Father Brown-Krimis - G. K. Chesterton - E-Book

Father Brown-Krimis E-Book

G.K. Chesterton

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Beschreibung

Der vorliegende Band enthält die schönsten Krimis und Detektivgeschichten mit Father Brown. Äußerlich ist Father Brown unscheinbar, doch hinter der harmlosen Gestalt verbirgt sich ein scharfer Verstand. Father Brown pflegt sein unauffälliges Image, denn bei der Lösung seiner Kriminalfälle hilft es ihm, vom Gegner unterschätzt zu werden. Brown löst seine Fälle eher durch psychologische Einfühlung in den Täter, als durch Logik. Dabei geht es ihm am Ende weniger um die Bestrafung der Täter, als um deren Einsicht und moralische Umkehr. Die Geschichten rund um Father Brown entwickelten sich für G. K. Chesterton zu einem Bestseller. Mehrere Kriminalgeschichten wurden verfilmt.

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Father Brown-Krimis

Titelseite Father Brown–Krimis Priester und Detektiv: Roman Vorwort Der geheime Garten Die verdächtigen Tritte Israel Gows Ehre Der Unsichtbare Mißgestaltet Die Sternschnuppen Die Sünden des Prinzen Saradin Der Hammer Gottes Das Auge des Apoll Das Zeichen des zerbrochenen Schwertes Die drei Todeswerkzeuge Father-Brown-Geschichten Das Paradies der Diebe Die Abwesenheit des Herrn Glaß Das Duell des Doktor Hirsch Der Mann in der Passage Der Fehler der Maschine Der Kopf Cäsars Die purpurfarbene Perücke Der Fluch auf dem Hause Pendragon Der Gott des Gongs Der Salat des Oberst Cray John Boulnois' seltsames Verbrechen Father Browns Märchen Das Hundeorakel Der geflügelte Dolch Das Verhängnis der Darnaways Ein Pfeil vom Himmel Das Wunder in der Mondstraße Das goldene Kreuz Impressum

Gilbert Keith Chesterton

Father Brown–Krimis

Gesammelte Werke

Priester und Detektiv: Roman

Vorwort

ie fast überall, so war auch in England einer der Hauptgründe für die Einführung der sog. Reformation der Vorwurf, die katholische Kirche sei römisch und daher ein Fremdkörper, der sich mit dem einheimischen, nationalen Geiste nicht vertrage oder diesem zu wenig Rücksicht erweise. Dieses Bewußtsein steckt heute noch tief im ganzen englischen Protestantismus und ein Übertritt zur katholischen Kirche bedeutet daher dort auch einen Bruch mit dieser Tradition des ganzen Landes. In Wirklichkeit wird jedoch dem nationalen Gedanken im Katholizismus nur sein richtiger, natürlicher Platz angewiesen, werden die irdischen Interessen den ewigen hintangesetzt entsprechend dem Verhältnisse der unsterblichen Seele zum sterblichen Leibe, wenn wir nun seit einem halben Jahrhundert tatsächlich so zahlreiche Personen jenen irrigen Standpunkt verlassen sehen, so ist doch ungleich größer noch die Zahl derjenigen, die entweder nicht die Kraft besitzen, aus einmal angenommenen Wahrheiten die letzten Schlußfolgerungen zu ziehen, oder die nicht bis zur vollen Wahrheit sich durchzuringen imstande waren. Viele unter ihnen haben aber dennoch der Erkenntnis des Wahren in jenem Lande die Wege ebnen geholfen, sie haben Berge von Schutt, Unsummen von Vorurteilen beiseite geräumt und anderen den Weg freigemacht. Zu diesen gehört G. K. Chesterton. Er ist einer von jenen, die verstehen, die erkennen, die begreifen, besser vielleicht als viele Katholiken selbst, die aber den Glauben, das Geschenk der göttlichen Gnade noch nicht besitzen. So steht er auch heute noch draußen, aber niemand hat so in den letzten Jahren sich für die katholische Kirche und alles, was sie lehrt, eingesetzt, wie er. Man braucht noch lange nicht mit allem einverstanden zu sein, was er in seinem bekannten Buche »Orthodoxie« schreibt, aber man wird doch zugeben müssen, daß von nichtkatholischer Seite für Nichtkatholiken selten Besseres über die katholische Kirche geschrieben worden ist. Wie er zu seinem katholischen Standpunkte kam, erzählt er in »Ball und Kreuz«. Er war ausgezogen, sich eine neue Religion, eine bessere, als seine anglikanische zu gründen. Mit Hilfe alles dessen, was sein Verstand ihm an Werkzeugen darbot, mit Hilfe vor allem von unerbittlicher Logik begann er sein anglikanisches Kredo zu reinigen und zu verbessern, und als er dann endlich die Welt mit seinem nagelneuen System überraschen wollte, mußte er sehen, daß er Dinge entdeckt hatte, in deren Besitz die katholische Kirche schon seit bald zweitausend Jahren sich befindet. Er war ausgezogen, einen neuen Erdteil zu entdecken, und was er entdeckte, war die alte Heimat.

Eine der größten Überwindungen für denjenigen, der der Kirche sich nähern will, ist die Herstellung einer Verbindung mit dem Priester. Falsche Vorstellungen, anerzogene Abneigung, Verachtung gegen den so oft aus dem niederen Volke hervorgegangenen Geistlichen, die Furcht nicht verstanden zu werden und sich wieder in die unerträgliche Wirrnis getrieben zu sehen, hält viele Leute dem Priester fern. Bizarr, wie in seiner Schreibart, wählt Chesterton das Mittel des Kriminalromanes, an dessen Hand er zeigt, welche Summe von Menschenkenntnis der katholische Priester besitzt, die ihm seine wissenschaftlich-theologische Vorbildung, sein Wirken unter allen Schichten des Volkes und seine im Beichtstuhle gewonnene Erfahrung vermitteln. Father Brown ist dieser Typus eines im Äußern plumpen, einfältigen Priesters, der auch im schlimmsten Falle nicht in Verlegenheit kommt und von dem auch der geriebenste Detektiv noch manches lernen kann. So bringt Chesterton den Priester seinen Landsleuten näher, er wird ihnen menschlicher, sie gewinnen vielleicht mehr Vertrauen zu ihm und lassen sich diese Dinge, die über den Priester zu wissen gut sind, in dieser Form und von einem der Ihrigen eher sagen, als von der schönsten katholischen Apologie. Die Erzählung ist eine kleine Anerkennung für unseren Klerus, wobei jedoch auch die Unterhaltung (als die anziehende Form) nicht zu kurz kommt. Wenn dabei manch treffliches Wort für die politischen Zustände des heutigen England abfällt, so nehmen wir das in diesen Zeiten gerne in Kauf.

Das blaue Kreuz

Zwischen dem Silberbande des Morgens und dem grünen, glitzernden Bande der See legte das Dampfboot in Harwich an und ließ einen Schwarm Volkes entweichen, aus dem der Mann, dem wir folgen müssen, keineswegs hervorstach – noch es zu tun wünschte. Außer einem leichten Gegensatze zwischen der feiertäglichen Lebhaftigkeit seiner Kleidung und dem offiziellen Ernste seines Gesichtes war nichts Bemerkenswertes an ihm. Zu seiner Kleidung gehörte eine leichte, hellgraue Jacke, eine weiße Weste und ein Silberstrohhut mit blaugrauem Bande. Sein mageres Gesicht, das der Gegensatz dunkel erscheinen ließ, endete in einen kurzen, schwarzen Spitzbart, der spanisch aussah und eine Halskrause, wie man sie unter Elisabeth trug, zu verlangen schien. Mit dem Ernste eines Müßiggängers rauchte er eine Zigarette. Nichts an ihm deutete an, daß die graue Jacke einen geladenen Revolver, die weiße Weste einen Polizeipaß oder der Strohhut einen der scharfsinnigsten Köpfe Europas bedeckte. Denn es war Valentin selbst, das Haupt der Pariser Polizei und die berühmteste Spürnase der Welt, und er befand sich auf dem Wege von Brüssel nach London, um die bedeutendste Verhaftung des Jahrhunderts vorzunehmen.

Flambeau war in England. Die Polizei dreier Länder hatte endlich die Spuren des großen Verbrechers von Gent nach Brüssel und von Brüssel nach dem Hoek van Holland verfolgt; man mutmaßte, er würde die günstige Gelegenheit des Durcheinanders und des Fremdenandranges beim Eucharistischen Kongresse, der damals in London tagte, ausnützen. Wahrscheinlich würde er als irgendwelcher niedere Geistliche oder als eine Art von Kongreßsekretär reisen, aber gewiß konnte das natürlich Valentin nicht wissen; bei Flambeau war niemand sicher.

Es sind jetzt viele Jahre her, seit dieses Ungetüm eines Verbrechers, das die Welt in Angst hielt, plötzlich verschwand, und als es verschwand, war, wie man dies nach dem Tode Rolands sagte, eine große Ruhe auf Erden entstanden. Doch in seinen besten Tagen (ich meine natürlich seine schlimmsten) war Flambeau eine ebenso überragende und internationale Gestalt wie der Kaiser. Nahezu jeden Morgen berichteten die Blätter, daß er sich den Folgen eines außergewöhnlichen Verbrechens dadurch entzogen habe, daß er ein neues beging. Flambeau war ein Gaskogne von riesigem Wuchse und wahrer Tollkühnheit, und die wildesten Dinge erzählte man sich von den Ausbrüchen seines athletischen Temperamentes, z. B. wie er den Untersuchungsrichter auf den Kopf stellte, um ihm den Verstand zu klären, oder wie er mit je einem Polizisten unterm Arme die Rue de Rivoli hinabrannte. Um aufrichtig gegen ihn zu sein, muß jedoch gesagt werden, daß er seine ungewöhnliche Körperkraft im allgemeinen selten in solch unblutigen, wenn auch seiner Würde wenig förderlichen Auftritten zur Anwendung brachte; seine eigentlichen Verbrechen bestanden hauptsächlich in geistvollen, erfindungsreichen Räubereien im großen Stile. Doch jeder seiner Diebstähle bildete nahezu eine neue Art von Vergehen und würde für sich schon eine besondere Geschichte ausmachen. Er war es, der die große Tiroler Molkerei-Gesellschaft in London ins Leben rief, ohne Molkerei, ohne Kühe, ohne Karren, ohne Milch, jedoch mit einigen tausend Abnehmern. Diese bediente er einfach dadurch, daß er die kleinen Milchkannen vor anderer Leute Türen vor die seiner eigenen Kunden schob. Er war es gewesen, der einen unerklärlichen und geheimen Briefwechsel mit einer jungen Dame unterhielt, der aufgefangen wurde, und wobei er sich des außerordentlichen Tricks bedient hatte, seine Mitteilungen in unendlicher Verkleinerung auf Mikroskops zu photographieren. Eine große Einfachheit kennzeichnete jedoch viele seiner Versuche. Einmal soll er in der Totenstille der Nacht alle Hausnummern einer Straße übermalt haben, nur um einen Reisenden in eine Falle zu locken. Es ist vollkommen richtig, daß er einen tragbaren Briefkasten erfunden hatte, den er in ruhigen Vorstädten an den Ecken anbrachte, um etwaige Postanweisungen abzufangen. Kürzlich noch lernte man ihn auch als geschickten Akrobaten kennen; trotz seiner mächtigen Gestalt wußte er wie eine Heuschrecke zu springen und wie ein Affe in den Baumkronen zu verschwinden. Daher war sich der große Valentin, als er Flambeau zu finden sich anschickte, vollkommen bewußt, daß, wenn er ihn auch gefunden haben würde, damit seine Abenteuer nicht beendet wären.

Doch wie sollte er ihn finden?

Darüber waren Valentins Gedanken noch zu keinem Schlusse gekommen.

Ein Ding gab es, das Flambeau bei all seiner Geschicklichkeit im Verkleiden nicht verbergen konnte, und das war seine ausnehmende Größe. Wenn Valentins flinkes Auge ein hochgewachsenes Apfelweib, einen großen Grenadier oder selbst eine erträglich große Herzogin entdeckt hätte, er würde sie auf der Stelle verhaftet haben. Doch während der ganzen Fahrt war ihm niemand untergekommen, der ein verkappter Flambeau hätte sein können. Bezüglich der Leute auf dem Dampfboote hatte er sich bereits vergewissert, und diejenigen, welche in Harwich vom Zuge aufgelesen worden waren, beschränkten sich mit Sicherheit nur auf sechs. Da war ein kurzer Eisenbahnbeamter, der bis London mitfuhr, dann drei ziemlich kurze Grünzeughändler, welche zwei Stationen später hinzugekommen waren, eine sehr kurze Witwe aus gutem Hause aus einer kleinen Stadt in Essex und ein sehr kurzer römisch-katholischer Priester, der von einem kleinen Dorfe in Essex hereinkam. Beim letzten Falle angelangt, gab es Valentin auf; er mußte beinahe lachen. Der kleine Priester war so sehr das Muster eines Simpels aus dem Osten, er hatte ein Gesicht so rund und nichtssagend wie ein Norfolkpudding, er hatte Augen so leer wie die Nordsee, und er trug einige braune Papierpakete, die beisammenzuhalten er ganz außerstande war. Der Eucharistische Kongreß hatte anscheinend viele derartige Geschöpfe, blind und hilflos wie ausgehobene Maulwürfe, aus ihrer örtlichen Trägheit aufgescheucht. Valentin war ein Skeptiker vom strengen französischen Stile und kannte daher keine Vorliebe für Priester. Aber Mitleid konnte er für sie aufbringen, und dieser eine würde bei jedermann solches erweckt haben. Er trug einen großen, schäbigen Regenschirm, der ihm fortwährend zu Boden fiel. Er schien nicht zu wissen, welches das richtige Ende seiner Rückfahrtkarte war. Er erklärte mit der Einfalt eines Mondkalbes jedermann im Wagen, er müsse vorsichtig sein, denn er trage in einem seiner braunen Papierpakete etwas aus wirklichem Silber Verfertigtes »mit blauen Steinen«. Seine wunderliche Mischung von Essex-Plattheit und frommer Einfachheit belustigte andauernd den Franzosen, bis der Priester mit all seinen Paketen in Stratford anlangte und um seinen Regenschirm zurückkehrte. Als er letzteres tat, besaß Valentin sogar die Zuvorkommenheit, ihn zu warnen, nicht das Silber dadurch zu behüten, daß er jedermann davon erzähle. Doch mit wem immer auch Valentin sprach, stets hielt er sein Auge offen nach jemand anderm. Beständig blickte er nach jemanden aus, reich oder arm, männlich oder weiblich, der gut an sechs Fuß hoch wäre, denn Flambeau war noch um vier Zoll größer.

In Liverpool Street stieg er jedoch ab, sich mit vollkommener Sicherheit bewußt, daß er den Verbrecher bislang nicht übersehen habe. Dann begab er sich nach Scotland Yard, seine Papiere in Ordnung zu bringen und für den Bedarfsfall Hilfe zu vereinbaren. Schließlich zündete er sich eine neue Zigarette an und machte sich zu einem langen Bummel in den Straßen Londons auf. Als er in dem Viertel jenseits Victoria umherwanderte, hielt er plötzlich an und blieb stehen. Der Platz war altmodisch und ruhig, sehr typisch für London, voll von zufälliger Stille. Die großen flachen Häuser sahen auf einmal wohlhabend und unbewohnt und das Sträucherviereck in der Mitte so einsam wie ein grünes Inselchen im Stillen Ozean aus. Eine der vier Seiten ragte wie eine Estrade über die anderen empor und die Linie dieser Seite war unterbrochen von einer von Londons wunderbaren Zufälligkeiten – einem Restaurant, das aussah, wie wenn es sich vom Soho hierher verlaufen hätte. Es war ein unvernünftig anziehendes Ding mit Zwergpflanzen in Töpfen und mit langen, gestreiften Stabjalousien in Zitronengelb und Weiß, lag eigentümlich hoch über der Straße, und in der in London üblichen Flickwerkart lief eine Flucht von Stufen von der Straße aus zum Eingange hinauf, fast wie etwa eine Rettungsleiter zu einem Ersten-Stock-Fenster. Valentin stand rauchend gegenüber den gelb-weißen Jalousien und betrachtete sie lange.

Das unglaublichste Ding bei den Wundern ist, daß sie geschehen. Ein paar Wolken am Himmel ballen sich zusammen zu der auffallenden Form eines menschlichen Auges. Auf ungewissem Wege ragt mitten in einer Landschaft ein Baum auf in der genauen und vollendeten Form eines Fragezeichens. Ich habe selbst diese beiden Dinge in den letzten paar Tagen gesehen. Nelson stirbt im Augenblicke des Sieges, und ein Mann namens Williams ermordet zufällig einen Mann namens Williamson; es klingt wie eine Art Kindsmord. Kurz, es ist im Leben ein Element geisterhaften Zusammentreffens, welches Leuten, die nur mit dem Prosaischen rechnen, ewig entgehen wird. Weisheit sollte, wie es in Poes Paradoxen so gut heißt, sich auf das Unvorhergesehene verlassen.

Aristide Valentin war Franzose von reinstem Wasser und die französische Intelligenz ist eine Intelligenz ganz besonderer und einziger Art. Er war nicht eine »denkende Maschine«, denn dies ist eine sinnlose Redensart des modernen Fatalismus und Materialismus. Eine Maschine ist nur deshalb eine Maschine, weil sie eben nicht denkt. Er aber war ein denkender Mensch und gleichzeitig ein schlichter Mensch. All seine wunderbaren Erfolge, die wie Zauberei aussahen, hatte er errungen durch angestrengte Logik, durch klares und hausbacken französisches Denken. Die Franzosen elektrisieren die Welt nicht durch Aufstellung von Widersinnigkeiten, sie elektrisieren sie durch Ausführung von Gemeinplätzen. Und das treiben sie sogar bis – zur französischen Revolution. Aber eben weil Valentin die Vernunft kannte, kannte er auch die Grenzen der Vernunft. Nur ein Mensch, der nichts von Motoren versteht, spricht von Motorfahren ohne Benzin; nur ein Mensch, der nichts von Vernunft versteht, spricht von Vernünftigsein ohne starke unbestreitbare Urgrundsätze. Hier hatte er keine starken Urgrundsätze. Flambeau war zu Harwich entwischt, und wenn er überhaupt in London war, dann konnte er irgend etwas sein, angefangen von einem übergroßen Vagabunden in Wimbledon Common bis zu einem übergroßen Toastmeister im Hotel Metropole. In solch nacktem Zustande des Nichtwissens besaß Valentin seine eigene Ansicht und seine eigene Methode.

In derlei Fällen rechnete er auf das Unvorhergesehene. In Fällen, da er nicht den Weg des Vernünftigen verfolgen konnte, verfolgte er kalt und sorgfältig den Weg des Unvernünftigen. Anstatt die richtigen Orte aufzusuchen – Banken, Polizeiwachen, Sammelpunkte –, suchte er systematisch die unrichtigen Plätze auf, klopfte an jedes leere Haus, lief jede Sackgasse entlang, rannte jede mit Schutt versperrte Gasse hinab, bog er in jede Kurve ein, die ihn unnütz vom Wege abbrachte. Er verteidigte dieses verrückte Verfahren ganz logisch. Er behauptete, wenn jemand sich nach einem bestimmten Schlüssel richte, sei dies der schlimmste Weg, wenn man jedoch jeden Schlüssel beiseite ließ, sei dies das allerbeste, denn dabei habe man eben den Vorteil, daß irgend etwas Auffälliges, das das Auge des Verfolgers auf sich lenkt, dasselbe sein kann, was das Auge des Verfolgten auf sich gelenkt haben mag. Irgendwo mußte der Mensch anfangen, und es sei besser, es dort zu tun, wo ein anderer aufhören würde. Etwas an dieser Treppenflucht hinan zum Eingange, etwas an der Einsamkeit und Seltsamkeit des Restaurants weckte des Geheimpolizisten ganze ihm eigentümliche Vorliebe für das Romantische und ließ ihn den Entschluß fassen, aufs Geratewohl loszugehen. So stieg er die Treppe empor, ließ sich an einem Tische neben dem Fenster nieder und verlangte eine Tasse schwarzen Kaffees.

Der halbe Morgen lag schon hinter ihm und er hatte noch nicht gefrühstückt. Der Tisch wies die unauffälligen Spuren anderer Frühstücke auf und gemahnte ihn an seinen Hunger, und indem er seiner Bestellung noch ein Spiegelei hinzufügte, machte er sich nachdenklich daran, etwas weißen Zucker in seinen Kaffee zu schütten, wobei all seine Gedanken sich mit Flambeau beschäftigten. Er hatte nicht vergessen, wie dieser einmal mit Hilfe einer Nagelschere entkommen war und ein anderes Mal mit Hilfe eines brennenden Hauses, einmal, weil er für einen unfrankierten Brief Strafporto zu bezahlen hatte und ein anderes Mal, indem er die Leute durch ein Teleskop nach einem Kometen blicken ließ, der die Welt zerstören konnte. Valentin hielt sein Detektivgehirn für ebensogut wie das des Verbrechers, und er hatte recht, doch war er sich seines Nachteiles vollkommen bewußt. »Der schaffende Künstler ist der Verbrecher, der Detektiv ist nur der Kritiker,« sagte er zu sich mit saurem Lächeln, wobei er langsam seine Kaffeetasse zum Munde führte – und sie sehr schnell wieder niederstellte. Er hatte Salz hineingetan.

Er blickte auf das Gefäß, woraus er das silberige Pulver genommen hatte, es war zweifellos eine Zuckerdose, so unverkennbar für Zucker bestimmt, wie eine Champagnerflasche für Champagner. Er fragte sich, weshalb man Salz darin hielt. Dann blickte er um sich, ob es noch weitere rechtgläubige Gefäße gäbe. Ja, es gab zwei vollgefüllte Salzgefäße. Vielleicht war irgend etwas Besonderes an dem Inhalt der Salzgefäße. Er kostete, es war Zucker. Dann blickte er mit einem erfrischten Anschein von Interesse im Restaurant umher, um zu sehen, ob noch irgendwelche andere Spuren dieses sonderbaren künstlerischen Geschmackes zu finden seien, der Zucker in Salzgefäßen und Salz in Zuckerdosen verwahrte. Außer einem eigentümlichen Flecken an einer der weißtapezierten Wände, der von irgendeiner dunklen Flüssigkeit herrührte, schien der ganze Raum reinlich, freundlich und gewöhnlich. Er klingelte nach dem Kellner.

Als der Kellner, notdürftig gekämmt und etwas triefäugig zu so früher Stunde, herbeigeeilt kam, ersuchte ihn der Detektiv, dem der Sinn für die einfacheren Formen des Humors nicht abging, er möge den Zucker kosten und sehen, ob derselbe dem hohen Rufe seines Hotels entspreche. Das Ergebnis war, daß der Kellner plötzlich gähnte und erwachte.

»Erlauben Sie sich jeden Morgen diesen feinen Scherz mit Ihren Gästen?« fragte Valentin. »Und bekommen Sie den Spaß nie satt, Salz und Zucker gegeneinander zu vertauschen?«

Als dem Kellner diese Ironie einzuleuchten begann, versicherte er stammelnd, daß sein Etablissement gewiß keine derartigen Absichten habe; es müsse ein sehr eigentümlicher Irrtum vorliegen. Er hob die Zuckerdose empor und blickte sie an, und er hob das Salzfaß empor und blickte es an, wobei sein Gesicht immer verwirrter wurde. Schließlich entschuldigte er sich in abgerissenen Worten und davonstürzend kehrte er nach ein paar Sekunden mit dem Besitzer wieder. Der Besitzer untersuchte ebenfalls die Zuckerdose und dann das Salzfaß und auch der Besitzer blickte verwirrt.

Plötzlich schien dem Kellner die Sprache verloren zu gehen, so sehr überstürzten sich seine Worte.

»Ich meine,« stotterte er emsig, »ich meine, es waren die zwei Geistlichen.«

»Was für zwei Geistliche?«

»Die zwei Geistlichen,« erklärte der Kellner, »die, wo die Suppe an die Wand schmissen.«

»Suppe an die Wand schmissen?« wiederholte Valentin, der das sichere Gefühl hatte, es müsse sich wohl um irgendein italienisches Sprachbild handeln.

»Ja, ja,« versicherte der Aufwärter erregt und deutete auf den dunklen Flecken auf der weißen Tapete, »– dort hinüber an die Wand.«

Valentin blickte wie ein Fragezeichen den Besitzer an, der ihm nun mit einem ausführlichen Berichte zu Hilfe kam.

»Ja, Sir.« sagte er. »es ist ganz richtig, wenn ich auch nicht glaube, daß es etwas mit dem Zucker und Salz zu tun hat. Zwei Geistliche kamen herein und aßen sehr früh einen Teller Suppe, kaum daß wir die Läden aufgemacht hatten. Sie waren beide sehr ruhige, anständige Leute; der eine von ihnen zahlte die Rechnung und ging hinaus, der andere, der überhaupt eine langsamere Kutsche zu fahren schien, brauchte einige Minuten länger, seine Sachen zusammenzuklauben. Aber schließlich ging er. Nur im Augenblick, ehe er auf die Straße hinaustrat, ergriff er bedächtig seine Tasse, die nur halb geleert war, und schwaps warf er die Suppe an die Wand. Ich selbst war im Hinterzimmer und auch der Kellner, und so konnte ich nur noch hinausspringen, um den Flecken an der Wand und das Zimmer leer zu finden. Es ist kein arger Schaden, aber es war niederträchtig, dreist von ihm, und ich suchte den Mann auf der Straße einzuholen. Aber sie waren schon zu weit weg; ich bemerkte nur, daß sie um die nächste Ecke und in Carstairs Street einbogen.«

Der Geheimpolizist war auf den Füßen, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand. Er hatte bereits entschieden, daß er in dem allgemeinen Dunkel seines Überlegens nur dem ersten merkwürdigen Fingerzeig, der irgendwohin wies, folgen konnte; und dieser Fingerzeig war merkwürdig genug. Seine Rechnung bezahlend und die Glastüren hinter sich zuwerfend bog er schon um die Ecke nach der anderen Straße zu. Es war ein Glück, daß selbst in so fieberhaften Augenblicken sein Auge kühl und flink blieb. Etwas in einem gegenüberliegenden Laden zog an ihm vorüber wie ein Blitz; dennoch ging er zurück, um darnach zu sehen. Der Laden war der eines gewöhnlichen Gemüse- und Obsthändlers, und eine Reihe von Waren mit deutlichen Schildern dabei mit Namen und Preisen waren im Freien aufgestellt. In den beiden am meisten in die Augen fallenden Abteilungen befanden sich zwei Haufen, einer von Orangen und der andere von Nüssen. Auf dem Haufen Nüsse lag ein Stück Pappe, worauf mit grellem Blaustifte geschrieben stand: »Beste Tanger Orangen, zwei 1 Penny.« Auf den Orangen war die ebenso klare und genaue Beschreibung: »Feinste Brasil-Nüsse, 4 Pence das Pfund.« Monsieur Valentin blickte auf diese beiden Plakate; es dünkte ihm, diese äußerst feinsinnige Art von Witz müsse er schon irgendwo angetroffen haben, und zwar erst vor kurzem. Er lenkte die Aufmerksamkeit des krebsroten Obsthändlers, der ziemlich verdrießlich die Straße auf und nieder blickte, auf die Ungenauigkeit in seinen Ankündigungen. Der Obsthändler sagte nichts, sondern brachte nur unwirsch jede Tafel an den richtigen Platz. Elegant auf seinen Spazierstock gestützt fuhr Valentin fort, den Laden zu prüfen. Schließlich sagte er:

»Entschuldigen Sie, bitte, mein guter Mann, wenn ich mich anscheinend in fremde Dinge mische, aber ich möchte gerne eine Frage in experimenteller Psychologie und Ideenassoziation an Sie stellen.«

Der krebsrote Händler betrachtete ihn drohenden Blickes, doch fuhr jener seinen Stock schwingend munter fort:

»Weshalb,« fragte er. »sind in einem Gemüseladen zwei Tafeln unrichtig aufgestellt wie ein Schaufelhut, der auf einen Feiertag nach London hereingekommen ist? Oder, falls ich mich nicht klar ausdrücken sollte, welches ist die geheimnisvolle Assoziation, welche den Gedanken an als Orangen bezeichnete Nüsse mit dem Gedanken an zwei Geistliche, einen langen und einen kurzen, in Verbindung bringt?«

Die Augen des Händlers traten aus seinem Kopfe hervor wie bei einer Schnecke und es sah wirklich einen Augenblick aus, als wolle er sich auf den Fremden stürzen. Endlich stieß er zornig hervor:

»Ich weiß nicht, was Sie das angeht, aber wenn Sie einer von ihren Freunden sind, können Sie ihnen in meinem Namen sagen, daß ich ihnen, ob Pfarrer oder nicht Pfarrer, ihre armseligen Schädel einschlagen werde, wenn sie nochmals Äpfel über den Haufen werfen.«

»Wirklich?« fragte der Geheimpolizist mit großer Anteilnahme, »haben sie Ihnen die Äpfel über den Haufen geworfen?«

»Ja, einer von ihnen,« erwiderte der erhitzte Krämer. »hat sie über die ganze Straße verstreut. Ich hätte den Hanswursten erwischt, wenn ich nicht die Äpfel aufzulesen gehabt hätte.«

»Welchen Weg haben die Pfarrer eingeschlagen?« fragte Valentin.

»Die zweite Straße dort links und dann über den Platz,« erwiderte der andere prompt.

»Danke,« empfahl sich Valentin und verschwand wie verzaubert. Auf der anderen Seite des zweiten Häuservierecks fand er einen Polizisten und sprach ihn an.

»Hier, dringend, Schutzmann. Haben Sie zwei Geistliche in Schaufelhüten gesehen?«

Der Polizist begann heftig zu kichern.

»Habe ich, Sir, und wenn Sie es wissen wollen, einer von ihnen war betrunken. Er stand mitten auf der Straße –«

»Welchen Weg hat er eingeschlagen?« schnauzte ihn Valentin an.

»Sie nahmen einen von jenen gelben Omnibussen dort drüben,« antwortete der Mann, »die nach Hampstead gehen.«

Valentin wies seine Erkennungskarte vor und sagte hastig:

»Rufen Sie zwei von Ihren Leuten, sie sollen mit mir kommen, eine Verfolgung aufnehmen,« und er querte die Straße mit solch ansteckender Energie, daß der schwerfällige Polizist zu beinahe behendem Gehorchen sich bewogen sah. In anderthalb Minuten war der französische Detektiv auf dem gegenüberliegenden Gangsteig von einem Inspektor und einem Wachmann in Zivil eingeholt.

»Well, Sir,« begann ersterer mit lächelnder Wichtigtuerei, »und womit kann ich –«

Valentin deutete plötzlich mit dem Knopfe seines Stockes. »Ich werde es Ihnen auf dem Dache jenes Omnibus sagen,« bemerkte er und sprang und wand sich durch das Gewirr des Straßenverkehrs. Als alle drei keuchend auf die Dachsitze des gelben Fahrzeuges niedersanken, meinte der Inspektor:

»Mit einem Taxi kämen wir viermal so rasch voran.«

»Ganz richtig,« antwortete der Anführer ruhig, »wenn wir nur eine Ahnung hätten, wohin wir gehen.«

»Well, aber wohin wollen Sie denn?« fragte jener ihn anstarrend.

Valentin, die Stirne runzelnd, rauchte schweigend einige Sekunden, dann nahm er seine Zigarette in die Hand und sagte:

»Wenn Sie wissen, was ein Mensch tut, laufen Sie vor ihm her; wenn Sie aber herausbringen wollen, was er tut, halten Sie sich hinter ihm. Schlendern Sie, wenn er schlendert, bleiben Sie stehen, wenn er stehenbleibt, schreiten Sie voran so langsam, wie er es tut, dann können Sie sehen, was er sah, und können handeln, wie er gehandelt hat. Alles, was wir tun können, ist, unsere Augen offen zu halten nach einem verdächtigen Dinge.«

»Welche Sorte verdächtigen Dinges meinen Sie?« fragte der Inspektor.

»Jede Sorte verdächtigen Dinges,« antwortete Valentin und verfiel in hartnäckiges Schweigen.

Der gelbe Omnibus kroch die nach Norden hinaus führenden Straßen entlang, hin durch etwas, was endlose Stunden schien; der große Detektiv wollte sich nicht weiter erklären und seine Gehilfen empfanden möglicherweise einen stillen und wachsenden Zweifel hinsichtlich seines Unternehmens. Vielleicht auch fühlten sie ein stilles und wachsendes Verlangen nach ihrem Lunch, denn die Stunden vergingen und lange schon war die normale Mittagsmahlstunde verstrichen, doch die langen Straßen der Nord-Londoner Vorstädte schienen sich aus einer Länge in die andere zu schieben wie ein höllisches Teleskop. Es war eine jener Fahrten, bei denen der Mensch unaufhörlich fühlt, daß er jetzt endlich am Ende des Universums angekommen sein müsse, um dann zu finden, daß er erst am Anfang von Tufnell Park sei. London verlor sich in schmutzigen Schenken und ödem Gestrüpp und war dann wieder unerklärlich zu glänzenden Hauptstraßen und geräuschvollen Hotels geboren. Es war, wie wenn man durch dreizehn einzelne gewöhnliche Städte fuhr, von denen eine an die andere stieß. Doch obwohl die Winterdämmerung bereits über die vor ihnen liegende Straße sich senkte, saß der Pariser Detektiv immer noch schweigsam und wachsam und musterte die Stirnseiten der Straßen, die zu beiden Seiten vorüberglitten. Um die Zeit, da sie Camden Town hinter sich gelassen hatten, waren die Polizisten nahezu eingeschlafen, wenigstens machten sie so etwas wie einen Satz, als Valentin sich aufrichtete, jedem auf die Schulter klopfte und dem Kutscher zurief, anzuhalten.

Sie taumelten die Treppe hinab auf die Straße, ohne zu wissen, weshalb sie ausquartiert wurden; als sie sich um Erleuchtung umblickten, sahen sie Valentin triumphierend mit dem Finger auf ein Fenster auf der linken Seite der Straße weisen. Es war ein großes Fenster und bildete einen Teil der langen Fassade eines glänzenden und palastartigen Gasthauses, eines jener für das bessere Publikum vorgesehenen, über dem das Wort »Restaurant« stand. Dieses Fenster war, wie alle übrigen längs der Stirnseite des Hotels, aus mit Mustern versehenem Frostglase; in seiner Mitte jedoch befand sich ein großer schwarzer Sprung wie ein Stern im Eise.

»Endlich unsere Spur,« schrie Valentin, seinen Stock schwingend, »der Ort mit dem zerbrochenen Fenster.«

»Welches Fenster? Welche Spur?« fragte der Hauptgehilfe, »Wieso? Wo ist der Beweis, daß dies irgend etwas mit ihnen zu tun hat?«

Valentin zerbrach beinahe seinen Bambusstock vor Zorn.

»Beweis!« schrie er. »Guter Gott, der Mann sucht nach einem Beweise! Je nun, natürlich, die Chancen sind zwanzig gegen eins, daß es nichts mit ihnen zu tun hat. Aber was können wir sonst tun? Sehen Sie nicht, wir müssen entweder einer Möglichkeit folgen oder nach Hause gehen und uns zu Bett legen!«

Gefolgt von seinen beiden Gefährten bahnte er sich einen Weg in das Restaurant und bald saßen sie zu einem verspäteten Lunch an einem kleinen Tische beisammen und besahen sich den Stern im zertrümmerten Glase von innen. Nicht etwa, daß er von hier aus besonders belehrend gewesen wäre!

»Haben Ihr Fenster zerbrochen, wie ich sehe,« begann Valentin zum Kellner, als er seine Rechnung bezahlte.

»Ja, Sir,« antwortete der Aufwärter, indem er sich geschäftig über das Wechselgeld beugte, welchem Valentin schweigend ein erkleckliches Trinkgeld hinzugefügt hatte. Der Kellner richtete sich mit leichter, aber unverkennbarer Lebhaftigkeit auf.

»Ah, ja, Sir,« sagte er. »Sehr spaßiges Ding das, Sir.«

»Wirklich? Erzählen Sie uns,« ersuchte der Detektiv mit sorgloser Neugierde.

»Well, zwei Gäste in Schwarz kamen herein,« begann der Kellner, »zwei von jenen fremden Pfarrern, wie sie jetzt herumlaufen. Sie haben in aller Ruhe eine billige Mahlzeit genommen und einer von ihnen bezahlte dafür und ging hinaus. Der andere war gerade dabei, sich anzuschließen, als ich nochmals auf mein Wechselgeld schaute und sah, daß er mir mehr als zweimal zu viel bezahlt hatte. ›Hier,‹ sage ich zu dem Burschen, der schon beinahe draußen war, ›Sie haben zuviel bezahlt.‹ ›O,‹ sagt er sehr kühl, ›haben wir?‹ Ja, sage ich und greife nach der Rechnung, um sie ihm zu zeigen. Well, ich war entwaffnet:«

»Wie meinen Sie das?« fragte der andere.

»Well, ich hätte einen Eid auf sieben Bibeln geschworen, daß ich vier Schillinge auf die Rechnung gesetzt hatte. Aber jetzt sah ich, ich hatte vierzehn Schillinge geschrieben, so deutlich wie gemalt.«

»Nun?« schrie Valentin, sich langsam, aber mit brennenden Augen entfernend. »Und dann?«

»Der Pfarrer an der Türe, der sagte ganz heiter: ›Bedauere, wenn ich Ihre Rechnung etwas durcheinanderbringe, aber ich will für das Fenster bezahlen.‹ ›Welches Fenster?‹ fragte ich. ›Das, welches ich einhauen werde,‹ sagte er und zerschlug die Scheibe dort mit seinem Regenschirm.«

Alle drei Frager stießen einen Ausruf hervor und der Inspektor meinte mit stockendem Atem:

»Sind wir hinter ausgebrochenen Irrsinnigen her?«

Der Kellner fuhr mit einem gewissen Wohlgefallen an der lächerlichen Geschichte fort:

»Ich war für einen Augenblick so verdutzt, daß ich zu nichts fähig war. Der Mann ging zur Türe hinaus und erreichte seinen Freund gerade an der Ecke. Dann gingen sie so rasch Bullock Street hinauf, daß ich sie nicht einholen konnte, obwohl ich durch die Schenke lief.«

»Bullock Street,« sagte der Detektiv und schoß diese Straße hinab, so schnell wie das sonderbare Paar, das er verfolgte.

Ihre Fahrt führte sie jetzt zwischen kahlen Mauern hin wie durch Tunnels, Straßen mit wenigen Lichtern und selbst mit wenigen Fenstern. Straßen, die überall aus den kahlen Rückwänden gebildet zu sein schienen. Die Dämmerung nahm zu und es war für die Londoner Polizisten nicht leicht, festzuhalten, nach welcher genauen Richtung sie schritten. Der Inspektor jedoch war so viel wie sicher, daß sie möglicherweise auf irgendeinen Teil der Hampstead-Heide stoßen würden. Unerwartet unterbrach ein hervortretendes, gasbeleuchtetes Fenster wie eine Blendlaterne das blaue Zwielicht und Valentin blieb einen Augenblick vor einem kleinen zierlichen Zuckerbäckerladen stehen. Nach einer Sekunde Zögerns trat er ein. Inmitten der bunten Farben der Konditorei seinen vollen Ernst bewahrend kaufte er mit einer gewissen Sorgfalt dreizehn Schokoladezigarren. Offensichtlich bereitete er eine Anrede vor, doch bedurfte es derselben nicht.

Eine steife ältliche Jungfer im Laden hatte rein automatisch prüfend seine elegante Erscheinung betrachtet; als sie jedoch die Türe hinter ihm von der blauen Uniform des Inspektors verstellt sah, schienen ihre Augen aufzuwachen:

»O,« sagte sie, »wenn Sie wegen des Paketes gekommen sind, das habe ich schon weggeschickt.«

»Paket!« wiederholte Valentin, und nun war es an ihm, fragend zu blicken.

»Ich meine das Paket, das der Herr hier gelassen hat – der Geistliche.«

»Ums Himmels willen!« rief Valentin und beugte sich vorwärts, zum ersten Male wirkliche Begierde auf dem Gesichte. »Ums Himmels willen, sagen Sie uns genau, was vorgefallen ist!«

»Nun,« erzählte die Frau etwas unsicher, »die Geistlichen kamen vor einer halben Stunde herein und kauften etwas Pfefferminz und plauderten ein wenig, und dann gingen sie weg, der Heide zu. Aber eine Sekunde darauf kommt der eine von ihnen in den Laden zurück und sagt: ›Habe ich ein Paket liegen gelassen?‹ Well, ich sah überall nach und konnte keines finden; somit sagt er: ›Es tut nichts, aber wenn es zum Vorschein kommt, schicken Sie es, bitte, an diese Adresse‹ und hinterließ mir die Adresse und einen Schilling für meine Mühe. Und wirklich, obwohl ich geglaubt hatte, ich hätte überall nachgesehen, fand ich, daß er ein Paket aus braunem Papier liegen gelassen hatte, und so schickte ich es dorthin, wo er gesagt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr der Adresse, es war irgendwo in Westminster. Aber nachdem das Ding so wichtig schien, dachte ich, vielleicht sei die Polizei darum gekommen.«

»Ist sie auch,« sagte Valentin kurz. »Ist die Hampstead-Heide weit von hier?«

»Geradeaus fünfzehn Minuten.« erwiderte die Frau. »und Sie kommen direkt hinaus ins Freie.«

Valentin sprang zum Laden hinaus und begann zu laufen und die anderen Polizisten folgten ihm in widerwilligem Trapp.

Die Straße, durch welche sie kamen, war so enge und in Schatten gehüllt, daß, als sie unerwartet unter den weiten Himmel hinaus ins Freie kamen, es sie überraschte, den Abend noch so hell und klar zu finden. Eine vollendete Kuppel von Pfauengrün senkte sich in Gold zwischen den schwärzlichen Bäumen und den dunkelvioletten Farnen hernieder. Die glühendgrüne Färbung war gerade tief genug, wie Kristallpunkte einen oder zwei Sterne hervorzuheben. Alles, was von Tageslicht übriggeblieben war, lag in einem goldenen Schimmer über dem Rande von Hampstead und jener volkstümlichen Mulde, die den Namen Heidetal trägt. Die Sonntagsausflügler, welche in dieser Gegend umherschweifen, hatten sich noch nicht ganz verlaufen; unförmlich saßen einige Paare auf Bänken und hier und da kreischte noch in der Ferne in einer der Schaukeln ein Mädchen. Rings um die erhabene Niedrigkeit des Menschen vertiefte und erhöhte sich die Pracht des Himmels und auf dem Abhang stehend und über das Tal hinwegblickend erspähte Valentin, was er suchte.

Unter den dunklen und sich verlierenden Gruppen dieser Ferne war eine besonders schwarz, die sich nicht verlor – eine Gruppe von zwei Gestalten in geistlicher Kleidung. Obwohl sie so klein schienen wie Insekten, konnte Valentin doch sehen, daß die eine viel kleiner als die andere war. Obwohl die andere die Haltung eines Studierenden und ein unauffallendes Benehmen zeigte, konnte er sehen, daß der Mann gut sechs Fuß hoch war. Er preßte die Zähne aufeinander und rannte, ungeduldig seinen Stock schwingend, weiter, während sich so die Entfernung erheblich verringert hatte und die beiden schwarzen Gestalten wie in einem umfangreichen Mikroskop an Größe zunahmen, hatte er etwas entdeckt, was ihn überraschte und was er dennoch irgendwie erwartet hatte. Wer immer der lange Priester sein mochte, bezüglich der Identität des kürzeren konnte kein Zweifel bestehen. Es war sein Freund aus dem Harwichzuge, der untersetzte kleine Curé von Essex, den er wegen seines braunen Papierpaketes gewarnt hatte.

Soweit also fügte sich schließlich alles ganz vernünftig ineinander. Valentin hatte durch seine Erkundigungen am Morgen erfahren, daß ein Father Brown von Essex ein silbernes Kreuz mit Saphiren, eine Reliquie von hohem Werte, mit sich gebracht hatte, um es einigen der fremden Geistlichen auf dem Kongresse zu zeigen. Dies war unzweifelhaft das »Silber mit blauen Steinen«; und Father Brown war zweifellos der kleine Grünschnabel vom Zuge. Nun lag nichts Wunderbares in der Tatsache, daß, was Valentin herausgefunden, hatte, auch Flambeau herausfinden konnte. Es lag auch nichts Wunderbares in der Tatsache, daß, wenn Flambeau von einem Saphirkreuze hörte, er es zu stehlen versuchen würde; das war vielmehr das natürlichste von allen natürlichen Dingen. Und ebensowenig lag etwas Wunderbares in der Tatsache, daß Flambeau mit so einem einfältigen Schafe, wie es der Mann mit seinem Regenschirm und den Paketen war, seine eigenen Wege ging. Gehörte dieser doch zu jener Sorte, daß ihn der Nächstbeste an einem Bindfaden bis zum Nordpol geschleppt hätte; es lag also nichts Überraschendes darin, daß ein Schauspieler wie Flambeau in der Verkleidung eines Priesters ihn nach der Hampstead-Heide schleppen konnte. Soweit schien das Verbrechen klar genug, und während der Detektiv den Priester ob seiner Hilflosigkeit bemitleidete, empfand er etwas wie Verachtung für Flambeau, daß dieser sich dazu hergab, sich ein so leicht zu täuschendes Opfer auszusuchen. Doch als Valentin alles überdachte, was sich inzwischen ereignet hatte, all das, was ihn zu seinem Triumph geführt hatte, spannte er sein Gehirn aufs äußerste an, um wenigstens ein ganz klein wenig Sinn oder Verstand herauszufinden. Was hatte es, wenn jemand einem Priester aus Essex ein Silberkreuz stahl, damit zu tun, daß man die Suppe auf die Papiertapete an der Wand schüttete? Oder damit, daß man Nüsse Orangen nannte, oder Fenster zuerst bezahlte und sie dann einwarf? Gewiß, er war am Ende seiner Jagd angekommen, aber das Mittelstück hatte er verfehlt. Wenn er sich einmal täuschte (was selten vorkam), hatte er gewöhnlich den Faden erhascht, aber nichtsdestoweniger den Verbrecher verfehlt. Hier hatte er den Verbrecher erhascht, noch aber konnte er des Fadens nicht habhaft werden.

Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krochen wie schwarze Fliegen über den mächtigen, grünen Umriß des Hügels. Sie waren sichtlich in ein Gespräch vertieft und möglicherweise achteten sie gar nicht darauf, wohin sie gingen; sicherlich aber schritten sie den verwilderteren und stilleren Höhen der Heide zu. Als die Verfolger näherkamen, mußte Valentin sich zusammenkauern wie ein Indianer, sich hinter Baumgruppen decken und selbst lang ausgestreckt im tiefen Grase kriechen. Mittels dieser ungewöhnlichen Finten kamen die Jäger ihrem Wilde nahe genug, um das Gemurmel der Unterhaltung zu vernehmen, doch ließ sich nichts unterscheiden als das Wort »Vernunft«, das oft in einer hohen und beinahe kindlichen Stimme wiederkehrte. Einmal hinter einem steilen Abhange verloren die Verfolger wirklich die beiden Gestalten, denen sie folgten. Zehn angstvolle Minuten hindurch fanden sie die Spur nicht wieder und dann führte sie um einen Vorsprung eines großen, kuppelartigen Hügels, von dem man ein Amphitheater reicher und einsamer Sonnenuntergang-Szenerie überblickte. Unter einem Baume auf diesem beherrschenden, jedoch vernachlässigten Platze stand eine alte, baufällige Bank und auf dieser Bank saßen die zwei Priester immer noch in ernstem Gespräch. Das prächtige Grün und Gold hing noch am dunklen Horizonte, aber die Kuppel darüber ging langsam aus Pfauengrün in Pfauenblau über und die Sterne traten mehr und mehr als wirkliche Diamanten hervor. Stumm sich gegen seine Begleiter wendend gelang es Valentin, sich hinter dem großen ästereichen Baume hinaufzuschleichen, und in tödlichem Schweigen dort stehend vernahm er zum ersten Male die Worte der sonderbaren Priester.

Ein teuflischer Zweifel erfaßte ihn, nachdem er anderthalb Minuten gelauscht hatte. Vielleicht hatte er doch die zwei englischen Polizisten in die Einöde einer nächtlichen Heide zu einem Gange mitgeschleppt, der nicht vernünftiger war, als wollte man Feigen auf den Disteln suchen. Denn die zwei Priester sprachen genau wie zwei Priester, fromm, gelehrt und gelassen über die luftigsten Rätsel der Theologie. Der kleine Priester aus Essex, mit seinem runden Gesichte zu den erstarkenden Sternen gewendet, sprach einfacher; der andere hingegen sprach mit gebeugtem Kopfe, als wäre er nicht einmal wert, zu ihnen aufzublicken. Aber man hätte sich keine unschuldigere geistliche Unterhaltung denken können, weder in einem weißen italienischen Kloster noch in einer schwarzen spanischen Kathedrale.

Das erste, was er auffing, war der Schluß eines von Father Browns Sätzen »... was man im Mittelalter wirklich unter den ›unbestechbaren Himmeln‹ verstand«.

Der größere Priester nickte mit dem gebeugten Klopfe und sagte:

»Ah, ja, diese modernen Ungläubigen appellieren an ihre Vernunft, aber wer kann all diese Millionen von Welten anblicken, ohne das Gefühl zu haben, daß es ganz gut noch wunderbarere Welten über uns gebe, wo die Vernunft etwas überaus Unvernünftiges ist?«

»Nein,« entgegnete der andere Priester, »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, im verlassenen Randgebiete der Dinge. Ich weiß, man wirft der Kirche vor, sie erniedrige die Vernunft, aber genau das Gegenteil trifft zu. Die Kirche allein auf Erden erhebt die Vernunft wirklich auf ihren Gipfel. Die Kirche allein auf Erden hält daran fest, daß Gott selbst an die Vernunft gebunden ist.«

Der andere Priester erhob sein strenges Gesicht zum flimmernden Himmel und meinte:

»Und dennoch, wer weiß, ob nicht in jenem unendlichen Universum –?«

»Nur physisch unendlich,« erwiderte der kleine Priester, rasch sich zur Seite wendend, »nicht unendlich in dem Sinne, daß es sich den Gesetzen der Wahrheit entzöge.«

Valentin hinter seinem Baume zerrte in stummer Wut an seinen Fingernägeln. In seinen Ohren klang schon das Gekicher der englischen Geheimpolizisten, die er auf eine phantastische Vermutung hin soweit mitgejagt hatte, nur um dem metaphysischen Geplauder zweier sanfter, alter Geistlichen zu lauschen. In seiner Ungeduld entging ihm die ebenso überlegte Antwort des großen Priesters, und als er wieder hinhörte, war es nochmals Father Brown, der sprach.

»Vernunft und Gerechtigkeit umfassen die fernsten und einsamsten Steine. Blicken Sie auf diese Steine. Sehen sie nicht aus, als wären sie ein jeder ein Diamant oder Saphir? Gut, Sie können sich jede tolle Botanik oder Geologie, die Sie wollen, vorstellen. Denken Sie an Wälder von Diamant und mit Blättern von Brillanten. Denken Sie, der Mond sei ein blauer Mond, ein einziger, riesiger Saphir. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß all diese wahnsinnige Astronomie auch nur den kleinsten Unterschied für die Vernunft und Gerechtigkeit unseres Tuns ausmachen würde. Auf Ebenen von Opal und unter aus Perlen geschnittenen Klippen würden sie immer noch eine Warnungstafel finden: Du sollst nicht stehlen.«

Valentin war eben im Begriffe, sich aus seiner steifen und kauernden Lage zu erheben und so leise wie möglich wegzukriechen, ergrimmt über diese eine große Torheit seines Lebens. Aber etwas in dem Schweigen des großen Priesters selbst ließ ihn noch warten, bis dieser sprach. Und als er endlich sprach, sagte er einfach, den Kopf gebeugt und die Hände auf den Knien:

»Well, ich glaube nach wie vor, daß andere Welten vielleicht noch über unsere Vernunft hinausragen. Das Geheimnis des Himmels ist unergründlich und ich für mich kann nur mein Haupt beugen.«

Dann, immer noch mit gesenkter Stirne und ohne im mindesten Haltung oder Stimme zu verändern, fügte er hinzu:

»Geben Sie mir nur Ihr Saphirkreuz herüber, ja? wir sind hier ganz allein und ich könnte Sie niederschlagen wie eine Strohpuppe.«

Die völlig unveränderte Stimme und Haltung verliehen der unerwarteten Wendung des Gespräches etwas eigenartig Gewalttätiges. Aber der Hüter der Reliquie wandte nur den Kopf um ein winziges. Er schien noch immer ein etwas albernes Gesicht den Sternen zuzuwenden. Vielleicht hatte er nicht begriffen. Oder vielleicht auch hatte er begriffen und saß nun starr vor Schrecken.

»Ja,« sagte der große Priester mit derselben leisen Stimme und immer noch derselben Haltung, »ja, ich bin Flambeau.« Dann nach einer Pause fügte er hinzu: »Nun also, wollen Sie mir das Kreuz herübergeben?«

»Nein,« erwiderte der andere und das Wort hatte einen eigenartigen Klang. Flambeau ließ plötzlich seine ganze priesterliche Maske fallen. Der große Räuber lehnte sich auf seinem Sitze zurück und lachte leise, aber lange.

»Nein,« rief er, »Sie wollen es mir nicht geben, Sie kleiner zölibatärer Einfaltspinsel? Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie es mir nicht geben werden? Weil ich es schon in meiner Brusttasche habe.«

Der kleine Mann aus Essex wandte im Dämmerlichte sein wie es schien verdutztes Gesicht und meinte mit furchtsamer Neugierde:

»Sind – sind Sie sicher?«

Flambeau krähte vor Vergnügen.

»Wirklich, Sie sind so gut wie eine Dreiakter-Komödie,« rief er aus. »Ja, du Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich hatte die Idee, von dem richtigen Paket ein Duplikat zu machen, und jetzt, mein Freund, haben Sie das Duplikat und ich die Juwelen. Ein alter Kniff, Father Brown. ein sehr alter Kniff.«

»Ja,« sagte Father Brown und fuhr immer noch mit derselben eigentümlichen, unbestimmten Weise sich mit der Hand durchs Haar.

»Ja, ich habe davon gehört.«

Der Verbrecher beugte sich mit einer Art plötzlich erwachten Interesses nach dem kleinen Landgeistlichen hinüber.

»Sie haben davon gehört?« fragte er. »wo haben Sie davon gehört?«

»Well, ich darf Ihnen natürlich seinen Namen nicht nennen,« sagte der kleine Mann einfach. »Er war ein Beichtkind, Sie verstehen. Er hatte mit Erfolg an die zwanzig Jahre allein von Duplikaten brauner Papierpakete gelebt. Und als ich anfing, Verdacht zu schöpfen, dachte ich daran, wie es der arme Bursche gemacht hatte, und machte es gleich nach.«

»– begannen Verdacht zu schöpfen?« wiederholte der Geächtete mit vermehrter Spannung. »Hatten Sie wirklich die Grütze, Verdacht zu schöpfen, nur weil ich Sie nach diesem verlassenen Teile der Heide gebracht habe?«

»Nein, nein,« sagte Brown in entschuldigendem Tone. »Sie kamen mir verdächtig vor, schon als ich Sie zum ersten Male sah. Es ist jene kleine Anschwellung oben am Ärmel, wo ihr das Stachelarmband tragt.«

»Wie, beim Tartarus,« schrie Flambeau, »haben denn Sie vom Stachelarmband gehört?«

»O, unsere Pfarrkinder, Sie verstehen,« sagte Father Brown, seine Augenbrauen hochziehend. »Als ich Kurat in Hartlepool war, hatte ich drei von ihnen mit Stachelarmbändern. Und da ich Sie somit von Anfang an in Verdacht hatte, sehen Sie, da sorgte ich dafür, daß das Kreuz auf alle Fälle in Sicherheit käme. Unglücklicherweise habe ich Sie beobachtet, ja. Und so sah ich Sie schließlich die Pakete vertauschen. Dann, Sie verstehen, habe ich sie wieder zurückgetauscht. Und dann ließ ich das richtige zurück.«

»– ließen Sie das richtige zurück?« wiederholte Flambeau, und zum ersten Male war ein anderer Ton in seiner Stimme außer dem des Triumphes.

»Well, ich habe das so gemacht,« sagte der kleine Priester in derselben ungekünstelten Weise. »Ich ging zu jenem Zuckerbäckerladen zurück und fragte, ob ich nicht ein Paket liegen gelassen hätte, und gab eine genaue Adresse an für den Fall, daß es gefunden würde. Well, ich wußte, ich hatte keines liegen gelassen, aber ich tat es, als ich wegging. Und anstatt mit jenem wertvollen Pakete hinter mir herzulaufen, haben sie es direkt an einen meiner Freunde in Westminster geschickt.« Dann fügte er etwas traurig hinzu: »Ich habe das auch von einem armen Burschen in Hartlepool gelernt. Er pflegte das mit Handtaschen zu tun, die er auf den Bahnhöfen stahl, aber er ist jetzt in einem Kloster. O, man erfährt das eben so,« fügte er hinzu, indem er sich mit derselben Art verzweifelten Sichentschuldigens den Kopf rieb. »Wir können nichts dafür, wir sind nun einmal Priester. Die Leute kommen und sagen uns diese Dinge.«

Flambeau zog ein Paket von braunem Papier aus seiner inneren Tasche und riß es auf. Es war nichts als Papier und Bleistücke darin. Mit einer riesenhaften Bewegung sprang er auf die Füße und schrie:

»Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nicht, daß ein Bauerntölpel wie Sie all das zustande bringt. Ich glaube, Sie tragen das Zeug noch bei sich – und wenn Sie es nicht herausgeben – nun, wir sind ganz allein und ich werde es mir mit Gewalt nehmen!«

»Nein,« sagte Father Brown einfach und stand ebenfalls auf. »Sie werden es nicht mit Gewalt nehmen. Erstens weil ich es wirklich nicht mehr habe, und zweitens, weil wir nicht allein sind.«

Flambeau stockte in seiner Vorwärtsbewegung.

»Hinter jenem Baume,« sagte Father Brown darauf deutend, »sind zwei starke Polizisten und der bedeutendste lebende Geheimpolizist. Wie die hierherkommen, fragen Sie? Nun, ich brachte sie her, natürlich! Wie ich das gemacht habe? Gut, ich will es Ihnen sagen, wenn Sie es wissen wollen! Mein Gott, wir müssen tausenderlei solcher Dinge wissen, wenn wir unter der Verbrecherklasse arbeiten! Also, ich war nicht sicher, ob Sie ein Dieb seien, und es ginge niemals an, Skandal gegen jemanden aus unserem eigenen Klerus zu machen. Deshalb habe ich Sie geprüft, um zu sehen, ob irgend etwas Sie verraten würde. Gewöhnlich macht ein Mensch eine kleine Szene, wenn er Salz in seinem Kaffee findet; wenn er es nicht tut, hat er einen Grund, sich ruhig zu verhalten. Ich tauschte das Salz und den Zucker aus und Sie blieben stille. Gewöhnlich erhebt ein Mensch Einwendungen, wenn seine Rechnung dreimal zu hoch ist. Wenn er sie bezahlt, hat er einen Grund, unbeachtet bleiben zu wollen. Ich änderte die Rechnung und Sie bezahlten sie.«

Die Welt schien darauf zu warten, daß Flambeau wie ein Tiger losstürze, aber er wurde wie durch einen Zauber zurückgehalten; die ungeheure Neugierde betäubte ihn.

»Well,« fuhr Father Brown mit schwerfälliger Deutlichkeit fort, »da Sie selbst keine Spur für die Polizei hinterlassen wollten, mußte das natürlich jemand anderer besorgen. An jedem Orte, wo wir hinkamen, sorgte ich dafür, etwas zu tun, das mindestens für den Rest des Tages von uns reden machen würde. Ich habe nicht viel Schaden angestellt, einen Flecken an der Wand, verschüttete Äpfel, ein zerbrochenes Fenster, aber ich brachte das Kreuz in Sicherheit, wie denn das Kreuz immer in Sicherheit sein wird. Es ist jetzt in Westminster. Ich wundere mich einigermaßen, daß Sie es nicht mit der ›Eselspfeife‹ aufhielten.«

»Womit?« fragte Flambeau.

»Es freut mich, daß Sie nie davon gehört haben.« sagte der Priester. »Es ist eine faule Sache. Ich bin sicher, Sie sind dafür ein viel zu guter Mensch. Ich hätte es nicht einmal mit den ›Spots‹ mehr aufhalten können; ich bin nicht stark genug auf den Beinen.«

»Wovon in aller Welt sprechen Sie?« fragte der andere.

»Nun, ich glaube nicht, daß Sie wissen, was man unter den Spots versteht,« sagte Father Brown angenehm überrascht. »O, Sie können nicht so tief gesunken sein.«

»Aber wie um's Himmels willen wissen denn Sie von all diesen Schrecknissen?« schrie Flambeau.

Der Schatten eines Lächelns huschte über das runde, einfache Gesicht seines geistlichen Gegenübers.

»O, wenn man ein zölibatärer Einfaltspinsel ist, vermute ich,« erwiderte er. »Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daß ein Mensch, der so gut wie nichts tut als anderer Leute wirkliche Sünden anzuhören, wahrscheinlich in menschlicher Schlechtigkeit nicht ganz unerfahren ist? Übrigens, um die Wahrheit zu gestehen, eine andere Seite meines Berufes gab mir die Sicherheit, daß Sie kein Priester seien.«

»Was?« fragte der Dieb, beinahe starr vor Staunen.

»Sie griffen die Vernunft an.« sagte Father Brown. »Das tut kein Theologe.«

Und eben als er sich zur Seite wandte, sein Eigentum zusammenzuraffen, kamen die drei Polizisten unter den dunklen Bäumen hervor. Flambeau war Künstler und Sportsmann. Er trat zurück und machte vor Valentin eine große Verbeugung.

»Nicht mir, mon ami,« wehrte Valentin mit silberner Klarheit ab, »beugen wir uns beide vor unserem Meister.«

Und sie standen einen Augenblick unbedeckten Hauptes, während der kleine Priester aus Essex nach seinem Regenschirme suchte.

Der geheime Garten

Aristide Valentin, Chef der Pariser Polizei, hatte sich zu seinem Diner etwas verspätet und einige seiner Gäste begannen vor ihm einzutreffen. Sie wurden jedoch von seinem getreuen Diener Iwan beruhigt, dem Alten mit der Narbe und einem Gesichte, das beinahe ebenso grau war wie sein Schnurrbart, und der immer an seinem Tische in der Vorhalle saß, einer mit Waffen behängten Vorhalle. Valentins Haus war vielleicht ebenso eigenartig und berühmt wie dessen Besitzer. Es war ein altes Haus mit hohen Mauern und mächtigen Pappeln, welche beinahe die Seine überhingen; aber das Seltsame seiner Bauart – und vielleicht sein Polizeiwert – bestand darin, daß es gar keinen anderen Ausgang ins Freie besaß, als den durch die Eingangstüre, die von Iwan und der Waffensammlung bewacht wurde. Der Garten war groß und gut gepflegt und es gab verschiedene Zugänge aus dem Hause in den Garten; aber es gab keinen Ausgang aus dem Garten in die Außenwelt. Ringsherum lief eine hohe, glatte unersteigbare Mauer mit eigentümlichen Stacheln auf dem Rücken, wohl kein übler Garten für einen solchen Mann, wenn man bedenkt, daß einige Hundert Verbrecher geschworen hatten, ihn aus der Welt zu schaffen.

Wie Iwan den Gästen erklärte, hatte ihr Gastgeber telephoniert, er sei noch auf zehn Minuten zurückgehalten. In Wirklichkeit war er dabei, noch einige letzte Anordnungen für Hinrichtungen und ähnliche garstige Dinge zu treffen, und obwohl ihm diese Pflichten von Grund aus widerwärtig waren, vollzog er sie doch stets mit aller Pünktlichkeit. Unbarmherzig in der Verfolgung von Verbrechern, war er sehr nachsichtig bezüglich ihrer Bestrafung. Seit er an der Spitze des französischen und im allgemeinen auch europäischen Polizeiwesens stand, verwandte er seinen großen Einfluß ehrlich zugunsten einer Milderung der Verurteilungen und einer Säuberung der Gefängnisse. Er war einer jener menschenfreundlichen Freidenker, welche das einzige Schlimme an sich haben, daß sie das Erbarmen sogar noch kälter als die Gerechtigkeit machen.

Als Valentin eintraf, steckte er bereits in schwarzer Kleidung mit der roten Rosette – eine elegante Gestalt mit dunklem, jedoch bereits ergrauendem Barte. Er begab sich geradeaus durch sein Haus in sein Studierzimmer, welches auf den dahinter liegenden Grundbesitz hinausging. Die Gartentüre war offen, und nachdem er seine Handtasche an ihren dafür bestimmten Platz versperrt hatte, stand er zwei Sekunden am offenen Fenster und blickte in den Garten hinaus.

Die scharfe Mondsichel kämpfte mit den fliegenden Fetzen und Trümmern eines Sturmes und Valentin betrachtete ihn mit einer für eine wissenschaftliche Natur, wie es die seinige war, ungewöhnlichen Nachdenklichkeit. Vielleicht besitzen solche wissenschaftliche Naturen irgendeinen seelischen Weitblick auf die schrecklichsten Probleme ihre Lebens. Wenigstens beeilte er sich, eine solche Stimmung von sich abzuschütteln, denn er wußte, er war spät daran und seine Gäste hatten schon begonnen einzutreffen. Ein Blick in den Salon genügte ihm bei seinem Eintreten, ihn zu vergewissern, daß sein hauptsächlichster Gast jedenfalls noch fehlte. Er sah all die anderen Stützen der kleinen Gesellschaft: er sah Lord Galloway, den englischen Gesandten, einen cholerischen alten Herrn mit einem rotbraunen Gesichte wie ein Apfel, und dem blauen Bändchen des Hosenbandordens. Er sah Lady Galloway, schmächtig und dünn wie ein Faden, mit silbernem Haar und einem empfindsamen und überlegenen Gesicht. Er sah deren Tochter, Lady Margaret Graham, ein bleiches und hübsches Mädchen mit einem Elfengesicht und kupferfarbenem Haar. Er sah die Herzogin von Mont St. Michel, schwarzäugig und üppig, und mit ihr ihre zwei Töchter, ebenfalls schwarzäugig und üppig. Er sah Dr. Simon, den typischen französischen Gelehrten mit Brille, braunem Spitzbart und einer von jenen parallelen Runzeln durchfurchten Stirne, welche die Strafe des Hochmutes sind, da sie durch fortwährendes Hochziehen der Brauen entstehen. Er sah Father Brown aus Cobhole in Essex, den er vor kurzem in England kennen gelernt hatte. Er sah – vielleicht mit mehr Interesse als irgend jemand von all diesen – einen großen Mann in Uniform, der sich zu den Galloways herabbeugte, ohne jedoch ein besonders herzliches Entgegenkommen zu finden, und nun herantrat, dem Gastgeber seine Aufwartung zu machen. Das war Hauptmann O'Brien von der französischen Fremdenlegion. Er war eine geschmeidige und doch etwas großtuerische Gestalt, glattrasiert, dunkelhaarig, blauäugig und, wie es bei einem Offizier jenes berühmten Regimentes siegreicher Mißerfolge und erfolgreicher Selbstmorde natürlich schien, mit einem Ausdrucke von Ungestüm sowohl wie von Schwermut. Er war von Geburt Irländer und hatte in jungen Jahren die Galloways gekannt – besonders Margaret Galloway. Von Gläubigern bedrängt, hatte er seine Heimat verlassen und brachte jetzt seine vollständige Verachtung für britische Etikette dadurch zum Ausdruck, daß er in Uniform und mit Säbel und Sporen umherschlenderte. Als er sich zur Familie des Gesandten herniederbeugte, verneigten sich Lord und Lady Galloway steif und Lady Margaret blickte zur Seite.

Doch aus welchen alten Gründen auch immer solche Leute aneinander interessiert sein mochten, ihr ausgezeichneter Gastgeber nahm kein besonderes Interesse an ihnen. Keines von ihnen war wenigstens in seinen Augen der Gast des Abends. Valentin erwartete aus besonderen Gründen einen Mann von weltumfassendem Rufe, dessen Freundschaft er sich auf einigen seiner großen Detektivreisen in den Vereinigten Staaten erworben hatte. Er erwartete Julius A. Brayne, jenen Multimillionär, dessen riesige und selbst erdrückende Schenkungen zugunsten kleiner Religionsgemeinschaften den amerikanischen Blättern Anlaß zu manchem leichten Scherz und zu manchem leichten Ernst gaben. Niemand konnte genau angeben, ob Mr. Brayne Atheist war oder Mormone oder Gesundbeter; aber er war stets bereit, Geld in jedes geistige Gefäß zu schütten, solange dieses keins war, das sich überlebt hatte. Eines seiner Steckenpferde bestand darin, auf den amerikanischen Shakespeare zu warten – ein Steckenpferd, das mehr Geduld erforderte als Angeln. Er bewunderte Walt Whitman, hielt aber Lukas P. Tanner aus Paris, Pa., für »fortschrittlicher« als Whitman. Er hatte eine Vorliebe für alles, was er für fortschrittlich hielt. Auch Valentin hielt er für fortschrittlich, tat ihm damit aber ein großes Unrecht an.

Das Erscheinen Julius K. Braynes im Zimmer wirkte so entscheidend wie die Tischglocke. Er besaß jene große Eigenschaft, welcher sehr wenige von uns sich rühmen können, nämlich daß seine Gegenwart so fühlbar wirkte wie seine Abwesenheit. Er war von mächtiger Gestalt, ebenso fett wie stark, steckte in tadelloser Abendtoilette, ohne ihr auch nur durch so viel wie eine Uhrkette oder einen Ring nachzuhelfen. Sein Haar war weiß und wie bei einem Deutschen glatt nach rückwärts gekämmt, das Gesicht rot, leidenschaftlich und unschuldig, mit einem dunklen Knebelbarte an der Unterlippe, was diesem sonst kindlichen Gesichte etwas Theatralisches, ja selbst Mephistophelisches verlieh. Nicht lange jedoch beschränkte sich dieser Salon darauf, den berühmten Amerikaner anzustarren, sein verspätetes Kommen war schon ein häusliches Problem geworden und mit aller Beschleunigung wurde er mit Lady Galloway am Arme in das Speisezimmer geschickt.

Einen Punkt ausgenommen, waren die Galloways ganz heiter und unbefangen. Solange Lady Margaret nicht den Arm jenes Abenteurers O'Brien nahm, war ihr Vater ganz zufrieden, und sie hatte es nicht getan, sie war, wie es sich geziemte, mit Dr. Simon eingetreten. Nichtsdestoweniger war der alte Lord Galloway unruhig und beinahe grob. Während des Diners benahm er sich noch halbwegs als Diplomat, als aber bei den Zigarren drei von den jüngeren Herren – Simon, der Doktor, Brown, der Priester, und der störende O'Brien, der Verbannte in fremder Uniform – sich verzogen, um sich unter die Damen zu mischen oder im Gewächshause zu rauchen, wurde der englische Diplomat in der Tat sehr undiplomatisch. Alle sechzig Sekunden stachelte ihn der Gedanke auf, der Taugenichts von einem O'Brien könnte irgendwie Lady Margaret Zeichen machen; auf welche Weise, bemühte er sich erst gar nicht sich vorzustellen. Er war mit Brayne, dem weißhaarigen Yankee, der an alle Religionen glaubte, und Valentin, dem ergrauenden Franzosen, der an gar keine glaubte, seinem Kaffee überlassen. Miteinander streiten, das konnten sie, aber keiner von ihnen war imstande, ihn ins Gespräch zu ziehen. Nach einiger Zeit hatte die fortschreitende Wortklauberei den Gipfelpunkt der Langweile erreicht und Lord Galloway erhob sich und suchte den Salon auf. Sechs bis acht Minuten verlor er in den langen Gängen seinen Weg, bis er die hochgestimmte, dozierende Stimme des Doktors und dann die langsame des Priesters gefolgt von allgemeinem Gelächter hörte. Aber im Augenblicke, da er die Salontüre öffnete, sah er nur eines – er sah was nicht dort war. Er sah, daß Hauptmann O'Brien fehlte und daß auch Lady Margaret nicht da war.

Ungeduldig, wie er das Speisezimmer verlassen hatte, den Rauchsalon verlassend, stampfte er nochmals den Gang entlang. Sein Bestreben, seine Tochter vor dem irisch-algerischen Tunichtgut zu beschützen, war etwas wie der Mittelpunkt seines Geistes, eine nahezu fixe, verrückte Idee geworden. Als er der Rückseite des Hauses zuschritt, wo Valentins Arbeitszimmer lag, war er überrascht, seine Tochter zu treffen, welche mit blassem, achtlosem Gesichte vorüberschoß, was ein zweites Rätsel darstellte. Wenn sie mit O'Brien zusammen war, wo war O'Brien? Wenn sie mit O'Brien nicht zusammengewesen war, wo war sie gewesen? Mit dem dem Alter eigenen leidenschaftlichen Verdachte strebte er vorwärts dem hinteren, dunklen Teile des Hauses zu und traf zufällig auf eine Dienstbotentüre, welche auf den Garten hinausführte. Der Mond hatte jetzt mit seiner Sichel die ganzen Reste des Sturmes zerrissen und vor sich hergewälzt. Sein Silberlicht erhellte alle vier Winkel des Gartens. Eine hohe Gestalt in Blau schritt über den Rasen der Türe des Arbeitszimmers zu und ein Schimmer des Mondlichtes auf ihrem Umrisse ließ sie als den Hauptmann O'Brien erkennen.

Er verschwand durch die französische Glastüre in das Haus und ließ Lord Galloway in einer ganz unbeschreiblichen Geistesverfassung, giftig und zugleich unentschlossen. Der Garten, der in seinem Blau und Silber wie die Bühne eines Theaters erschien, schien ihn zu verhöhnen mit all jener aufdringlichen Zartheit, gegen die seine weltliche Überlegenheit vergebens anzukämpfen suchte. Die Länge und Eleganz der Schritte des Irländers versetzten ihn auch in Zorn, als wäre er nicht der Vater, sondern der Nebenbuhler, und das Mondlicht machte ihn vollends rasend. Wie in einer Watteauschen Märchenlandschaft fühlte er sich von dem Zauber eines Troubadourgartens gefangen, und entschlossen, sich solch verliebten Verrücktheiten durch Unterhaltung zu entziehen, lief er hinter seinem Feinde drein. Er strauchelte dabei über eine Wurzel oder einen Stein im Grase. Er blickte zu Boden, zuerst ärgerlich, dann ein zweites Mal neugierig. Im nächsten Augenblick schien der Mond und sahen die hohen Pappeln auf etwas ganz Außergewöhnliches hernieder – auf einen ältlichen englischen Diplomaten, der davonsprang und dabei schrie oder brüllte.

Seine heiseren Schreie riefen ein bleiches Gesicht in die Türe des Studierzimmers, die blitzende Brille und die hochgezogenen Brauen Dr. Simons, der des Edelmannes erste klare Worte vernahm. Lord Galloway schrie:

»Eine Leiche im Grase, eine blutige Leiche!«

An O'Brien dachte er gar nicht mehr.

»Wir müssen sofort Valentin davon verständigen,« meinte der Doktor, als der andere in abgerissenen Worten alles beschrieb, was er zu erkennen gewagt hatte. »Ein Glück, daß er hier ist!« und eben als er sprach, trat der große Detektiv ins Studierzimmer, herbeigerufen durch den Schrei. Es war beinahe amüsant, seine typische Veränderung zu beobachten. Er war eingetreten mit der gewöhnlichen Unruhe des Gastgebers und Gentlemans, welcher fürchtet, daß einer seiner Gäste oder Dienstboten erkrankt ist. Als er jedoch die blutige Tatsache erfuhr, wurde er bei all seinem feierlichen Ernste plötzlich munter und geschäftsmäßig, denn, so unerwartet und gräßlich es sein mochte, es war sein Beruf.

»Seltsam, meine Herren,« sagte er, als sie in den Garten hinauseilten, »daß ich Geheimnisse um die Erde herum verfolgt haben sollte und nun kommt eines und nistet sich in meinem eigenen Garten ein. Wo ist der Ort?«

Sie überquerten den Rasen mit etwas weniger Zuversicht, da ein leichter Dunst vom Flusse sich zu erheben begonnen hatte, doch unter der Führung des verstörten Galloway fanden sie den in das tiefe Gras gesunkenen Körper, den Körper eines sehr großen und breitschulterigen Mannes. Er lag mit dem Gesichte nach unten, so daß man nur gewahrte, daß seine starken Schultern von schwarzem Tuche bekleidet waren und sein mächtiger Kopf außer einigen Haarbüscheln, die wie nasses Seegras an dem Schädel klebten, kahl war. Eine Scharlachschlange von Blut kroch unter seinem Gesichte hervor.

»Wenigstens,« meinte Simon mit einem tiefen und eigentümlichen Ausdruck, »ist es niemand aus unserer Gesellschaft!«

»Untersuchen Sie ihn, Doktor,« rief Valentin ziemlich hastig, »er könnte noch nicht ganz tot sein.«

Der Doktor bückte sich nieder.

»Er ist nicht ganz kalt, aber ich fürchte, er ist tot genug,« entschied er. »Helfen Sie mir einmal, ihn aufzurichten.«

Sorgfältig hoben sie ihn einen Zoll hoch vom Boden empor, und alle Zweifel, ob er wirklich tot sei, waren sofort aufs gräßlichste beseitigt, denn – das Haupt fiel herab. Es war gänzlich vom Körper getrennt gewesen. Wer immer ihm den Hals durchgeschnitten haben mochte, der hatte ihm auch den Nacken durchgeschnitten. Selbst Valentin erschrak ein wenig.

»Er muß stark gewesen sein wie ein Gorilla,« murmelte er.

Obwohl an anatomische Operationen gewöhnt, hob Dr. Simon den Kopf nicht ohne einiges Beben auf. Er war am Nacken und der Kinnlade leicht zerfranst, das Gesicht aber zeigte keinerlei Verletzung. Es war ein plumpes, gelbes Gesicht, gleichzeitig eingefallen und doch aufgedunsen, mit einer Adlernase und schweren Augenlidern – das Gesicht eines lasterhaften römischen Kaisers mit vielleicht einer leichten Annäherung an einen chinesischen Kaiser. Alle Anwesenden schienen es mit dem kältesten Auge des Fremden anzusehen. Nichts anderes ließ sich beim Aufheben des Körpers über den Mann feststellen, als der weiße Schimmer eines Vorhemdes, befleckt von einem roten Schimmer von Blut. Es war, wie Dr. Simon sagte, der Mann hatte nicht zu ihrer Gesellschaft gehört. Er konnte aber ganz gut versucht haben, sich zu ihr zu gesellen, denn er war in einer solcher Gelegenheit entsprechenden Weise gekleidet.

Valentin ließ sich auf seine Hände und Knie nieder und untersuchte auf etwa zwanzig Meter im Umkreise mit seiner peinlichsten beruflichen Sorgfalt den Boden, wobei er etwas weniger sorgfältig von dem Doktor und ganz oberflächlich von dem englischen Lord unterstützt wurde. Nichts belohnte ihr Herumkriechen, als einige ganz kurze Stücke abgezwickter oder abgehackter Zweige, die Valentin für einen Augenblick prüfend aufhob und dann beiseite warf.

»Zweige,« sagte er gravitätisch, »Zweige und ein ganz Fremder mit abgeschnittenem Kopfe, das ist alles, was auf der Wiese zu finden ist.«

Eine beinahe schaudernde Stille entstand, und dann stieß der fassungslose Galloway scharf hervor:

»Wer ist dort? Wer ist dort drüben an der Gartenmauer?«

Eine kleine Gestalt mit einem lächerlich großen Kopfe näherte sich ihnen unschlüssig im Mondscheindunste; einen Augenblick sah sie wie ein Kobold aus, doch entpuppte sie sich schließlich als der harmlose, kleine Priester, den sie im Salon zurückgelassen hatten.

»Übrigens,« bemerkte er bescheiden, »Sie wissen, es gibt keine Tore zu diesem Garten.«

Valentins schwarze Augenbrauen zogen sich etwas ärgerlich zusammen, wie sie es angesichts der Soutane grundsätzlich taten. Doch er war zu gerecht, um die Bedeutung der Bemerkung abzuleugnen.

»Sie haben recht,« erwiderte er, »ehe wir herausfinden, wie er getötet wurde, müßten wir herausfinden, wie er dazu kam, hier zu sein. Nun hören Sie mich an, meine Herren! Wenn es ohne Beeinträchtigung meiner Stellung und Pflichten sich machen läßt, werden wohl alle einverstanden sein, daß gewisse ausgezeichnete Namen besser aus der Geschichte ausgeschaltet bleiben. Es sind Damen hier und ein fremder Gesandter. Wenn wir es als ein Verbrechen ansehen, muß es auch als ein Verbrechen verfolgt werden. Bis dahin aber kann ich von meiner eigenen Verschwiegenheit Gebrauch machen. Ich bin das Haupt der Polizei: ich bin so öffentlich, daß ich mir gestatten kann, privat zu sein. Wenn es dem Himmel gefällt, werde ich jeden meiner Gäste entlassen, ehe ich meine Leute hereinrufe, um nach irgend jemand anderem zu suchen. Meine Herren, auf Ihr Ehrenwort, niemand von Ihnen wird das Haus bis morgen mittags verlassen: es sind Schlafzimmer für jedermann bereit. Simon, ich glaube, Sie wissen, wo mein Diener Iwan in der Vorhalle zu finden ist; er ist ein vertrauenswürdiger Mann. Sagen Sie ihm, er solle einen anderen Diener als Wache lassen und sofort zu mir kommen. Lord Galloway, Sie sind sicherlich die geeignetste Person, den Damen mitzuteilen, was geschehen ist, und eine Panik zu verhindern. Auch Sie müssen bleiben. Father Brown und ich werden bei der Leiche bleiben.«

Wenn dieser Geist des Befehlshabers aus Valentin sprach, gehorchte man ihm wie einem Signalhorne. Dr. Simon ging nach dem Waffensaal hinein und störte Iwan auf, des amtlichen Detektivs Privatdetektiv. Galloway begab sich nach dem Salon und erzählte äußerst taktvoll die schreckliche Neuigkeit, so daß zur Zeit, als sich die Gesellschaft dort zusammenfand, die Damen schon bestürzt und wieder beschwichtigt waren. Inzwischen standen der gute Priester und der gute Atheist bewegungslos zu Haupt und Füßen des toten Mannes im Mondlicht gleich symbolischen Statuen ihrer eigenen beiden Philosophien des Todes.

Iwan, der Vertraute mit der Narbe und dem Schnurrbarte, kam aus dem Hause geschossen wie eine Kanonenkugel und lief über den Rasen auf Valentin zu wie ein Hund auf seinen Herrn. Sein fahles Gesicht hatte sich ganz belebt von der Glut dieser häuslichen Detektivgeschichte und mit beinahe unangenehmer Gier fragte er seinen Herrn um Erlaubnis, die Überreste untersuchen zu dürfen.

»Ja, sieh nach, Iwan, wenn du willst,« erlaubte Valentin. »Aber mache nicht zu lange, wir müssen hineingehen und dies drinnen alles durchdreschen.«

Iwan griff nach dem Kopfe – und ließ ihn dann fast wieder fallen.

»Wie?« keuchte er, »es ist – nein, nicht, er kann es nicht sein. Kennen Sie diesen Mann, Sir?«

»Nein,« erwiderte Valentin gleichgültig, »wir werden besser hineingehen.«