstreicht seine pazifistische Haltung. Die Stasi-Männer verabschieden sich von ihm mit den Worten:

»Sie hören von uns.«

Mitte November muss sich Harry Deterling beim Parteisekretär seines Betriebes melden. Der sagt:

»Harry, ich muss dir leider mitteilen, dass du ab Januar 1962 nicht mehr auf der Lok fahren darfst. Auch musst du unseren Betrieb verlassen, leider. Zwecks Umerziehung wirst du zum Ziegelwerk Zehdenick versetzt. Dein Verdienst beträgt dann eine Mark pro Tag.«

»Und wie soll ich damit eine Familie mit vier Kindern satt machen?« fragt Deterling fassungslos.

»Das«, so der Parteisekretär, »hättest du dir früher überlegen müssen.«

Für Lokführer Deterling ist das Maß voll bis zum Überlaufen. Er muss, will er nicht die letzte Chance verpassen, schnellstmöglich handeln. Am 28. November fährt er gemäß Dienstplan mit seiner Dampflok im S-Bahn-Ersatzverkehr von Oranienburg nach Potsdam und zurück.

Am 13. August wurden die ehemals durch Westberlin führenden S-Bahn-Strecken gekappt. Fahrgäste, die nun zum Beispiel von Berlin-Mitte nach Potsdam wollen, müssen im weiten Bogen um die Westsektoren herumgefahren werden. Dort haben die Gleise aber keine Stromschienen. Darum werden im S-Bahn-Ersatzverkehr normale Personenzüge mit vorgespannten Dampfloks eingesetzt.

An jenem 28. November hat Lokfüher Deterling auf der Rückreise gegen 17 Uhr in Nauen einen Aufenthalt von 20 Minuten. Dort wird die S-Bahn-Strecke vom Interzonenzug Hamburg – Berlin gekreuzt. Während des Aufenthaltes erfährt Deterling von der Zugführerin einer anderen S-Bahn:

»Demnächst machen sie auch noch die Strecke Hamburg – Berlin zu.«

»Aber der Interzonenverkehr muss doch weiterrollen?«

»Ich meine ja nur die Strecke von Nauen über Falkensee und den Grenzbahnhof Albrechtshof nach Spandau.«

»Und wo soll der Hamburger dann entlangfahren?«

»Der ganze Interzonenverkehr Hamburg – Berlin soll künftig über den Bahnkorridor Griebnitzsee / Wannsee bei Potsdam rollen.«

Lokführer Deterling wird hellhörig und geht ins Stellwerk.

»Stimmt es, dass die Strecke von Nauen über Falkensee und Albrechtshof nach Spandau gekappt werden soll?« fragt er einen Eisenbahner.

»Die Grenze is anjeblich nich dicht jenuch. Da jibt det keene Gleissperren. Für vier Interzonenzüge am Tag lohnt sich dat wohl nich, den Scheiß einzubaun. Am 10. Dezember is Sense. Dann reißen se de Schienen raus.«

Deterling will schon gehen, da sagt der Mann im Stellwerk leise:

»Wenn ick Lokführer wäre, wüsste ick, was ick mache …«

Wieder auf der Lok, sagt Harry Deterling zu seinem Heizer Hartmut Lichy:

»Ich haue ab. Mit Familie. Mit dem Zug. Zur Endstation Freiheit.«

»Wenn du deine vier Gören mitnimmst, dann ist dat wohl sicher. Ick komm’ mit.«

Am Abend feiert Familie Deterling den siebten Geburtstag des Sohnes Manfred. Anwesend sind Harrys Mutter sowie die Schwester, der Bruder und die Schwägerin seiner Frau. Zu fortgeschrittener Stunde wird heftig politisiert. Die Anwesenden lassen ihrer Wut über den Mauerbau freien Lauf.

Plötzlich offenbart Harry: »Wir hauen ab.« Richtig glauben will es ihm aber zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Am nächsten Tag meldet sich Harry Deterling wieder bei seinem Parteisekretär:

»Ich will nicht ins Arbeitslager. Ich habe Familie. Dafür will ich zurückstecken.«

»Harry, ich freue mich, dass auch du dich zur Deutschen Demokratischen Republik und zum Aufbau des Sozialismus bekennst. Ich wusste immer, dass du einer von uns bist. Was kann ich für dich tun?«

»Als Beweis für meine Aufrichtigkeit möchte ich eine freiwillige Sonderschicht im S-Bahn-Ersatzverkehr fahren. Den Erlös werde ich dem Nationalen Aufbauwerk spenden.«

Der Parteisekretär klopft ihm auf die Schulter. Der letzte Widerspenstige im Betrieb scheint gezähmt.

Zur Auffrischung seiner Streckenkenntnisse fährt Harry Deterling an den folgenden Tagen in seiner Freizeit auf anderen Loks im S-Bahn-Ersatzverkehr mit. Die Strecke von Oranienburg über Nauen nach Potsdam, also den Westring um Berlin herum, kennt er schon. Doch er braucht mehr Erkenntnisse über den Abschnitt von Nauen über Finkenkrug und Falkensee nach Albrechtshof. In Albrechtshof endet der S-Bahn-Ersatzverkehr. Die Lok wird umgespannt und zieht den Zug zurück. Denn nur einen Kilometer östlich vom Bahnhof Albrechtshof führt das Gleis über die Grenze nach Westberlin. Noch.

An dieser Stelle soll am 10. Dezember 1961 die Verbindung unterbrochen werden. Zur Zeit sichert nur ein großes zweiflügliges Eisentor mit Stacheldraht die Durchfahrt. Viermal am Tag, wenn der Interzonenzug kommt, wird das Tor für Minuten geöffnet.

Während Harry Deterling als Gast auf einer anderen Lok seine Streckenkenntnisse zwischen Falkensee und Albrechtshof auffrischt, achtet er genau auf alle Weichen. Weder vor noch hinter dem Bahnhof Albrechtshof, also in Richtung Grenze, gibt es eine Notweiche. Diese Erkenntnis stimmt mit den Angaben des Mannes aus dem Stellwerk überein. Theoretisch ist also die Strecke nach Westberlin frei – bis auf das eiserne Tor über dem Gleiskörper.

Das Umspannen der Lok auf dem Grenzbahnhof Albrechtshof erfolgt unter strenger Kontrolle von Bahnhofsaufsicht, Transportpolizei und Grenztruppen. Vor dem Umspannen werden die Grenzer informiert. Dann steigt der Aufsichtsbeamte mit auf die Lok und bewacht das Rangieren.

Nachdem er alles genau beobachtet hat, fragt sich Harry Deterling: Was kann die Polizei eigentlich ausrichten, wenn ein Lokführer alle Haltesignale ignoriert und samt Zug in voller Fahrt durch den Bahnhof prescht? Die verbleibende Strecke von einem Kilometer bis zur Grenze ist in einer Minute durchfahren. Wer will in dieser Zeit eine 1000 PS starke Dampflok aufhalten?

Nach dem Auffrischen seiner Streckenkenntnisse studiert Harry Deterling die Fahrpläne der letzten vier verbliebenen Züge auf der Strecke Hamburg – Berlin. Wenn er die Grenze durchbricht, will er den Interzonenzugverkehr nicht gefährden.

Da die Strecke nach Westberlin über den Grenzübergang Albrechtshof schon am 10. Dezember geschlossen werden soll, muss Deterling schnell handeln. Am Freitag, dem 1. Dezember 1961, meldet er sich abermals beim Parteisekretär:

»Ich würde gern, wenn das möglich ist, an meinen freien Tagen am 5. und 6. Dezember, also nächsten Dienstag und Mittwoch, zwei Doppeltouren für das Nationale Aufbauwerk fahren.«

»Kollege Deterling, ich bin stolz auf dich. Sicher werden wir später noch mal über deine Unterschrift reden müssen. Aber jetzt spreche ich erst mal mit dem Einsatzleiter über deinen NAW-Einsatz. Du weißt, dass wir händeringend Lokführer suchen.«

Am Sonntag, dem 3. Dezember, fährt Harry Deterling mit dem Fahrrad zu Freunden und Verwandten in und um Oranienburg. Er gibt ihnen zu verstehen, dass es bald einen Zug geben wird, der in die Freiheit fährt.

Am Mittwoch, dem 5. Dezember, wird Lokführer Deterling, der eigentlich frei hat, bei seinem Einsatzleiter vorstellig. Er bekommt den Fahrbefehl, am Abend um 19.33 Uhr eine S-Bahn im Ersatzverkehr, also mit vorgespannter Dampflok, von Oranienburg nach Albrechtshof und zurück zu fahren.

Genau den Zug wollte Harry Deterling haben. Denn der letzte Schnellzug von Westberlin nach Hamburg fährt um 16.00 Uhr ab Spandau, und auch der letzte Zug aus der Hansestadt ist dann schon lange durch. Deterling ist sich sicher, dass ihm um diese Uhrzeit kein Personenzug mehr in die Quere kommen kann.

Er fährt wieder mit dem Fahrrad durch Oranienburg und offenbart seinen Vertrauten: »Heute um 19.33 Uhr fährt der letzte Zug in die Freiheit.«

Mit seiner Frau und den Verwandten stimmt er ab, dass alle Familien, die Kinder dabei haben, in unterschiedliche Wagen einsteigen sollen. Das soll verhindern, dass sich die Kinder, die sich gegenseitig kennen, an diesem Abend sehen. Kinder kommen manchmal auf unmögliche Gedanken und plaudern sie aus. Die anderen Mitreisenden sowie die Transportpolizisten, die die Züge in Richtung Grenze begleiten, dürfen keinen Verdacht schöpfen.

Am späten Nachmittag packt Frau Deterling das Nötigste in eine Reisetasche. Bloß nicht auffallen. Die vier Kinder sind schlecht gelaunt, weil sie alle ihre Sachen übereinander anziehen sollen. Harry Deterling trägt seinen dunklen Hochzeitsanzug und darüber die Lokführer-Montur.

Der 28-jährige Lokführer übernimmt am Abend auf dem Bahnhof Oranienburg seinen Zug. Der besteht aus acht Waggons und einer ihm vertrauten Dampflok der 78er Baureihe mit der Nummer 78 079. Diese leistungsstarken Loks wurden in den Jahren 1912 – 1923 in großer Serie gebaut und versehen auch jetzt noch zuverlässig ihren Dienst bei der Deutschen Reichsbahn.

Eine 78er Dampflok ist 14,80 Meter lang, wiegt 106 Tonnen und entwickelt eine Leistung von 1140 PS. Lokführer Deterling begrüßt den ihm zugeteilten Heizer. Diesen Mann kennt er nur flüchtig und kann ihn nicht einschätzen. Kurzentschlossen sagt er deshalb:

»Der Dienstplan wurde geändert. Du hast heute frei. Mach dir einen schönen Abend mit deiner Familie.« Der Heizer lässt die Kohlenschaufel auf der Stelle fallen und steigt von der Lok.

Minuten später klettert der 18-jährige Hartmut Lichy auf die Maschine. Er ist mit Harry Deterling eng befreundet und weiß, was heute Nacht passieren soll. Sie koppeln den Zug an und machen eine Bremsprobe.

Jetzt gibt es noch einen Mann, der ein ernstes Risiko darstellt: der Zugführer. Harry Deterling vermutet, dass der ein treuer Parteigenosse ist. Der Zugführer könnte vor der Grenze die Notbremse ziehen. Dann wäre alles zu spät. Den Zugführer kann er aber schlecht nach Hause schicken. Und dann sind da noch die Transportpolizisten, die gewöhnlich auf dem letzten Abschnitt in Richtung Grenze mitfahren. Deterling muss verhindern, dass der Zug durch eine Notbremsung angehalten werden kann.

Er geht am Zug entlang und setzt bei vier Waggons die Bremsen außer Betrieb. Bei den anderen vier Waggons will er die Bremsen nicht abschalten, weil er den Zug sonst auf den Zwischenstationen nicht anhalten könnte. Er reduziert aber den Druck der Bremsanlage von fünf auf vier atü. Er kalkuliert, dass bei jedem Bremsen auf den planmäßigen Haltepunkten der Druck immer weiter absinkt. Vor der Grenze, also zwischen Falkensee und Albrechtshof, sollte dann überhaupt kein Bremsdruck mehr vorhanden sein. Dieser Zug könnte dann nicht mehr per Notbremse gestoppt werden.

Aus seinem Fahrstand beobachtet der Lokführer das zeitversetzte Einsteigen der Fahrgäste. Er muss aufpassen, um nicht von einem seiner Kinder entdeckt zu werden. Seine Familie sitzt im Zug. Auch seinen Schwager Karl Buch hat er in einen der vorderen Wagen einsteigen sehen. Der Schwager soll zwischen Falkensee und Albrechtshof, also noch vor dem Grenzbahnhof, die Notbremse ziehen. Zeigt die Bremse dann keine Wirkung mehr, kann auch niemand anderer den Zug anhalten.

Ehefrau Ingrid, Schwager Karl sowie weitere im Zug sitzende Familienmitglieder wissen: Passiert nach dem Ziehen der Notbremse nichts, wird der Zug ohne Halt den letzten Bahnhof durchfahren und mit voller Fahrt in die Grenzsperren rasen. Alle sollen sich hinlegen und festhalten.

Punkt 19.33 Uhr rollt der Zug aus dem Bahnhof Oranienburg. Es ist ein kalter Dezembertag. Heizer Hartmut Lichy schaufelt Kohlen in den Feuerraum, während Oranienburg im Dunkeln zurückbleibt.

»Und wenn die schießen?« fragt der Heizer besorgt.

»Die Lok halten sie damit nicht an.«

»Und wir?«

»Wir springen in den Tender. Du musst so viel Platz schaffen, dass wir reinpassen. Wir schließen die Schutzklappen von innen. Da kommt keine Kugel durch.«

Von den informierten Flüchtlingen fehlen in Oranienburg nur der Musiker Heinz Schaumann, seine Frau und beide Töchter. Nachdem Frau Schaumann die Abfahrtszeit des Zuges in die Freiheit erfahren hatte, nahm sie sofort ein Taxi und fuhr mit den zwei Mädchen zur Staatsoper Unter den Linden und holte ihren Mann aus dem Orchester. Das Taxi raste dem Zug hinterher. Für Oranienburg war es schon zu spät. Sie fuhren zum S-Bahnhof Birkenwerder, hasteten auf den Bahnsteig. Doch in dem Moment fuhr der Zug schon los.

Zurück ins Taxi und Vollgas. Sie rasen parallel zum Zug nach Falkensee, dem letzten Halt vor dem Grenzbahnhof. Nach knapp einer Stunde, es ist 20.30 Uhr, stürzen sie zum Bahnsteig. Der Musiker mit der Oboe in der Hand fragt den Lokführer:

»Ist das der richtige Zug?«

»Wenn Sie meinen, dass es der richtige ist, dann steigen Sie ein.«

Musiker Schaumann, seine Frau und die zwei Töchter klettern in den ersten Wagen. Der Lokführer und sein Heizer beobachten den Bahnsteig. Warum stehen vor dem Bahnhofsgebäude so viele Polizisten? Und was machen hier Russen in Uniform?

Harry Deterling hat ein mulmiges Gefühl und erwägt schon, wieder Luft in die Bremsen zu lassen. Doch da gibt der Zugführer das Abfahrtsignal und steigt in den fünften Wagen. Mit ihm springen im letzten Moment zwei NVA-Soldaten sowie ein Polizist auf.

Der Zug rollt aus dem Bahnhof. Jetzt sind es nur noch drei Kilometer bis zur Grenzstation Albrechtshof. Deterling nickt seinem Heizer zu. Der schaufelt Kohlen in den Feuerraum. Zusätzlich macht er einen großen Kohlenhaufen mitten auf dem Fahrstand, damit im Tender Platz entsteht.

Nach Deterlings Berechnungen dürfte kein Druck mehr in der Bremsleitung sein. Jetzt muss irgendwann der Schwager die Notbremse ziehen. Plötzlich geht ein leichtes Rucken durch den Zug. Das war offensichtlich die Notbremse. Sie ist drucklos und zeigt kaum Wirkung. Heizer Lichy schaufelt Kohlen nach. Der Zug in die Freiheit beschleunigt. Ab jetzt kann er nur noch mit der Lok zum Stehen gebracht werden.

Der Zug fährt an Gärten vorbei und passiert einen Bahnübergang.

»In Westberlin sind Bahnübergänge!« schießt es dem Heizer durch den Kopf. »Die wissen nicht, dass wir kommen.«

»Wir geben Notsignal.« Der Lokführer hat eine Leine an den Hebel der Signalpfeife gebunden. Die Leine reicht bis zum Versteck im Tender.

»Und wie wollen wir anhalten?«

»Wir haben noch die Lok. Lass das meine Sorge sein.«

Heizer Lichy schaufelt Kohlen, was das Zeug hält. Die Lok beschleunigt auf 50 Stundenkilometer. Schneller will Deterling noch nicht fahren, weil er sonst riskiert, dass der Zug in Albrechtshof auf einer Weiche entgleist.

Nach fünf Minuten sehen sie den Grenzbahnhof Albrechtshof. Planmäßig muss der Zug hier stoppen und umspannen. Das Signal steht auf Halt. Am Bahnsteig stehen der Aufsichtsbeamte und mehrere Transportpolizisten. Fassungslos sehen sie zu, wie die Lok viel zu schnell in den Bahnhof einfährt. Der Zug spurt planmäßig aufs Nebengleis, rast am Bahnhof vorbei und fädelt sich an der nächsten Weiche wieder aufs Hauptgleis. Ein Polizist ruft irgendwas hinterher. Doch es ist zu spät.

Die Flüchtlinge in den Waggons wissen jetzt, dass es gleich ernst wird. Sie legen sich flach auf den Boden. Der Zugführer im fünften Wagen reißt verzweifelt an der Notbremse. Doch der Zug ist nicht mehr zu bremsen. Schließlich wirft sich auch der Zugführer, so wie alle anderen Insassen, flach auf den Boden.

Vorn in der Lok schaufelt Heizer Lichy Unmengen Kohle in den Feuerraum. Der Lokführer setzt die Maschine unter Volldampf. Sie beschleunigt auf 80 Stundenkilometer. Nach einer Minute sehen sie vom Fahrstand aus vorn einen hell beleuchteten Streifen: die Grenze. Deterling und Lichy springen in den Tender und schließen hinter sich die Schutzklappen.

Die völlig überraschten Grenzer greifen zu den Waffen. Schüsse peitschen durch die Nacht. Doch niemand kann die Dampflok stoppen. Mit heulender Sirene kracht die Lok in die Sperranlagen. Stahl trifft auf Stahl. Funken sprühen. Ein kurzes Rucken im Zug. Teile der Grenzsperren wirbeln durch die Luft. Der Zug in die Freiheit ist nicht aufzuhalten.

Lichy steckt den Kopf kurz hoch und ruft: »Wir sind über die Grenze. Die Schranken sind runter.«

Die Bahnwärter in Westberlin haben offenbar das Notsignal gehört und sehr schnell reagiert. Deterling und Lichy kriechen aus dem Versteck. Der Lokführer gibt Gegendampf auf die Maschine. Nach zweieinhalb Kilometern, kurz vor dem Einfahrtsignal Spandau-West, bringt er den Zug zum Stehen. Er macht die Lok mit der Handbremse fest. Der Heizer reißt das Feuer heraus. Es ist 20.45 Uhr, und der Lokführer und sein Heizer steigen glücklich, aber noch mit schlotternden Knien von der Maschine.

Ingrid Deterling klettert mit den vier Kindern aus dem Zug. Die beiden NVA-Soldaten helfen ihr dabei. Die anderen Flüchtlinge folgen ihr. Der Transportpolizist guckt aus dem Fenster und ruft: »Aussteigen auf freier Strecke ist verboten!«

»Du hast hier nichts mehr zu sagen«, antwortet ein Flüchtling, »wir sind im Westen!«

»Ich werde mich bei der Deutschen Reichsbahn beschweren!« flucht der Polizist und klettert ebenfalls aus dem Zug.

Der Zugführer, der Polizist, die beiden Soldaten sowie drei Frauen, die nichts von der Flucht wussten, nehmen ihr Handgepäck und gehen auf dem Gleiskörper zurück in Richtung DDR-Gebiet.

Die anderen Fahrgäste, insgesamt sechs Männer, zehn Frauen und sieben Kinder machen sich mit dem Lokführer und dem Heizer auf den Weg zum nächsten Wohnhaus. 25 Personen sind im Westen angekommen.

In der Gartenstadt Staaken klopft Harry Deterling an ein Siedlungshaus. Er bittet, die Polizei anrufen zu dürfen. Die Bewohner sind hilfsbereit. Deterling wählt den Notruf 110 und schildert, was passiert ist. Der Beamte antwortet kurz:

»Junger Mann, für Silvesterscherze ist es wohl ein bisschen früh«, und knallt den Hörer auf.

In der Wohnsiedlung spricht sich die sensationelle Flucht mit dem Zug im Nu herum. Nach einem zweiten Anruf kommt dann doch die Polizei und bringt die Flüchtlinge zur Wache nach Berlin-Spandau.

Außer den eingeweihten 24 Personen ist noch ein 17-jähriges Mädchen mitgekommen. Sie hatte von allem keine Ahnung und wollte ursprünglich in Albrechtshof aussteigen. Ihre Eltern waren am Tag des Mauerbaus in Westberlin geblieben. Sie fürchtete, die Eltern nie wiedersehen zu dürfen. Die Polizisten in Spandau rufen die Eltern an. Minuten später gibt es für diese Familie ein Wiedersehen.

Schon am Morgen nach der Flucht müssen Ostberliner Bautrupps unter strenger Bewachung an der Stelle des Grenzdurchbruchs die Schienen vom Gleiskörper reißen. Die Bahnstrecke zwischen Albrechtshof und Spandau wird gekappt. Wo einst Züge fuhren, wird ein unüberwindbarer Grenzzaun installiert.

Das MfS registriert zähneknirschend, dass es in den Grenzorten Falkensee und Albrechtshof ein neues geflügeltes Wort gibt: Fragt jemand lapidar: »Wie geht’s?«, bekommt er neuerdings zur Antwort: »Ach, sag nichts, ich hab’ den letzten Zug verpasst.«

Nach dem spektakulären Grenzdurchbruch des Lokführers Harry Deterling werden auch alle stillgelegten Gleise zwischen Ost und West demontiert. An den wenigen verbliebenen Transitstrecken, auf denen die Interzonenzüge verkehren, installiert man mit großem Aufwand automatisch gesteuerte Entgleisungsweichen. Seitdem hat nie wieder ein Zug die Sperranlagen durchbrochen.

Lokführer Harry Deterling und Heizer Hartmut Lichy werden in Abwesenheit zu 13 bzw. sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.

Für Familie Deterling ist auch im Westen die Flucht noch nicht zu Ende. Ab 7. Dezember wohnen die Eltern mit ihren Kindern im Notaufnahmelager Marienfelde. Am folgenden Tag versuchen Unbekannte, den Familienvater in eine Gaststätte einzuladen. Es stellt sich heraus, dass die Fremden vom MfS gesandt wurden, um den Lokführer zurückzuholen. Aus Sicherheitsgründen fliegt man die Deterlings am 9. Dezember mit einer amerikanischen Militärmaschine aus. In Frankfurt / Main werden sie in einem mit Gardinen verhängten Pkw abgeholt und zur US-Kaserne Camp King bei Oberursel gefahren.

Das freundliche Angebot der Alliierten, die Familie in die Staaten zu bringen, lehnen sie jedoch ab. Sie wollen in Deutschland bleiben. Doch sie können und wollen nicht ewig in einer Kaserne leben. Am 20. Januar 1962 ziehen sie in ein Aufnahmelager in Massen bei Unna und leben dort zunächst unter Polizeischutz.

Am 29. Januar meldet sich eine unbekannte Frau bei Deterlings: »Verschwinden Sie so schnell wie möglich! Mein Mann hat den Auftrag, eines Ihrer Kinder zu entführen.«

Die Polizei veranlasst sofort den Umzug an eine geheime Adresse bei Hagen. Das Haus wird rund um die Uhr bewacht. Jegliche Korrespondenz wickelt die Familie, in Abstimmung mit der Polizei, über Deckadressen ab. Dennoch erhält Harry Deterling immer wieder Morddrohungen.

Die Familie muss erneut umziehen. Unter Polizeischutz und bei strengster Geheimhaltung gehen Deterlings in den äußersten Südwesten Deutschlands. Niemand, auch nicht die engsten Verwandten, erfahren den Wohnort. In ihrer neuen Heimat am Bodensee weiß niemand, woher sie kommen. Hier gehen die Kinder zur Schule, und Harry Deterling arbeitet wieder als Lokführer.

Die Post, die erneut aus Sicherheitsgründen über Dritte geleitet wird, ist die letzte Brücke zu Freunden und Verwandten in der DDR. Auf diesem Wege erhält Harry Deterling im Jahre 1974 – also 13 Jahre nach der geglückten Flucht! – die letzte Drohung. Ein kurzer Brief aus Zeitungsschnipseln mit den Worten: »Auch Du wirst Stalins Füße küssen!«

Bis zum Mauerfall lebt die Familie durch die Polizei sorgfältig abgeschirmt in Süddeutschland. Am 30. Januar 1989 fährt Lokführer Harry Deterling seine letzte Schicht bei der Deutschen Bundesbahn. Als Pensionär, im Mai 1990, betritt er, nach mehr als 28 Jahren, erstmals wieder DDR-Gebiet.

135 Schüsse auf die »Friedrich Wolf«

Es ist Freitag, der 8. Juni 1962. Um 4 Uhr morgens liegt noch ein zarter Dunst über der Spree und den Wiesen am Treptower Park in Berlin. Es soll ein sonniger und warmer Tag werden. Am Anlegekai Stralauer Brücke des VEB Weiße Flotte betreten morgens die ersten Arbeiter und Angestellten das Betriebsgelände. Die Schiffe werden gereinigt, Proviant wird gebunkert, und das eine oder andere muss repariert werden. Die Saison hat gerade begonnen. Und am bevorstehenden Wochenende wird Hochbetrieb herrschen.

In dem Trubel fällt es nicht auf, dass gegen 4.30 Uhr sechs Personen, die hier nicht arbeiten, den Fahrgastanleger betreten und sich an Bord der »Friedrich Wolf« begeben. Es sind vier junge Frauen sowie ein junger Mann. Eine der Frauen trägt einen Flechtkorb, in dem ein Baby schläft.

Die sechs Personen schleichen sich in die Bordküche der »Friedrich Wolf«. Dort empfängt sie Schiffskoch Jörg Lindner und fordert sie auf, sich auf den Boden zu legen. Der neue weiße Ausflugsdampfer ist das Flaggschiff der volkseigenen Fahrgastschifffahrt. Es ist 60 Meter lang, 8 Meter breit, 350 Tonnen schwer und bietet 275 Fahrgästen Platz.

Zur selben Zeit erscheinen von den Nachbarschiffen im Hafen drei junge Männer, alle Anfang 20 und in Uniform der Weißen Flotte: der Bootsmann Peter Currle, sein Kollege Peter Warczewski und der Schiffskellner Dieter Berger. Mit einem kurzen Nicken werden sie an Bord der »Friedrich Wolf« vom 2. Maschinisten Dieter X. und vom Schiffsjungen Bodo Kunkel begrüßt.

Außerdem an Bord der »Friedrich Wolf« sind Manfred B. und Hans K., zwei Schlosser aus Magdeburg, die einen Reparaturauftrag auszuführen haben. Und dann liegen da noch zwei SED-Genossen tief schlafend in ihren Kabinen: der Kapitän sowie sein 1. Maschinist. Beide sind volltrunken.

Um 4.45 Uhr startet der 2. Maschinist im Maschinenraum die beiden Dieselmotoren. Zugleich nehmen die Bootsmänner Currle und Warczewski die schweren Stahlplatten, die im Maschinenraum als Flurplatten liegen, auf und tragen sie durch den Salon nach oben zur Brücke. Der gesamte Steuerstand wird von innen mit Stahlplatten umstellt. Von außen ist davon nichts zu sehen.

Danach demontieren sie das Dach und die Fenster des Steuerhauses bis in Brusthöhe. Diese Handgriffe gehen sekundenschnell, weil sie bei niedrigen Brückendurchfahrten oft praktiziert werden. Bei 20 Schiffen am Liegeplatz stört sich niemand daran.

Die Maschinen laufen. Die Bootsmänner Peter Currle und Peter Warczewski stehen in Uniform und mit weißen Schirmmützen auf der jetzt offenen Kommandobrücke. Beide Männer haben dieses Schiff noch nie gesteuert. Doch sie kennen die Manövriereigenschaften vom Schwesterschiff »Johannes R. Becher« aus der sogenannten Dichterklasse. Currle nimmt das Steuerrad und befiehlt: »Leinen los!«

Schiffsjunge Bodo Kunkel und Koch Jörg Lindner lösen die Festmacher. Die »Friedrich Wolf« legt von der Pier ab und nimmt Fahrt auf. Das Schiff dreht jedoch nicht, wie üblich, in Richtung Osten nach Köpenick, sondern schiebt seinen Bug stromabwärts – nach Westen!

Bootsmann Peter Currle sagt zu seinem neben ihm stehenden Kollegen: »Wenn die mich abknallen, nimmst du das Ruder!« Weiter reden sie nichts. Denn es wird sofort todernst. Es ist die kürzeste und folgenschwerste Reise des Binnenschiffers Peter Currle. Seit sechs Monaten hat er auf diesen Tag gewartet.

Am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, wurde Peter Currle von seinem Kumpel Dieter Berger, der als Kellner auf dem selben Schiff arbeitete, gefragt: »Willst du auch abhauen, in den Westen?«

Und Currle entgegnete: »Der Drahtverhau ist doch nur provisorisch. Irgendwann reißen sie den Scheiß wieder ab.«

Peter Currle hatte sich getäuscht. Die Mauer wurde von Woche zu Woche immer perfekter. Aber er wollte immer noch nicht gehen. In Ostberlin wohnte seine Mutter, die sich mühsam ihren Lebensunterhalt als Schneiderin verdiente und auch gesundheitliche Probleme hatte. Früher half er ihr, indem er im Westsektor Garn oder Stoffe kaufte. Doch das war jetzt vorbei.

Eines Tages vertraute er der Mutter an, dass er lieber als freier Mann leben würde. Die Mutter antwortete spontan: »Wenn du eine Gelegenheit hast, hau ab. Dann ist wenigstens einer aus der Familie drüben.«

Am 24. Januar 1962 führte die DDR per Gesetz die allgemeine Wehrpflicht ein. Jetzt gab es auch für Peter Currle keinen Halt mehr. Seinem Kumpel Dieter Berger vertraute er an: »Ich bin jetzt ebenfalls bereit zu fliehen.«

Auf Dieter Bergers Vespa-Motorroller fuhren sie nach Feierabend immer wieder an der Mauer entlang durch die geteilte Stadt und suchten nach einem Durchschlupf. Doch der Ring um das freie Berlin war längst dicht. Überall lauerten bewaffnete Grenzer. Im Laufe des Frühjahrs kamen sie zu der bitteren Erkenntnis, dass sich ihnen auf dem Landweg nirgendwo eine Chance zur Flucht bot.

Eines Abends im Mai 1962 trafen sie in einer Bierkneipe in Treptow ihren Kollegen Peter Warczewski, damals Hilfsbootsmann bei der Weißen Flotte. Warczewski hatte gute Kontakte nach Westberlin und suchte ebenfalls nach einem Weg in die Freiheit.

»Die einzige Chance, die wir noch haben, ist mit einem Schiff. Von unserem Anleger in Treptow brauchen wir nur unter der Stralauer Brücke durch und dann spreeabwärts. Nach einem Kilometer, wenn rechts der Osthafen kommt, gehört das linke Ufer schon zu Westberlin. Der Flutgraben der Oberschleuse ist schon Westgebiet.«

»Du willst mit einem Schiff in den Flutgraben?« fragte Currle.

»Das geht nicht mehr«, entgegnete Warczewski. »Über meine Kontakte habe ich von der Westberliner Polizei erfahren, dass dort unter Wasser Stahlgitter eingebaut sind. Wir müssen noch 100 Meter weiter und dann nach links in die Oberschleuse. Die können sie wegen des Schiffsverkehrs nicht abriegeln.«

»Und wenn das obere Schleusentor zu ist?«

»Dann setzen wir den Kahn kurz davor aufs Ufer.«

Am 5. Juni kurz vor Sonnenaufgang enterten sie ein unbewachtes kleines Fahrgastschiff, schlugen auf der Brücke eine Scheibe ein und brachen den Steuerstand auf. Doch es gelang ihnen nicht, die Maschine zu starten. Ehe es hell wurde, verschwanden sie wieder. Die Kriminalpolizei nahm zwar den Einbruch auf. Doch die Täter waren spurlos verschwunden.