Mordsradler - Thomas Maria Claßen - E-Book

Mordsradler E-Book

Thomas Maria Claßen

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Wie jeden Sonntagmorgen führt der Journalist Manfred »Manni« Hanraths seine Radlergruppe an und stolpert prompt über einen toten Mountainbiker. Auch eine schwer verletzte Radkurierin wird entdeckt, und im Grenzwald zu den Niederlanden findet Mannis Hund eine blutige Fahrradpumpe - und die nächste Leiche. Die Kripo ermittelt in der Radfahrerszene, und Manni steckt seine Nase unerlaubt in jeden Tatort. Innerhalb weniger Wochen überschlagen sich die Ereignisse im niederrheinischen Grawenhorst.

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Seitenzahl: 371

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Thomas Maria Claßen

Mordsradler

Niederrhein-Krimi

Zum Buch

Tod am Niederrhein Wie jeden Sonntagmorgen führt der Journalist Manni Hanraths eine Gruppe unerschrockener Radfahrer durch Wald und Feld am klirrend kalten Niederrhein. Unterwegs wollen sie einen Mitfahrer treffen, der aber liegt erschlagen am Rande eines alten Mottenhügels. Kurz darauf wird eine schwer verletzte Radkurierin in ihrer Wohnung entdeckt. Wenige Tage später findet Mannis Hund im Grenzwald zu den Niederlanden erst eine blutige Fahrradpumpe – und dann die nächste Leiche. Die Kripo ermittelt in der Radfahrerszene. Derweil kommt Manni seinem Freund und Kriminalhauptkommissar Martin Brockmann hilfsbereit in die Quere und platzt unerlaubt in jeden Tatort. Die Ereignisse überschlagen sich, als Manni mit einem Praktikanten der Tageszeitung den Tätern zu nahekommt. Schwer verletzt muss er am Heiligen Abend fern seiner Familie auf Rettung hoffen. Die Polizei, seine Frau Britta und die Kinder Freddy und Mitch setzen alles daran, ihn zu finden …

Thomas Maria Claßen ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Mit seinem Tourenrad bevorzugt er Strecken durch Wald und Feld fern jedes Autolärms. 2017 veröffentlichte er seinen Debütroman »Felgenkiller« und in der Folge erschienen mehrere Radtourenführer aus seiner Feder. Als profunder Kenner des Niederrheins und der niederländischen Provinz Limburg verbindet der Autor seine spannenden Kriminalgeschichten mit touristischen Highlights seiner Heimat. Claßen ist Mitglied im Verband Deutscher Sportjournalisten e. V., im Vorstand des ADFC in Mönchengladbach engagiert und dort seit Jahren als Tourenleiter aktiv.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Christian-P. Worring / stock.adobe.com und oliver / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7754-6

Widmung

Für Romy und ihr erstes Fahrrad

Sonntag, Nikolaustag

Viel zu schnell jagten sie über den Flüsterasphalt der Mürntalstraße. Zu viert traten sie kräftig in die Pedale, um die frostigen Temperaturen abzuschütteln. Die leicht abschüssige Strecke und der eisige Ostwind im Rücken unterstützten ihre Fahrt, bald zeigten die Tachos ihrer Fahrräder 30 Stundenkilometer an.

In der Dunkelheit waren sie vor 15 Minuten am Grawenhorster Juliapark gestartet. Seit zehn Tagen war kein Tropfen Regen gefallen, aber in der Nacht hatte es zum ersten Mal kräftig gefroren, und nun war das Thermometer auf gerade mal vier Grad unter null geklettert. Ganz bewusst fuhren sie mit einigem Abstand, denn wenn der Boden glatt wurde, wollten sie sich nicht gegenseitig gefährden.

Wie gewohnt führte Manfred Hanraths die kleine Gruppe an. Ihm folgten Daniel, Rüçhan und Hilde. Es war seine sechste Sonntagmorgen-Sporttour in dieser Wintersaison. Trotz der Einsamkeit des frühen Morgens fuhren sie weit rechts auf der schmalen Straße, denn die Kurven der Strecke waren schlecht einsehbar.

Prompt kamen ihnen vier Fahrradfahrer entgegen. Sie waren dunkel gekleidet, trugen ebensolche Helme und Gesichtsschutz. Wie ein Blitz fuhren sie aneinander vorbei.

Weit vor Gogenrath hob Manfred die Hand und verlangsamte das Tempo. Auf dem Smartphone am Lenker seines Tourenrads sah er die nahe Abzweigung zum Pfad neben der Mürn. Zwischen zwei reetgedeckten Häusern fädelten sie vorsichtig hintereinander in den Weg ein, näherten sich schnell dem Bachlauf und querten ihn auf der kleinen Holzbrücke.

»Hinter der Brücke rechts und dann noch 600 Meter, da wartet Luuk auf uns.« Hilde meldete sich schrill und lautstark von hinten.

Sie hatte die Truppe am Start darauf vorbereitet, dass ihr Mann heute mitfahren werde. Manfred hatte sich gewundert, denn bisher war Luuk nie an ihren Touren interessiert gewesen. Er fuhr seit Jahren nur BMX-Räder und bevorzugte Anlagen mit anspruchsvollen Rampen, auf denen er seine akrobatischen Kunstsprünge trainieren und verfeinern konnte. Bis vor einem Jahr hatte er zur europäischen Spitze der Freestyle-Profis gehört und war von Event zu Event getingelt. Ein Sturz und eine böse Knieverletzung hatten ihn aus dem Rennen geworfen.

Durch das tagelange, ungewöhnlich trockene Wetter war der schmale Pfad bestens befahrbar. Manfred fuhr konzentriert vorweg und dachte kurz an die schrecklichen Wochen im vergangenen Jahr, als bei seiner Sommertour auf so einem Weg ein Mitfahrer getötet worden war. Zwei weitere Morde im Radfahrermilieu in wenigen Tagen hatten den Niederrhein gehörig aufgewirbelt. Nicht nur Manfred war heilfroh gewesen, als die Mordserie endlich aufgeklärt worden war. Unwillig verdrängte er den Gedanken an die Ereignisse.

Knapp neben ihrer Route gab es eine ehemalige Motte. Von der Burg, die hier einmal auf dem Ringhügel gestanden hatte, war fast nichts mehr zu sehen. Auf dem Hügel schlängelte sich jedoch zwischen dicken Eichen noch immer ein schmaler Weg. Manfred hatte ihn gelegentlich zu Fuß erkundet und Abstand davon genommen, ihn mit dem Rad auszuprobieren. Es ging nicht nur pausenlos auf und ab, alle paar Meter lagen auch Baumstämme kreuz und quer. Hier sollten sie Luuk treffen.

Manfred stoppte ein gutes Stück davor und lehnte sein Rad an einen Baum. Die anderen taten es ihm nach.

Hilde bahnte sich zu Fuß den Weg durch das Gestrüpp auf den Mottenhügel und rief mit energischer Stimme nach ihrem Mann. »Luuk! Luuuuuk, kommst du? Es ist kalt, und wir wollen schnell weiter.« Sie wunderte sich, dass sie keine Antwort erhielt, denn Luuk sollte längst da sein.

Manfred kletterte hinterher und rief ebenfalls nach Hildes Ehemann, den sie einst in Holland kennengelernt hatte und mit dem sie nun in Grawenhorst lebte. Aber Luuk war weder zu sehen noch zu hören.

»Hilde, geh du rechts, ich geh linksherum.« Manfred wartete nicht auf ihre Antwort und zog los.

Der äußere Rand des Hügelrings war mit einem Durchmesser von etwa 120 Metern noch zu erahnen, die ursprüngliche Burg war längst restlos dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen.

Manfred war gerade einmal 30 Meter gelaufen, da hörte er einen entsetzten Schrei. Danach folgten kaum verständliche Hilferufe, Hilde auf der anderen Seite musste außer sich sein. Er machte kehrt, rannte zurück über den unwegsamen Pfad, rutschte aus und schlug hart gegen einen quer liegenden Baumstamm. Er raffte sich auf, unterdrückte den stechenden Schmerz in seinem Knie, umrundete weiter die Motte und sah bald Rüçhan und Daniel vor sich. Die beiden kamen kurz vor ihm neben Hilde an und schrien ebenfalls entsetzt auf.

Dann entdeckte Manfred den leblosen Körper, der mit dem Gesicht nach unten im Mottenteich lag. Um den Kopf herum schlängelten sich rote Fäden durch das flache Wasser.

»Um Himmels willen! Ist das Blut?« Rüçhan war fassungslos.

Hilde stand wie erstarrt und stammelte unverständliches Zeug, die Hände vor ihr Gesicht geschlagen. Manfred verstand nur »Luuk, Luuk« und immer wieder »Luuk«.

Daniel nahm das Heft in die Hand, und gemeinsam mit Rüçhan schaffte er es, den Reglosen umzudrehen und an den Rand des Gewässers zu ziehen. Es war Luuk, Manfred erkannte ihn sofort.

Daniel legte zwei Finger an Luuks Hals. »Ich glaube, er lebt noch.«

Manfred holte sein Handy vom Lenker seines Rads, doch der Notruf, den er wählte, ging nicht durch. »Kein Netz, ich lauf zur Straße.« Er drehte sich um und rannte zurück, an ihren Fahrrädern vorbei. Erleichtert sah er nach wenigen Metern einzelne Häuser vor der Mürntalstraße. Er bahnte sich einen Weg quer durch das dichte Gestrüpp. Dass seine lange Radlerhose mehrmals an den Brombeerdornen hängen blieb und lange Risse davontrug, merkte er nicht. Der Bach war hier schmal, und er überwand ihn mit einem Satz. Zwischen zwei Häusern konnte er ungehindert die Straße erreichen.

Manfred wählte erneut die 112. Sein Handydisplay zeigte nun drei Balken, das Freizeichen war sofort da, und Sekunden später meldete sich die Rettungszentrale.

Nachdem er mitgeteilt hatte, dass sie an der Mürntalmotte einen schwer verletzten Mann gefunden hatten, drehte er sich um, las am nächsten Haus die Hausnummer ab und gab als Adresse Mürntal 44b an.

»Rettungswagen und Notarzt sind unterwegs«, hieß es.

»Kann ich Ihnen helfen?« Vor ihm stand plötzlich ein älterer Mann.

Manfred merkte, dass ihm schrecklich kalt war. »Ja, bitte, haben Sie ein paar Wolldecken? Da hinten an der Motte liegt ein Verletzter, und wir sind zu viert mit dem Rad unterwegs. Warme Decken könnten wir gut gebrauchen.«

Der Mann ging wortlos ins Haus zurück, kam wenige Minuten später mit einem Stapel Decken auf den Armen wieder heraus und gab sie Manfred. »Wo sind Ihre Leute?«

»Da, auf dem Pfad hinter Ihrem Haus geradeaus, an der alten Motte. Vielleicht 100, 120 Meter. Ich geh zurück und bringe ihnen die Decken. Der Rettungswagen ist unterwegs, könnten Sie auf die Sanitäter warten und sie zu uns führen?«

»Mach ich. Und nehmen Sie das hier mit.« Der hilfreiche Alte reichte ihm ein großes, machetenähnliches Messer.

Manfred machte sich auf den Weg zurück zur Motte und befreite den Pfad dabei von den kräftigsten Brombeerranken.

Hilde kniete schluchzend neben Luuk. Rüçhan und Daniel schauten Manfred ernst an und schüttelten stumm den Kopf.

Manfred deckte trotzdem zuerst Luuk bis zum Hals zu. Dann reichte er den anderen die Decken, legte sich selbst eine um und hockte sich neben Hilde. Tröstende Worte fielen ihm nicht ein, er nahm sie nur wortlos in die Arme.

Schneller als erwartet vernahm Manfred das Martinshorn, und wenig später liefen zwei Sanitäter mit einer Trage auf sie zu.

Trotz der dicken Decken froren die vier erbärmlich und beobachteten, wie sich die Rettungssanitäter um Luuk kümmerten und versuchten, ihn mit einem Defibrillator zu reanimieren.

20 Minuten nachdem Manfred die Notrufzentrale informiert hatte, erreichte auch der Notarzt die Unfallstelle und stellte offiziell Luuks Tod fest.

Hilde saß wie erstarrt neben ihrem toten Mann. Urplötzlich hob sie ihre Hände und schlug wie wild auf den leblosen Körper ein. »Du Blödmann, du Idiot! Warum hast … du das nur … Keller … gemacht?« Heftige Schluchzer sorgten dafür, dass Manfred nur Bruchstücke verstand. Schließlich versank sie in stiller Trauer.

Die Sanitäter hoben Luuk von der Trage auf den Boden und legten Hilde darauf. Der Notarzt versorgte sie mit einer kreislaufstärkenden und beruhigenden Spritze.

Nachdem der Rettungswagen mitsamt Hilde Richtung Krankenhaus abgefahren war, fragte Daniel: »Wo ist eigentlich Luuks Fahrrad?«

Sie sahen sich an und suchten die Umgebung ab, auch der noch anwesende Notarzt half dabei.

»Ich hab das Rad«, meldete sich Rüçhan. Kurz darauf tauchte er mit Luuks teurem Mountainbike auf.

Der Notarzt lief ihm entgegen. »Sie sollten hier nichts mehr verändern. Legen Sie das Fahrrad wieder genau dahin, wo sie es gefunden haben. Die Kripo wird gleich hier sein, ich habe sie verständigt.«

Rüçhan tat, wie ihm geheißen. Anschließend nahmen sie ihre Räder, auch Hildes, und schoben sie den Pfad entlang zur Straße, wo sie auf die Kripo warten wollten. Es war fast 10 Uhr.

Der freundliche Helfer vom Mürntal 44b entdeckte sie und bat sie in sein Haus. Manfred und seine beiden Mitfahrer setzten sich an den offenen Kamin, das Feuer loderte kräftig, und sie genossen die Wärme.

Herr Lambertz war Rentner und lebte seit 70 Jahren hier in seinem Geburtshaus an der Mürn. Seine Frau kam aus der Küche und brachte ihnen Kakao, den der Radlertrupp anfangs höflich ablehnte, doch jede Widerrede war zwecklos. Nun schlürften sie dankbar das heiße Getränk. In den endlosen Minuten an der Motte war ihnen bitterkalt geworden.

Manfred dachte über die Worte des Notarztes nach. Warum hatte er die Kripo verständigt? War ihm etwas aufgefallen, das er ihnen nicht sagen wollte? War Luuk nicht einfach unglücklich gestürzt?

Auch Rüçhan war in Gedanken versunken, bevor er diese laut äußerte. »Schon seltsam. Wieso lag Luuks Rad 20 Meter vor der Unfallstelle?« Er sah ratlos in die Runde.

Manfred gingen die drei toten Fahrradfahrer wieder durch den Kopf, die ihn und die Kripo im Spätsommer des Vorjahrs so intensiv beschäftigt hatten.

Jemand klopfte energisch an die hölzerne Eingangstür des Hauses. Frau Lambertz stand auf, öffnete und kam zurück. »Die Polizei.«

Hinter ihr betraten zwei Männer den Raum. Manfred erkannte Kriminalhauptkommissar Martin Brockmann und seinen Assistenten Jürgen Schäbe, der unauffällig den Kopf schüttelte, als Manfred ihn anblickte. Manfred verstand, es sollte keine herzliche Begrüßung geben.

Brockmann legte sofort los. »Wunderbarer Sonntagmorgen! Kaum ist der ADFC unterwegs, haben wir wieder eine Fahrradleiche.« Er ließ sich ausführlich berichten, was sie wussten.

Und das war nicht viel. Manfred hatte Luuk nur einmal mit Hilde getroffen, ansonsten kannte er ihn nur von ihren Erzählungen.

»Sie haben das Fahrrad des Toten bewegt?« Brockmann sah Rüçhan giftig an, als dieser berichtete.

»Ich habe es wieder genau so hingelegt, wie ich es gefunden habe.« Rüçhan zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Brockmann schüttelte den Kopf. »Ihr Deppen seid da rumgelaufen wie die Hasen und habt alles zertrampelt, was eventuell an Spuren vorhanden war.«

Schäbe rollte mit den Augen.

Manfred dachte sich seinen Teil. So kannte er die beiden. Brockmann, der kantige, ungehobelte Chefbulle, und Schäbe, sein engster Mitarbeiter, Kollege und Freund, der ruhig und nett um ihn herumwieselte und die Gemüter besänftigte, wo es ging.

Alles deutete darauf hin, dass die Kriminalbeamten nicht von einem Unfall ausgingen. Manfred wandte sich fragend an Brockmann, vermied jedoch eine direkte Anrede, obwohl sie nach den letzten Fällen längst beim Du waren. »Hat da jemand nachgeholfen?«

»Das wissen wir nicht. Und wenn wir es wüssten, würden wir Ihnen das nicht auf die Nase binden«, antwortete Brockmann laut und streng.

Nicht nur Manfred zuckte zusammen, alle sahen den Kripomann erschrocken an.

Dem war es egal.

Weil Brockmann ihn gesiezt hatte, schloss Manfred sich dem an. »Die Tour heute habe zwar ich wieder geführt, aber außer mir ist niemand ADFC-Mitglied. Und Luuk Meulendijks war noch nie dabei, nur seine Frau Hilde. Hilde und Daniel kennen Sie ja von letztem Jahr.« Das »Sie« betonte Manfred bissig, er war verärgert, wie unfreundlich Brockmann mit ihnen umging. Immerhin hatten sie ihm im Vorjahr wahrscheinlich das Leben gerettet und geholfen, den damaligen Fall zu lösen. Und an Brockmanns Krankenbett hatte er mit ihm und seinem Assistenten sogar Brüderschaft getrunken.

Brockmann scherte das alles wenig. »Wo ist die Kamera?« Dabei streckte er Manfred auffordernd die offene Handfläche entgegen.

»Habe ich nicht dabei. Der Akku schwächelt, bei der Kälte hält er keine halbe Stunde mehr.« Manfred hatte seine Action-Cam deshalb heute nicht mitgenommen.

Brockmann verzog ärgerlich das Gesicht.

Schäbes Handy klingelte. Er nahm es ans Ohr, hörte kurz zu und steckte es wieder weg. »Die KTU. Die sind so weit. Wir können zurück zum Tatort.«

Die Beamten standen auf. Schäbe bedankte sich bei der netten Hausherrin. Brockmann wies die drei Radler beim Hinausgehen darauf hin, morgen früh ins Präsidium zu kommen, um das Protokoll zu unterschreiben.

»Tatort« … Das Wort hallte wie ein Trompetenstoß in Manfreds Ohren.

Brockmann war bereits draußen, Schäbe ging gemächlich hinterher. Manfred folgte ihm schnell zur Haustür. Der jüngere Kriminalkommissar hatte das offensichtlich erwartet und drehte sich zu ihm um.

Manfred sprach ihn an. »Tatort, Jürgen? Ist das euer Ernst?«

»Sieht so aus. Der hat eins über die Rübe bekommen. Die SpuSi-Mädels gehen davon aus, dass die Kopfverletzung nicht von einem Sturz stammt. Sorry, Manni, ich muss los. Und mach dir keine Gedanken wegen Martin. Der ist im Mordfallmodus, da kennt er weder Freund noch Feind.«

Brockmann und Schäbe fuhren davon. Fast im selben Moment traf Manfreds Frau Britta mit dem Kombi vor dem Haus der Lambertz’ ein. Auf ihren Fahrradträger passten drei Räder.

Die drei bedankten sich noch einmal für die Hilfe und verabschiedeten sich von Herrn und Frau Lambertz.

Im Wagen berichtete er seiner Frau im Wechsel mit Rüçhan und Daniel ausführlich, was geschehen war. Britta reagierte zuerst entsetzt und wurde dann nachdenklich. Sie hatte während der Mordserie im Vorjahr mitgelitten.

Zu Hause angekommen, luden sie die Räder ab, und Rüçhan und Daniel entschwanden schnell um die Ecke am Ende der Straße. Manfred rollte sein Rad in die Garage.

»Papa, ist was passiert? Warum musste Mama euch abholen?« Mitch empfing ihn an der Tür.

Manfred sah seinen elfjährigen Sohn ernst an. »Es gab einen Unfall, auf der Motte.«

»Zu mir hast du immer gesagt, man darf nicht um die Motte fahren, weil das gefährlich ist«, beschwerte sich Mitch.

»Wir sind nur daran vorbeigefahren. Der Mann war keiner von unserer Truppe, wir haben ihn nur gefunden.«

»Und wie geht’s ihm?«

»Nicht gut.« Die ganze Wahrheit brachte Manfred nicht über die Lippen.

»Wer ist das denn? Kennt ihr den?«

»Ja, er ist der Mann von Hilde. Die den Kurierdienst hat.«

»Der Luuk?«

»Woher kennst du Luuk?« Manfred war überrascht.

»Alter, der ist doch der Bikerking bei Youtube.«

»Mitch! Sag nicht Alter, wenn du mit deinem Vater sprichst.« Britta funkelte ihren Sohn wütend an.

Manfred winkte ab. Ihm war das gerade völlig egal.

»Ich hab mich gewundert, warum ihr gestoppt habt und nicht weitergefahren seid.« Mitch war ganz aufgeregt.

Sein Sohn hatte vor zwei Wochen eine Software im Internet gefunden und Manfreds altes Notebook an Brittas Hometrainer angeschlossen. Als er Manfred davon erzählt hatte, war der zuerst wenig interessiert gewesen. Doch dann hatte er sich das vermeintliche Spiel vorführen lassen und war fasziniert gewesen.

Mitch hatte sich auf den Sattel gesetzt, ein paar Einstellungen vorgenommen und war dann losgestrampelt. Auf dem Display des Notebooks war eine enge Straße in einer schönen, flachen Landschaft mit Äckern, Wiesen und Bauernhäusern erschienen. Während Mitch immer schneller in die Pedale des Heimtrainers getreten hatte, war das Kamerabild der Straße gefolgt. Manfred hatte gestaunt. »Das sieht aus wie bei uns am Niederrhein.«

»Klar, hab ich ja gewählt.« Mitch hatte auf einen kleinen Tacho am oberen rechten Bildschirmrand gezeigt. Dort hatte gestanden: »Routentyp: wenig befahrene Straße; Boden: Asphalt; Landschaft: Niederrhein; Speed: 22km/h.«

»Ist ja toll!« Manfred war begeistert gewesen. Nicht nur wegen des technischen Highlights, auch weil sein Elfjähriger auf Umwegen Spaß am Radfahren gefunden hatte.

»Pass auf, kommt noch besser.« Mitch hatte wieder auf dem Display herumgetippt. »Lion ist online.«

Auf dem Bildschirm hatte sich ein weiteres Fenster geöffnet und zeigte das stilisierte Bild eines schwarzhaarigen Jungen neben dem Chat.

LION:

Drehen wir ne Runde?

17:00

MITCH:

Ja, aber nicht zu lange. 10 Minuten?

17:02

LION:

Zillertal?

17:03

MITCH:

Aber unten, nicht die Höhenstraße

17:04

Manfred hatte erstaunt gelernt, dass Routen in ganz Europa zur Verfügung standen, und wie gebannt auf den Bildschirm gestarrt. Links neben der Straße hatte er tatsächlich einen Fluss erkannt, der aussah wie der Ziller in Tirol, den er von etlichen Urlaubsreisen kannte. Vor der Kamera war nun ein Fahrradfahrer in der vorbeihuschenden Landschaft gefahren.

»Das ist Lion. Pass auf, den greif ich mir jetzt.« Mitch hatte auf den Bildschirm getippt, und am oberen Bildschirmrand war zu sehen gewesen, dass sein Sohn in einen höheren Gang geschaltet hatte.

Mitch hatte sich vom Sattel erhoben, sein Tempo erhöht und den voranfahrenden Lion überholt. Das nächste Fenster hatte sich automatisch geöffnet, und Manfred hatte den schwarzhaarigen Jungen von vorne auf dem Rad erkannt, nun hinter seinem Sohn.

»Ist alles noch virtuell, in ein paar Wochen kommt ein Update, dann kann ich eigene Routen hochladen. Dann können wir mit deiner Lenkerkamera den ganzen Niederrhein filmen.«

»Mitch, wie kommst du an die Software?«

»Ja, äh. Sei nicht sauer. Ich habe ein bisschen geschummelt und gesagt, ich wäre im Club und würde Touren führen. Das fanden die toll und haben mich als Tester für die Software zugelassen.«

»Na ja, zum Tourenleiter bist du zu jung, aber ADFC-Mitglied, das stimmt schon.«

Manfred war stolz auf seinen Sohn gewesen. Er hatte nicht lange gezögert und die App »TourPilot« auch auf sein Handy installiert.

Danach hatte er sein Rad genommen und war eine halbe Stunde durch das Mürntal gefahren. Gemeinsam mit seinem Sohn, nur dass der auf dem Heimtrainer seiner Mutter unterwegs gewesen war. Mitch hatte ihn ganz schön ins Schwitzen gebracht, zuletzt sogar gnadenlos abgehängt. Auf dem Display seines Handys hatte Manfred gesehen, wie Mitch ihn zuerst überholte und dann vor ihm mit immer größerem Abstand fuhr.

Nach seiner Rückkehr hatte Mitch ihm grinsend gebeichtet, dass er ein E-Bike und starken Rückenwind gewählt habe. »Mama hat zugeschaut und sich kaputtgelacht.«

Auch bei der heutigen Tour war Mitch dabei gewesen. Wieder am Computer, wieder im E-Bike-Modus. Manfred war froh, dass die App noch keine realen Bilder zeigte.

»Mitch, vielleicht fahren wir heute am späten Nachmittag. Mama und ich drehen gleich eine Runde mit Pakko. Ich melde mich aus dem Auto, wenn wir auf dem Heimweg sind.«

Normalerweise hätten sie um halb elf gefrühstückt. Manfred brachte nach seiner Frühtour immer Brötchen mit, und wenn er aus der Dusche kam, hatte Britta das Frühstück gerichtet.

Heute hatte Britta mit Mitch und ihrer 16-jährigen Tochter Freddy enttäuscht alleine gefrühstückt. Es war Nikolaus und der zweite Adventssonntag, und an solchen Tagen legte sie Wert darauf, dass die Familie beim Essen gemeinsam am Tisch saß. Da hatte sie allerdings den Grund für Manfreds Verspätung noch nicht gewusst. Er hatte sie lediglich angerufen, ihr gesagt, dass sie eine Reifenpanne hätten und er sich verspäten würde. Vielleicht müsse sie ihn sogar abholen, er melde sich dann noch mal. Er hatte ihr die üble Geschichte nicht am Telefon erzählen wollen.

Nun war es fast eins, Manfred trank seinen Kaffee im Auto und aß die geschmierten Brötchen unterwegs. Britta hatte nicht auf ihren Sonntagsspaziergang verzichten wollen. Sie wusste außerdem, dass dies die beste Methode war, um ihren Mann auf andere Gedanken zu bringen. Sie wollte den Ausflug mit einem Kulturerlebnis verbinden und hatte ein Ziel bei Neuss vorgeschlagen.

Am Eingang der Museumsinsel Hombroich stellten sie enttäuscht fest, dass keine Hunde aufs Gelände durften. Der freundliche Mann an der Kasse gab ihnen einen guten Tipp, und sie fuhren zwei Kilometer weiter zu der ehemaligen NATO-Raketenstation. Zuerst sahen sie das avantgardistische Gebäude der »Langen Foundation«.

Manfred kam der Anblick bekannt vor. »Waren wir hier schon mal, Britt?«

»Nein, noch nie, aber du hast recht.« Britta überlegte. Als sie ausgestiegen waren, fiel es ihr ein. »›Tatort‹. Das war im Münster-Tatort. Hier war das Finale mit dem Dreckskerl, der exotische Tiere verspeiste wie du Steaks. Boerne und Thiel haben die kleine Pinguindame im letzten Moment vor dem Schlachtermesser gerettet … Ähm, Sandy hieß die Süße.«

Der Spaziergang über das großzügige Gelände mit Gebäuden in unterschiedlichster Architektur und kleinen Ateliers, von denen einige sogar besucht werden konnten, entschädigte sie völlig.

Auch Pakko hatte Spaß, er konnte zwischen den schmalen Straßen des alten Militärgeländes frei laufen. Es gab viel Gras, einige Bäume und keinen Autoverkehr. Außerdem spielten sie ihr Pumpenspiel, wozu Pakko immer große Lust hatte.

In den ersten Monaten mit ihrem jungen Mischling hatten sie verzweifelt versucht, Pakko das Stöckchenholen beizubringen. Sie warfen kleine Stöcke, große Stöcke, Stöcke mit Spucke, zuletzt einen Stock, den sie mit Leberwurst bestrichen hatten. Den fand ihr Hund klasse, lief hin, leckte ihn ab und kam zu ihnen zurück. Ohne Stock. Danach versuchten sie es mit Tennisbällen, auch die ignorierte der kleine Pakko, und sie hakten das Thema ab.

Wochen später hatte Manfred sein Fahrrad im Garten geputzt. Bei diesem seltenen Ereignis prüfte er auch immer den Reifendruck. Die Luftpumpe hatte er auf dem Gartentisch schon bereitgelegt. Ein heftiger Windstoß hatte sie vom Tisch auf den Terrassenboden gefegt. Wie der Blitz war Pakko herbeigesprungen, hatte die Pumpe gepackt, war mit ihr im Maul einmal um den Teich gerannt und hatte sie dann schwanzwedelnd vor ihm auf den Boden gelegt. Britta hatte die Szene von der Terrassentür aus beobachtet. »Wirf ihm die Pumpe, Manni. Schnell, mach mal!«

Manfred hatte seine Luftpumpe aufgehoben, sie wortlos seinem Hund gezeigt und sie in weitem Bogen über den Teich in die entlegenste Ecke ihres Gartens geworfen. Pakko war hinterhergestürzt und hatte sie wenige Sekunden später wieder vor seine Füße gelegt.

Nun hatte Britta die Pumpe genommen und sie in eine andere Ecke geworfen. Pakko hatte sie prompt zurückgebracht und sie zwischen Britta und Manfred abgelegt.

Manfred hatte sich daraufhin endlich eine moderne Zweiwegpumpe gekauft, die war nur halb so lang und passte besser in seinen Rucksack. Die alte, verklemmte Luftpumpe, die sein Vater schon benutzt hatte, als er noch lebte, lag seitdem neben Pakkos Hundeleine auf dem Schränkchen neben der Haustür. Ohne Leine und Pumpe gingen sie mit ihrem Hund nicht mehr aus dem Haus.

Wieder im Wagen, meldete sich Britta bei Mitch.

BRITTA:

Wird 17 Uhr.

16:35

MITCH:

Geht nicht. Lion ist da.

16:36

BRITTA:

Papa sagt schade!

16:40

Britta hatte ihrem Mann Mitchs Nachricht vorgelesen, während er fuhr. Manfred atmete auf. Ihm stand heute nicht mehr der Sinn nach einer Radtour, obwohl es vielleicht eine gute Ablenkung gewesen wäre.

Da piepte Brittas Handy erneut.

MITCH:

Brauchen einen zweiten

16:45

BRITTA:

?

16:48

MITCH:

Hometrainer

16:50

BRITTA:

Wieso???

16:51

MITCH:

Für Lion, damit wir nebeneinander fahren können.

16:53

BRITTA:

Ja bestimmt, so weit kommt es noch.

16:54

Bis gleich

16:54

Britta las ihrem Mann auch diesen Dialog vor und sie lachten. Insgeheim fand Manfred die Idee jedoch gar nicht so übel. An nassen Winterabenden ging er hin und wieder für zwei Stunden ins Fitnessstudio. Stattdessen gemeinsam mit Mitch zu Hause auf dem Fahrrad zu trainieren, das reizte ihn. In letzter Zeit war sein Sohn immer seltener mit ihnen zusammen, und lange Gespräche fanden gar nicht mehr statt.

Auf dem Heimweg leisteten sie sich ein dickes Eis beim kleinen Italiener in Marienheide, das einzige Eiscafé weit und breit, das Anfang Dezember noch geöffnet hatte.

Um sechs saß Manfred auf seiner Couch, und Britta widmete sich ihrem Gulasch, das sie bereits am Morgen fürs Abendessen angebraten hatte.

»Britta!«

»Ja?«

»Komm mal eben.«

»Geht gerade nicht, brauche noch ein paar Minuten.«

Als Britta wenig später ins Wohnzimmer trat, fand sie Manfred mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Couch. Er hielt sich das Knie.

»Auf der Motte bin ich gegen einen Baumstamm geprallt. Tut jetzt ganz schön weh. Mist!«

»Hose runter. Lass sehen.«

Während Britta an den Dielenschrank ging und etwas holte, zog ihr Mann seine Hose aus.

»Herrje, Manni, was sind denn das für Schrammen?«

»Von den Brombeeren zwischen Motte und Straße. Ist halb so wild. Aber mein linkes Knie … Ist das dicker?«

Britta kannte das. Männer und ihre Wehwehchen. Ihr Mann war zwar selten krank, doch wenn es ihn erwischt hatte, dann brauchte er intensiven ehelichen Trost und liebevollen Beistand. Sie legte das mitgebrachte Handtuch neben Manfred auf die Couch und reichte ihm eine kleine Dose mit grünlichem Inhalt. »Halt mal und leg das Bein auf das Tuch.«

Manfred las das Etikett. »Pferdesalbe?«

»Hat mir meine Mutter geschenkt. Nimmt sie seit Jahren für ihren Rücken. Ich reibe sie immer damit ein. Sie schwört darauf.«

»Sie muss es ja wissen.« Manfred verdrehte die Augen. »Das ist keine Verspannung, sondern eine ernsthafte Sportverletzung.«

»Halt die Klappe und das Bein ruhig.«

Manfred ergab sich gehorsam in sein Schicksal.

Britta nahm ihm die Dose ab, holte mit dem Finger einen dicken Klecks der grünen Paste heraus und schmierte vorsichtig Manfreds lädiertes Knie ein.

»So, den Rest kannst du selbst erledigen. Schön einreiben, bis die Haut wieder trocken ist.«

Manfred hielt sich an die Anweisung. Die Salbe kühlte zuerst und wärmte dann. Er schlief bald darauf ein.

Als Britta ihn nach einer halben Stunde zum Essen weckte, hatte er sein Knie vergessen und stand ganz normal auf.

Das Sonntagabendessen zum Wochenendabschluss zelebrierten sie nach Möglichkeit mit beiden Kindern, auch wenn das immer seltener klappte. Heute saßen sie jedoch zu viert am Tisch.

Freddy und Mitch hatten aufgedeckt, Mitch stellte gerade die große Schüssel auf den Tisch, und Freddy platzierte zwei kleinere Schüsseln daneben.

Manfred erkannte Chicorée-Salat und Schupfnudeln und schnupperte. »Britta, ist das Wildschweingulasch?«

»Ja, das muss mal weg. In unsere Truhe passt nichts mehr rein, seitdem du die Sau vom Doktor gekauft hast.«

»Du bist ein Schatz!« Sein Lieblingsessen zum Nikolaustag. Manfred war entzückt und vergaß für einige Minuten sogar den toten Luuk.

Nach dem Essen gingen sie gemeinsam ins Wohnzimmer. Mit den Kindern. Britta hatte »Ice Age 2« aufgenommen, und obwohl sie ihn längst im Kino gesehen hatten, genossen sie erneut den wunderbaren Animationsfilm.

Als Manfred nach Mitternacht allein auf seiner Couch saß, meldete sich sein Knie erneut, und er wiederholte die Prozedur mit der Salbe. Danach ging es ihm besser, und er nahm sich nochmals die Zeitung vom Samstag.

Eigentlich müsste ich Bernd informieren, überlegte Manfred und beschloss, das am Morgen nachzuholen. Er ging nicht davon aus, dass die Rheinische Post am Montagmorgen von dem Vorfall berichten würde. Bernd war der Vorsitzende ihres Grawenhorster Fahrradclubs und würde aus allen Wolken fallen.

Um drei wachte Manfred auf dem Sofa auf. Er wollte seine Frau nicht wecken und schleppte sich deshalb schlaftrunken auf die breite Schlafcouch in seinem Kellerbüro statt in sein Bett.

Montag

»Pübüpp.«

Unsanft weckte das Messenger-Signal Manfred aus seinem Tiefschlaf. Bernd hatte geschrieben.

BERND:

Polizei-PM, was ist passiert?

06:14

Manfred war freiberuflicher Marketingberater und Journalist und überflog nun die Liste der Pressemitteilungen der Grawenhorster Polizei, die er regelmäßig per E-Mail erhielt.

05:46 ots.e-mail POL-GH: Radfahrer stirbt in Mürntalgrotte

06:01 ots.e-mail POL-GH: Leergut-Betrug mit Büchsen

06:10 ots.e-mail POL-GH: Korrektur: Radfahrer stirbt in Mürntalmotte

 

Ahnungsvoll öffnete er das Portal von rp-online.de und sah, dass die frühe Pressemeldung der Polizei bereits veröffentlicht worden war.

Todesfall in Mürntalgrotte

Schwer verletzter Radfahrer stirbt am Unfallort

Am Sonntagmorgen kam es im Süden von Grawenhorst zu einem tragischen Unfall. Ein 24-jähriger Niederländer verlor auf einem Waldweg in der Nähe der Mürntalgrotte die Kontrolle über sein Mountainbike. Eine Gruppe von Radfahrern fand ihn am frühen Morgen und alarmierte unmittelbar den Rettungsdienst. Die Sturzverletzungen waren so schwer, dass der junge Mann beim Eintreffen der Rettungskräfte bereits tot war. Die Grawenhorster Polizei befragt zurzeit die Teilnehmer der Fahrradtour und untersucht das Fahrrad des Verunglückten.

Trotz allem musste Manfred lachen. »Mürntalgrotte« … Da hatte die Online-Redaktion die erste Pressemeldung der Polizei ungeprüft übernommen und aus der Motte eine Grotte gemacht. Dann beantwortete er Bernds Frage.

MANNI:

Wir haben Luuk gefunden, lag im Wasser. Tot.

06:24

BERND:

Oh Gott. Weiß Hilde es schon?

06:26

MANNI:

War dabei, völlig geschockt. Ist im Krankenhaus.

06:27

Ich muss gleich zur Kripo :-(

06:29

Nun brummte Manfreds Handy, Bernd rief an. Die Verbindung war grausig, der ADFC-Vorsitzende war auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle in Aachen und saß im Zug.

»Warum musst du zur Kripo?«, fragte Bernd.

»Sieht so aus, als ob es kein Unfall war. Sein Rad lag meterweit weg, und der Notarzt hat die Polizei alarmiert.«

»Wieder bei deiner Tour, Manni.«

Manfred hörte den Vorwurf und widersprach energisch. »Quatsch mit Soße. Hat nix mit meiner Tour zu tun. Wir haben Luuk nur gefunden.« Dass sie mit Luuk verabredet gewesen waren, verschwieg er, das würde sich früh genug herumsprechen.

»Wie geht es Hilde?«

»Ich ruf gleich im Hilla an, und wenn sie noch dort liegt, fahr ich nach dem Präsidium zu ihr.«

Das frühere Hildegardis-Krankenhaus war heute die Arbello-Klinik, die Grawenhorster nannten sie unbeirrt »Hilla«.

»Vielleicht kann Friedel sie trösten. Melde dich, wenn du mehr weißt. Bis dann, spätestens morgen.« Bernd legte auf.

Manfred fragte sich, was er mit »wenn du mehr weißt« gemeint hatte. Wie es Hilde ging oder was Luuk betraf? Vermutlich beides. Mit »morgen« hatte Bernd auf ihren Stammtisch hingewiesen.

Manfred legte sein Handy weg und drehte sich auf seiner Couch noch mal um. Er fand nicht wieder in den Schlaf, stand schließlich auf und schleppte sich gähnend in die Zweitdusche neben seinem Arbeitszimmer.

Danach ging er hoch in die Küche, kochte Kaffee, schmierte seine Brote, holte die Zeitung aus dem Briefkasten und begann sein Morgenritual. Kaffee trinken, essen und Zeitung lesen. Nach 20 Minuten war er fertig.

Keine besonderen Vorkommnisse, der Aufmacher der Titelseite thematisierte die gestrige Forderung der größten Oppositionspartei nach Legalisierung von Cannabis für den Privatgebrauch. Der Lokalteil griff die baldige Sitzung des Grawenhorster Stadtrats auf und die anstehenden Entscheidungen zur zukünftigen CentralCity, zum neuen Gewerbegebiet West und zu dem zu erwartenden Verkehr dazwischen. Der Ratsbeschluss würde auch den geplanten »Oweras« betreffen, der möglicherweise nicht mehr als echter Radschnellweg, sondern nur als schneller Radweg realisiert werden würde. Zu Luuk Meulendijks Tod stand nichts in der Zeitung. Für die Papierausgabe war die Pressemeldung der Polizei viel zu spät gekommen.

Zurück im Büro setzte Manfred sich an seinen Schreibtisch und startete den Computer. Während er wartete, ging er im Geiste seinen Tagesplan durch. Um halb zehn musste er ins Präsidium, danach wollte er zu Hilde ins Krankenhaus, wenn sie noch dort war. Manfred prüfte die Wetterlage und beschloss, die kurzen Strecken mit dem Rad zu fahren.

Vor dem Bildschirm wartete er ungeduldig darauf, dass sich sein E-Mail-Programm öffnete. Seit dem letzten Update war sein Rechner deutlich langsamer geworden, und die Wartezeiten nervten ihn. Es wurde höchste Zeit für eine neue Kiste.

Um zwei hatte Manfred einen beruflichen Termin, dafür musste er noch ein paar Details ausarbeiten. Sein Kunde erwartete nicht nur den Entwurf einer neuen Broschüre, sondern auch ein Konzept, vor allem eine Kostenschätzung. Den Entwurf hatte Manfred längst präsentationsreif im Copyshop ausdrucken lassen. Nun klärte er mit seiner Hausdruckerei in Brüggen telefonisch die Details für die Produktion.

Um neun war er fertig und übertrug die Dateien auf sein Notebook.

Ihm fiel etwas ein, und er setzte sich wieder an seinen PC. Er zeichnete die Strecken seiner Touren immer per App auf, so auch die gestrige. Der Track wurde stets automatisch ins Internetportal übertragen, und von da sandte er die GPX-Datei an die Kripo. Die würden ihn sowieso gleich danach fragen.

Um Viertel nach neun saß er auf dem Fahrrad, fuhr bald in schnellem Tempo auf der abschüssigen Bemelmann­straße und querte die vierspurige Bernaustraße zum Polizeipräsidium. Den Weg zum Gebäude Z hätte er auch im Schlaf gefunden, nicht nur weil er im Spätsommer des Vorjahres hier mehrmals hatte erscheinen müssen. Sein verstorbener Vater war bei der Kripo gewesen, und sie hatten in der Nähe gewohnt, Manfred war hier aufgewachsen.

Er schloss sein Fahrrad an und bemerkte Brockmanns neues Rad in der überdachten Abstellanlage. Der Kriminalbeamte hatte ordentlich investiert; das Foto seiner Errungenschaft hatte er Manfred erst vor ein paar Tagen gemailt. Das auffällige Mountainbike war mit einem schweren Zahlenschloss angekettet.

»Heidenei, der fährt jetzt tatsächlich mit dem Rad zur Arbeit.«

Manfred ging zum Eingang, steuerte im Gebäude gezielt das Büro der Kriminalbeamten an und setzte sich im Gang auf die Bank. Er war zehn Minuten zu früh und wollte sich zuerst sammeln.

Ein junger Mann kam, öffnete die Tür zu Brockmanns Büro und steckte den Kopf hinein. »Der Chef versucht, Sie seit halb acht zu erreichen. Ist Ihr Handy aus?«

»Melde mich bei ihm.« Brockmanns Stimmorgan war nicht zu überhören.

Der junge Beamte drehte sich um und ging, ließ die Tür jedoch offen. Aus ihr trat Schäbe, schloss die Tür hinter sich und begrüßte Manfred.

»Handy abgeschaltet?«, fragte Manfred. »Ihr habt ihm doch ein Smartphone geschenkt, damit er immer erreichbar ist.«

»Marti hat gedacht, der Akku würde ewig halten. Nun ist er leer. Und das Handy ist weg. Er hat gestern in seiner Wohnung alles abgesucht und heute Morgen hier im Büro jede Akte umgedreht. Er hat keine Idee mehr, wo er noch suchen soll. Hat sich gerade eine Ersatzkarte bestellt und die alte sperren lassen. Ich hab ihm mein altes Handy geliehen.«

Manfred schüttelte den Kopf. »Martin und sein Handy.«

»Da kannst du ein Buch drüber schreiben.« Schäbe öffnete die Tür wieder, sah ins Büro, drehte sich anschließend zu Manfred und winkte ihm. »Komm rein, Manni.«

Manfred betrat den Raum und überlegte, wie er Brockmann begrüßen sollte.

Da kam der bereits auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. »Nix für ungut, Manni, manchmal muss man privat und beruflich trennen, vor allem wenn Fremde dabei sind. Setz dich. Und dann erzähl noch mal, wie das abgelaufen ist.«

Manfred berichtete, dass sie pünktlich zwei Minuten nach acht am Juliapark gestartet waren, noch in der Dunkelheit. »Den Tourtrack hast du bekommen, oder?«

Brockmann schaute zu Schäbe, der nickte.

Manfred fuhr fort und ließ auch nicht aus, dass sie auf Hildes Vorschlag Luuk hatten treffen wollen, gegen 08:20 Uhr etwa. An der Motte.

»Ihr wusstet also, dass Meulendijks da sein würde?«

»Darum haben wir ihn überhaupt erst gesucht. Und gefunden. Hilde hat das Treffen vorher mit uns abgesprochen. Und sie hatte mich schon am Samstagabend über Facebook nach meinem Routenplan gefragt.«

»Über Facebook? Dann wusste alle Welt, wo ihr und der Holländer unterwegs wart?« Brockmann sackte regelrecht zusammen hinter seinem Schreibtisch.

»Nee, nee, keine Sorge, Marti. Nicht als Post, nur per Messenger, konnte keiner lesen außer Hilde und mir.«

Brockmann sah erst Manfred, dann Schäbe ratlos an. Manfred hegte den Verdacht, dass er Post wie Deutsche Post verstanden hatte.

Schäbe winkte ab. »Schon okay, Marti. Die haben nur per PN miteinander kommuniziert. Persönliche Nachrichten sieht sonst keiner.«

»Also wusstest du seit Samstag, dass Luuk an der Motte sein würde. Und Hilde wusste das. Und die anderen beiden?«

Manfred fiel ein, dass er zu Hause die Teilnehmerliste eingesteckt hatte, holte sie aus seiner Jackentasche und hielt sie Brockmann hin.

Der warf einen Blick darauf und las sie laut vor: »Manfred Hanraths, also du, Hilde, Daniel Tuscher und Rüçhan …«

Schäbe mischte sich ein. »Die Personalien habe ich gestern im Haus der Lambertz’ schon aufgenommen. Mehmet Rüçhan heißt er.«

Manfred wunderte sich, sie hatten ihn immer nur Rüçhan genannt, auch in der Teilnehmerliste hatte er sich stets nur so eingetragen.

Brockmann fuhr fort: »Wann haben die zwei Männer erfahren, wo ihr langfahrt und dass ihr Luuk treffen wollt?«

»Erst am Juliapark, unmittelbar bevor wir losgefahren sind. Es waren alle Punkt acht da, es war schweinekalt gestern Morgen. Keiner wollte lange rumstehen.«

»Dann erzähl mal, was du von Hilde und Luuk weißt.«

Manfred überlegte kurz, berichtete dann, dass er Hilde erstmals im Frühjahr letzten Jahres begegnet war. Sie hatten sich zufällig bei der Fahrradsternfahrt in Düsseldorf kennengelernt und festgestellt, dass sie beide aus Grawenhorst stammten. »Hilde hat zuerst mit ihrem Mann in Holland gelebt, also eigentlich nicht in Holland, sondern in Limburg in den Niederlanden. Vor zwei Jahren hat Luuk hier einen besseren Job gefunden, und kurz danach sind sie in den Gründer gezogen, auf die Dyroffstraße, glaub ich.«

»Gründer« nannten die Grawenhorster das Gründerzeitviertel westlich vom Zentrum ihrer Stadt.

»Luuk war ein Ass auf dem BMX-Rad. Bald nachdem sie hierher gezogen sind, hat er den neuen Job an den Nagel gehängt und war nur noch unterwegs. Von Event zu Event ist er gereist, war fast jedes Wochenende weg.« Manfred zögerte, überlegte, ob Vermutungen gefragt waren.

Brockmann merkte sofort, dass da noch etwas war, und forderte ihn nachdrücklich auf, nichts auszulassen.

»Also, wir hatten den Eindruck, dass Hilde nicht so glücklich darüber war, dass er den Job geschmissen hat. Finanziell hat das wohl funktioniert, denn Luuk verdiente gutes Geld mit dem Sport, hat auch ein paar potente Sponsoren aufgetan. Jedenfalls bis zu seiner Verletzung vor ein paar Monaten. Hilde ist auch ein Freak auf dem Rad. Wenn die auf ihrem Fixie jongliert, wird dir schon beim Zusehen schwindelig.« Manfred erklärte, dass ein Fixie ein Fahrrad ohne Schaltung und ohne Bremsen war, mit dem man auch rückwärtsfahren konnte.

»Das hat nur einen festen Gang, da musst du immer mittreten, die Pedale halten nie an.«

Schäbe mischte sich ein. »Würde ich gerne mal ausprobieren.«

»Lass es besser sein, Jürgen. Ich hab es versucht – nie wieder! Es war so …«

Brockmann wies Manfred zurecht. »Bleib mal bei der Sache, Manni. Keine Geschichten. Weiter bitte.«

»Hilde hatte sich dann selbstständig gemacht mit ihrem Radkurierdienst. Zuerst ist sie viele Monate allein unterwegs gewesen, doch irgendwann schaffte sie die vielen Aufträge nicht mehr. Dann hat sie Friedel eingestellt, der suchte einen Job und hat eh ein Lastenrad. Der fährt jetzt die Touren mit den Paketen, und Hilde macht weiter ihre Expresslieferungen mit dem Riesenrucksack auf dem Rücken. Sie hat das alles erzählt, als ich sie mit Britta am Wellingplatz getroffen habe. Ist ein paar Wochen her, Friedel war auch dabei.«

Manfred fiel das Telefonat heute früh mit Bernd ein. Was hatte er gesagt? »Vielleicht kann Friedel sie ja trösten.« Wie Bernd das wohl gemeint hatte? Aber Manfred wollte keine Gerüchte in die Welt setzen, vor allem nicht hier im Polizeipräsidium. Man wusste nie, was die Kripo daraus machen würde.

»Luuk jedenfalls ist ein Star in der Szene, hat seinen eigenen Youtube-Kanal mit tollen Clips seiner BMX-Stunts.«

»Ich kenne Youtube.« Brockmann beantwortete die Frage, die unausgesprochen im Raum stand.

»Jedenfalls bis zu seinem Sturz und der Knieverletzung. Da war vorerst Schluss mit dem großen Sport. Hilde hat durchblicken lassen, dass Luuk nicht versichert war und die Sponsorenverträge nicht langfristig angelegt gewesen waren. Sie ist jedenfalls froh, dass sie ihren Kurierdienst hat.«

Brockmann hakte nach. »Habt ihr das Handy des Toten an euch genommen?«

»Der hatte kein Handy dabei. ›Luuk nimmt seit Wochen sein Handy nicht mehr mit‹, hat Hilde am Juliapark gesagt, als wir gefragt haben, ob sie ihn wegen des Treffens an der Motte noch mal anrufen wolle.« Manfred sah auf die Uhr. »Herrje, gleich elf. Ich will noch ins Krankenhaus, Hilde besuchen.«

Schäbe winkte ab. »Kannst du dir sparen, Manni, sie kommt gleich hierher, müsste eigentlich schon draußen sitzen.«

»Wenn dir noch was einfällt, lass es uns wissen.« Brockmann gab ihm zum Abschied fest die Hand und schaute ihm tief in die Augen.

Manfred wurde das Gefühl nicht los, dass der Kripomann ahnte, dass er nicht alles erzählt hatte.

Auf der Bank neben der Tür saß Hilde bereits. Manfred hatte den Eindruck, dass es ihr etwas besser ging. Er nahm sie wortlos in seine Arme und verabschiedete sich dann.

Als er draußen sein Fahrrad aufschloss, klopfte ihm jemand auf die Schulter. Er drehte sich um, Daniel und Mehmet standen vor ihm. Manfred fiel ein, dass sie auch zum Protokoll gebeten worden waren, und erfuhr, dass die beiden zur selben Zeit wie er in anderen Räumen ausgesagt hatten. Sie zeigten die Visitenkarten, ihm sagten die Namen dieser Kriminalbeamten nichts.

Manfred stieg in den Sattel und lenkte sein Rad zur Ausfahrt des Präsidiums.

»Dingding.«

Sein Handy. Die Erinnerung an den Nachmittagstermin. In aller Eile fuhr er über den leichten Anstieg heimwärts. Unterwegs fiel ihm tatsächlich noch etwas ein, und er nahm sich vor, am Abend bei der Kripo anzurufen.

Das Gespräch bei seinem Kunden am Nachmittag war kompliziert und dauerte länger als erwartet. Endlich jedoch war es geschafft, und Manni machte sich zum zweiten Mal am heutigen Tag auf den Nachhauseweg. Von unterwegs rief er Britta an, er hoffte, dass sie zusammen essen würden. Als sie abhob, fragte er unverblümt: »Hast du gekocht?«

»Nein, nicht geschafft, und gleich habe ich Training. Bring Pizza mit. Nur für dich. Freddy schläft bei Siglin, die üben für Mathe. Und oben bei Mitch ist Lion. Stell dir vor, die beiden haben selbst gekocht und bereits gegessen.«

»Oje. Und wie sieht die Küche aus?« Er ahnte Böses.

»Geht so, hätte ich mir schlimmer vorgestellt.« Britta lachte.

Brittas Volleyballtraining. Manfred verzog das Gesicht. Vor ein paar Monaten hatte der Verein den langjährigen 17-Uhr-Termin an eine Jugendmannschaft vergeben. Nun trainierte seine Frau immer um acht. Veränderungen dieser Art waren ihm ein Graus.

Er lenkte den Kombi auf einen freien Parkplatz neben der Josefskirche. Von hier aus waren es nur ein paar Schritte zu ihrer Stammpizzeria. Vor der Tür parkte der Wagen des Pizzaboten auf dem Gehweg. Mit dem Vorsatz, den Chef auf das Auto anzusprechen, betrat Manfred den kleinen Laden.

»Señor Hanraths, hace mucho tiempo sin verte.« Der Inhaber der Pizzeria empfing ihn mit seinem freundlichsten Lächeln.

Manfred musste lachen, war er doch erst vor fünf Tagen hier gewesen. Er begrüßte seinerseits herzlich sein Gegenüber.

»Was dürfen wir für Sie zubereiten?« Der rundliche Spanier sah ihn fragend an. Im Viertel hatten damals fast alle den Kopf geschüttelt, als bekannt wurde, dass die neue Pizzeria von einem Spanier geführt wurde. Längst interessierte sich niemand mehr dafür.

Manfred bestellte seine übliche Quattro Stagioni mit Extrakäse und viel Knoblauch in der Soße.

Als sie vor Jahren im Neubaugebiet am Rande von Grawenhorst gebaut und fast täglich den Fortschritt an der Baustelle kontrolliert hatten, war er regelmäßig hier in der »Casa Carlos« gewesen.

Seine Britta hatte das entstehende Wohngebiet damals gefunden. Zuerst war Manfred gar nicht begeistert gewesen. Er war Stadtkind, mitten in der City aufgewachsen und hatte stets nah an der trubeligen Altstadt gewohnt. Britta kam aus Anrath im Kreis Viersen. Als er sie kennenlernte, hatte sie mit ihren Eltern auf einem Bauernhof gelebt und gearbeitet.

An einem Sonntag hatte seine Frau ihm das Grundstück im Grawenhorster Süden gezeigt. Manfred war aus allen Wolken gefallen. »Minssen? Das ist doch am Arsch der Welt! Keine Disco weit und breit. Was machen wir da am Wochenende?«

Britta hatte nur auf ihren runden Bauch gezeigt und gelacht, und längst war Manfred froh, dass sie diese Entscheidung getroffen hatten. So weit war es gar nicht in die Innenstadt. Mit dem Rad schaffte er es in 15 Minuten bis zur Einkaufsmeile hinter dem Horgweiher, und die Buslinie 772 brauchte ab Minssen-Kirchplatz zehn Minuten. Den Bus hatte er jedoch noch nie genommen, der Fußmarsch bis zur Kirche war ihm zu lästig. Mit dem Auto fuhren sie nur selten in die Stadt. Seitdem das komplette Zentrum für den Verkehr gesperrt worden war, erübrigte sich jeder Versuch. Nur noch Anwohner hatten reservierte Parkplätze, und wer falsch parkte, wurde rigoros abgeschleppt. Das Parkhaus unter dem Theater war ihm zu teuer.