Felgenkiller - Thomas Maria Claßen - E-Book

Felgenkiller E-Book

Thomas Maria Claßen

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Manfred »Manni« Hanraths lebt in der Großstadt Grawenhorst am schönen Niederrhein. Jede Woche führt er eine sportliche Abendradtour durch Wald und Feld. An diesem Mittwoch fährt ein Neuer mit - und stirbt nach einem mysteriösen Unfall auf einem schmalen Waldpfad. In den Tagen danach kommen weitere Menschen ums Leben - immer waren sie mit dem Rad unterwegs. Dezimiert ein Wahnsinniger die Fahrradfahrer der Stadt? Die Kriminalpolizei ermittelt in alle Richtungen. Auch Manfred wird verdächtigt.

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Seitenzahl: 287

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Thomas Maria Claßen

Felgenkiller

Niederrhein-krimi

Zum Buch

Blutiger Niederrhein Manfred »Manni« Hanraths lebt mit seiner Frau Britta und den Kindern Freddy und Mitch in der kleinen Großstadt Grawenhorst am schönen Niederrhein. Jede Woche von April bis in den Oktober führt er für den ADFC eine sportliche Abendradtour durch Wald und Feld. An diesem Mittwoch fährt ein Neuer mit, der nach einem mysteriösen Unfall auf einem schmalen Waldpfad stirbt. In den Tagen danach kommen weitere Menschen ums Leben. Immer waren sie mit dem Rad unterwegs. Dezimiert ein Wahnsinniger die Fahrradfahrer der Stadt? Die Kriminalpolizei ermittelt in alle Richtungen. Auch Manfred recherchiert und wird selbst verdächtigt. Ein SEK-Einsatz versetzt die Öffentlichkeit in Aufregung, dann verschwindet der leitende Ermittler – und Mannis Radtour führt ins furiose Finale.

Thomas Maria Claßen ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Mit seinem Tourenrad bevorzugt er Strecken durch Wald und Feld fern jedes Autolärms. Als profunder Kenner des Niederrheins und der niederländischen Provinz Limburg verbindet der Autor seine spannenden Kriminalgeschichten mit touristischen Highlights seiner Heimat. Außerdem erschienen mehrere Radtourenführer aus seiner Feder.

Claßen ist Mitglied im Verband Deutscher Sportjournalisten e. V., im Vorstand des ADFC in Mönchengladbach engagiert und dort seit Jahren aktiv als Tourenleiter.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © »Manon / stock.adobe.com und Thomas Siepmann / stock.adobe.com«

ISBN 978-3-8392-7830-7

Widmung

Für Hilde und Josef, die mich früh als Kind mit dem Fahrrad zur Schule fahren ließen.

Fünfundzwanzig

Viel zu schnell hetzten sie über die Spielstraße der Siedlung. Vorneweg Manfred Hanraths, der in bester Stimmung seine wöchentliche Radtour anführte.

Noch.

Manfred fragte sich bisweilen, warum ausgerechnet er sich das jeden Mittwoch antat. Immerhin war er mit 49 durchaus einer der ältesten Teilnehmer. Seine offiziellen 103 Kilo sah man ihm zwar auf den ersten Blick nicht an, aber sein Übergewicht machte ihm trotzdem keine Freude. Zudem waren es in Wirklichkeit 108 Kilogramm, die er auf die Waage brachte, und mit denen fuhr er meist ohne große Probleme vorneweg. Die wenigen Hügel am Niederrhein und so mancher lange Brückenaufstieg ließen ihn jedoch ganz schön keuchen, und jedes Mal nahm er sich aufs Neue vor, bald mindestens zehn Kilo abzunehmen.

Heute waren sie zu acht unterwegs. Vier Stammgäste, zwei gelegentliche Mitfahrer, Manfred selbst und der Achte, Erwin, Eugen oder Egon. Der war zum ersten Mal dabei. Manfred verfluchte sein schlechtes Namensgedächtnis. Beim ersten Zwischenstopp würde er in die Teilnehmerliste schauen, damit er den Neuen bei nächster Gelegenheit mit seinem Vornamen ansprechen konnte.

Der Neue redete pausenlos. Seit Minuten schon war Manfred das Opfer und erfuhr gerade, wie viel schöner es doch wäre, in die andere Richtung zu fahren. »Ich kenn hier jeden Regenwurm mit Vornamen. Da drüben führt eine wunderschöne Strecke durch den Wald. Sollen wir nicht da lang?«

Der Kerl nervt langsam, dachte Manfred. Der ist ja nicht zu stoppen in seinem Redefluss. Manfred erhöhte sein Tempo und setzte sich wieder allein an die Spitze der Gruppe.

Seine Touren plante er in einem Internetportal, übertrug die ausgearbeitete Route auf sein Smartphone und ließ sich unterwegs von einer App führen. Das klappte meistens hervorragend. Nur manchmal, wenn er in Gedanken woanders war, verpasste er einen Abzweig. Das merkten seine Mitfahrer selten, denn mit einem Blick auf sein Handy am Lenker konnte er sie unauffällig wieder auf die vorgesehene Strecke führen.

»Mist!« Manfred ärgerte sich. Nun war genau das passiert. Eigentlich hätte er rechts abbiegen müssen, war aber geradeaus weitergefahren. Die sieben Teilnehmer waren ihm blind gefolgt, und hintereinanderher waren sie mit rasanten 30 Stundenkilometern in die Sackgasse mitten in der Tannengrund-Siedlung gerauscht.

»Weeenden!« Manfred hatte keine Chance, seinen Fehler unbemerkt zu korrigieren, bremste abrupt ab und drehte sein Rad um 180 Grad.

Ihr neuer Mitfahrer meldete sich zu Wort. »Ja, die Tourenführung üben wir noch mal.«

Alle lachten, und Manfred stimmte notgedrungen ein. Sie machten kehrt, und plötzlich fuhr der Neue vorneweg und übernahm ungefragt das Kommando.

Manfred dachte sich seinen Teil. Soll er doch, der wird uns schon nicht auf die A 34 führen.

Nicht auf die nahe Autobahn, aber in den Heyderwald lotste der Neue die Gruppe, und genau diesen Weg hätte auch Manfred eingeschlagen. Es hatte seit Tagen nicht einen Tropfen geregnet, und der schmale Weg durch den herbstlichen Mischwald war staubtrocken.

Manfred sorgte sich um ihre Sicherheit. Sie waren trotz der Enge auf dem abschüssigen Pfad mit fast 25 Stundenkilometern unterwegs. Darum wies er seine Mitfahrer lauthals auf »Mehr Abstand!« hin.

Wie gewohnt hatte er vor dem Tourstart die wichtigsten Regeln vorgetragen. »Jeder fährt auf eigenes Risiko. An Kreuzungen niemals ›frei‹ rufen. In Kurven nie nebeneinander fahren.«

Eigentlich nervten ihn diese Regularien, aber ein Minimum musste sein, vor allem wenn Neue mitfuhren. Am wichtigsten war die Kurvenregel, und die betonte Manfred immer wieder. »Wenn einer alleine abschmiert, ist das blöd und gibt ein paar Schrammen. Wenn ihr beim Sturz in einer Kurve jemanden mitreißt, dann kann das richtig, richtig weh tun.«

Der Pfad wurde immer schmaler, der Wald immer dichter und dunkler. Ihr neuer Führungsfahrer, offensichtlich in seinem Element, war vier, fünf Meter vor Manfred unterwegs.

Manfreds Bedenken verstärkten sich. Da kommt gleich das Loch zwischen den beiden Eichen, wenn der weiter so schnell fährt, kann das eng werden, dachte er, hob kurz die rechte Hand zum Zeichen für die nachfolgenden Fahrer und bremste ein wenig ab.

Die kannten seine Handzeichen und achteten darauf. Laute Kommandos wie »Poller«, »Hund« oder »Gegen« – Letzteres bedeutete »da kommt uns jemand entgegen« – vermied Manfred möglichst. Die Schreierei ging irgendwann allen auf die Nerven.

Ihr Vordermann fuhr in unvermindertem Tempo auf die beiden Eichen zu. Plötzlich rutschte sein Mountainbike unter ihm weg und krachte in der Rechtskurve mit erheblicher Wucht in einen Holunderbusch. Der Fahrer selbst hing aufrecht wie festgetackert zwischen den dicken Eichenstämmen.

»Achtung!« Manfred schrie laut auf, versuchte eine Vollbremsung, rutschte jedoch halb links in die Büsche. Holunderbeeren regneten auf ihn herab.

Die anderen landeten hinter ihm einigermaßen glimpflich auf dem Boden. Zum Glück gab es keine Zusammenstöße. Nur Thorsten prallte gegen einen spitzen Ast, der sich in seine rechte Wade bohrte. Beim dritten Versuch konnte er endlich aufstehen und lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den nächsten Baum. Der Ast lag neben ihm, aber ein abgebrochenes Stück ragte aus seiner Wade. Als er das sah, ließ er sich vorsichtig fallen und hockte am Boden wie ein Häufchen Elend.

Werner und Daniel stürzten nach vorne zum Neuen.

Daniel rief noch im Laufen: »Erich, was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht?« Dann stoppte er abrupt, Werner direkt hinter ihm.

Das Bild, das sich ihnen bot, konnten sie kaum fassen.

»Der blutet ja wie ein Schwein, lass mich mal ran.« Werner schob Daniel zur Seite.

Erich heißt der also. Manfred hatte gehört, was Daniel gerufen hatte. Er richtete sich auf und schaute zu dem Neuen. Ungläubig versuchte er zu begreifen, was er da sah. Erich, ihr Mitfahrer, stand nicht auf seinen Beinen, vielmehr schien es, als klebe er an der rechten Eiche. Sein Kopf hing leicht schräg. Blut strömte, nein, es spritzte wie aus einer kleinen Wasserpistole geschossen, aus einer verletzten Ader am Hals.

»Erich! Lass dir helfen!« Werner packte ihn vorsichtig an den Schultern, aber die kleine Bewegung genügte, und der scheinbar schwebende Erich brach mit einem gurgelnden Stöhnen direkt vor ihnen zusammen.

»Wir brauchen Hilfe! Ich hab kein Handy.« Werner stupste Daniel an. »Ruf die 112. Schnell!«

Erich lag nun auf dem Rücken, Werner hockte vor ihm und drückte vorsichtig mit seinem Daumen auf die Wunde.

Manfred wusste, dass Werner Rettungssanitäter war. Was für ein Glück, dachte er und sah entsetzt, wie sich auf dem sandigen Boden immer mehr rote Flecken bildeten.

Ein tiefer Schnitt verlief wie eine rubinrote Kette knapp unter dem Kehlkopf um Erichs Hals. Werner schaffte es mühsam, den Blutstrom etwas abzuschwächen. »Ich kann am Hals nicht abbinden, wir brauchen meine Kollegen. Und das ganz schnell!«

Daniel hatte mit zittrigen Händen die Verbindung zur Notrufzentrale hergestellt und hektisch berichtet, was passiert war. »Wo sind wir? Sie wollen wissen, wo wir uns befinden«, rief er aufgeregt.

Werner antwortete ruhig, aber bestimmt: »Wir sind im Wald vor dem Heyder See. Sag ihnen, sie sollen dich per Messenger kontaktieren, deine Handynummer sehen sie ja. Dann kannst du ihnen unseren Standort schicken. Und jede Minute zählt! Hier besteht Lebensgefahr!«

Daniel folgte Werners Anweisung, erhielt kurz darauf die erbetene Nachricht und schickte ihren Standort an den Mitarbeiter in der Notfallzentrale.

Manfred wurde schwarz vor Augen. Er hockte sich hin und legte seinen Kopf auf die Knie. Das half, und nach und nach konnte er wieder klar denken. Er nahm sein Handy vom Lenker und überprüfte ebenfalls ihren Standort. Der blaue Punkt auf der Karte zeigte ihm, wo sie sich befanden. Rechts schlängelte sich der Heydbach durch das Gebüsch, wenige 100 Meter nördlich entdeckte Manfred ein großes Anwesen, dahinter verlief die L 197. Er vergrößerte die Ansicht auf das Anwesen und erkannte eine Beschriftung, doch die Schrift war zu klein. Er wandte sich an Friedel und hielt ihm sein Handy vor die Augen. »Kannst du das lesen? Schau mal!«

Friedel war wesentlich jünger und brauchte noch keine Brille. »L 197«, sagte er.

»Nein, das Gebäude hier«, erklärte Manfred.

»Ach so. Da steht ›Kinderheim Sankt Moritz‹.«

Manfred wählte auch die 112. »Es geht um den Unfall im Heyderwald. Ihre Leute können über die L 197 und das Kinderheim Sankt Moritz anfahren. Sie müssen dann jedoch etwa 500 Meter zu Fuß durch den Wald gehen. Ich werde ihnen entgegenkommen.«

Manfred informierte die anderen und lief mit Blick auf seine Handy-Karte ein Stück weiter in Richtung See. Dann bog er links auf einen fast zugewachsenen Pfad zum Kinderheim ab. Er folgte der gestrichelten braunen Linie auf dem Display und stand wenig später vor einem rostigen Maschendrahtzaun. Den Zaun überstieg er, ohne zu bemerken, dass seine Sporthose einen langen Riss und sein Oberschenkel eine dicke Schramme abbekamen. Keuchend lief er auf das Gebäude zu und dann links an den blassgelben Gemäuern aus dem späten 19. Jahrhundert vorbei.

Es war kein Mensch zu sehen, keine Kinder, niemand. Lediglich eine weiße Katze schreckte auf und sprang davon.

Zumindest keine schwarze, durchfuhr es Manfred mit einer Spur von Galgenhumor.

Er entdeckte ein schmiedeeisernes Tor mit Doppelflügeln, das in der Mitte mit einer mächtigen Edelstahlkette verschlossen war. »Hallo, ist hier jemand? Hallooo! Hilfe!«

Doch es kam keine Antwort. Die Fenster waren verstaubt, die Türen verschlossen. Alles wirkte, als wäre das Heim vor langer Zeit verlassen worden.

Stetig lauter werdend hörte er das Martinshorn des näherkommenden Rettungswagens. Erleichtert fand er neben dem großen Tor eine kleine Tür, die unverschlossen war. Er sprang auf die Straße, winkte dem Fahrer, und als er den Wagen in die Einfahrt gewiesen hatte, erklärte er, dass sie zu Fuß zur Unfallstelle laufen müssten.

Die Sanitäter packten ihre Trage und rannten im Schweinsgalopp hinter Manfred her.

Vierundzwanzig

Erich war bereits seit 20 Minuten im Operationssaal. Nach der Erstversorgung durch die Sanitäter im Wald und dem Transport im Laufschritt auf der Trage hatte der Notarzt übernommen, während der Rettungswagen mit hoher Geschwindigkeit zum nächstgelegenen Krankenhaus in Aldenbach gerast war.

Die sieben Radfahrer hockten nebeneinander im Gang vor der Notaufnahme. Niemand sagte ein Wort. Alle konnten immer noch nicht fassen, was geschehen war. Nachdem sie ihre Räder eingesammelt hatten, waren sie hinter den Sanitätern über den Pfad gelaufen. Vorher hatten sie mit dem Seitenschneider aus Manfreds Rucksack einen Durchgang in den alten Zaun des Heims geschnitten.

»Wohin bringen Sie ihn?«, hatte Karl in letzter Sekunde gefragt, bevor der Rettungswagen davongebraust war.

Auch Thorsten war von den Sanitätern mitgenommen worden. Seine Verletzung war harmlos, aber schmerzhaft. Er saß nun zwischen den anderen auf der Bank, sein rechtes Bein war dick mit einem weißen Verband umwickelt. Es würde sicher einige Wochen dauern, bis er wieder aufs Fahrrad steigen konnte. Sein teures Edelrad hatten sie an einer abgelegenen Stelle am Geländer der Kellertreppe des ehemaligen Kinderheims angeschlossen und hofften, dass es niemand entdecken würde. Erichs Mountainbike lag noch im Wald, das Vorderrad war völlig zerstört. Dennoch hatten sie es an einen Baum abseits des Pfads gekettet.

Sie waren dem Rettungswagen auf dem Radweg neben der L 197 gefolgt. Das Martinshorn war noch lange in ihren Ohren nachgeklungen, auch als der Wagen längst außer Hörweite gewesen war.

Im Krankenhaus »Die drei Apostel« waren sie zunächst kaum beachtet worden. Nur Manfred als Tourenleiter war zum Empfang gebeten worden. Erichs Name auf seiner Teilnehmerliste war kaum lesbar, gemeinsam mit einer Nachtschwester hatte Manfred mühsam das Gekritzel entziffert und sie hatten sich auf den Namen Normbrecht geeinigt.

»Nein, wir haben keine Versicherungskarte gefunden.« Manfred hatte mit den Schultern gezuckt. Auch das Krankenhauspersonal hatte nichts in Erichs Sportdress entdeckt.

Der war ohne Tasche unterwegs gewesen, an seinem Fahrrad hatten nur eine Wasserflasche und ein ziemlich neues Garmin geklemmt. Manfred hatte sich daran erinnert, dass Erich erzählt hatte, er komme aus Gelderath, wohne dort aber erst seit sieben Monaten. Niemand in ihrer Gruppe hatte ihn zuvor je gesehen, niemand kannte ihn.

Die Schwester hatte wissen wollen, ob er mit dem Verletzten verwandt sei.

»Nein, ich bin kein Angehöriger, nur der Tourenleiter. Jeder kann zum bekannten Treffpunkt kommen und mitfahren. Niemand muss sich anmelden oder ausweisen.«

Die Schwester hatte ihn erstaunt angeschaut und Manfreds Namen, seine Adresse und Handynummer notiert.

Die Wartezeit im Gang kam ihnen endlos vor. Jeder hatte seine Angehörigen bereits informiert, dass es bestimmt spät werden würde.

Werner kannte sich aus. »Nervt das Personal nicht, sie wissen, dass wir warten, und werden sich melden, wenn es Neuigkeiten gibt. Sie geben ihr Bestes, da bin ich sicher.«

Inzwischen war es fast zehn. Normalerweise wäre die Tour bereits kurz nach 20 Uhr am Juliapark, ihrem Treff- und Startpunkt, zu Ende gewesen. Manchmal legten sie kurz vor dem Ziel eine Abschlusspause ein. In irgendeiner Kneipe mit Biergarten, wo sie ihre Räder im Blick hatten und nicht unbedingt abschließen mussten. Dort gönnten sie sich ein schnelles Radler, Bier oder Wasser, bevor sie die letzten Meter zurücklegten. Sie zahlten stets sofort, damit sie direkt aufbrechen konnten, wenn alle ausgetrunken hatten. Sie waren dann verschwitzt und wollten nicht ausgekühlt weiterfahren. Die kurze Einkehrpause war immer angenehm, denn so lernten sie sich besser kennen. Während ihrer schnellen Fahrt wurde wenig geredet, und ansehen konnten sie sich dabei sowieso nicht. Weil Erich zum ersten Mal dabei gewesen und der Unfall vor der Einkehr passiert war, wussten sie so gut wie nichts über ihn. Und heute war nun wirklich kein Tag für Abschlussbiere.

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Wir konnten ihn stabilisieren.« Der Oberarzt stand plötzlich vor ihnen. Es klang wie ein Satz aus einem Film.

Manfred fühlte sich auch so – wie in einem schlechten Kinofilm.

»Bitte fahren Sie nach Hause, hier können Sie nichts mehr tun. Gute Nacht«, sagte der Arzt und verschwand wieder.

Manfred hatte den Namen des Oberarztes auf dem Schild seines weißen Kittels gelesen und notierte ihn in sein Handy.

Werner drängte zum Aufbruch. Er hatte recht, auch wenn keiner von ihnen wirklich gehen wollte. Inzwischen war es nach elf.

Vor dem Krankenhausportal standen ihre Fahrräder. Sie entriegelten die Schlösser und schauten sich an. Die Frage »Wie fahren wir zurück?« hing unausgesprochen in der Abendluft. Manfred googelte eine sinnvolle Route, nicht ganz ohne Risiko, denn während Google für Autofahrer zuverlässige und verkehrsoptimierte Routen berechnete, funktionierte das für Fahrradstrecken noch höchst fehlerhaft. Man wurde zwar nicht auf Autobahnen geleitet, aber es gab immer wieder unangenehme Überraschungen, wenn man blind auf eine gegoogelte Radroute vertraute.

Manfred wählte eine Strecke, die er kannte, über Landstraßen mit Radwegen. Längst war es dunkel, und nicht alle hatten die vorgeschriebenen Leuchten dabei. Diejenigen ohne Licht nahmen sie in die Mitte, und sie fuhren zügig, aber nicht im gewohnten Tempo, heim. Thorsten war bereits einige Minuten vor ihrem Aufbruch von seiner Frau abgeholt worden. Sein verletztes Bein schmerzte, musste jedoch nicht weiter behandelt werden.

Dreiundzwanzig

Die Türglocke weckte Manfred nur mühsam aus seinem Tiefschlaf. Es war halb eins gewesen, als er endlich sein Fahrrad in die Garage gestellt hatte. Sie waren nicht gemeinsam zurück bis zum Park gefahren, sondern hatten sich vor dem Stadtzentrum getrennt, damit jeder den kürzesten Weg zu sich nach Hause wählen konnte. Unterwegs war wenig geredet worden, sie hatten nur verabredet, dass Manfred den Kontakt zum Krankenhaus halten würde und sie ihn am nächsten Abend anrufen könnten.

Er hatte noch Stunden auf der Couch gesessen. Normalerweise postete er nach einer solchen Tour ein paar Bemerkungen, kleine Highlights, manchmal auch Bilder, selten die Routenkarte. Per Facebook kündigten die ADFC­ler ihre Touren an, und da war es ganz nett, im Nachhinein auch etwas davon zu berichten. Diesmal gab es etwas Besonderes, aber wahrlich nichts Nettes. Manfred hatte auf sein Posting verzichtet, aber in aller Kürze per E-Mail Bernd Brachten, den Vorsitzenden des Grawenhorster ADFC, informiert.

Ein wenig wackelig ging er nun die Treppe hinunter, zog sich schnell seine Jeans und das Polohemd vom Vortag an. Britta war längst unterwegs zu ihrem Nebenjob im Haus der Stadtgeschichte. Ihr hatte er noch in der Nacht alles erzählt, und sie hatte ihn heute Morgen schlafen lassen, wohl wissend, dass er lange wach gelegen hatte.

Durch das kleine Rundfenster in der Haustür schaute ihn ein Mann an, den er nicht kannte. Er war gut angezogen, hoffentlich kein Versicherungsvertreter.

Manfred öffnete die Tür einen Spalt breit. »Ja, bitte?«

Der schlanke Mann in schwarzem Trenchcoat stellte sich vor. »Martin Brockmann, Kriminalhauptkommissar, guten Morgen. Darf ich kurz zu Ihnen reinkommen?«

Manfred erkannte auf den ersten Blick die Metallmarke, die der Besucher ihm entgegenhielt. Nach dem Ausweis des Beamten fragte er gar nicht erst. Sein verstorbener Vater war bei der Kriminalpolizei gewesen und hatte auch dieses Messingoval besessen, das er immer mit einer stabilen Chromkette an einer Gürtelschlaufe befestigt in der Hosentasche getragen hatte. Jedenfalls bis wenige Tage vor seiner Pensionierung, da war die Dienstmarke plötzlich verschwunden. Er hatte behauptet, sie verloren zu haben. Den Ruhestand hatte sein Vater wahrlich nicht herbeigesehnt. Liebend gerne hätte er noch ein paar Jahre verlängert, aber Polizisten waren damals schon mit 60 pensioniert worden, Ausnahmen von dieser Regelung hatte es nicht gegeben.

Als Manfred nach dem Tod seines Vaters dessen Wohnung aufgelöst hatte, hatte er eine blaue Geldkassette hinter einer Bücherreihe im Wohnzimmerschrank entdeckt. Den Schlüssel dazu hatte er, zusammen mit denen für die Wohnung und das Fahrrad, auf dem Marmorboard neben der Eingangstür gefunden. In der Kassette hatte sein Vater ein paar Hundert österreichische Schilling, den Ehering von Manfreds Mutter, die vier Jahre früher gestorben war, und die Kriminaldienstmarke mit der Nummer 4287 aufbewahrt. Manfred hatte die Polizeimarke in die Hand genommen und mit Tränen in den Augen lange im Sessel seines Vaters gesessen. Es hatte ihn an die Zeit als Kind erinnert, wenn ihm sein Vater nach Feierabend gelegentlich erlaubt hatte, die ovale Marke in den kleinen Händen zu halten.

Manfred schüttelte die Gedanken ab, ließ den unerwarteten Besucher herein und bat ihn, Platz zu nehmen. Anschließend sah er nach, ob seine Frau Kaffee aufgesetzt hatte, und war froh, dass er seine Lebensgeister mit einer heißen Tasse beleben konnte. Sein Gast winkte dankend ab, und bevor Manfred den ersten Schluck getrunken hatte, legte der Kripomann los.

»Sie sind Manfred Hanraths und waren gestern bei dem Fahrradunfall im Heyderwald dabei?«

Manfred nickte und setzte zu einer Gegenfrage an, kam aber nicht zu Wort.

»Ich muss Ihnen leider sagen, dass der Verunglückte noch in der Nacht an seiner Verletzung verstorben ist.«

Die Nachricht kam wie aus einer Nebelwand in Manfreds Hirn gekrochen. Unverständlich. Langsam, aber unerbittlich. Manfred schloss die Augen, konnte keinen klaren Gedanken fassen und musste urplötzlich zur Toilette. »Tschuldigung.« Er stürzte aufs Gästeklo, erleichterte sich und blieb danach erst einmal auf der Schüssel sitzen.

»Herr Hanraths?« Aus Brockmanns Stimme klang eine gewisse Sorge.

Manfred säuberte sich, nahm danach schwer atmend wieder Platz am Tisch und versuchte sich zusammenzureißen.

KHK Brockmann erklärte in ruhigem Tonfall, wie es zum Tod des Tourenneulings gekommen war. »Der Verunfallte hatte einen tiefen Schnitt über die volle vordere Halsfront. Zum erheblichen Blutverlust kam eine überraschende Infektion. Das hat ihm den Rest gegeben.« Brockmann räusperte sich verlegen, ihm war die laxe Bemerkung anscheinend peinlich.

Manfred versuchte sich zu konzentrieren, irgendwas stimmte nicht. »Stopp! Sie haben ›Schnitt‹ gesagt? Wieso ein Schnitt? Erich ist doch nur an der Eiche angeschlagen, da war nichts Scharfes, nur Holz.«

»Leider doch, Herr Hanraths.« Brockmann machte eine Kunstpause. »Zwischen den Eichen muss so etwas wie ein Seil gespannt gewesen sein. Das hätte ihn beinahe geköpft.«

»Ein Seil? Da war ein Seil? Ein Irrer hat ein Seil gespannt?« Manfred war fassungslos. Der Albtraum jedes Fahrradfahrers, der im Wald unterwegs war. Immer wieder wurden solche lebensgefährlichen Fallen entdeckt, zuletzt hatte er von einem solchen Ereignis im Sauerland gelesen.

»Die Schnittwunde Ihres toten Fahrradfreundes stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem gespannten Seil. Haben Sie denn kein Seil gesehen, Herr Hanraths?«

»Da war kein Seil!« Manfred überlegte. Wenn er ehrlich war, hatte er darauf nicht geachtet, auch nach dem Unfall nicht. Die Situation auf dem engen Waldweg war zu hektisch gewesen. Das viele Blut, die Telefonate mit der Notrufzentrale.

»Ich weiß nicht, Herr Bockmann, ich habe kein Seil gesehen. Aber ich kann auch nicht ausschließen, dass da eins gewesen ist.«

»Brockmann, ich heiße Brockmann.«

Manfreds Gedanken rasten. Jetzt lässt er auch noch den Beamten raushängen. Als ob es wichtig wäre, ob er Brockmann oder Bockmann heißt. Erich ist tot! Tot! Durch ein Seil? Entsetzt schaute er dem Kriminalbeamten direkt in die Augen. »Dann war das ja kein Unfall, sondern … Mord?«

»Das müssen die Gerichte entscheiden. Auf jeden Fall ermitteln wir in einer Verdachtslage zu einem Tötungsdelikt. Und zuerst müssen wir den Täter finden. Werden wir den Täter finden! Ich bitte Sie, heute Nachmittag ins Polizeipräsidium zu kommen, wir müssen Ihre Zeugenaussage protokollieren. Außerdem brauche ich eine Liste all derer, die dabei waren. Sie haben mit sechs weiteren Personen im Krankenhaus gewartet?«

»Ja, die Teilnehmerliste kann ich Ihnen gerne kopieren. Wäre 15 Uhr okay?«

Manfred stand auf, aber Brockmann hielt ihn zurück. »Es gibt eine Teilnehmerliste? Wieso?«

Manfred erklärte ihm, dass es eine ADFC-Tour gewesen war, von ihm geleitet wie jeden Mittwoch, pünktlich um 18 Uhr mit Start am Südeingang des Juliaparks. »ADFC, mit F wie Fahrrad. Das ist der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club.«

»Dann konnte jeder vorher wissen, dass diese Tour gestern stattfand?« Brockmann betonte das »jeder« wie eine Mordanklage.

»Ja, wir kündigen alle Touren frühzeitig an, auf unserer Website und bei Facebook. Außerdem hat sich meine Sporttour herumgesprochen. Es fahren zwar oft weniger als zehn mit, dafür gibt es einen festen Stamm von Teilnehmern. Aber es sind nicht immer alle dabei. Mal hat der eine Spätschicht, mal ein anderer Urlaub, mal ist es dem einen zu warm, dem anderen zu regnerisch. Oder die Kinder haben Zahnweh. Also ich meine, es gibt 1.000 Gründe, nicht mitzufahren.«

»Und der Getötete? Wie oft ist der dabei gewesen?« Brockmann sah aus, als hätte er schon eine Spur, aber sein Gesicht entspannte sich, als Manfred ihm erklärte, dass Erich zum ersten Mal mitgefahren war, niemand ihn kannte und er auch nicht sicher wüsste, ob der Nachname wirklich Normbrecht lautete.

Brockmann hakte nach. »Also zum Mitschreiben: Jeder konnte wissen, dass es diese Tour an diesem Mittwoch gab und wo sie lang führt?«

»Jein.« Manfred schaute seinen Gast an. »Jeder konnte wissen, wann und wo die Tour startet, aber nur ich kannte die Route. Ich arbeite jede Woche eine andere Route aus. Für jeden Mittwoch eine neue. Keiner außer mir wusste vor dem Start, dass wir gestern durch den Heyderwald fahren würden.«

Zweiundzwanzig

Manfred saß wieder an seinem Wohnzimmertisch. Der Kaffee, den er vorhin so dringend gebraucht hatte, war längst kalt geworden. Nur einen kleinen Schluck hatte er genommen, dann war Brockmann über ihn hereingebrochen.

Nun war der Kripomann endlich weg, dafür nervte ihn der chaotische Spanier. Mit seinem südländischen Charme schaffte es die importierte Edelmischung trotz der Penetranz immer wieder, dass Manfred und seine Frau Britta alles stehen und liegen ließen, um den Hunger ihres Lieblings zu stillen. Heute machte Manfred keine Dose auf, sondern servierte seinem Pakko die liegengebliebene Wurst vom Sonntag. Mindesthaltbarkeitsdaten interessierten Hunde nicht, solange sie genießbar waren. Hauptsache, sie waren nicht vegan, die Lebensmittel.

Keiner konnte wissen, dass wir diesen Weg durch den Heyderwald fahren. Niemand kannte die Strecke! Außer mir. Manfred wurde ganz übel bei dem Gedanken. Plötzlich kam ihm eine weitere Erkenntnis: Normalerweise wäre er vorneweg gefahren, wenn ihn dieser Erich mit seinem Gerede nicht so genervt und er den Abzweig im Tannengrund nicht verpasst hätte.

Niemand kannte die Strecke! Oder? Ihm fiel etwas ein, und hektisch ging er die Treppe hinunter in sein Büro. Das großzügige helle Souterrain bot ausreichend Platz für drei Arbeitsplätze, mehr brauchten sie nicht. Eingerichtet hatten sie bisher erst zwei.

Manfred startete den Computer unter seinem Schreibtisch, meldete sich an und kontrollierte die gestrige Route. »Verdammt!«

Er hatte die Strecke gespeichert, aber nicht geblockt. Jeder, der seinen Benutzernamen kannte oder zufällig über die Route gestolpert war, hätte sie sehen können. Seit Montag, da hatte er die Tour im Portal vorbereitet, gespeichert und vergessen, sie für jedermann zu sperren.

»So ein Mist!« Manfred ärgerte sich. Normalerweise vergaß er das nicht, weil es nervig war, wenn ein Mitfahrer die Daten der Route heruntergeladen hatte und dann während der Tour kontrollierte, ob sie auch exakt nach Plan unterwegs waren. Deswegen hatte Manfred sogar schon einmal Streit mit einem Teilnehmer bekommen. Aber bei seinen Mittwochstouren kannten sich fast alle, waren locker und wollten nur Spaß und Sport genießen. Außer Erich, den kannte keiner und dem war der Spaß nun endgültig vergangen.

Als Britta zurückkam, erzählte Manfred ihr aufgewühlt vom Besuch des Kommissars.

»Wenn Erich mich nicht so genervt hätte, wäre ich an der Spitze gefahren. Dann wäre ich jetzt tot, wegen des verdammten Seils!«

Britta hörte ihm zu und wusste nicht, wie sie ihm widersprechen und ihn aufmuntern konnte. »Du kannst nichts dafür, Manni. Du hast nur die Tour organisiert. Und passieren kann immer mal etwas.«

»Ja, aber nicht so was.«

Die Teilnehmerliste fiel ihm ein, die hatte Brockmann dann doch vergessen. Manfred scannte sie, nahm die Visitenkarte des Kriminalbeamten zur Hand und tippte die Mailadresse ab.

Sehr geehrter Herr Brockmann,

anbei sende ich Ihnen wunschgemäß die Teilnehmerliste meiner Tour vom Mittwochabend.

Mit freundlichen Grüßen

Manfred Hanraths

Manfred fügte die PDF-Datei an und drückte auf »Senden«. Mit dem Versand der E-Mail wurden gleich sechs neue E-Mails abgerufen.

17:30 [email protected]  Ich will ich dich jetzt

17:46 TKD-Gruppe  KV-Optimieren Sie …

18:01 [email protected]  Lust auf eine Tour

18:03 [email protected]  Ruf mich an!!

18:30 [email protected]  Toner, supergünstig …

18:46 Versicherung 24  Beste im Juli-Test 2…

Manfred sah auf einen Blick, dass es sich nur um Spam handelte. Drei eindeutig sexuelle Angebote, zwei Offerten von Krankenversicherungen und eine für besonders preiswerte Druckerpatronen.

Sein Telefon klingelte, Bernd war am anderen Ende der Leitung. »Hey, alles gut bei dir?«

Nichts war gut. Manfred brauchte ein paar Minuten, bis er dem Vorsitzenden ihres Ortsverbands die Situation erklärt hatte. Ein Toter. Kein Unfall.

Bernd war sprachlos.

»Gleich bin ich erst mal bei den Bullen. Die ermitteln tatsächlich wegen Mord oder so. Stell dir das vor! Da hat jemand ein Seil gespannt, ein Seil! Was für eine unfassbare Scheiße! Und was soll ich über Erich sagen? Noch nie gesehen, wir wissen nichts über ihn, nur seinen Namen. Den Nachnamen noch nicht mal sicher, weil sein Gekrakel kaum zu lesen ist.«

Ein paar Minuten später hatte Bernd aufgelegt, er würde das Gehörte erst mal sortieren müssen.

Manfred grinste. »Und ich hab ›Bullen‹ gesagt.«

Sein Vater würde sich im Grabe umdrehen, aber vor Lachen. Weil Manfred ihn auch immer mal wieder »Bulle« genannt hatte. Ihn und seine Kollegen in der Kaserne, wie das Präsidium früher genannt worden war. Dort war Manfred aufgewachsen, in der angrenzenden Bolundstraße. Die Kaserne war sein Spielplatz gewesen. Unvorstellbar heute, dass jeder in ein Polizeipräsidium spazieren konnte, wie er wollte, vor allem Kinder. Damals gab es den hässlichen Schotterparkplatz in der Mitte der denkmalgeschützten Gebäudegruppe noch nicht. Stattdessen war da ein Riesensportplatz für den PSV gewesen, den Polizeisportverein, und auch die Kinder und Jugendlichen aus dem ganzen Stadtteil hatten den wunderbar gepflegten Rasen zum Kicken genutzt. Aber in der alten Turnhalle wurde noch gespielt, das hatte er in der Zeitung gelesen. Auch die Umkleide in der Halle war vielleicht noch da, auf die man raufklettern und heimlich Zigaretten rauchen konnte. Manfred und sein Freund waren natürlich prompt erwischt worden, was weder die beiden Jungs noch der damalige Kriminalhauptmeister Peter Hanraths lustig gefunden hatten. Jedenfalls hatte es ein ernsthaftes Gespräch gegeben mit Manfreds Eltern, wobei sein Vater Pitt wahrscheinlich heimlich gelacht hatte, da war Manfred sich heute fast sicher.

Einundzwanzig

Wieder so ein Gang wie im Krankenhaus, ging es Manfred durch den Kopf. Nur diesmal saß er allein auf der Bank und wartete ungeduldig, dass ihn endlich jemand aufrief und befragen würde. Er war im Polizeipräsidium, pünktlich um 15 Uhr war er angekommen.

Mit 20 Minuten Verspätung erschien Kriminalhauptkommissar Brockmann, begrüßte Manfred und führte ihn in die zweite Etage durch eine Tür, neben der auf einem kleinen weißen Schild »Vernehmung 1« stand.

Vernehmung? Manfred fragte sich, was das bedeuten sollte. Wurde er nun befragt oder vernommen?

»Nehmen Sie Platz. Bitte, Herr Hanraths.« Brockmann schaltete sein Aufnahmegerät ein und leierte ein paar Sätze herunter, die er sicher schon unzählige Male vorgetragen hatte. »Herr Hanraths erscheint heute als Zeuge in der Tötungssache Normbrecht. Herr Hanraths, bitte beachten Sie, dass Sie sich strafbar machen können, wenn Sie wissentlich die Unwahrheit sagen und damit eine andere Person be- oder entlasten. Und Sie müssen sich selbst nicht belasten. Sind Sie mit dem Opfer verwandt oder verschwägert?« Brockmann schaute ihn auffordernd an.

Manfred schüttelte den Kopf.

»Bitte, Sie müssen laut und deutlich antworten.« Der Kriminalbeamte klang ungeduldig, zeigte dabei auf den Audiorekorder.

»Nein, ich bin nicht mit dem Toten verwandt oder verschwägert.« Dabei dachte Manfred wieder daran, dass er Erich nicht mal richtig kennengelernt hatte und der nun schon im Leichenschauhaus lag.

»Herr Hanraths, ich stelle Ihnen jetzt einige Fragen, die Sie wahrheitsgemäß beantworten müssen.«

Zuerst wiederholte Brockmann die Fragen vom Vortag, wo und wann sie losgefahren waren, wer dabei war, und Manfred beantwortete fürs Protokoll geduldig die aus seiner Sicht unwichtigen Details. Danach beschrieb er ausführlich die Route über Beven, Lottern und den Tannengrund bis zum Unglück auf dem Pfad im Heyderwald.

Bevor er weiterreden konnte, unterbrach ihn sein Gegenüber. »Sie sind also die ganze Strecke mit sieben Teilnehmern gefahren?«

»Ja genau, mit mir waren wir zu acht. Sie haben ja die Teilnehmerliste.« Manfred fragte sich unwillkürlich, ob sein Vater zu seiner Kripozeit auch so blöde Fragen gestellt hatte.

Brockmann griff in eine grüne Aktenmappe, holte ein Blatt heraus und legte es vor Manfred auf den Tisch. Seine Teilnehmerliste. Nicht das Original, sondern ein Ausdruck des Scans, den er gesandt hatte. Mit allen Namen in der zweiten Spalte, davor in der ersten die vorgedruckte aufsteigende Nummerierung, sodass man auf einen Blick die Anzahl der Mitfahrer erkannte. Vor dem letzten Eintrag stand eine Neun.

Auch Manfred sah das nun, denn Brockmann hatte seinen rechten Zeigefinger genau neben die Zahl gesetzt.

»Neun? Acht?« Brockmann betonte jede Zahl, wie sonst Ringrichter das Auszählen beim Boxen.

Manfred war ratlos, suchte zunächst eine übersprungene leere Zeile, fand aber keine, und las dann von oben nach unten die Namen nacheinander laut vor. »Ach ja, der hier, Ger… Gernot Bal…, Bel… Keine Ahnung, kann ich nicht lesen. Der war beim Start dabei. Richtig, da waren wir neun. Ich habe noch gesagt, dass ich nach zwei, drei Kilometern fragen werde, ob alles gut ist, weil zwei Neue dabei waren.«

Brockmann verstand ihn offensichtlich nicht, und er erklärte es dem Kriminalbeamten.

»Wenn jemand nach wenigen Kilometern merkt, dass unser Tempo zu schnell ist, dann empfehle ich demjenigen, abzubrechen. Es macht sonst keinen Sinn für die Truppe. Alle wollen sportlich fahren und keinen gemütlichen Ausflug machen. Genau so ist die Tour angekündigt, und das halten wir auch ein. Wissen Sie, Herr Blockmann, nach 30 Kilometern kann jeder mal Konditionsprobleme haben, das ist mir auch schon passiert. Dann passen wir uns halt an und fahren ein paar Takte langsamer. Aber 30 Kilometer muss man mithalten können, sonst ist das blöd für die Tour.«

»Brockmann, mein Name ist Brockmann, nicht Blockmann! Sie korrigieren also Ihre Aussage, dass Sie nur acht Personen waren?«

»Ja. Nein. Also am Anfang waren wir neun, das stimmt, aber der eine, dieser Gernot, war plötzlich weg, schon nach ein paar Kilometern. Noch bevor ich am Kriegerdenkmal gefragt habe, ob alles klar ist. Wir haben uns noch umgeschaut und kurz gewartet, aber er kam nicht, und dann sind wir weitergefahren.«

»Finden Sie das normal?«

»Was? Dass der weg war? Oder dass wir ohne ihn weitergefahren sind?«

»Dass er so schnell wieder verschwunden ist. Ist das normal?«

»Tja, was ist schon normal? Dass jemand zu langsam für die Tour ist, kommt öfters vor. Die meisten schaffen aber einige Kilometer und melden sich dann von selbst ab. Das nimmt ihnen keiner krumm. Vor ein paar Wochen war eine Frau dabei, die hat bereits vor dem Marienkapellchen gesagt, dass sie abbreche, weil wir ihr zu schnell seien. Wir hatten auch mal einen, der kam mit Hundeanhänger, so einem breiten für große Hunde. Den habe ich gleich vorgewarnt, dass das schwierig werden könnte, weil wir auch über schmale Wege fahren. Der ist zwar mitsamt seinem Anhänger mit uns losgefahren, hat sich aber schnell wieder verdrückt, ohne sich zu verabschieden.« Manfred dachte an den schmalen Waldweg zum Heyder See. Plötzlich kam er sich blöd vor, weil er dem Kommissar diese völlig unwichtige Episode erzählt hatte. »Wenn der Erich mit Anhänger gekommen wäre und abgebrochen hätte, würde er vielleicht noch leben.«

Die Tür ging auf, jemand steckte den Kopf durch. »Marti, hast du wieder dein Handy aus? Deine Ex versucht dich seit Stunden zu erreichen, sagt sie jedenfalls.«

Brockmann griff in seine Tasche und sah auf sein Handy. »Mist! Aus. Der blöde Akku. Kannst du fragen, ob jemand ein Ladegerät hat, das passt?«

»Ladegerät? Für dein Handy? Schaff dir was Neues an. Nennt sich Smartphone. Damit kannst du auch E-Mails lesen oder schreiben. Du weißt, was eine E-Mail ist?«

Brockmann machte mit seinem Handy eine Wurfbewegung Richtung Tür, und sein Kollege verzog sich vorsorglich.

»Hmhm …« Brockmann räusperte sich, um die Aufmerksamkeit seines Gastes zurückzuerlangen. »Ich fasse zusammen: Sie machen diese Touren jede Woche und haben eigentlich keine Ahnung, wer mit Ihnen durch die Landschaft fährt?«