Feather & Rose, Band 1: Ein Sturm zieht auf - Claudia Siegmann - E-Book

Feather & Rose, Band 1: Ein Sturm zieht auf E-Book

Claudia Siegmann

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Beschreibung

Feuer, Wasser, Erde, Luft oder Liebe - was ist dein Element? Dumme Sprüche haben Feather schon immer genervt, aber dass sie vor Wut gleich einen Sturm mitten in London auslöst, ist neu. Genau wie die Tatsache, dass ihr Dad daraufhin die Koffer packt und sie am nächsten Morgen zur Wingdale Academy nach Cornwall fahren. In der geheimen Eliteschule sollen Elementbegabte wie Feather lernen, ihre Kräfte zu bändigen und starke Gefühle zu zügeln. Blöd nur, dass attraktive, aber eiskalte Jungs wie Silver Letzteres ungemein erschweren …

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Seitenzahl: 451

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2022 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2022 Ravensburger Verlag Text © 2022 by Claudia Siegmann Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Cover- und Innenillustrationen: Mila Marquis Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51143-3

ravensburger.com

Feather

Niemand hatte je damit gerechnet, dass George sich mal verlieben würde. Und es hatte auch keiner geglaubt, dass George eines Tages Vater werden würde. Und dann hatte wohl niemand gedacht, dass dieses Kind überleben würde, war es doch bei der Geburt so winzig, dass man es ihm in die geöffnete Handfläche hätte legen können. Hätte er es dann sanft mit der anderen Hand zugedeckt, hätte man nicht geahnt, dass sich ein Mensch darin befindet.

Die ersten Wochen musste dieses Kind in einem gläsernen Kasten im Krankenhaus liegen. George stand viele Stunden neben ihm,starrtedurchdieScheibenundbeobachtetees.DieÄrztehatten gesagt, er müsse sich auf das Schlimmste gefasst machen. Aber das tat George nicht. Seine Tochter mochte vielleicht klein und zerbrechlich sein, aber sie war eine Kämpfernatur! Er würde immer auf sie aufpassen. Sie war alles, was ihm geblieben war.

George betrachtete das rosafarbene Geschöpf, das so zart und leicht wie eine Feder wirkte, und beschloss, dass es auch so heißen sollte. Feather.

1

Bevor jemand die Geschichte falsch erzählt, will ich selbst schildern, was passiert ist. Es war nämlich ganz und gar nicht meine Schuld. Zumindest nicht von Anfang an.

Der Mittwoch war ohnehin nicht gerade mein Lieblingstag, und das schon, bevor wir eine Vertretung für unsere kranke Lehrerin bekamen. Ausgerechnet Mr Leary, der fast zwei Meter große Mann mit der Statur eines Preisboxers, übernahm die letzten beiden Stunden.

Mr Leary war es egal, dass eigentlich Kunst auf dem Plan stand, und er ließ uns eiskalt die Mathebücher rausholen.

Ich hockte mit vor der Brust verschränkten Armen da und beteiligte mich nicht am Unterricht, auch wenn Mr Leary mich zwischendurch immer wieder mit „Komm schon, Feather, das kannst du“ oder „So was rechnest du doch im Schlaf“ motivieren wollte.

Meine Klassenkameraden, allen voran Paige und Milly, quittierten das Ganze mit gehässigem Gekicher. Oft warfen sie mir böse Blicke und viermal sogar zusammengeknülltes Papier an den Kopf. Offensichtlich gaben sie mir die Schuld daran, dass es heute eine Extraportion Mathe gab. Dabei hatten sie gut lachen, gleich waren sie den Vertretungslehrer wieder los. Er war ja nicht ihr Vater.

Endlich war es so weit und das Klingeln erlöste mich. Ich beeilte mich, aus dem Klassenzimmer zu kommen, tat so, als hörte ich nicht, wie Dad nach mir rief. Natürlich hätte ich wie sonst auch mit ihm nach Hause fahren können, doch mein Bedarf an väterlicher Fürsorge war im Moment restlos gedeckt.

Meine Schule lag nicht gerade um die Ecke, deshalb nahm ich den Bus. Während er sich ruckelnd durch den dichten Londoner Verkehr kämpfte, lehnte ich den Kopf an die Scheibe.

Es war schon den ganzen Tag über grau gewesen und jetzt begann es auch noch, in Strömen zu regnen. Natürlich hatte ich mal wieder keinen Regenschirm dabei und würde ordentlich nass werden, wenn ich von der Bushaltestelle nach Hause lief. Ich wusste bereits, was Dad dazu sagen würde.

Dad und ich lebten allein, meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Dad gab sich wirklich alle Mühe, damit es mir an nichts fehlte. Trotzdem verging kein Tag, an dem ich mir nicht vorstellte, wie es wäre, wenn Mum noch lebte.

Traurig wischte ich mit dem Ärmel meines schiefergrauen Pullovers, der zur Schuluniform gehörte und mich mit meinem hellblonden Haar schrecklich farblos aussehen ließ, über das beschlagene Glas. Seufzend wünschte ich mir, Dad würde mich nicht immer noch wie ein Kindergartenkind behandeln. Kein Wunder, dass niemand mit mir befreundet sein wollte. Ich meine, ich war garantiert die einzige Dreizehnjährige in ganz London, die morgens noch ihr Toastbrot geschnitten bekam. In kleine exakte Quadrate.

Als ich ausstieg, war der Regen sogar noch schlimmer geworden und ich beschloss, an der Haltestelle zu warten. Ich stellte mich neben eine elegant gekleidete Dame, deren Mops einen pinkfarbenen Regenmantel trug. Unentschlossen, ob ich das schick oder albern finden sollte, sah ich zu, wie der Mops begeistert über den Boden schnüffelte.

Plötzlich vernahm ich ein Lachen. Auch das noch! Da waren Paige und Milly. Sie steckten die Köpfe unter einen schwarz-weiß gestreiften Regenschirm und kicherten, während sie zu mir rübersahen.

Okay, dann hatte ich wohl keine andere Wahl. Prüfend streckte ich die Hand vor und entschied, dass es auf jeden Fall besser war, bis auf die Knochen durchnässt zu sein, als mit Paige im Trockenen zu stehen. Das hier war nicht Paiges Haltestelle. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie bereits zwei Stationen früher ausgestiegen war: um mir noch nach Schulschluss auf die Nerven zu gehen. Ohne mich!

Paige Kelby war mal meine beste Freundin gewesen, doch das war lange her und seitdem verging kaum ein Tag, an dem sie nicht irgendwelche blöden Sprüche in meine Richtung abließ. Dads Rat, einfach souverän über den Dingen zu stehen und Paiges Gemeinheiten zu ignorieren, bis sie von allein damit aufhören würde, funktionierte leider kein bisschen. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es mit jedem Schuljahr schlimmer wurde.

Mit aufgestelltem Kragen und hochgezogenen Schultern lief ich los. Von hier aus waren es nur drei Minuten zu Fuß, wenn ich schnell ging, zwei. Ich musste immer wieder lange Schritte über kleine Pfützen machen und war froh, als ich endlich in unsere Straße einbog. Jetzt nieselte es nur noch.

„… die totalen Freaks.“

Es war nur ein Satzfetzen, der an meine Ohren drang, doch ich erkannte die Stimme. Ich sah mich um und mein Blick fiel auf den schwarz-weißen Regenschirm. Auch das noch. Paige und Milly waren mir gefolgt. Was wollten die beiden von mir?

Paige sagte absichtlich laut: „Und wenn du glaubst, er war heute schräg, dann musst du ihn mal erleben, wie er bei sich zu Hause ist.“

Gut. Es ging also um Dad. Ein beliebtes Thema an unserer Schule. Er fiel eben durch seine Größe auf. Und durch seine Liebe zur Mathematik.

„Wenn ich Durst hatte, musste ich erst eine Matheaufgabe lösen, bevor ich ein Glas Saft bekam“, erzählte Paige.

„Was?“, rief Milly entrüstet. „Und wenn du die richtige Antwort nicht wusstest?“

„Dann hat er mir noch eine gestellt.“

Ja, und in Paiges Fall noch eine und noch eine, bis er ihr aus Mitleid eine einfache Aufgabe gab, damit sie nicht spontan in seiner Küche verdurstete. Dad hatte das Überlebensrechnen genannt und würde das wohl heute noch mit mir spielen, wenn ich nicht längst selbst den Kühlschrank öffnen könnte.

„Warum bist du überhaupt zu denen gegangen?“, erkundigte sich Milly und Paige machte ein abfälliges Geräusch.

„Meine Mum wollte das. Ich glaube, die taten ihr leid. Wir waren ja zusammen im Kindergarten und Feather war das einzige Kind, das keine Mutter hatte.“

„Wie schrecklich“, sagte Milly. Erst dachte ich, sie bezog das auf meine Mutter, doch dann fuhr sie fort: „… dass du deshalb mit Feather spielen musstest.“

In mir brodelte es. Paige war sehr gerne bei uns gewesen. Sie hatte manchmal richtig gebettelt, noch bleiben zu dürfen, wenn ihre Mum kam, um sie abzuholen. Und später war sie selbst vorbeigekommen und hatte sogar hin und wieder bei mir übernachtet.

Es war nicht mehr weit bis zu unserem Haus und ich kramte in meiner Tasche schon mal nach dem Schlüssel. Wo war das verflixte Ding denn nur? Je eher ich die Tür hinter mir schließen konnte, desto besser.

Meine Finger verkrampften sich, als ich Milly fragen hörte:

„Woran ist die eigentlich gestorben?“

„Sie ist …“, begann Paige, doch ich fuhr herum und stieß hervor: „Hört auf, über meine Mutter zu sprechen! Das geht euch nichts an, klar?“

Paige und Milly waren stehen geblieben und sahen mich verdutzt an, während ihr Regenschirm von einem jähen Windstoß nach hinten gedrückt wurde. Ein bunter Werbeprospekt kam über die Straße geweht und legte sich flach auf meinen Bauch. Unwirsch riss ich ihn weg. Endlich bekam ich den Schlüssel zu fassen. Ich zog ihn eilig hervor und lief schnell die Stufen hinauf.

Als ich versuchte, mit zitternden Fingern die Tür aufzuschließen, sagte Paige: „Mum meint ja, es sei seine Schuld.“

„Was denn?“

„Na, dass sie tot ist.“

Mir fielen die Schlüssel aus der Hand und Milly schnappte nach Luft.

„Hat Mr Leary sie umgebracht?“

„Quatsch!“, erwiderte Paige. „Also, nicht direkt. Sie muss eine kleine und zierliche Frau gewesen sein. Und er ist … na ja, er ist eben so riesig. Kein Wunder, dass sie die Geburt nicht überlebt hat.“

Ein Kribbeln stieg von meinem Magen auf, setzte sich irgendwo unterhalb meiner Kehle fest. Ich spürte einen gewaltigen Druck in der Lunge und das unbändige Verlangen, ihn mit einem einzigen Schrei auszustoßen.

Und das tat ich. Ich schrie. Ich schrie so laut und lang, dass ich nichts anderes mehr hörte. Alles drehte sich und ich glaubte sogar, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Erst als mir etwas gegen Oberkörper und Gesicht klatschte, wurde mir klar, dass ich die Augen geschlossen hatte. Ich öffnete sie, nahm den blöden schwarz-weißen Regenschirm weg, der sich aus irgendeinem Grund wie angeklebt an meinen Körper presste.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sich vor mir abspielte. Ich musste die Treppe wieder hinuntergestiegen sein, denn ich stand auf dem Bürgersteig. Paige und Milly klammerten sich an einer Straßenlaterne fest. Da ich aufgehört hatte zu schreien, konnte ich hören, wie sie schrien. Offensichtlich waren wir inmitten einer Windhose gefangen, denn um uns herum drehten sich der bunte Werbeprospekt, ein zerknülltes Taschentuch, Bonbonpapier und Laub rasend schnell im Kreis, schraubten sich höher und höher. Die Windhose schien mit jeder Umdrehung stärker zu werden, riss bald auch wahllos Erdklümpchen und Kieselsteine mit sich in die Höhe, brachte die Fensterscheiben der Häuser zum Klirren. Ich hörte, wie die Steine prasselnd gegen parkende Fahrzeuge schlugen und sich die Straßenlaterne knarrend zur Seite bog.

Der alte Baum vor unserem Haus musste beinahe alle Blätter lassen, die sich dem wilden Tanz anschlossen. Es knirschte und dann knackte es in der Baumkrone.

Instinktiv sprang ich vor, packte Paige und Milly grob am Arm und zog sie mit einem Ruck so kräftig zurück, dass wir alle drei auf dem Hosenboden landeten. Keine Sekunde später krachte ein mächtiger Ast auf die Straßenlaterne. Die kippte wie in Zeitlupe um und fiel schließlich auf das Dach eines Wagens, dessen Alarmanlage anklagend losging.

„Das war knapp“, sagte ich mehr zu mir selbst, stand auf und strich meinen schwarzen Rock glatt. Ich erwartete, dass Paige und Milly ebenfalls aufstehen würden, doch sie blieben auf dem nassen Bürgersteig sitzen und starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Was ist?“, fragte ich.

Milly kam umständlich auf die Beine und rannte davon. Ich hatte nicht gerade mit einem Präsentkorb gerechnet, doch ein kleines Danke wäre nett gewesen, immerhin hatte ich sie davor bewahrt, von einem Ast erschlagen zu werden.

Auch Paige erhob sich nun. Anders als Milly, in deren Blick etwas Panisches gelegen hatte, starrte Paige mich voller Abscheu an. Sie war bleich, hatte zerzaustes Haar und überall in ihrer Kleidung hatten sich Blätter verfangen. Sie wich einen Schritt vor mir zurück und sagte tonlos: „Du bist ein Freak. Das hab ich immer gewusst.“

Irgendwo hatte ich mal den Begriff „höhere Gewalt“ aufgeschnappt. Damit konnte ein Ereignis beschrieben werden, das weder absichtlich herbeigeführt noch abgewendet werden kann. So wie eine Windhose, zum Beispiel. Trotzdem saß ich am selben Abend mit Dad in der Küche, musste ihm wieder und wieder den genauen Hergang schildern und gewann allmählich den Eindruck, er gebe mir die Schuld.

„Glaubst du, ich habe den Ast extra angesägt?“, rief ich genervt. „Damit er runterkracht, wenn Paige beim nächsten aufziehenden Sturm zufällig druntersteht?“

Dad sah mich für einen Moment an, als hätte er genau das angenommen, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, Feather. Natürlich nicht. Ich verstehe nur nicht, wie das passieren konnte.“

„Der Baum ist eben uralt“, sagte ich. „Ist doch nicht so ungewöhnlich, wenn da was abbricht.“

„Wahrscheinlich hast du recht.“ Mit den Händen in den Taschen stellte sich Dad vors Fenster. Vor unserem Haus war die Feuerwehr damit beschäftigt, die Schäden des Unwetters zu beseitigen, und Dad sah ihnen schweigend zu. Als sein Handy klingelte, zögerte er, bevor er schließlich seufzte und mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der sich dem Unausweichlichen stellen muss, das Gespräch annahm.

„Guten Abend, Mrs Kelby.“

Paiges Mutter. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, doch ihre hohe Stimme klang aufgebracht und sie redete schnell. Dad beschränkte sich anfangs darauf, vereinzelt Hmms, Sosos und Ahas beizusteuern, doch nach einer Weile schüttelte er verärgert den Kopf.

„Ist das Ihr Ernst, Mrs Kelby? Sie wollen wirklich behaupten, dass meine Tochter …“ Dad wedelte mit der Hand, um mich aus der Küche zu schicken. Obwohl ich zu gern gewusst hätte, was Paiges Mutter da behauptete, stand ich auf und ging hinaus. Das Blitzen in seinen Augen war unmissverständlich, Dad war extrem wütend.

Ich hatte mich schon vorhin umgezogen, da meine Schuluniform komplett durchnässt und von oben bis unten mit Matsch besprenkelt war. Schicksalsergeben hob ich die Sachen nun auf und trug sie ins Bad, um sie in die Waschmaschine zu stopfen. Damit ich keine Blätter, Kieselsteine und andere Windhosenzutaten mitwusch, schüttelte ich die Klamotten gründlich über der Badewanne aus. Tatsächlich rieselte alles Mögliche in die Wanne. Als ich schließlich den Pullover ausschlug, löste sich etwas Graues, stand für einen winzigen Augenblick in der Luft, dann segelte es im Zickzackkurs nach unten und landete auf der Hand, die ich danach ausgestreckt hatte.

„Na, wenn das kein Zufall ist“, sagte ich erfreut. „Eine Feder für Feather!“

Es war natürlich nicht meine erste Feder. Sie war weder die schönste noch die beeindruckendste, die ich je gesehen hatte. Außerdem wirkte sie reichlich mitgenommen, so zerrupft und schmutzig, wie sie war. Dennoch fühlte sie sich warm und weich und auf eine seltsame Weise luftig an. Vertraut. Fasziniert strich ich mit einer Fingerspitze darüber und beschloss, sie zu behalten.

Rasch warf ich die Maschine an, um mich danach meiner Feder zu widmen. Vorsichtig ließ ich lauwarmes Wasser darüberlaufen, drehte und wendete sie, damit der Schmutz gleichmäßig ausgespült wurde, und legte sie anschließend zum Trocknen auf ein Handtuch. Dann ging ich in mein Zimmer.

2

Gähnend drehte ich mich noch einmal im Bett herum, zog die Decke höher und genoss das behagliche Gefühl, ausschlafen zu können. Das hatte ich auch dringend nötig, denn ich hatte noch bis tief in die Nacht wach gelegen und immerzu Paige vor mir gesehen. Freak hatte sie mich genannt. Sie habe es schon immer gewusst, hatte sie gesagt. Gewusst? Was eigentlich?

Früher war alles nach Paige Kelbys Nase gegangen. Sie bestimmte, was wir spielten, wohin wir gingen, welche Musik wir hörten. Das hatte ich auch lange mitgemacht. Aber irgendwann, da waren wir in der zweiten Klasse gewesen, hatte sie mich richtig auf die Palme gebracht. Keine Ahnung, worum genau es dabei gegangen war. Ich wusste nur noch, dass es wie gestern ein stürmischer Tag …

Mit einem Blick auf meinen Wecker fuhr ich auf. Ach du Schande! Gestern war doch Mittwoch gewesen. Und wenn gestern Mittwoch war, dann war heute Donnerstag, was bedeutete, dass ich verschlafen hatte!

„Dad!“, rief ich, sprang aus dem Bett und stürmte aus meinem Zimmer. „Dad? Wir haben verschlafen! Die Schule hat schon längst …“

Als ich Tellergeklapper vernahm, stutzte ich. Ich lief in die Küche und fand dort Dad vor, der in aller Seelenruhe den Tisch deckte.

„Guten Morgen, Feather“, sagte er und stellte einen Topf mit Eiern auf den Herd.

Irritiert fragte ich: „Ähm … hast du dich im Datum vertan? Heute ist doch nicht Sonntag. Oder ist die Schule abgebrannt?“

„Lass den Unsinn!“, sagte Dad. „Geh erst mal ins Bad und dann komm wieder her. Wir müssen was besprechen.“

Mit einem flauen Gefühl im Magen ging ich ins Bad, hielt mich aber keine Minute länger als nötig dort auf, damit ich endlich erfuhr, was los war. Bestimmt hing es mit dem Anruf von Paiges Mutter zusammen. Garantiert hatte Paige vor ihrer Mutter mal wieder furchtbar übertrieben und mir ihren üblichen hirnverbrannten Schwachsinn angehängt. Ich musste Dad unbedingt von meiner Version der Dinge überzeugen.

Als ich zurückkehrte, stand Dad mit seiner Tasse in der Hand am Herd und sah den Eiern zu, wie sie im kochenden Wasser auf und ab hüpften. Langsam machte er mir wirklich Angst. Ging es gar nicht um mich? War etwas mit ihm?

„Dad? Bist du krank?“ Besorgt musterte ich ihn. Es musste schon etwas sehr Ernstes sein, wenn er nicht zur Schule ging und es obendrein noch zuließ, dass auch ich den mir zustehenden Unterricht versäumte.

Er schüttelte den Kopf und wies auf meinen Stuhl.

„Was ist denn los?“, fragte ich ungeduldig.

Dad nahm die Eier vom Herd, schreckte sie ab und setzte eines in den Eierbecher vor mir. Dann ließ er sich mir gegenüber nieder. Er holte ein paarmal tief Luft, ehe er endlich sagte: „Feather, wir ziehen um.“

„Oh. Echt? Na, gut.“ Ich lachte erleichtert. „Und ich dachte schon, es wäre was passiert. Wann denn?“

„Sofort.“

Ich hatte gerade den Löffel angesetzt, um mein Ei aufzuklopfen, doch der glitt mir aus der Hand und flog klirrend gegen das Marmeladenglas.

„Nach dem Frühstück gehst du packen. Nur die wichtigsten Sachen. Alles andere lasse ich später abholen.“

„Stimmt was mit der Wohnung nicht?“ Hatten wir Schimmel oder Kakerlaken oder die Miete nicht bezahlt?

Wieder schüttelte Dad den Kopf.

Na ja, mein Zimmer wurde mir ohnehin langsam zu klein. Und die viele Busfahrerei zählte auch nicht gerade zu meinen Lieblingshobbys.

„Hoffentlich liegt die nächste näher an der Schule“, sagte ich.

„Äh … ja.“

„Äh, ja?“, wiederholte ich misstrauisch.

„Genau genommen werden wir in der Schule wohnen.“

„Im Chemielabor?“, witzelte ich, doch Dad blieb ernst.

„Die Wingdale Academy ist ein Internat.“

„Wingdale?“ Noch nie gehört, aber London war ja groß. „In welchem Stadtteil ist die denn?“

Dad zögerte. „Nicht in London.“

Ich hing nicht an meiner alten Schule. Das heißt, die Schule war ganz okay, aber meine Mitschüler waren es nicht. Paige und Milly waren nur die Spitze des Eisbergs, auch alle anderen hielten sich lieber von mir fern, so, als müssten sie befürchten, sich bei mir mit Malrechnung zu infizieren.

Es ging also in Ordnung, die Schule zu wechseln. Was jedoch ganz und gar nicht in Ordnung ging, war die Stadt zu wechseln. Ich liebte London. Ich war hier geboren. Mum war hier begraben. Wir konnten sie doch nicht einfach alleinlassen!

Mit Dad zu diskutieren, hatte keinen Sinn. Da hätte ich auch versuchen können, ihn im Armdrücken zu besiegen. Es machte mich einfach rasend, wie er auf einer einmal gefassten Meinung bestand.

Wie konnte er mir das antun? Ich wollte nicht wegziehen aus London. Schon gar nicht aus heiterem Himmel direkt nach dem Frühstück. Durfte er das einfach so entscheiden?

Um abzukühlen, ging ich ins Bad und wusch mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Als ich mich abtrocknen wollte, fiel mein Blick auf das Handtuch mit der Feder drauf. Jetzt, da sie gewaschen und getrocknet war, stellte ich verblüfft fest, dass sie keineswegs grau war. An der Spitze schillerte sie in einem tiefen Nachtblau, wurde zur Mitte hin heller, und die fluffigen Daunen, die unten am Kiel abstanden, waren türkisfarben. Ich nahm sie hoch und als das Licht in einem bestimmten Winkel darauf fiel, schimmerte sie wie mit Gold bestäubt.

Keine Ahnung, von welchem Vogel sie stammte, aber sicher war es kein typischer Bewohner der Londoner Lüfte. Umso erfreulicher, dass ich sie gefunden hatte.

„Feather?“ Dad klopfte an. „Beeil dich. Wir fahren in einer Stunde los.“ Seine Schritte entfernten sich wieder und ich hörte, wie er die quietschenden Türen seines Kleiderschranks öffnete. Er packte. Er meinte das alles ernst.

Wenn er glaubte, dass ich jetzt auch einfach brav meine Sachen packen würde, hatte er sich geschnitten. In Windeseile schlüpfte ich in meine bereitgelegten Klamotten, band mir einen Zopf und schlich aus der Tür.

Der Boden des Friedhofs war kalt und feucht, aber ich ließ mich dennoch im Schneidersitz nieder. Mit einem Kloß im Hals betrachtete ich die kleine Platte aus weißem Marmor, auf der Mums Name stand. Sie war nur gut vierzig mal dreißig Zentimeter groß, und dennoch erschien sie mir so groß und schwer, dass mich schon der Anblick erdrückte.

Der Geruch von Erde vermischte sich mit dem Duft der hohen Kiefern, die sich um die kleine Kapelle drängten. Ein Vogel saß auf einem der Wipfel und sang immer wieder eine kurze Tonfolge in alle vier Himmelsrichtungen. Es kümmerte ihn nicht, dass er mit seinem fröhlichen Liedchen die Stille störte.

Ich wartete, bis der ältere Herr, der hinter mir schlurfend über den Kiesweg ging, außer Hörweite war, und sagte dann: „Mum? Ich bin’s, Feather.“ Verlegen zupfte ich ein paar Grashalme aus. „Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht habe blicken lassen. Aber ich habe dich nicht vergessen, Mum. Es war nur so viel … Die Schule und so …“ Ich stockte. Was für eine erbärmliche Ausrede. „Aber du kennst ja Dad.“ Wieder schwieg ich eine Weile, dann schluchzte ich: „Er will übrigens, dass wir hier wegziehen. Kannst du dir das vorstellen? Hat mich nicht mal gefragt, hat das einfach so entschieden. Darf er das denn? Ich will hier nicht weg, Mum. Wenn du noch leben würdest …“, fing ich an, wusste aber nicht, wie dieser Satz enden sollte, und meine Stimme brach ab.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich sah auf. Dad stand neben mir. War er sauer auf mich, weil ich statt zu packen abgehauen war?

Mit einem Schnaufen setzte sich Dad zu mir auf den Boden. Er brauchte einen Moment, bis er die richtige Sitzposition gefunden hatte, und blickte zum Grabstein.

„Weißt du, warum ich selten hier bin?“

„Weil du zu beschäftigt bist?“, fragte ich schnippisch.

„Unsinn. Weil sie hier begraben ist. Hier ist sie tot. Aber hier“, er tippte sich erst an die Schläfe, dann legte er die Hand auf sein Herz, „ist sie lebendig. Ihr Lachen. Ihre Lebensfreude. Ihr …“ Er ließ die Hand sinken. „Ganz gleich, wohin wir gehen, Feather, wir nehmen sie mit. Außerdem“, jetzt wuschelte er mir über die Haare und ruinierte mir damit den Zopf, „habe ich ja dich. Du hast so viel von deiner Mum.“

Nach Dad kam ich jedenfalls nicht. Ich war nicht größer als die anderen Mädchen in meiner Klasse und eher schlank. Oder, wie Paige und Milly es nannten, klapperdürr. Auch meine blauen Augen und die glatten hellen Haare hatte ich nicht von Dad. Wir hätten nicht unterschiedlicher aussehen können, weshalb ich im Kindergarten Paiges fieses Gerücht, Dad sei nicht mein echter Vater, fast geglaubt hätte. Aber dafür waren wir uns in anderen Dingen einfach zu ähnlich. Zum Beispiel waren wir beide stur wie ein ganzer Stall Esel, hatten gerne das letzte Wort und ließen uns nicht für dumm verkaufen.

„Trotzdem verstehe ich nicht, warum du London gleich verlassen musst“, sagte ich. „Wie kommt es eigentlich, dass du von heute auf morgen eine andere Stelle als Lehrer hast?“

Er rieb sich die Nasenwurzel und hob die Schultern. „Die Wingdale und ich stehen schon länger in Kontakt.“

„Aha. Und die suchen so dringend einen Mathelehrer, dass sie nicht mal bis zum Schuljahresende warten können?“ Mein Argwohn war geweckt. „Bitte, sag jetzt nicht, dass es so eine miese Schule ist, dass da kein anständiger Lehrer hinwill.“

„Nein, die Wingdale Academy hat einen ausgezeichneten Ruf. Und sie suchen genau genommen keinen Mathelehrer, sondern einen Schulleiter.“

Wenn ich nicht schon gesessen hätte, wären mir spätestens jetzt die Knie weggesackt. Ich schluckte. „Du wirst Schulleiter?“

„Ja. Der vorige Schulleiter ist ganz unerwartet gegangen und die Dame, die ihn vertritt, will das nicht länger machen. Sie hat mich förmlich angefleht zu übernehmen.“

Mir wurde klar, dass ich die Zeiten herbeiwünschen würde, als ich die Tochter eines einfachen Mathelehrers war. Als Tochter des Direktors konnte ich einpacken.

Dad erhob sich. „Wenn du noch hierbleiben willst … Ich könnte deine Tasche für dich packen und …“

„Lieber nicht!“, rief ich aus. Das fehlte mir noch, dass Dad in meinen Sachen herumwühlte.

Ich nahm Dads Hand, die er mir entgegenstreckte, und er zog mich mühelos auf die Beine.

„Wie weit ist sie eigentlich von hier?“, fragte ich. „Diese Akademie mit ausgezeichnetem Ruf, meine ich.“

„Heute Abend sind wir da.“

„Und wenn es mir dort nicht gefällt?“

„Wird es.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Warte es ab.“

Dad legte den Arm um meine Schultern und als wir den Friedhof verließen, war das beklemmende Gefühl, Mum alleinzulassen, verflogen.

Sosehr ich es auch bedauerte, London so überhastet Lebewohl sagen zu müssen, je weiter wir in den Südwesten Englands vordrangen, umso mehr wuchs meine Neugier auf die neue Schule. Merkwürdigerweise fühlte ich ein angenehmes Kribbeln im Magen, das mit jedem zurückgelegten Kilometer stärker wurde. Ich spürte Vorfreude, ohne zu wissen, was mich dort erwartete.

Dads vage Andeutung, es werde mir in der Wingdale Academy gefallen, hatte mich zu einem wahren Fragenkatalog inspiriert, doch Dad blieb hart. Er versprach, mir noch vor unserer Ankunft alles Wissenswerte über die Schule zu berichten, und damit war das Thema für ihn vorerst beendet.

Boah, er konnte so ein Spielverderber sein! Aber wenn er mit den Löchern im Bauch leben konnte, die ich ihm nachher reinfragen würde, bitte schön!

Unser Ziel war Deansburg, das in der Grafschaft Devon und unweit vom bekannten Seebad Exmouth lag. Während Dad mir unterwegs von der malerischen Schönheit der Küste und dem milden Klima vorschwärmte, checkte ich auf seinem Handy Bilder davon im Internet. Ich hatte bereits Fotos von einem Fischerdorf namens Clovelly betrachtet, war danach beim malerischen Ort Torquay gelandet. Nun vergrößerte ich ein paar Aufnahmen von der sogenannten Jurassic Coast. Nicht übel.

Ich gab ihm das Handy wieder zurück und blickte hinaus. Seit wir London hinter uns gelassen hatten, waren wir gut durchgekommen. Wir hatten bereits vor einiger Zeit die Autobahn verlassen und ich bemerkte fasziniert, wie sehr sich diese Landschaft von der in und um London unterschied. Ich war sicher keine Expertin für heimische Botanik, aber das Grün der Wiesen, Büsche und Bäume kam mir satter und dunkler vor. Auch die Luft, die mir um die Nase wehte, als ich die Fensterscheibe runterließ, fühlte sich fast samtig an und war so frisch, dass ich tief durchatmete. Ich musste die flache Hand auf meinen Bauch legen, um das Kribbeln einigermaßen im Zaum zu halten. Obwohl ich noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen war, fühlte es sich ein bisschen so an, als hätte ich schon immer hier sein wollen. Eigenartig …

„Hast du Hunger? Ich kenne da einen wirklich guten Laden.“ Dads Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich blickte ihn verwirrt an. Er lachte, setzte den Blinker und wir folgten einem Schild, das uns Richtung Exmouth schickte. „Zumindest war er vor zwanzig Jahren gut, und ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob es ihn überhaupt noch gibt. Aber wenn, dann freu dich schon mal auf dein neues Lieblingsrestaurant.“

„Ja, hab ich“, erwiderte ich, weil ich tatsächlich hungrig war. Immerhin war es bereits früher Abend und außer dem Frühstück hatte ich noch nichts gegessen. Und abgesehen davon war das die Gelegenheit, Dad auszuquetschen.

„Sehr gut. Ich möchte noch ein bisschen Zeit mit dir allein verbringen, bevor … na ja, nur wir zwei, eben.“

Erst wusste ich nicht, warum Dad das so betonte, doch dann begriff ich. Die Wingdale Academy war ein Internat, die Schüler wurden in dem Gebäude nicht nur unterrichtet, sondern sie wohnten auch dort und nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein.

Dad fügte schnell hinzu: „Das wird eine Umstellung für uns beide, Feather. Ich werde ab jetzt weniger Zeit für dich haben, besonders am Anfang, bis ich mich in alles eingearbeitet habe und so.“ Er machte eine vage Handbewegung und lächelte mich dann an. „Aber wenn du mich brauchst, bin ich immer für dich da. Versprochen!“

Ich nickte. Klar, noch gestern hatte ich mir gewünscht, von Dad nicht immerzu wie ein kleines Kind behandelt zu werden, doch dass er ab sofort nur noch im Notfall für mich da wäre, passte mir auch nicht.

Zu sehr in diese Vorstellung vertieft, bekam ich von dem kleinen Städtchen kaum was mit und sah überrascht auf, als Dad den Wagen auf einen von Bäumen umsäumten Parkplatz lenkte.

„Da sind wir. Das legendäre Stonery“, sagte er, stellte den Motor ab und blickte beinahe andächtig zu dem Steingebäude. Dann stieß er die Fahrertür auf und rief grinsend: „Sieht noch alles genauso aus wie früher.“

Auf mich machte es eher einen unscheinbaren Eindruck und ohne Dad wäre ich niemals auf die Idee gekommen hineinzugehen. Dennoch folgte ich ihm, als er zügig über den Parkplatz schritt. Mann, er hatte es wirklich eilig hineinzukommen und ich musste beinahe laufen, damit er mich nicht abhängte.

Zwei Mädchen, die etwa in meinem Alter waren und auf die Lenker ihrer Fahrräder gestützt mitten auf dem Weg standen, verschlug es glatt die Sprache, als Dad an ihnen vorbeirauschte. Ich konnte ihre Blicke noch im Rücken spüren, nachdem die Tür hinter uns zugefallen war. Eigentlich beruhigend, dass es hier nicht anders als in London war, Dads Erscheinung löste eben überall die gleiche Reaktion aus.

Gedämpftes Licht, köstliche Düfte und Stimmengewirr umfingen uns. Der Laden war nicht sehr groß, es gab gerade mal zwölf Tische, aber die waren alle besetzt, und das mitten in der Woche.

Dad schien sich bestens im Stonery auszukennen, denn er steuerte sofort auf eine schmale Treppe zu, die versteckt hinter der Garderobe rechts neben dem Eingang lag.

„Komm, Feather! Ich muss dir was zeigen“, sagte er begeistert und nahm mit seinen langen Beinen immer gleich zwei der knarrenden Stufen auf einmal.

Ich wäre viel lieber dem Kellner hinterhergelaufen, der gerade gekonnt drei Teller an mir vorbeitrug. Die Speisen darauf sahen verlockend aus und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Etwas missmutig sah ich zu, wie der Kellner die Teller vor Gästen abstellte, die nicht Dad und ich waren, und stieg die Treppe ebenfalls hinauf.

„Dad?“ Ich sah mich um. Die Vorhänge waren zugezogen, deshalb war es hier oben dunkel. Vorsichtig tastete ich mich vor und stieß gegen einen Tisch. „Dad! Was soll der Quatsch? Wo bist du?“, rief ich genervt, als ich über ein Stuhlbein stolperte.

Mit einem Ruck wurden die Vorhänge zurückgezogen und mir blieb der Mund offen stehen. Die gesamte Front war verglast und gab den Blick auf das weite Meer frei. Die bereits untergehende Sonne ließ die wenigen Wolken zartrosa erscheinen und die Wogen glitzerten golden. Als ich mich direkt vor die Scheibe stellte, konnte ich sehen, wie steil und tief es nach unten ging.

„Das ist wunderschön“, flüsterte ich und sah zu Dad, der die Stirn gegen das Glas hatte sinken lassen. Waren das Tränen in seinen Augen? Weinte er etwa?

„Was ist denn? Geht es dir nicht gut?“ Besorgt legte ich ihm eine Hand auf den Arm, doch als Dad sich mir zuwandte, sah ich, dass er lächelte.

„Es tut so gut, wieder hier zu sein.“

„Ja, genau. Du schuldest mir noch ein paar Erklärungen“, erinnerte ich ihn. Er nickte und wir schauten gemeinsam hinaus aufs Meer, das vom orange glühenden Sonnenuntergang in Brand gesteckt zu sein schien, da drang die verärgert klingende Stimme einer Frau zu uns rauf.

„Hallo? Dieser Bereich ist nicht für Gäste …“ Kaum war sie auf dem Treppenabsatz angekommen, blieb sie unvermittelt stehen und starrte Dad an. „George?“

Dad musterte die Frau mit leicht schief gelegtem Kopf und nickte schließlich. „Ja. Und Sie sind …?“

„Elisabeth.“ Sie kam auf uns zu und weil Dad sie noch immer nicht zu erkennen schien, deutete sie entschuldigend an sich herunter. „Ich weiß, ich war früher etwas schlanker. Und meine Haare waren …“

„Das gibt’s doch nicht!“, stieß Dad plötzlich aus und sprang vor, um die völlig überrumpelte Elisabeth zu packen, in die Luft zu heben und sich mit ihr einmal im Kreis zu drehen. „Die kleine Betty Malcom!“

Sie lachte und er setzte sie ab, schob sie ein Stück von sich und nahm sie genauer in Augenschein. „Du hast dich kein Stück verändert, Betty!“

„Schwindler“, sagte sie nachsichtig und deutete einen Knuff gegen seine Brust an. „Aber dich würde ich überall erkennen.“

Kunststück, dachte ich. Dad war ein breitschultriger Riese, den man nur schwer übersehen konnte. Ganz im Gegenteil zu mir übrigens, denn die beiden beachteten mich nicht. Ich stand noch ein Weilchen unschlüssig daneben, als sie sich gegenseitig mit Fragen überhäuften, und ließ sie schließlich stehen, um nach den Toiletten Ausschau zu halten.

Der Fragenkatalog wuchs und wuchs.

3

Geschäftigen Kellnern und weit gestikulierenden Besuchern ausweichend, durchquerte ich den Gastraum und landete in einem schmalen, nur spärlich beleuchteten Gang. Von ihm gingen mehrere Türen ab, auch die zur Küche. Eine Schwingtür mit einem runden Guckloch darin, damit hineingehende und herauskommende, mit Tellern beladene Kellner sich nicht gegenseitig über den Haufen liefen.

Als ich nun daran vorbeiging, warf ich einen Blick in die Küche. Vor einem auffallend jungen Koch stand ein Mädchen in normaler Straßenkleidung. Scheinbar ärgerte sie sich über etwas, denn sie hielt ihm drohend den Zeigefinger vors Gesicht.

Neugierig blieb ich stehen. War es hier üblich, dass man Beschwerden über das Essen direkt in der Küche abgab? Leider sprach sie zu leise und ich verstand kein Wort. Dem Koch schien es jedenfalls gar nicht zu gefallen. Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das er am Gürtel befestigt hatte, und wies mit ausgestrecktem Arm auf die Schwingtür.

„Wäre schön, wenn du es endlich kapierst“, sagte er laut an das Mädchen gerichtet. „Es ist vorbei. Lass mich in Ruhe. Und komm nicht wieder her.“

Aha. Die beiden kannten sich also. Waren sie ein Paar?

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blieb, wo sie war. „Dein letztes Wort?“

„Nein, das kommt jetzt: Raus!“

Sie fauchte etwas, das von einem klappernden Topfdeckel übertönt wurde. Es musste aber gesessen haben, denn der junge Koch verzog getroffen das Gesicht. Voller Genugtuung stürmte sie nun aus der Küche und musste abrupt anhalten, weil ich im Weg stand und ihren ansonsten theaterreifen Abgang vereitelte.

Sie war ungefähr so alt wie ich, hatte langes dunkles Haar, große Augen und war sehr hübsch. Um mich von oben bis unten zu mustern, brauchte sie nicht mehr als einen Sekundenbruchteil.

Ungehalten zischte sie: „Weg da, du Trampel!“

Zu verblüfft, um darauf zu antworten, ließ ich sie durch. Ich sah durch das Guckloch der noch immer schwingenden Tür, wie der Koch eine bedauernswerte Karotte zerhackte. Als er den Kopf hob und unsere Blicke sich trafen, wollte ich sofort verschwinden, doch es gelang mir einfach nicht, mich loszureißen.

Es fiel mir schwer, sein Alter zu schätzen. Die Kochmütze und die weiße Kochjacke wiesen ihn zwar eindeutig als professionellen Mitarbeiter dieser Küche aus, hätte ich ihn jedoch auf der Straße getroffen, hätte ich ihn noch für einen Schüler gehalten. Er war ein gut aussehender Junge mit klaren Gesichtszügen. Und irgendetwas an seinen Augen irritierte mich. Welche Farbe hatten sie? Ich konnte einfach nicht wegsehen, wollte unbedingt wissen …

Ein kleines Fenster hinter dem Koch schlug so heftig auf, dass die Scheiben klirrten. Erschrocken wurde mir klar, dass ich die Schwingtür aufgeschoben und einen Schritt in die Küche gemacht hatte.

„Oh … sorry!“ Knallrot angelaufen machte ich mich davon, fand endlich die Toiletten und schloss mich in einer der Kabinen ein.

Das war ja megapeinlich gewesen. War ich soeben Zeugin einer Trennung geworden? Zumindest hatte der junge Koch gesagt, es sei vorbei. Und das hübsche Mädchen war eindeutig nicht damit einverstanden gewesen. Dass sie mich Trampel genannt hatte, ärgerte mich sehr. Ob Paige wusste, dass sie Konkurrenz hatte, was den Zicken-Thron betraf? Andererseits hätte ich es wahrscheinlich auch nicht toll gefunden, vor schaulustigen Fremden abserviert zu werden. Allerdings, wenn sie sich immer so aufführte, war es kein Wunder, dass ihrem Freund der Kragen geplatzt war. Wie dem auch sei, das alles ging mich überhaupt nichts an und je schneller Dad und ich das legendäre Stonery verließen, desto besser.

Apropos Dad, er musste ganz in der Nähe sein, denn ich konnte ihn hören.

„… alles noch genauso aus wie früher. Selbst diese Delle in der Tür.“ Ich verließ den Waschraum und sah, wie Dad sich lachend die Stirn rieb. „Die stammt übrigens von mir.“

„Wir sind eben ein Haus mit Tradition“, erwiderte Elisabeth.

Ich stellte mich zu den beiden. Dad wirkte beinahe überrascht, mir im Stonery zu begegnen, und sah mich für einen kurzen Moment verwundert an.

Kopfschüttelnd fing er sich. „Äh, darf ich vorstellen? Meine Tochter Feather.“

„Deine Tochter?“ Elisabeths Blick sprang zwischen Dad und mir hin und her, als suchte sie nach Ähnlichkeiten, die Dads ungeheuerliche Behauptung belegen könnten. Natürlich fand sie keine, ich war das optische Gegenteil meines Vaters.

Verlegen lächelte ich sie an.

„Meine Güte, wie unhöflich!“, rief sie und umarmte mich. „Herzlich willkommen, Feather. Ich bin Betty. Schön, dich kennenzulernen. Bist du auch …?“

„Hungrig?“, fiel Dad ihr ins Wort. „Und wie!“

Betty wirkte verdutzt und Dad versuchte, die Situation mit einem Lachen zu überspielen. Das ging ja mal voll in die Hose. Schämte er sich für etwas? Für mich?

Wenig später nahmen wir an einem frei gewordenen Tisch Platz, der in unmittelbarer Nähe zu einem etwa zwei Meter langen Aquarium stand. Es musste ein Salzwasseraquarium sein, denn es befanden sich Korallen und Anemonen darin sowie leuchtend bunte Fische, die einzeln oder in kleinen Schwärmen in dem Becken umherschwammen.

Unter anderen Umständen hätte ich stundenlang zusehen können, wie sich die orange-weiß gestreiften Fische in den Tentakeln der Anemonen wie in einem flauschigen Teppich versteckten und ein großer blau schillernder Fisch majestätisch seine Bahnen zog, während ein knallgelber Hektiker ruckartige Bewegungen vollführte.

Ein Kellner wollte uns Speisekarten reichen, doch Dad winkte ab. „Nicht nötig. Wir nehmen die Spaghetti, bitte.“ Er wusste, dass ich Spaghetti liebte. Dann bestellte er noch eine Apfelschorle für mich und Wasser für sich.

Kaum hatte sich der Kellner entfernt, fragte ich: „Okay, was ist hier los?“

„Die machen hier alle Nudeln selbst und die Soßen sind …“

„Dad!“

„Also gut. Feather, ich habe es dir nie erzählt“, sagte Dad und legte die Stoffserviette vor sich neu zusammen, sodass die Kanten exakt aufeinanderlagen, „aber ich bin hier zur Schule gegangen.“

Es kam ja nicht gerade unerwartet, dass Dad irgendwo zur Schule gegangen war, deshalb verstand ich nicht, warum er nun so herumdruckste. „Daher kennst du diese Betty. Verstanden. Und weiter?“

„Genau. Sie war auch auf der Wingdale.“ Er räusperte sich. „Und bevor wir gleich dort eintreffen, muss ich dir noch was beichten. Damit du es von mir und nicht von anderen erfährst.“

Beichten? Hatte mein strenger Lehrer-Dad etwa eine wilde Schülervergangenheit?

„Na ja“, gab ich zurück, „wenn die Wingdale dich als Schulleiter angenommen hat, kannst du ja kein so schlimmer Schüler gewesen sein.“

Die Getränke wurden vor uns abgestellt und ich bedankte mich. Dad nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Offensichtlich wollte er Zeit schinden.

„Feather, die Wingdale Academy ist eine besondere Schule. Kinder werden hergeschickt, weil sie … damit sie … lernen.“

„Wow. Dann ist die Wingdale ja wirklich eine ganz besondere Schule.“

„Okay.“ Dad kniff die Lippen zusammen, dann fasste er sich und erklärte: „Die Wingdale Academy ist ein traditionsreiches Eliteinternat. Einige sehr berühmte Leute sind auf diese Schule gegangen, du wirst sehen. Und deren Eltern, häufig auch deren Großeltern und so weiter. Dort werden neben den üblichen Fächern auch einige eher ungewöhnliche Disziplinen angeboten.“

„AGs?“ Solche Arbeitsgemeinschaften gab es doch an jeder Schule. Kaum der Rede wert. Es sei denn, er wollte auf etwas Bestimmtes hinaus.

„Ja, so könnte man sie nennen.“ Dad räusperte sich und trank einen weiteren Schluck Wasser. „Da werden einige sehr spannende Sachen gelehrt.“

Aha, daher wehte der Wind. Dad wollte, dass ich als Tochter des neuen Schulleiters Engagement zeigte und meine Freizeit in AGs verbrachte. Ein super Plan, um garantiert keine neuen Freunde zu finden.

„Muss das sein?“, maulte ich.

„Leider ja. Nur deshalb sind wir hier. So was wie gestern darf nie wieder passieren, Feather.“

Bevor ich nachfragen konnte, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, wurde unser Essen gebracht. Dad hatte nicht übertrieben, es sah fantastisch aus und roch himmlisch. Trotzdem griffen wir nicht zum Besteck, sondern warfen uns über den Tisch hinweg unnachgiebige Blicke zu, die nur durch den von den Tellern aufsteigenden Dampf gemildert wurden.

„Warte mal … Soll das heißen, du bestrafst mich, indem ich ab jetzt rund um die Uhr Unterricht habe?“ Ungläubig sprang ich auf. „Ich habe Paige und Milly gerettet. Ihr alle solltet mir mal ein bisschen dankbar sein und mich nicht auch noch in ein blödes Internat sperren, nur weil es in London windig ist.“

Dad sah sich rasch zu den Nachbartischen um. „Bitte, Feather, setz dich wieder, ja?“

„Was soll dann das Ganze hier? Du tust ja gerade so, als wäre ich eine Wetterhexe, die absichtlich ein Unwetter heraufbeschworen hat.“

„Unsinn.“ Dad legte sich die Serviette ordentlich auf den Schoß. „Niemand glaubt, dass es mit Absicht war.“

„Was?“ Ich starrte Dad an. Statt mir zu versichern, dass ich mich soeben verhört hatte, griff er gelassen zu seiner Gabel und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Teller vor ihm.

Gerne wäre ich einfach losgelaufen, aus diesem dämlichen Restaurant gestürmt, in den nächsten Bus gestiegen und zurück nach Hause gefahren. Und das hätte ich bestimmt auch getan, wenn ich in London gewesen wäre. Oder genug Geld dabeigehabt hätte. Oder wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, was sich auf Dads Teller abspielte. Meine Knie gaben nach und ich plumpste mit offenem Mund zurück auf den Stuhl.

Die Dampffäden, die von der heißen Tomatensoße aufstiegen, formten eine Art Stamm, von dem sich nach und nach weitere Ästchen ausstreckten. Dieses hauchzarte, durchsichtige Gebilde aus Dampf stand auf dem höchsten Punkt des Spaghettihügels wie ein wunderschöner uralter Baum, der sich sacht um sich selbst drehte, bevor er sich nach und nach auflöste.

„Der Guten-Appetit-Baum“, hauchte ich. Und schlagartig kehrten die Erinnerungen zurück.

Dad sah sich unauffällig nach den anderen Gästen um, aber niemand schien das Bäumchen bemerkt zu haben. Dann blickte er wieder zu mir und nickte langsam.

Früher, als ich noch viel kleiner gewesen war, hatte er beinahe jedes warme Gericht mit so einem Baum gekrönt. Auch auf Tassen mit heißem Tee oder Kakao hatte er ihn wachsen lassen. Begeistert hatte ich ihm damals dabei zugesehen und natürlich selbst mein Glück versucht. Leider war mir nie etwas Vergleichbares gelungen und irgendwann hatte ich mich so sehr darüber geärgert, dass ich …

„Oje“, entfuhr es mir. „Ich war das? Ich habe damals unsere Küche ruiniert?“

„Ausgerechnet Tomatensoße.“ Dad brummte. „An allen Wänden und bis unter die Decke. War das eine Sauerei.“ Dad begann zu essen. „Du hast dich derart darüber geärgert, dass es dir nicht gelingen wollte, selbst einen Guten-Appetit-Baum zu formen, dass du einen Wirbelsturm mitten in der Küche entfesselt hast.“

Ich sah es deutlich vor mir. Unsere hell gestrichene Küche, ein Topf mit Tomatensoße, heißer Dampf und meine kleinen Hände, die in der Luft herumfuhren.

Plötzlich rief Dad meinen Namen, jemand zerrte an meiner Kleidung, riss mich an den Haaren, stieß den Soßentopf um, warf alle Stühle umher. Schranktüren schwangen auf und schlugen splitternd wieder zu. Geschirr flog durch den Raum und ging scheppernd zu Bruch. Eine Schublade sprang auf und spuckte in hohem Bogen Besteck aus, das klappernd gegen Wände krachte. Eine Gabel prallte so heftig ab, dass sie in meine Richtung geschleudert wurde, mit den Zinken voran auf mich zuraste und haarscharf an meinem Ohr vorbeisauste.

Eine unbeschreibliche Angst erfüllte mich, ich schrie und schrie, dann nahm Dad mich auf den Arm, hielt mich fest und strich mir beruhigend über den Kopf.

Das, was jahrelang als schrecklicher Albtraum durch meine Erinnerung gespukt war, war wirklich passiert? Aber da war niemand in unsere Küche gekommen und hatte die Einrichtung zerstört. Das war ich selbst gewesen. Ich allein.

Leise fragte ich: „Warum hast du mir das nicht schon längst gesagt?“

„Hatte ich vor. Aber die ersten Tage nach diesem Unfall hast du geweint und dir die Ohren zugehalten, wenn ich mit dir darüber sprechen wollte. Du wolltest auch partout nicht mehr, dass ich Bäume für dich mache.“ Mit einem traurigen Lächeln hob er die breiten Schultern. „Je mehr Zeit verging, desto weniger schienst du zu wissen, wovon ich überhaupt spreche.“ Er drehte eine Ladung Spaghetti mit der Gabel auf. „Ehrlich gesagt war ich ganz froh, dass du das alles vergessen hattest.“

Tränen brannten in meinen Augen. „Die Wingdale, ist das eine Schule für …“, ich machte unwillkürlich eine Pause, „Leute wie mich?“

„Feather …“ Dad ließ meine Hand unter seiner eigenen verschwinden und sagte einfühlsam: „Die Wingdale Academy ist für Menschen, die auf wundervolle Weise mit den Elementen verbunden sind. Ich habe dich hergebracht, damit du lernst, deine Gabe zu beherrschen.“ Er nahm seine Hand zurück. „Spätestens wenn du deine Wohnungseinrichtung selbst bezahlen musst, wirst du es mir danken. So ein Wirbelsturm im Wohnzimmer kann rasch teuer werden.“ Entgeistert starrte ich Dad an, bis er breit grinste. „Du solltest dein Gesicht sehen, Feather.“

Ich sah mein Gesicht nicht, dennoch war ich überzeugt, dass es ziemlich passend war. Was Dad mir gerade eröffnet hatte, klang verrückt und abgedreht. Dennoch waren da all die Guten-Appetit-Bäume, an die ich mich jetzt wieder glasklar erinnerte. Allerdings waren da auch die Erinnerungen an ein paar sehr seltsame Vorfälle, in denen heftige Windböen und unerklärliche Luftstöße in geschlossenen Räumen eine Rolle spielten. Paige hatte also recht, ich war ein Freak.

4

Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, gelang es mir tatsächlich, die zwar mittlerweile lauwarmen, aber dennoch vorzüglichen Spaghetti aufzuessen. Mein ursprünglicher Fragenkatalog hatte ein bisschen an Bedeutung verloren, denn plötzlich ging es nicht mehr nur um Dads komisches Verhalten, sondern auch um mich. Mir schossen so viele neue Fragen in den Kopf, dass mir davon ganz schwindelig wurde. Leider schaffte ich es nicht, auch nur eine einzige halbwegs sinnvoll zu formulieren, weshalb ich sicher klang wie der Titelsong einer beliebten Kinderserie. Wieso … weshalb … warum …?

Dad antwortete so gut es ging auf mein Gestammel und versprach mir, dass ich das alles schon bald verstehen würde.

Als wir das Stonery verließen, dämmerte es bereits. Wir setzten uns ins Auto und fuhren weiter. Dad kannte sich wirklich gut aus, denn wir folgten erst einer gut ausgebauten Landstraße, bogen auf immer schmalere Wege ab und krochen schließlich über einen holprigen Feldweg dahin.

Das alles war für einen einzigen Tag ganz schön viel gewesen. Mit halb geschlossenen Augen ließ ich mein Haupt gegen die Kopfstütze sinken. Die Dunkelheit und das sonore Brummen des Motors machten mich schläfrig, aber es gab eine Sache, die ich unbedingt noch wissen wollte, weil sie meine Gedanken unablässig kreisen ließ.

„Dad?“

„Hm?“

„War sie auch …?“

„Deine Mum?“ Dad holte Luft, um zu einer Antwort anzusetzen, doch dann schüttelte er nur den Kopf. Scheinbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen.

Ich nickte, bohrte aber nicht weiter nach. Der Wagen ruckelte über eine Bodenwelle, als wir erneut abbogen. WingdaleAcademy stand auf einem Schild, das wohl auch schon mal bessere Zeiten erlebt hatte. Wir durchquerten ein weit geöffnetes Tor und ich richtete meine Aufmerksamkeit gespannt auf das schwach beleuchtete Gebäude vor uns. Es lag einsam da, zumindest konnte ich in der Dunkelheit keine weiteren Lichter ausmachen.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ein Schloss vielleicht? Ein Herrenhaus? Zumindest war der Anblick des alten Kastens ernüchternd. Er sah im Scheinwerferlicht absolut gewöhnlich und schulmäßig aus. Eine breite Treppe führte zu einem Eingang, über dem sicherheitshalber noch einmal Wingdale Academy stand. Die Fenster auf zwei Etagen blickten schwarz auf mich herab und wirkten fast ein wenig bedrohlich.

War das nicht ein Internat? Sollten dann nicht auch Schüler hier wohnen? Wo waren die alle?

„Ähm … sieht geschlossen aus“, sagte ich verunsichert.

Dad hingegen schien von neuen Lebensgeistern gepackt. Er grinste nun wieder und stellte den Wagen ab.

„Da sind wir, Feather.“ Er sprang vom Fahrersitz und lief zum Kofferraum, doch ich blieb sitzen.

War das hier so etwas wie eine Militärschule und die Schüler mussten um diese Uhrzeit längst im Bett liegen?

Unsicher, ob mir das alles gefiel, betrachtete ich argwöhnisch das wenig einladende Gebäude. Plötzlich gingen die Lampen links und rechts vom Eingang an. Die Tür wurde geöffnet und im Gegenlicht konnte ich drei Gestalten ausmachen, die sich auf den Treppenabsatz drängten.

Dad schlug den Kofferraum zu und eilte auf die kleine Ansammlung zu.

Neugierig geworden, stieg ich nun doch aus. Kaum hatte ich die Füße auf den Boden gesetzt, spürte ich eine leichte Erschütterung und zog sie gleich wieder zurück.

Da hörte ich die erfreulich freundliche Begrüßung.

„Herzlich willkommen, Mr Leary!“, rief eine weibliche Stimme.

Und eine männliche: „George, alter Junge! Du hast dich ja gar nicht verändert.“

Dad antwortete: „Stan! Das gibt’s doch nicht!“ Und schon gingen die einzelnen Stimmen in einem fröhlichen Durcheinander unter.

Die Gruppe verlegte ihre Begrüßung nun ins Innere des Gebäudes, und da ich befürchten musste, draußen vergessen zu werden, beeilte ich mich hinterherzukommen. Nicht dass die Tür noch vor meiner Nase geschlossen wurde. So wie ich die Sache sah, gab es hier niemanden, der mein Klopfen hören würde, um mich reinzulassen.

Wir befanden uns in einer großen Eingangshalle, die mehr oder weniger wie in jeder gewöhnlichen Schule aussah. Eine Treppe führte ins obere Stockwerk, eine Hinweistafel informierte über Schulinterna, Wasserfarbbilder hingen an den Wänden und in einer Glasvitrine waren Pokale ausgestellt. Auf ein in knalligem Orange gehaltenes Plakat war ein Zettel geheftet, auf dem eine fette Acht prangte. Darüber stand in großen Lettern Countdown.

Dad war umringt von zwei Frauen und einem Mann, die sich offensichtlich wirklich freuten, ihn zu sehen.

Dad sagte gerade zu der älteren der beiden Frauen mit einer leichten Verneigung: „Mrs Graham! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen.“

„Du weißt, ich bin für Geschleime jedweder Art absolut unempfänglich“, erwiderte sie kühl, fügte dann aber lächelnd hinzu: „George, komm, lass dich umarmen!“

Dad schloss die schlanke Frau in die Arme. Diese Mrs Graham trug ein tailliert geschnittenes dunkles Kostüm und ihre grauen Haare in einer flotten Kurzhaarfrisur. Sie hatte eine beinahe Ehrfurcht gebietende Ausstrahlung, was entweder an ihrer sehr geraden Haltung, dem ernsten Gesicht oder dem stechenden Blick liegen mochte. Dieser fiel dann auch auf mich, als Dad sie wieder losließ.

„Und das ist Feather?“, fragte sie.

Gut, mein Auftauchen in der Wingdale kam also nicht für alle so überraschend wie offensichtlich für meinen Dad. Schon wieder sah er mich an, als hätte er hier nicht mit mir gerechnet. Nachdem er kurz gestutzt hatte, winkte er mich zu sich.

„Feather, das ist Mrs Graham. Sie unterrichtet Mathe, Physik und Wind und Wetter.“

Ich war zu nervös, um mich über diese Fächerkombination zu wundern, da Mrs Graham mich einer intensiven Betrachtung unterwarf. Jetzt war ich sicher, es war ihr Blick, und mit diesem schien sich mich geradezu zu durchleuchten.

„Wie ich höre, kommst du nach deinem Vater?“, fragte sie. Schüchtern nickte ich und sie sagte mit einem Zwinkern: „Nun ja, es gibt Schlimmeres. Ich bin so froh, dass ihr hier seid. Besonders, weil ich jetzt endlich alle Verantwortung an dich abtreten kann, George. Schulleitung ist nichts für mich.“

Dad räusperte sich und drehte sich erst zu mir und dann in Richtung der zweiten, noch ziemlich jungen Frau. „Feather, das ist Mrs Downright. Lehrerin für Sprachen, Kunst und Wellenschlag.“

„Hallo, Feather“, sagte Mrs Downright und reichte mir die Hand. Sie war ein wenig füllig und etwa genauso groß wie Mrs Graham, wirkte aber deutlich kleiner, da sie die Schultern hängen ließ. Dennoch war ihr Lächeln strahlend und sehr sympathisch.

Nun wandte Dad sich an den Mann, der etwa in seinem Alter war. „Und das ist der einzigartige Lehrer für Geschichte, Sport und Bodenhaftung“ – er machte eine Pause, die wie für einen Trommelwirbel geschaffen gewesen wäre – „Mr Houseman.“

Mr Houseman lachte kurz und schüttelte mir mit einem kräftigen Griff die Hand. Er war schmal und ziemlich blass. Insgesamt eher der Typ, den man leicht übersehen hätte, wäre da nicht die Sonnenbrille gewesen, die er trotz der späten Stunde trug.

Ein Kichern ließ mich nach oben blicken. Zwei Schüler schienen sich im oberen Stockwerk versteckt zu haben, um uns Neuankömmlinge in aller Ruhe ausspähen zu können. Als sie bemerkten, dass ich sie entdeckt hatte, zogen sie sich ertappt in die Schatten zurück.

„Stevie, Linda“, ertönte eine Frauenstimme, „Nachsitzen für euch beide! Und jetzt sofort in eure Schlafräume!“

„Ja, Mrs Drissel“, kam es zerknirscht zurück und die noch sehr jungen Schüler huschten mit eingezogenen Köpfen an ihr vorbei, durchquerten die Halle und verschwanden im hinteren Teil des Gebäudes.

Die als Mrs Drissel angesprochene Frau war auf halber Treppe stehen geblieben, als wollte sie den Anwesenden Gelegenheit geben, ihren Auftritt gebührend zu genießen. Verständlich, normalerweise musste man ins Kino gehen, um so etwas geboten zu bekommen.

Sie sah umwerfend aus, wie eine Filmdiva. Ihr hellblondes Haar trug sie zu einem Pagenkopf geschnitten, den sie auf der linken Seite hinter das Ohr geschoben hatte. Die vollen Lippen waren in einem matten Rot geschminkt, die langen Wimpern schwarz getuscht, auf den hohen Wangenknochen lag ein Hauch Rouge.

Sie hatte einen sandfarbenen Rollkragenpullover an, der sich hauteng an ihre gute Figur schmiegte, ebenso wie die schwarze Hose. Erst hielt ich die hohen Absätze auf der Treppe für etwas gewagt, doch sie zerstreute alle meine dahin gehenden Bedenken, als sie geschmeidig wie eine Raubkatze die Stufen hinunterschwebte.

„Guten Abend, George“, sagte sie und riss mich aus meiner Starre. Ich drehte mich zu Dad um, der aussah, als hätte er ein Gespenst gesehen. Und zwar eins von der gruseligen Sorte, wenn ich den entsetzten Ausdruck richtig deutete.

„Esther?“, fragte er tonlos.

„Ich konnte es nicht fassen, als ich gehört habe, wer den Posten des Schulleiters bekommen hat.“ Sie sagte es vollkommen ruhig, beinahe amüsiert.

„Esther“, wiederholte Dad fassungslos.

„Mal sehen, wie lange du es diesmal hier aushältst.“

„Esther!“ Diesmal presste er es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und warf Mrs Graham dabei einen vorwurfsvollen Blick zu. „Welche Überraschung, dich zu sehen.“

Oha, dachte ich. Es hatte ihm wohl niemand gesteckt, dass Mrs Drissel auch hier unterrichtete. Oder es sogar absichtlich verschwiegen?

Mrs Graham zuckte jedoch nur mit den Schultern und erklärte an mich gewandt: „Das ist Mrs Drissel. Sie unterrichtet Biologie, Chemie und Feuerwerk.“