Feather & Rose, Band 2: Hohe Wellen, tiefe Gräben - Claudia Siegmann - E-Book

Feather & Rose, Band 2: Hohe Wellen, tiefe Gräben E-Book

Claudia Siegmann

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Beschreibung

Feuer, Wasser, Erde, Luft oder Liebe - was ist dein Element? So hat sich Rose ihren Start ins neue Schuljahr an der Wingdale Academy nicht vorgestellt. Ihre beste Freundin Feather hat kaum noch Zeit für sie, der attraktive neue Schüler Callan bringt Rose mit seinem Verhalten ständig auf die Palme und zu allem Überfluss bekommt sie jetzt auch noch Einzelunterricht, um endlich ihr Element Wasser kontrollieren zu können. Wenn sie das nicht schafft, schweben alle um sie herum in Lebensgefahr … Tauche ein in die faszinierende Welt von Feather & Rose: Band 1: Ein Sturm zieht auf Band 2: Hohe Wellen, tiefe Gräben

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Seitenzahl: 417

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2023 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023 Ravensburger Verlag Text © 2023 by Claudia Siegmann Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Cover- und Innenillustrationen: Mila Marquis Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51191-4

ravensburger.com

1

Ehrlich gesagt hatte ich angenommen, den anstrengendsten Teil meiner bisher zwanzigstündigen Rückreise hinter mir zu haben. Da lag ich ja mal gründlich daneben.

Ich hatte die Ferien zu Hause bei meiner Familie in Hawaii verbracht, genauer gesagt auf der Insel Oahu, und war jetzt auf dem Rückweg zur Wingdale Academy. Nach einem langen Flug mit zwei Zwischenstopps saß ich nun im Anschlussflieger von London nach Exeter. Es war der letzte Ferienfreitag und unser Flugzeug sollte gegen Mittag landen. Also hatte ich noch ein ganzes Wochenende, um mich zu erholen und mit der Zeitverschiebung klarzukommen.

Obwohl ich echt geschafft war und gern für ein paar Minuten die Augen zugemacht hätte, gelang es mir einfach nicht abzuschalten. Das hatte genau drei Gründe. Erstens war ich ziemlich aufgewühlt, denn ich vermisste meine Eltern und Großeltern jetzt schon schmerzlich. Und natürlich auch alle Verwandten und Freunde, die uns während meines Aufenthaltes besucht hatten. Es war toll gewesen, sie wiederzusehen, besonders, wenn wir uns abends für ein ausgiebiges Luau unter dem fantastisch funkelnden Sternenhimmel zusammengefunden hatten. Wie bei einem solchen Festmahl üblich, hatten wir stundenlang zusammengesessen, geredet und gelacht.

Glücklicherweise hatten alle selbst so viel zu berichten gehabt, dass ihnen gar nicht aufgefallen war, dass ich auf bestimmte Fragen nur sehr ausweichend geantwortet hatte.

Wie hätte ich meiner Familie, in der fast jeder ein Elementverbundener ist, denn auch erklären sollen, dass Wasser und ich uns nicht gut verstanden. Gelinde gesagt. Um genau zu sein, hatten wir ständig Krach miteinander und ich fragte mich ernsthaft, ob Elemente auch so etwas wie eine Pubertät durchmachten. Wenn ja, steckte Wasser mittendrin, zumindest würde das die ständigen Stimmungsschwankungen erklären.

Gedankenverloren griff ich nach meinem Anhänger mit der seltenen schwarzen Perle und lächelte. Meine Ferien zu Hause waren nämlich trotz allem unglaublich schön gewesen und ich freute mich schon so sehr darauf, meiner besten Freundin Feather von all den aufregenden …

„Rose!“

Ach ja. Der zweite Grund, der mich vom Dösen abhielt. Hätte ich fast vergessen. Er saß direkt neben mir, hieß Louis und zupfte an meinem Ärmel. Schon zum tausendsten Mal, seit wir im Flieger waren.

Louis war schätzungsweise zehn Jahre alt und seine Eltern, die, warum auch immer, zwei Reihen weiter vorn saßen, schienen ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass ich die Babysitterin für den nervigen kleinen Kerl spielen wollte.

Ich ließ die Perle im Ausschnitt meines T-Shirts verschwinden und fragte: „Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Wir sind ganz schön hoch oben, oder?“

„Ja. Wir fliegen. Das macht man für gewöhnlich in großer Höhe.“

Louis drückte sich tiefer in seinen Sitz. „Das macht mir aber Angst.“

„Du solltest dir eher Sorgen machen, wenn wir an Höhe verlieren“, sagte ich und ließ meine flache Hand in einem steilen Winkel nach unten sausen. Louis wurde bleich und riss die Augen auf. Da er aussah, als würde er gleich anfangen zu weinen, sagte ich schnell: „He, keine Sorge! Uns wird schon nichts passieren.“ Zum Beweis deutete ich aus meinem Fenster, durch das nichts als strahlendes Blau und ein aus schneeweißen Wolken geknüpfter Teppich zu sehen war. „Siehst du? Alles okay.“

Louis blinzelte vorsichtig an mir vorbei nach draußen und eine Flugbegleiterin, die neben uns im Gang stehen geblieben war, bestätigte lächelnd: „Keine Angst, junger Mann. Alles ist in bester Ordnung. Glaub deiner Schwester ruhig.“

„Freundin“, korrigierte Louis sie sofort.

„Weder noch“, stellte ich klar. Die Flugbegleiterin nahm mich daraufhin genauer in Augenschein. Ich sah ihr an, dass sie erwog nachzufragen, doch dann fiel ihre Aufmerksamkeit auf meine Haarspange. „Oh, die ist ja schön. Ist die echt?“

Verunsichert tastete ich nach der handtellergroßen Blüte, die so offensichtlich nicht echt war, dass ich mir langsam veralbert vorkam, denn sie war nicht die Erste, die das fragte.

Die künstlichen Blütenblätter waren unten gelblich grün eingefärbt und liefen dann in ein kräftiges Violett mit Sprenkeln in einem geradezu giftig leuchtenden Pink aus. Unter meinem Bett in der Wingdale Academy befand sich eine ganze Kiste mit Blütenspangen und bei einigen musste man schon sehr genau hinsehen, um herauszufinden, ob sie natürlichen Ursprungs waren oder nicht. Aber diese hier sah aus wie aus einem Kaugummiautomaten und ich trug sie nur, weil sie ein Abschiedsgeschenk meines Großvaters war. Bestimmt hätte ich gar nicht weiter darüber nachgedacht, wenn mich nicht lauter Wildfremde darauf angesprochen hätten. War Geschmacksverirrung ansteckend?

Die Flugbegleiterin versicherte mir noch einmal, wie gut ihr die Spange gefiel, und ging dann weiter durch den schmalen Gang nach vorn. Ich sah ihr gedankenverloren nach, bis sie erneut stehen blieb. Neben Grund drei übrigens, weshalb ich auf dem letzten Abschnitt meiner Reise keine Ruhe fand.

Ich beugte mich leicht zu Louis, um eine bessere Sicht in den Gang zu haben. Grund drei war nämlich ein unverschämt gut aussehender Junge, der mir bereits am Flughafen Heathrow aufgefallen war.

Er hatte hellbraunes Haar, das ihm sanft gewellt bis zum Kinn reichte. Ich mochte die Art, wie er es zurückstrich, es sah gleichzeitig selbstbewusst und schüchtern aus. Sein Alter war schwer zu schätzen, denn er war groß und sportlich gebaut, aber sicher war er nicht älter als sechzehn.

Als ich mitbekommen hatte, dass er ebenfalls nach Exeter flog, hatte ich gehofft, darüber mit ihm ins Gespräch zu kommen. Das hatte mir dann Louis gründlich versaut. Wie aus dem Nichts war er vor mir aufgetaucht und hatte Schokoladeneis auf mein weißes T-Shirt geschmiert.

Da ich zu diesem Zeitpunkt noch angenommen hatte, ihn nie wiederzusehen, hatte ich kein großes Drama aus der Sache gemacht. Schon allein, um mich vor dem interessanten Fremden möglichst lässig zu geben.

Jetzt machte ich einen langen Hals, um den Unbekannten beobachten zu können. Meine Güte, was für ein Profil der Typ hatte! Nase und Kinn waren genau im richtigen Verhältnis, markant, aber nicht zu stark ausgeprägt. Schöne Wangenknochen und breite Brauen. Seine Augenfarbe war irgendwie golden braun, wenn ich mich nicht irrte, leider war ich noch nicht nah genug an ihn herangekommen, um das genau feststellen zu können. Jedenfalls waren sie nicht ganz dunkel und es lag ein unglaubliches Leuchten darin. Ach, wie gern hätte ich einmal tief hineingesehen.

Er schenkte der Flugbegleiterin ein Lächeln, von dem mir selbst auf die Entfernung ganz warm wurde.

„Dreh dich um“, flüsterte ich flehentlich. „Bitte, bitte, dreh dich nur einmal um!“

„Wer?“, fragte Louis. Ich bemerkte erst jetzt, dass unsere Köpfe sehr nah beieinander waren, und rückte verärgert ein Stück von ihm ab. Der ließ aber nicht locker. „Wer soll sich umdrehen?“

„Du!“, motzte ich. „Guck einfach nach vorn, ja?“

Warum hatte das Schicksal mir nicht einen Sitzplatz neben diesem Traumtyp vergönnt? Stattdessen hockte ich zwischen Fenster und Louis eingepfercht, der gerade meine Schulter als Verlängerung einer imaginären Straße für sein Spielzeugauto nutzte.

„Lass das!“, sagte ich.

„Warum?“, fragte Louis.

„Weil sonst das hier passiert.“ Gereizt schnappte ich mir das Auto und steckte es in meine Hosentasche. „Das kriegst du erst wieder, wenn wir gelandet sind.“

Die Flugbegleiterin ging weiter und von dem Fremden waren jetzt nur noch die Spitze eines Turnschuhs und sein Ellbogen auf der Armlehne zu sehen.

So ein Mist!

Frustriert wandte ich den Blick aus dem Fenster. Ich dachte an das umwerfende Lächeln des Fremden und stellte mir vor, er hätte es mir geschenkt. Hach, ich würde es charmant erwidern und er würde aufstehen und durch den Gang auf mich zukommen. Da der Platz neben mir nun frei war, weil Louis sich praktischerweise entschieden hatte, mit einem Fallschirm früher auszusteigen, würde der Fremde sich neben mich setzen. Er würde mich nach meinem Namen fragen. Rose, würde ich sagen. Ein wirklich schöner Name, würde er antworten und fragen, was ich so machte. Ich würde sagen, dass ich auf die Wingdale Academy, die allerbeste Schule der ganzen Welt, ging. Beeindruckt würde er sich nach meinen Eltern erkundigen und ich würde bescheiden erwähnen, dass mein Vater ein Nachkomme der letzten hawaiianischen Königin war, was mich aber nicht zu einer Prinzessin machte. Zumindest nicht außerhalb meiner Familie, woraufhin er …

„Autsch!“ Fassungslos wehrte ich Louis ab, der mir die Spange aus dem Haar reißen wollte. „Sag mal, geht’s noch?“

Louis griff erneut zu. Mit einem gezischten Schmerzenslaut fasste ich an die Stelle, an der eben noch die Spange gesteckt hatte. Louis katapultierte sich vom Sitz und machte sich mit seiner Beute in Richtung Bordtoilette aus dem Staub.

Im Nullkommanichts war auch ich auf den Beinen. Der hatte sie doch nicht alle!

„Bleib stehen!“, rief ich wütend und wollte ebenfalls loslaufen, da krachte Louis bereits in die Flugbegleiterin.

Louis dachte jedoch gar nicht daran, sich aufhalten zu lassen, und schlüpfte an der völlig überrumpelten Frau vorbei.

„He, langsam, junger Mann!“ Sie sah erst Louis nach, dann wandte sie sich an mich. „Ist alles okay bei euch? Kann ich irgendwie helfen?“

Ich zögerte. Ein paar Fluggäste hatten neugierig aufgeblickt, doch die meisten schenkten uns keine weitere Beachtung. Wahrscheinlich hielten auch sie uns für Geschwister, die sich wegen einer Kleinigkeit gestritten hatten. Ausgerechnet der Unbekannte jedoch hatte sich umgedreht und sah mich an. Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg.

„Nein, alles gut“, behauptete ich mit einem gezwungenen Lächeln und schob mich an der Flugbegleiterin vorbei. Dabei konnte ich einen Blick auf Louis’ Eltern werfen und erkannte, dass beide Ohrstöpsel und Schlafmasken trugen. Aha. Es war wohl nicht die erste Reise mit ihrem kleinen Sonnenschein.

Ich ging weiter bis zur Toilette, die ich verschlossen vorfand.

„Louis?“

Keine Antwort.

Ich klopfte. „Louis, mach sofort auf.“

„Geh weg!“

„Erst, wenn ich meine Spange wiederhabe.“

Stille.

Ich atmete tief durch und änderte meine Strategie. Mit gezwungen freundlicher Stimme sagte ich: „Louis, ich gebe dir auch dein Auto zurück.“

„Das kannst du behalten.“

Dieser miese kleine … Verärgert rüttelte ich an der Tür. „Gib mir meine Spange zurück!“

Aus dem Inneren der Toilette waren plötzlich ein Rauschen und ein ängstlicher Laut zu hören. Die Tür sprang auf und ein pitschnasser Louis stieß gegen mich, als er hastig flüchten wollte. Wasser sprudelte aus dem Hahn in ein kleines Waschbecken, lief von da auf den Boden und strömte schon aus der engen Kabine in den Gang.

„Moment“, sagte ich und packte Louis an den Schultern. „Wo ist meine Spange?“

Er versuchte, sich von mir loszumachen, und ich nahm hinter ihm eine Bewegung wahr. Fassungslos sah ich zu, wie sich das Wasser aus dem Becken erhob und zu einer Hand mit fünf Fingern formte. Diese Hand streckte sich nach Louis aus und holte wie zu einer saftigen Ohrfeige aus.

„Nein! Stopp!“, rief ich entsetzt und legte schützend die Arme um Louis.

Die Hand erhob sich über uns, winkte mir frech zu und zerbarst wie ein mit Wasser gefüllter Ballon, wodurch auch ich gehörig nass wurde.

Jetzt hatte es sich das Wasser endgültig mit mir verscherzt! Nicht nur, dass es einen kleinen Jungen hatte angreifen wollen, der zwar supernervig, aber trotzdem nur ein Kind war, sondern es hatte das auch noch in aller Öffentlichkeit getan. Wie leicht hätte das jemand beobachten können?

„Verdammt noch mal!“, entfuhr es mir und ich drehte den noch immer laufenden Wasserhahn zu. „Ich wünschte echt, ich wäre nicht mit dir verbunden. Du bist ja total übergeschnappt.“

Kaum hatte ich das gesagt, geriet ich ins Wanken. Zuerst dachte ich, ich sei auf dem nassen Boden ausgerutscht, doch dann wurde mir klar, dass der ganze Flieger wackelte. Ich hörte, wie der Pilot eine Durchsage machte, in der er von unerwarteten Turbulenzen sprach, während ich von den Füßen gerissen wurde und zusammen mit Louis in die winzige Kabine kippte und dort gegen die Wand krachte.

Eine Warnlampe mit einem Anschnallzeichen leuchtete untermalt von einem energischen Signalton auf. Dann war deutlich zu spüren, wie das Flugzeug absackte. Wir hingen schwerelos in der Luft, bevor wir auf der anderen Seite gegen die Wand geworfen wurden und neben der Toilettenschüssel auf dem Hosenboden landeten.

Die Toilettentür knallte zu, flog wieder auf, knallte erneut zu, wodurch die aufgeregten Stimmen der übrigen Passagiere nur abgehackt zu mir durchdrangen. Zum Glück, denn Louis’ verängstigtes Gewimmer und das dumpfe Dröhnen der stotternden Triebwerke reichten mir schon.

Panik erfasste mich, als mir klar wurde, dass es meine Schuld war. Ich hatte uns alle in Gefahr gebracht. Durch meine unbedachte Äußerung hatte ich mein Element beleidigt und nun reagierte es sich an dem Flugzeug mit den vielen unschuldigen Menschen und Louis darin ab. Auch wenn ich keine Wolkenexpertin bin, wusste ich doch, dass diese aus vielen feinen Wassertröpfchen oder Eiskristallen bestanden. Also war selbst der Himmel kein geeigneter Ort, sich mit Wasser anzulegen.

Schnell! Ich musste das aufgebrachte Element wieder beruhigen. Aber wie? Ihm ein Kompliment machen?

„Hör mal, es tut mir leid, ja?“, rief ich versuchsweise. „Du bist ganz wundervoll, ehrlich.“

„Danke“, schluchzte Louis, der sich zitternd an mir festklammerte und mit mir gemeinsam über den schwankenden Boden rutschte.

Es rumpelte abermals, die Tür schwang auf und ich konnte sehen, dass es nun viel dunkler in dem Flieger war, so als hätte jemand von Tag auf Nacht geschaltet. Die Tür schlug wieder zu und klemmte mir dabei den Knöchel ein. Ich schrie nur deshalb nicht auf, weil Louis im selben Augenblick gegen meinen Brustkorb donnerte und mir kurz die Luft wegblieb. Trotzdem stieß ich ihn nicht von mir, sondern hielt ihn fest, damit er nicht herumgeschleudert wurde. Das mochte sinnlos sein, denn wenn wir wirklich abstürzten, würde ich ihn nicht beschützen können, doch es war das Einzige, was ich gerade tun konnte.

Ich schloss die Augen, spürte, wie mir das Wasser aus den Haaren über das Gesicht rann, und unternahm einen letzten verzweifelten Versuch der Kontaktaufnahme.

„Bitte“, flüsterte ich so leise, dass nicht mal Louis es hören konnte. „Ich weiß ja, dass es mit mir auch nicht immer einfach ist. Vielleicht gebe ich mir auch zu wenig Mühe, dich zu verstehen. Ich verspreche dir, mich zu bessern, wenn du uns am Leben …“

Vergebens. Alles wurde still und es fühlte sich an, als stürzte das Flugzeug nun endgültig ab und bescherte mir einen letzten Augenblick der Schwerelosigkeit, so leicht fühlte ich mich auf einmal.

„He“, fragte jemand und rüttelte mich sanft. „Alles gut bei dir?“

Verwundert öffnete ich die Augen und begriff, dass die Leichtigkeit daher rührte, dass jemand Louis von mir gehoben hatte. Und zwar der schöne Unbekannte, der sich nun mit besorgter Miene über mich beugte.

Ich blickte tief in seine Augen und registrierte, dass sie bernsteinfarben waren. Wie außergewöhnlich. Mir wurde von seinem intensiven Blick ganz schwummerig und ich hauchte: „Hi, ich bin Prinzessin Rose, die allerbeste Schülerin der Welt.“

„Okay“, erwiderte er und rief über seine Schulter: „Wir brauchen hier einen Arzt.“

2

Prinzessin Rose, die allerbeste Schülerin der Welt? Ich versank nur deshalb nicht im Erdboden, weil wir uns so hoch oben im Himmel befanden. Um mich aus dieser oberpeinlichen Situation zu retten, blieb ich einfach mit geschlossenen Augen liegen.

Tatsächlich befand sich an Bord eine Ärztin, die den Unbekannten verscheuchte, um mich untersuchen zu können. Ich versicherte ihr, dass alles in Ordnung war, dass ich nur einen Schreck wegen der Wackelei bekommen und gedacht hatte, es sei besser, sich flach hinzulegen.

Die Ärztin stellte dann auch fest, dass mir nichts fehlte. Dennoch bestand sie darauf, den Rest des Fluges neben mir zu sitzen, nachdem sie erfahren hatte, dass ich allein reiste. Ich stimmte sofort zu, denn dadurch war ich Louis endlich los. Der war ebenfalls nur mit einem Schrecken davongekommen und zum Trost ins Cockpit eingeladen worden. Bevor Louis freudestrahlend abgezogen war, hatte er mir noch meine Spange zurückgegeben.

„Wow! Die ist ja schön“, sagte die Ärztin, als sie mir dabei zusah, wie ich die Spange wieder in die Haare steckte.

„Die ist nicht echt“, sagte ich, um weiteren Fragen vorzubeugen.

„Na, das hoffe ich.“ Sie nahm lachend mein Handgelenk und prüfte zum vierten Mal meinen Puls. „Sonst bekommst du noch Ärger am Zoll. Wegen Verstoßes gegen das Artenschutzgesetz.“

„Mhm“, machte ich und fragte mich, ob das ein Scherz sein sollte. Wenn ja, war er lahm. Was fanden die Leute nur an dieser Spange?

Wir landeten und damit ich nicht versehentlich dem schönen Fremden in die Arme lief und bei der Gelegenheit vor Scham doch noch im Boden versank, ließ ich mir viel Zeit beim Aussteigen. Ich kramte meinen mintgrünen Cardigan aus dem Rucksack und band ihn mir um die Hüften, damit er meine an einer ungünstigen Stelle nasse Hose bedeckte. Ja, in Sachen Chaos machte ich keine halben Sachen.

Die Ärztin wartete auf mich. Ich hatte ihr erzählt, dass ich ein Internat besuchte und mich jemand von der Wingdale Academy am Flughafen auflesen würde. Die Ärztin wollte diesen Jemand über den Vorfall an Bord in Kenntnis setzen, damit man mich noch eine Weile im Auge behalten und bei einsetzender Übelkeit oder Gedächtnislücken entsprechende Maßnahmen einleiten konnte.

Mir war das nicht so recht, denn ich hätte diesen beängstigenden Zwischenfall gern ganz verschwiegen. Die Wingdale Academy war ja nicht eine x-beliebige Schule, sondern eine für Elementverbundene. Die Turbulenzen an Bord würde man also für genauso zufällig halten wie einen Dienstag, der auf einen Montag folgt.

Sosehr ich auch trödelte, die hartnäckige Ärztin wich nicht von meiner Seite. Wir betraten die Passagierhalle, wo ich mich umsah. Ich drückte mir selbst die Daumen, dass mich Trudi abholte. Sie war die Hausmeisterin der Wingdale Academy und wir waren ganz gut miteinander befreundet. Sicher würde sie die Sache nicht breittreten und in der Schule nicht erwähnen.

Statt der jungen Hausmeisterin mit den hellroten Locken machte ich Mr Leary, den Schulleiter, aus. So ein Mist aber auch!

„Rose!“, rief der prompt und hob einen Arm zum Winken. „Rose! Hier drüben!“

Als ob ich ihn hätte übersehen können. Mr Leary war ja nur knapp zwei Meter groß und so breitschultrig, dass ich mich oft fragte, wie er durch Türen kam, ohne im Rahmen stecken zu bleiben.

Die Ärztin begleitete mich zu Mr Leary und berichtete ihm, was sich an Bord abgespielt hatte. Also, ihrer Meinung nach.

Mr Leary sagte nichts, ich spürte lediglich seinen ernsten Blick auf mir ruhen. Wenn ich Pech hatte, durfte ich erst wieder in ein Flugzeug steigen, sobald ich mein Abschlusszeugnis in der Tasche hatte.

Ich ließ meinen Blick über die Menschen in der Passagierhalle schweifen. War Feather auch da? Feather war nicht nur meine beste Freundin, sondern auch die Tochter des Schulleiters. Es war also gut möglich, dass er sie mitgebracht hatte.

Ich vermisste sie schrecklich und es hätte mich wirklich getröstet, ihr auf der Stelle in die Arme fallen zu können.

Leider konnte ich sie nirgends entdecken, dafür sah ich Louis, der einige Meter von seinen Eltern entfernt dastand und weinte.

Ich hatte wenig Mitleid. Wenn ich jetzt in Schwierigkeiten steckte, dann nur seinetwegen, denn er hatte mich so in Rage gebracht, dass ich mich mit Wasser angelegt hatte. Sollte Mr Leary mich diesbezüglich zur Rede stellen, würde ich die ganze Schuld ohne schlechtes Gewissen auf Louis schieben.

Die Ärztin empfahl noch, uns aus versicherungstechnischen Gründen ein paar Formulare der Airline geben zu lassen, und verabschiedete sich dann von mir.

Um Mr Leary abzulenken, fragte ich: „Ist Feather denn nicht mitgekommen?“

Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, dafür hat der Platz leider nicht gereicht.“

Verwirrt dachte ich an mein Gepäck. Klar, ich war lange weg gewesen, aber mein Koffer und die große Reisetasche plus Rucksack passten doch locker in einen normal großen Kofferraum.

„Äh …“, machte ich und bemerkte erst jetzt das große Schild in Mr Learys Händen. In der Mitte stand in großen, akkuraten Buchstaben WILLKOMMEN geschrieben. Und darunter Louis O’Rourke.

„Oh nein!“, stöhnte ich gequält. „Das kann doch nicht wahr sein!“

Doch, das war es. Louis, von dem ich gehofft hatte, ihn spätestens bis zum Abendessen vergessen zu haben, war einer der neuen Schüler, die nach den Ferien an die Wingdale Academy kamen. Seine Eltern, die eindeutig auch dann Ohrstöpsel und Schlafmasken trugen, wenn diese für andere nicht zu sehen waren, schienen überglücklich, dass Louis schon eine Freundin gefunden hatte. Bekamen die überhaupt was mit? Damit meinten sie allen Ernstes mich. Schließlich überantworteten sie Louis dem Schulleiter, als handelte es sich um ein explosives Päckchen, und gingen federnden Schrittes davon.

„Na, die haben es aber eilig“, brummte Mr Leary.

Ich sah zu Louis, der ein Stück hinter seinen Eltern hergegangen war und nun verloren mit seinem viel zu großen Rucksack dastand. Plötzlich tat er mir unendlich leid.

An Mr Leary gewandt fragte ich: „Sind seine Eltern nicht …?“

„Nein.“ Auch der Schulleiter hatte ihnen nachgeblickt und kratzte sich nun am Kinn. „Unverbundene. Sie konnten es wohl kaum erwarten, ihren Sprössling bei uns abzuliefern.“

Ja, sah ganz danach aus. Ich hatte schon davon gehört, dass manche Eltern, die selbst nicht mit einem Element verbunden waren, Probleme damit hatten, wenn ihre Kinder Verbundene waren. Diese Eltern waren dann schnell überfordert und hatten keine Ahnung, wie sie mit all dem umgehen sollten. Es konnte auch vorkommen, dass sie dann einfach Angst vor ihrem eigenen Kind und seinen Kräften hatten.

Ich ging zu Louis, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte: „Soll ich dir ein bisschen was von der Wingdale Academy erzählen?“

Louis, dem noch immer stumme Tränen über die Wangen liefen, nickte.

Mr Leary lächelte mir dankbar zu und sagte: „Rose, kann ich dich kurz mit Louis allein lassen? Ich hab noch was zu erledigen.“

„Klar“, sagte ich.

„Großartig.“ Mr Leary schaute auf seine Uhr. „Dauert auch nicht lange.“

Ich ging davon aus, dass er sich wegen dieser Versicherungsdinge am Schalter der Airline erkundigen wollte. Louis und ich konnten uns so lange auf eine Bank setzen und warten und uns danach in aller Ruhe um unser Gepäck kümmern. Das hatte den Vorteil, dass sich bis dahin alle anderen Passagiere inklusive des Unbekannten ihre Koffer sicher längst geholt hätten. Mir blieb ein Peinlichkeitsohnmachtsanfall, ausgelöst durch wunderschöne bernsteinfarbene Augen, also erspart.

„Bist du auch … so?“ Die Pause, die Louis vor dem letzten Wort gemacht hatte, und seine vage Handbewegung dabei ließen mich zusammenzucken.

„So?“

„So gefährlich.“

„Quatsch“, sagte ich und lachte, obwohl mir eher zum Heulen zumute war. Im Grunde war ich tatsächlich so. „Du bist doch nicht gefährlich. Und ich auch nicht.“ Wenigstens nicht absichtlich.

„Ich muss auf diese Schule“, erklärte Louis traurig, „weil ich Türen zuschmeißen kann, ohne sie anzufassen. Und ich werfe manchmal Sachen vom Tisch, obwohl ich ganz woanders stehe.“

„Aha“, sagte ich. Eindeutig ein Luftverbundener. „Keine Sorge. Du wirst sehen, auf der Wingdale gibt es ganz viele von uns.“

Louis kämpfte erneut mit den Tränen. Mir fiel das Spielzeugauto in meiner Tasche ein und ich zog es hervor, um es ihm zu reichen. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase und nahm es.

„Tschuldigung“, sagte er zerknirscht und deutete auf meine Spange.

„Schon gut“, erwiderte ich. „Eigentlich hab ich ja angefangen.“

Wir saßen da, ließen die Menschen an uns vorübergehen und ich beantwortete geduldig Louis’ Fragen, berichtete ihm, wie toll es auf der Wingdale war, beschrieb den gemütlichen Gemeinschaftsraum, in dem alle Altersstufen gern rumhingen, erzählte von den Automaten mit den leckeren Snacks in der Cafeteria und natürlich auch von den Lehrkräften. Nicht von allen, zugegebenermaßen. Ich verschwieg Mrs Drissel, unsere Lehrerin für Biologie, Chemie und Feuerwerk. Louis würde sie noch früh genug kennenlernen, kein Grund, ihm jetzt schon Angst zu machen.

„Übrigens ist Mr Leary auch ein Luftverbundener“, sagte ich stattdessen und wandte den Kopf, weil ich glaubte, den Schulleiter im Augenwinkel gesehen zu haben. Es war jedoch nur ein anderer großer und kräftig gebauter Mann, der einen Koffer auf Rollen hinter sich herzog.

„Und du?“, wollte Louis wissen. Er blickte mich nun geradezu ehrfürchtig an, was mir ehrlich gesagt ein klitzekleines bisschen gefiel.

„Wasser“, sagte ich.

„Ooooh.“

Ich nickte. „Dann gibt es noch Erde und Feuer.“

„Boah“, stieß Louis begeistert aus. „Feuer ist das tollste Element überhaupt. Damit kann man seine Feinde …“

„Stopp, stopp, stopp!“, rief ich und hob eine Hand. „An der Wingdale gibt es keine Feinde. Merk dir das gleich mal.“

Mir trat sofort das Bild von Ivory Singer vor Augen. Sie war schrecklich arrogant, hatte mich seit unserer ersten Begegnung auf dem Kieker und ließ keine Gelegenheit aus, mir eins auszuwischen. Gemessen an Louis’ Maßstäben fiel sie wahrscheinlich schon in die Kategorie Feinde, dennoch sollte Louis sich so was lieber gleich aus dem Kopf schlagen. Es gab viele nette Leute an der Schule, besser, er konzentrierte sich auf die. Vielleicht war Louis ja sogar ein Kandidat für den Wissenschaftsklub?

„Wie sind denn deine Noten so?“, hakte ich gleich mal nach.

„Die guten?“, fragte Louis zögerlich. „Oder die schlechten?“

Der Mann mit dem Rollkoffer kam wieder an uns vorbei und blieb etwa drei Meter von uns entfernt stehen. Er hatte die hellbraunen Haare über den Ohren und im Nacken kurz rasiert, das längere Deckhaar zu einem hohen Knoten gebunden und trug einen gepflegten, gestutzten Bart. Die halb hochgerollten Ärmel seines blauen Hemdes gaben den Blick auf gut gestochene Tattoos auf kräftigen Armen frei.

Er ließ seinen suchenden Blick auch über uns gleiten und mir fiel dabei die außergewöhnliche Farbe seiner Augen auf: Bernstein. Diese Farbe hatte ich doch erst kürzlich bei jemand anderem gesehen …

Als mir klar wurde, was das bedeutete, war es für ein gekonntes Abtauchen auch schon zu spät. Der Unbekannte aus dem Flieger eilte auf den Mann mit dem Rollkoffer zu.

„Dad!“

„Callan!“

Was wie eine Umarmung angefangen hatte, wurde zu einem halbherzigen Händedruck.

Er hieß also Callan. Ein schöner Name. Wie schade, dass ich die Chance auf einen ersten guten Eindruck gnadenlos in den Sand gesetzt hatte. Glücklicherweise schenkten die beiden ihrer Umgebung mit mir darin kaum Beachtung, so konnte ich sie weiter verstohlen mustern. Die Frage, woher Callan Größe und Statur hatte, war jedenfalls geklärt. Überhaupt ähnelte er seinem Vater sehr.

„Gut, dich zu sehen, mein Junge“, sagte dieser und wusste offenbar nicht, ob er Callan über den Kopf streichen oder ihm auf die Schulter schlagen sollte. „Bist ja ganz schön gewachsen.“

Callan lachte verlegen und ich fragte mich, wann die beiden sich wohl zuletzt gesehen hatten.

„Carl? Carl Craig!“

Ich fuhr herum, als ich Mr Learys laute Stimme vernahm. Er hatte noch immer das Schild mit Louis’ Namen in den Händen und kam schnell durch die Halle auf uns zu, lief jedoch an unserer Bank vorbei und steuerte Callans Vater an.

Anders als für seinen Sohn, breitete der als Carl Craig Angesprochene die Arme weit zur Begrüßung aus.

Mr Craig und Mr Leary umarmten sich herzlich, lachten und versicherten sich gegenseitig, wie alt und klein der jeweils andere in den letzten zwanzig Jahren doch geworden sei.

Ich stand auf und nahm Mr Leary das Schild ab, damit er nicht noch jemanden damit verletzte.

„Unglaublich, dass du jetzt der Direktor der Wingdale bist!“, rief Mr Craig unterdessen. „Ich hätte nicht gedacht, dass die dich jemals wieder da reinlassen, nachdem sie dich endlich los waren.“

„Von wegen! Angefleht haben sie mich zurückzukommen“, erwiderte unser Schulleiter ausgelassen. „Die Wingdale stand eben schon immer für Qualität.“

Mr Craig lachte. „Dann hat sich wohl nichts geändert, mein Großer!“

Die anderen Passagiere liefen kommentarlos an Mr Leary und Mr Craig vorbei, als wären die beiden Männer ein ganz und gar natürliches Hindernis mitten im Gang. Nur Callan hatte sich ein Stück zurückgezogen und verfolgte die Szene mit verschlossener Miene.

Mr Leary und Mr Craig fingen an, im Schnelldurchgang Namen zu nennen, auf die der jeweils andere mit Lachen, einem Zischlaut, vagen Handbewegungen oder heftigem Kopfschütteln reagierte. Fasziniert beobachtete ich unseren Rektor, der plötzlich wie ein Schuljunge wirkte, der gemeinsam mit einem Freund einen Streich ausheckte. Zumindest, bis ein Name fiel, der Mr Learys gute Laune von einem Moment auf den anderen wegwischte: Esther Drissel.

Was ich von ihr hielt, ließ sich mit einem einzigen Wort ausdrücken: Würg! Und so, wie Carl Craig ihren Namen betont hatte, war wohl auch er kein eingefleischter Fan von ihr.

„Ach!“ Mr Craig sah sich nach seinem Sohn um, winkte ihn heran und sagte: „Das hier ist übrigens Callan. Mein Jüngster.“

Mr Leary betrachtete Callan überrascht, dann gab er ihm die Hand. „Schön, dich kennenzulernen. Ich wusste gar nicht, dass du deinen Vater begleitest.“

Hatte er auch nicht, es sei denn, Mr Craig war in Callans Handgepäck gereist. Die beiden hatten sich erst hier getroffen. Mr Craig stellte das jedoch nicht klar, sondern zeigte auf Louis und mich.

„Schüler von dir?“

„Ja“, bestätigte Mr Leary. „Darf ich vorstellen? Louis, frisch eingetroffen. Und Rose.“

„Die allerbeste Schülerin der Welt“, ergänzte Callan grinsend.

„Wie bitte?“, fragte Mr Leary sichtlich irritiert, was Callan zum Lachen brachte.

„Callan!“, sagte Mr Craig in scharfem Ton.

Mir wurde ganz heiß, so sehr schämte ich mich. Klar, ich hatte genau das zu Callan gesagt, aber nur aus Versehen, quasi aus einer medizinischen Notlage heraus. War es wirklich nötig, es nun überall herumzuposaunen? Besonders vor unserem Schulleiter?

Mr Leary und Mr Craig sahen verständnislos zwischen Callan und mir hin und her und ich erklärte sauer: „Ich hatte mir den Kopf gestoßen.“

„Wohl nicht zum ersten Mal“, fügte Callan hinzu.

Ich machte den Mund auf, schloss ihn aber wieder. Sollte er doch über mich denken, was er wollte. Er sah toll aus, ja, das gab ihm aber noch lange nicht das Recht, einen miesen Charakter zu haben. Ich war Ivory-Singer-erprobt, um mich zu ärgern, musste er schon früher aufstehen.

„Komm mit, Louis“, sagte ich und schritt davon. „Holen wir unsere Koffer.“

Wie sich herausstellte, hatte Louis außer einem riesigen Rucksack nur noch einen kleinen Koffer dabei, und Callan reiste mit leichtem Gepäck. Zusammen mit Mr Craigs Rollkoffer passte das alles gerade so in den Kofferraum.

„Tut mir wirklich leid, Callan“, sagte Mr Leary nun schon zum hundertsten Mal, als wir wie die Ölsardinen in seinem Auto hockten. Louis war zwischen mir und Callan auf dem Rücksitz eingequetscht. Callan hatte den Kopf ein- und die Beine angezogen und Mr Craigs Sitz war so weit vorgeschoben, dass er die Windschutzscheibe fast mit der Nase berührte. „Hätte ich gewusst, dass du mitkommst, hätte ich einen größeren Wagen organisiert.“

Callan sagte: „Keine Sorge, Mr Leary. Es ist viel bequemer, als es aussieht.“

Callan hatte, anders als sein Vater, von dem ich nun wusste, dass er in England aufgewachsen und Schüler der Wingdale gewesen war, wie ich einen amerikanischen Akzent. Seine Stimme hätte mir bestimmt gefallen, wenn er bloß nicht so ein Idiot gewesen wäre.

„Es war eine, ähm, eher kurzfristige Planänderung, Callan mitzubringen.“ Craig senior drehte sich zu uns um. „Ich wollte ihm unbedingt die Schule zeigen, auf die ich damals gegangen bin. Er soll nicht glauben, dass ich so verwöhnt war wie er und seine hochwohlgeborenen Freunde heutzutage.“

Oha! Hörte ich da etwa leise Kritik heraus? Dennoch lachte Callan unbekümmert auf.

„Ich war doch nur auf dieser Schule für feine Pinkel, weil du dich nicht gegen Mom durchsetzen konntest.“

„Hm. Deine Mutter hatte einfach den besseren Anwalt“, brummte Mr Craig und drehte sich wieder nach vorn.

„Den Dad bezahlt hat“, raunte Callan niemand Bestimmtem zu.

„Dann bist du schon fertig mit der Schule?“, schlussfolgerte Mr Leary und musterte Callan durch den Rückspiegel.

Doch bevor dieser darauf antworten konnte, klatschte Mr Craig in die Hände und sagte laut: „Setz uns erst mal am Hotel ab, George, ja?“

Ich nickte vor mich hin. Eine ganz hervorragende Idee: Callan absetzen, weiterfahren, nie wiedersehen. Super!

Als wir etwa eine Viertelstunde später vor dem wahrscheinlich teuersten Hotel in Exmouth anhielten und die Craigs ausstiegen, atmete ich erleichtert auf. Und das nicht nur, weil die Rücksitzbank für drei definitiv zu eng war und meine Beine kurz davor waren, in den Tiefschlaf zu fallen. Es hatte mich richtig getroffen, wie Callan sich über mich lustig gemacht hatte. Warum hatte ausgerechnet er mich auf dem Boden liegend vorgefunden? Und warum war er überhaupt da gewesen? Bis zu dem Augenblick, als er Louis von mir gehoben hatte, hatte ja noch das reinste Chaos geherrscht. Hätte Callan nicht eigentlich hübsch angeschnallt auf seinem Platz bleiben müssen?

Für den Weg vom Hotel bis zur Schule saß Louis vorne bei Mr Leary. Das war meine Idee gewesen, damit die beiden sich ein bisschen unterhalten konnten. Auf jeden Fall wollte ich es so aussehen lassen. Der wirkliche Grund war, dass ich nicht von Mr Leary zu dem Vorfall im Flugzeug befragt werden wollte. Mit ein bisschen Glück würde der Schulleiter die Sache vielleicht ganz vergessen. Mein Plan, einfach alles einem fremden Jungen namens Louis in die Schuhe zu schieben, würde nun ja nicht mehr aufgehen und ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.

Als ich aus dem Fenster sah und erkannte, dass wir nicht mehr weit von der Wingdale Academy entfernt waren, hüpfte mein Herz vor Freude. Ich konnte es kaum erwarten, Feather endlich wiederzusehen.

Und Feather ging es offenbar genauso, denn sie stand in der offenen Tür zum Schulgebäude und als wir auf den Parkplatz fuhren, sprang sie die Treppenstufen runter und lief uns entgegen. Sie wartete kaum, bis das Auto anhielt, ignorierte das Gemecker ihres Vaters und riss meine Tür auf. Ich hatte mich bereits abgeschnallt und ließ mich von Feather vom Sitz reißen und in die Arme schließen. Wir lockerten die Umarmung und fingen an, synchron quiekend Luftsprünge zu machen. Mir liefen sogar ein paar Freudentränen über die Wangen.

Mr Leary, der kopfschüttelnd unser Gepäck auslud, fragte: „Freut ihr euch nur oder habt ihr euch wehgetan?“

„Witzig, Dad“, sagte Feather. Sie trat einen Schritt zurück und bemerkte dabei Louis, der ebenfalls ausgestiegen war und eingeschüchtert das Schulgebäude betrachtete. „Hallo! Ich bin Feather.“

Louis versuchte ein Lächeln und nahm den Koffer, den Mr Leary ihm reichte.

Ich entdeckte Alva und Mike auf der Treppe und winkte ihnen fröhlich zu. Mike war nicht nur der jüngste Schüler der Wingdale Academy, sondern auch der Präsident des hiesigen Wissenschaftsklubs. Ich fragte mich, ob er noch in unserer Klasse war oder zum Schuljahresbeginn zwei, drei Klassen überspringen würde. Alva war nicht viel älter als Mike und wie er ein echtes Genie. Sie fühlte sich allerdings so wohl an der Wingdale, dass ihr im Traum nicht eingefallen wäre, auch nur eine einzige Stunde zu überspringen.

Die Mitglieder des Wissenschaftsklubs wussten so viel über Dinge, die kaum jemanden interessierten. Wenn ich auch nur die Hälfte von dem verstand, was sie so von sich gaben, lief es für mich schon ganz gut.

Trotzdem hätte ich noch vor einem Jahr alles dafür gegeben, in den Klub aufgenommen zu werden. Ich hatte sogar schon zweimal die Aufnahmeprüfung gemacht und war jedes Mal so kläglich gescheitert, dass es für sich genommen schon wieder rekordverdächtig war. Irgendwie hatten mich die Mitglieder mit ihrer klugen Ausstrahlung einfach so beeindruckt.

Ähnlich erging es nun wohl auch Louis, denn er reagierte auf die mehrsprachig vorgetragene Begrüßungsrede mit aufgesperrtem Mund.

„Wäre sein Altgriechisch ein wenig besser“, kicherte Feather, „hätte er an dieser Stelle bestimmt gelacht.“

„Wieso? Wie gut ist denn deins?“, fragte ich verwundert.

„Rudimentär“, sagte Feather und gab sich ganz bedrückt. „Deshalb hätte ich ja zu gerne in den Ferien einen Altgriechischkurs belegt.“

Alva, die ihre dunklen, an den Spitzen gelockten Haare offen trug, schien den Witz nicht zu verstehen, denn sie sah Feather mitleidig an. Sie wirkte ziemlich müde, wie ich feststellte. „Hättest du doch was gesagt, Feather. Wir hätten einen solchen Kurs locker auf die Beine gestellt.“

Mr Leary lachte. „Die nächsten Ferien kommen bestimmt. Los, gehen wir erst einmal rein.“

Mike und Alva, die gar nicht daran dachten, ihre Rede mittendrin zu beenden, setzten diese nun im Gehen fort. Mit kleinen, schnellen Schritten blieben sie links und rechts vom Schulleiter, der den vollkommen überfordert wirkenden Louis vor sich herschob.

„Na, wenigstens denkt er jetzt nicht mehr an seine Eltern“, sagte ich.

„Warum? Was ist mit denen?“, wollte Feather wissen.

„Ach, die sind einfach nur schrecklich.“

Feather sah mich fragend an, aber ich winkte ab. Diese Leute hatten es nicht verdient, dass ich lange über sie nachdachte. Viel lieber wollte ich Feather von meinen wundervollen Ferien berichten und konnte es gar nicht erwarten, es mir mit ihr im Gemeinschaftsraum gemütlich zu machen.

Ich betrachtete Feather. Sie trug ein schlichtes schwarzes Shirt und dazu Jeans, sah aber wie immer toll aus. Sie gehörte zu den Menschen, die gar nicht viel brauchten, um aufzufallen. Trotzdem stand ihr die wunderschöne Feder super, die immer irgendwo ausgesprochen extravagant in ihren hellen glatten Haaren steckte. Mit ihren langen geraden Gliedern und den großen Augen erinnerte Feather mich oft an eine zarte Elfe, was auch durch ihren leichten Gang unterstrichen wurde.

„Ach, es ist so toll, dich wiederzusehen“, stieß ich glücklich aus und Feather und ich fielen uns erneut um den Hals.

„Autsch!“, zischte Feather plötzlich.

„Was ist?“ Ich zuckte zurück und sah, wie sie sich über die Wange rieb.

„Mich hat was gepikst“, sagte sie und beäugte mich eingehend, bis sie meine Blütenspange bemerkte. Mit gekräuselter Nase stieß sie ein leises „Uuäh“ aus.

„Hässlich, oder?“ Ich musste lachen und war froh, dass sie mir kein Kompliment dafür machte oder fragte, ob sie echt sei. Feather hatte eben Geschmack und war absolut ehrlich.

Sie nickte. „Die ist wirklich scheußlich. Ein Geschenk?“

„Von meinem Opa. Er sieht nicht mehr so gut und hat sich wohl von seinem Tastsinn leiten lassen, denke ich.“ Ich fuhr mit den Fingern über die Blüte. „Sie fühlt sich super an. Richtig bauschig.“

„Ja, aber sie hat irgendwo eine scharfe Kante“, meinte Feather, die nun einen kleinen knallroten Fleck auf der Wange hatte. „Du solltest aufpassen, wenn du sie das nächste Mal …“

„Keine Sorge“, unterbrach ich Feather und gähnte, „die wandert direkt in die Kiste und bleibt da für immer.“

Ich schulterte meinen Rucksack und griff nach meiner Reisetasche. Als ich auch noch den Koffer nehmen wollte, kam Feather mir zuvor.

„Den trage ich“, sagte sie und konnte sich ein leises Ächzen nicht verkneifen.

Schwer beladen erklommen wir gemeinsam die Stufen zum Schulgebäude und als ich an mein Zimmer im hinteren Wohnbereich dachte, überkam mich der heftige Wunsch, kurz unter die Dusche zu springen und mich danach für ein halbes Stündchen aufs Ohr zu legen.

Feather sah mir das wohl an, denn sie empfahl mir genau das. Wir hätten dann noch genügend Zeit, uns zu unterhalten. Ich widersprach nur pro forma. Feather war eben die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte.

3

Das war das längste halbe Stündchen meines Lebens gewesen. Ich hatte den ganzen Nachmittag verschlafen und hätte wohl auch noch das Abendbrot verpasst, wenn nicht jemand laut an meine Tür gepocht hätte. Es war ein wasserverbundenes Mädchen aus dem Abschlussjahrgang. Bisher hatte sie mich gepflegt ignoriert und ich wunderte mich, dass sie überhaupt wusste, welches mein Zimmer war.

„Mr Leary will dich sprechen“, teilte sie mir kurz angebunden mit.

„Mich?“, kam es mir erschrocken über die Lippen.

Das Mädchen drehte sich um. „Mr Leary will eine Rose Kai sprechen. Wer nun zum Schulleiter geht, ist mir herzlich egal. Ich würde ihn nur nicht mehr allzu lange warten lassen.“

„Warum?“

Sie war schon ein gutes Stück von mir entfernt und rief nun über ihre Schulter hinweg: „Ich hätte dich schon vor einer Weile holen sollen. Hatte es nur vergessen.“

„Wie nett“, murmelte ich ihr hinterher.

Na toll! Jetzt war es also so weit. Ich musste dem Schulleiter gestehen, dass ich eine Gefahr für die Allgemeinheit war.

Aufgewühlt gab ich meinem Kopf noch einen Moment, um einigermaßen klar zu werden, dann ging ich mit einem mulmigen Gefühl los.

Der Gemeinschaftsraum war so gut wie leer und niemand sprach mich an, als ich von dort aus in den langen Korridor lief, der mich zur Eingangshalle des Schulgebäudes führte. Eilig durchquerte ich die Halle und stieß dabei gegen ein unerwartetes Hindernis.

Wo kommt das denn her?, dachte ich vorwurfsvoll und rieb mir die Schulter, mit der ich dagegengeknallt war. Es war ein Bauzaun, dessen Elemente ein Dreieck bildeten. Der Zaun umgab genau die Stelle, an der sich im vergangenen Schuljahr ein tiefer Spalt im Boden gebildet hatte.

Die dreiundvierzigste Wingdale-Olympiade hatte ein gänzlich anderes Ende gefunden als geplant. Statt einer feierlichen Zeremonie zur Gewinnerbekanntgabe mit Musik, Häppchen und eisgekühlten Getränken hatte es einen Kampf in der Eingangshalle gegeben. Eine Schülerin, Prudence, hatte versucht, sich über die Gesetze der Elemente hinwegzusetzen, und diese damit in ein gefährliches Ungleichgewicht gebracht. Da Prudence sogar bereit gewesen war, im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen zu gehen, hatten Feather und ich alles darangesetzt, sie aufzuhalten. Dabei hatte ich mich ganz gut geschlagen, war nur kurz k. o. gegangen und hatte später notgedrungen sogar meine Wasserverbundenheit eingesetzt. Ich hatte alleine das Feuer gelöscht, das Prudence entfesselt hatte. Trotzdem war dabei die Eingangshalle der Wingdale Academy verwüstet worden. Oder deswegen. Weil meine Verbundenheit und ich auf dem Kriegsfuß standen, hatte ich die Kontrolle über das Wasser verloren und dafür gesorgt, dass Nichtschwimmer Schwimmflügel brauchten.

Aber dieser Spalt ging nicht auf mein Konto. Mr Houseman, unser Lehrer für Geschichte, Sport und Bodenhaftung, hatte ihn kurz darauf schülersicher versiegelt. Für einen begabten Erdverbundenen wie ihn eigentlich keine große Sache. Dennoch war der Spalt jetzt wieder da. Sachen gab’s …

Mir fiel wieder ein, dass Mr Leary schon länger auf mich wartete, und ich begab mich zügig zu seinem Büro. Ich klopfte an und er rief mich herein.

Mr Leary saß an seinem Schreibtisch und deutete auf einen der Stühle ihm gegenüber. „Es geht gleich los, Rose.“

Okay, er klang nicht sauer. Immerhin. Ich setzte mich und beobachtete, wie er etwas aufschrieb. Seine Ellbogen fanden kaum Platz auf der Tischplatte und die Regale mit Büchern und Aktenordnern schienen wie Attrappen aus einer Puppenstube, so zierlich wirkten sie im Vergleich zu ihm. Ich fragte mich, ob das Büro von vornherein zu klein für ihn gewesen war oder ob Mr Leary jeden Raum, in dem er sich aufhielt, zusammenschrumpfen ließ. Optisch, versteht sich.

Er stellte den Kugelschreiber in eine zum Stiftehalter umfunktionierte Tasse mit gesprungenem Rand und sah mich an. Dabei fiel sein Blick auf die Blüte in meinem Haar. Nach dem Aufwachen hatte ich ganz automatisch nach der Spange auf dem Nachttisch gegriffen. Normalerweise legte ich dort abends eine sorgfältig ausgewählte Spange für den nächsten Tag ab. Müde und abgekämpft wie ich vorhin gewesen war, hatte ich das natürlich nicht getan, weshalb ich jetzt wieder mit der hässlichen Blüte mit der eigenartigen Wirkung auf die Menschen dasaß.

Mr Leary ließ sich jedoch nicht anmerken, was er darüber dachte, und fragte freundlich: „Ich hoffe, du kommst gut mit der Zeitverschiebung zurecht, Rose?“

„Ja“, antwortete ich und unterdrückte ein Gähnen. „Mir fehlt ja nur ein halber Tag.“

„Zehn Stunden“, präzisierte Mr Leary lächelnd. „Aber die hast du ja vorher auf deinem Hinflug gutgemacht.“

Ich kratzte mich am Kinn. Schon damals, als meine Eltern mich zur Wingdale Academy gebracht hatten, hatte ich lange gebraucht, um mich in diesen komplett anderen Rhythmus einzufinden. Wahrscheinlich würde es auch diesmal noch eine Weile dauern, bis ich nachts schlafen und tagsüber aufmerksam am Unterricht teilnehmen konnte.

„Weshalb ich dich hergebeten habe“, fuhr Mr Leary fort und sein Gesicht wurde ernst. „Ich habe mich mit Louis unterhalten. Wegen der, äh, Unannehmlichkeiten auf dem Flug.“

Da war es wieder, dieses flaue Gefühl im Magen. Was hatte Louis erzählt? Hatte er die Hand aus Wasser gesehen und mich beim Schulleiter verpetzt? Konnte man mir zur Last legen, wenn Wasser überreagierte?

Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. „Ah, ja? Was hat er denn gesagt?“

„Er weiß nur, dass es anfing, holprig zu werden, als ihr beide euch gestritten habt.“ Mr Leary fuhr sich ratlos durch die Haare. „Turbulenzen sind nicht weiter ungewöhnlich und können jederzeit auftreten. Meistens sind sie auch nicht gefährlich. Allerdings“, er trommelte leicht mit den Fingern auf den Tisch, „waren auf diesem Flug gleich zwei Elementverbundene, die, um es vorsichtig auszudrücken, ihr Handwerkszeug nicht beherrschen.“

Nicht beherrschen war gut. Ich war miserabel. Eine tickende Zeitbombe.

Nervös sah ich zu, wie er den Stift wieder aus der Tasse nahm und damit herumspielte, bis er entschlossen sagte: „Wie leicht hätte es da zu einer Katastrophe kommen können? Ich gebe dir keine Schuld.“

„Danke“, sagte ich misstrauisch.

„Allerdings stellt mich das vor gewisse Probleme. Ich bin verantwortlich für euch Schülerinnen und Schüler und muss Sorge dafür tragen, dass ihr eure Fähigkeiten beherrscht und jederzeit kontrollieren könnt.“ In einer fahrigen Bewegung legte er den Stift weg und sagte leise, beinahe zu sich selbst: „Vielleicht bin sogar ich dafür verantwortlich, weil ich nicht darauf bestanden habe, dass du an der AG teilnimmst.“

Mein Mund wurde trocken. Seit ein Mitschüler während der Wellenschlag-AG für Wasserverbundene meinetwegen beinahe sein Leben verloren hatte, machte ich einen riesigen Bogen um die Schwimmhalle. Und einige Wasserverbundene um mich. Wie das Mädchen aus dem Abschlussjahrgang. Dabei spielte es auch gar keine Rolle, dass dieser Junge richtig fies zu mir gewesen war. Eine Zeit lang hatte ich sogar regelrechte Panikattacken gehabt, wenn ich nur in die Nähe einer größeren Menge Wasser kam – Pfützen auf dem Schulhof eingeschlossen.

Das hatte sich nach der Wingdale-Olympiade etwas gelegt, denn da hatte ich nur durch meine Wasserverbundenheit das Leben von vier Schülern gerettet und das Schulgebäude vor dem Abbrennen bewahrt. Dennoch wäre es mir lieber gewesen, der AG im Schwimmbad auch weiterhin fernzubleiben. Wasser benahm sich seltsam, je mehr ich es ignorierte, desto stärker wollte es meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zumindest kam es mir so vor.

„Aus gegebenem Anlass kann ich solche Ausnahmen nicht länger dulden“, riss mich der Schulleiter aus meinen Gedanken. Er hatte sich erhoben und ging um den Schreibtisch herum, wobei er die Tasse mit den Stiften umstieß. Ich half ihm, die Stifte vom Boden aufzusammeln, und sagte flehentlich: „Aber was ist, wenn in der AG wieder etwas passiert?“

„Ich denke auch, dass es besser ist, wenn du nicht an der AG teilnimmst.“

„Was?“ Erschrocken schnappte ich nach Luft. Dann blieb ja nur noch die Möglichkeit, dass er mich rauswarf. Bis letztes Jahr wäre das vollkommen in Ordnung gewesen. Aber jetzt war doch Feather hier und ich wollte sie nicht verlieren.

„Muss ich die Wingdale verlassen?“

„Unsinn“, sagte Mr Leary und ich ließ ein erleichtertes Schnaufen hören. Er richtete die Tasse wieder so aus, dass der Griff exakt parallel zur Tischkante verlief. „Wem wäre denn damit geholfen? Mrs Downright hat, wie meine Tochter dir sicher erzählt hat, bereits vor den Ferien angeboten, dir Einzelstunden zu geben.“

Nachdem ich das Büro des Schulleiters verlassen hatte, ging ich aufgewühlt durch die Eingangshalle Richtung Korridor. Mr Leary hatte es ziemlich deutlich gemacht: Wollte ich an der Wingdale Academy bleiben, musste ich Einzelstunden in Wellenschlag bei Mrs Downright nehmen. Ich hatte mich nicht weiter über die Einzelheiten informiert, ging jedoch stark davon aus, dass sie in der Schwimmhalle stattfinden würden. Also in der unmittelbaren Nähe von einigen tausend Litern Wasser. Das Argument, dass Mrs Downright eine exzellente Lehrerin mit starker Wasserverbundenheit sei, die ich nicht mal dann in Schwierigkeiten bringen konnte, wenn ich es wollte, hatte mich schließlich dazu gebracht, kleinlaut zuzustimmen.

Da es schon Abendbrotzeit war, kamen mir einige Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zum Speisesaal entgegen. Es waren noch längst nicht wieder alle zurück aus den Ferien, weshalb deutlich weniger los war als an normalen Schultagen. Dennoch war die Halle von ausgelassenem Geplapper und Lachen erfüllt.

Unter den Anwesenden machte ich Enrique aus, der wie üblich einige Kumpel im Schlepptau hatte und sein bühnengeeignetes Allwettergrinsen zeigte.

Bis kurz vor den Ferien war Enrique so etwas wie der Traumtyp schlechthin für mich gewesen. Nicht nur meiner, es gab kaum ein Mädchen an der Wingdale, das er nicht schon durch ein Zwinkern zum Erröten und durch ein Lächeln zum Dahinschmelzen gebracht hatte. Das schien so eine Art Flirt-Autopilot bei ihm zu sein. Natürlich hatte es mir gefallen, wenn ich diejenige war, der er seine wortreichen, zuckerwatteweichen Komplimente machte.

Allerdings war mir mit etwas Abstand klar geworden, dass er die Namen nur austauschen musste, dann konnte er die Komplimente jederzeit recyceln. Deshalb hatte ich meine Schwärmerei für ihn an den Nagel gehängt. Na ja, deshalb, und weil er jetzt offiziell mit einem Mädchen zusammen war. Sie waren gemeinsam bei der dreiundvierzigsten Wingdale-Olympiade angetreten und wenn ich ehrlich war, passten die beiden sehr gut zusammen.

Nach einer tränenreichen Nacht und einem Tag mit übler Laune war mein Liebeskummer aber auch schon verflogen gewesen. Meine Gefühle für ihn waren wohl nicht halb so ernst gewesen, wie ich es mir selbst so lange eingeredet hatte.

„He, da bist du ja!“ Feather war durch den Korridor in die Eingangshalle gekommen und eilte nun freudestrahlend auf mich zu. „Hast du ausgeschlafen?“

Ich nickte. „Sorry. Wollte mich eigentlich nur kurz ausruhen.“

Feather winkte ab und drückte mich an sich. „Quatsch, die lange Reise war bestimmt total anstrengend. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dich vor dem Frühstück noch mal zu sehen.“

Ich grinste. „Apropos Essen, ich hab riesigen Hunger. Wollen wir?“

Wir stellten uns mit unseren Tabletts in die verhältnismäßig kurze Schlange vor der Essensausgabe und Mr Slottka verteilte gut gelaunt Erbsen und Möhren mit Kartoffeln.

„Das ist zwar kein Luau“, sagte ich glücklich, während ich den Koch mit dem monströsen Schnauzbart beobachtete, „aber es gefällt mir trotzdem.“

„Luau?“, fragte Feather und ich erzählte ihr, in der Schlange weiter vorrückend, von den Zusammenkünften mit meiner Familie und meinen Freunden und dem vielen leckeren Essen.

„Und dieser Sternenhimmel“, schwärmte ich. „Ich hatte ganz vergessen, wie viele Sterne über Oahu stehen. Das musst du dir wie eine dunkelblaue Decke aus Samt vorstellen, auf der jemand unzählige glitzernde Diamanten verstreut hat.“

„Ooooh, das ist ein schöner Vergleich“, sagte jemand hinter uns. Es war Alva und sie blickte verträumt zur Decke des Speisesaals. Dann übernahm die Ratio wieder die Herrschaft in ihrem brillanten Hirn und zerstörte unerbittlich jeden Anflug von Träumerei. „Es stehen allerdings nicht wirklich mehr Sterne über Oahu, sondern man kann sie nur besser sehen. Das hängt mit der Lichtverschmutzung zusammen, welche die Beobachtungen des Nachthimmels, besonders die mit bloßem Auge, stark beeinträchtigt.“

Gleich hinter Alva stand Leeland, ein weiteres Mitglied des Wissenschaftsklubs, und ruckzuck war unter ihnen ein Gespräch über einen fotometrischen Nullpunkt entbrannt.

Feather und ich unterdrückten ein Kichern, wünschten guten Appetit und trugen eilig unsere Tabletts zu einem stark lichtverschmutzten Tisch in einer hinteren Ecke.