FEM - Freiheitseinschränkende Maßnahmen - Jutta König - E-Book

FEM - Freiheitseinschränkende Maßnahmen E-Book

Jutta König

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Beschreibung

Kompakter Ratgeber in Sachen FEM Tipps für die tägliche Praxis Alternativen für ein Plus an Lebensqualität FEM – das lässt sich mit „freiheitseinschränkenden Maßnahmen“ genauso gut übersetzen wie mit „Freiheit eines Menschen“. Denn es gibt Alternativen zu Maßnahmen wie Bettgittern, Sitzgurten oder augenfälligen Protektoren, um vor allem Menschen mit Demenz zu schützen. Dieses Buch liefert Beispiele und vor allem viele Alternativen, die in der Praxis zu mehr Lebensqualität führen, ohne den Sicherheitsaspekt zu vernachlässigen: Biografiearbeit, Redufix, Werdenfelser Weg, Leitlinie FEM. Die Autorinnen tragen kurz und kompakt das grundlegende Wissen zusammen. Sie informieren über die aktuelle Rechtsprechung, über Sinn und Unsinn von Fixierungen. Und sie beweisen: Rund ein Drittel aller Maßnahmen kann entfallen, wenn Pflegende ihre Haltung ändern. Die Lektüre dieses Buches ist ein guter Anfang auf diesem Weg.

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Jutta König ist Wirtschaftsdiplombetriebswirtin Gesundheit (VWA), Sachverständige bei verschiedenen Sozialgerichten im Bundesgebiet sowie beim Landessozialgericht in Mainz, Unternehmensberaterin, Dozentin in den Bereichen SGB V, SGB XI, Haftungs- und Betreuungsrecht. Sie ist examinierte Altenpflegerin, arbeitete als Pflegedienst- und Heimleitung.

Marion Schibrowski arbeitet als Bereichsleitung im zentralen Qualitätsmanagement der Azurit-Gruppe in Fürstenzell. Nach ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin absolvierte sie Weiterbildungen zur Stations- und Pflegedienstleitung.

» Die Freiheit ist nicht das Fernhalten von etwas. Freiheit ist alles zu tun oder zu lassen, einfach zu sein, wie man ist.«

JUTTA KÖNIG

pflegebrief

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8426-0870-2 (Print)ISBN 978-3-8426-9126-1 (PDF)ISBN 978-3-8426-9127-8 (EPUB)

© 2021 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover, www.schluetersche.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autoren und des Verlages. Autorinnen und Verlag haben dieses Buch sorgfältig erstellt und geprüft. Für eventuelle Fehler kann dennoch keine Gewähr übernommen werden. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus in diesem Buch vorgestellten Erfahrungen, Meinungen, Studien, Therapien, Medikamenten, Methoden und praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen. Insgesamt bieten alle vorgestellten Inhalte und Anregungen keinen Ersatz für eine medizinische Beratung, Betreuung und Behandlung.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Buch die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich Personenbezeichnungen gleichermaßen auf Angehörige des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie auf Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.

Etwaige geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass es sich um freie Warennamen handelt.

Lektorat: Claudia Flöer, Text & Konzept FlöerCovermotiv: Victor88 – fotolia.comCovergestaltung und Reihenlayout: Lichten, Hamburg

Inhalt

Vorwort

1Freiheit und Selbstbestimmung – das oberste Gut aller Menschen

1.1Gesetzestexte

1.2Rechtsentscheidungen

1.2.1Keine Haftung nach Sturz aus dem Bett

1.2.2Es kommt nicht auf die Dauer einer Maßnahme an

1.2.3Entscheidungsmöglichkeiten von Angehörigen und Betreuern

1.2.4Keine Haftung, wenn Fixierung nicht angewendet wird

1.2.5Sitzwache statt Fixierung

1.2.6Ein ganzer Bezirk fast ohne Fixierungsgenhmigung

1.2.7Bettgitteranbringung im Krankenhaus

2Rechtliche Betrachtung

2.1Antifolterkommision

2.2Testen Sie Ihr Wissen

2.3Genehmigungspflichtige freiheitseinschränkende Maßnahmen

2.4Nicht genehmigungspflichtige freiheitseinschränkende Maßnahmen

2.5Einwilligungsbestätigung

2.6Checkliste Überprüfung der Notwendigkeit einer Betreuung

2.7Checkliste Überprüfung und Einschätzung freiheitseinschränkender Maßnahmen

3Freiheitseinschränkende Maßnahmen im ambulanten Bereich

3.1Ist die ambulante Pflege ein rechtsfreier Raum?

3.2Der MDK prüft ambulant auch das Thema »Freiheitseinschränkung«

4Methoden freiheitseinschränkender Maßnahmen

4.1Schuhe/Kleidung wegnehmen oder im Schrank unzugänglich verschließen

4.2Pflegeoverall oder Strampelanzug

4.3Medikamente

4.3.1Medikamente und ihre häufigsten Nebenwirkungen

4.4Überwachung

4.5Trickschlösser an Türen

4.6Therapietische

4.7Bettgitter

4.7.1Bettgitter dürfen von Richtern nicht generell als »genehmigungsfrei« bezeichnet werden

4.7.2Bettgitter bei sehr unruhigen Menschen

4.7.3Einsatz einer Wechseldruckmatratze

4.7.4Pflegebetten ermutigen zur Anwendung von Bettgittern

4.8Sitzhosen oder Hosenträgergurt

4.9Bauchgurte

4.10Versperren von Türen oder Wegen/Absperren eines Wohnbereiches

4.11Absperren des Zimmers

4.12Zwangswaschungen

4.13Verbale Fixierung

5Nebenwirkungen

6Die Angst vor Stürzen

6.1Gründe für freiheitseinschränkende Maßnahmen

6.1.1Medizinisch-pflegerische Maßnahmen

6.1.2Herausforderndes Verhalten

6.1.3Organisatorische Gründe

6.1.4Druck durch das Umfeld

6.2Jeder hat das Recht zu stürzen

6.3Wenn genehmigte freiheitseinschränkende Maßnahmen nicht angewendet werden

7Sturzprophylaxe

8Szenen aus dem Alltag

9Wenn es nicht ohne Fixierung geht

9.1Antragstellung bei Gericht

9.2Verfahrenspfleger

9.3Genehmigter Antrag

10Alternativen

10.1Wunschdenken und Wirklichkeit

10.2Biografiearbeit als Schlüssel

10.2.1Biografiearbeit endet nicht

10.2.2Fragestellungen und Themen für die Biografiearbeit

10.3Verzicht auf freiheitseinschränkende Maßnahmen

10.3.1Redufix

10.3.2Werdenfelser Weg

10.3.3Leitlinie FEM

10.4Medikamente, Nebenwirkungen und eine Alternative

10.5Alternativen zum Bettgitter

10.6Mobilitätsförderer

10.7Alternativen zu Fixierungen bei der Behandlungspflege

10.8Alternative zur Fixierung im Rollstuhl und Rollstuhlgurt

10.9Unbeabsichtigtes Verlassen der Wohnung oder der Einrichtung

10.10Alternativen zur Ortsfixierung

10.10.1Begleitung beim Gehen

10.10.2Überprüfung der Medikamente

10.10.3Eine Tagesstruktur mit sinnvoller Beschäftigung

10.10.4Schulung der Mitarbeiter

10.10.5Aktive Einbindung der Betreuenden und Angehörigen

10.10.6Milieuverbesserung

10.10.7Individuelle Anpassung der Toilettengänge

10.10.8Protektorenhosen

11Dokumentation

11.1Die Ausgangssituation

11.2Assessment Sturzrisiko

11.3Die Pflegeplanung

11.4Die SIS®

11.5Der Pflegebericht

11.6Unfallbogen der Krankenkasse

11.6.1Auszüge aus Veröffentlichungen

12Auflösung des Tests aus Kapitel 2.1

Literatur

Register

Vorwort

Das Thema »freiheitseinschränkende Maßnahmen« hat in Deutschland eine lange Tradition. In den 1980er-Jahren wurden viele Menschen mit Bettgittern und teils auch Bauchgurten fixiert. Kaum jemanden kümmerte es. Niemand fragte nach, die rechtlichen Rahmenbedingungen waren lax. Pflegekräfte konnten frei entscheiden, wann, wie und wie lange sie einen hilfsbedürftigen Menschen fixierten.

1992 kam das Betreuungsgesetz, das zum einen die Vormundschaft für Erwachsene abschaffte und durch das Betreuungsgesetz ersetzte und sich zum anderen dem Thema »Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen« widmete. Dass ein Gesetz in Kraft tritt, bedeutet aber nicht gleichzeitig, dass es auch sofort umgesetzt wird. Auch heute, 30 Jahre nach der einschneidenden Gesetzesänderung, werden einige Menschen von ihren Betreuern wie unter Vormundschaft behandelt. Der Betreuer bestimmt über Geld, Behandlung, Beschäftigung und über freiheitseinschränkende Maßnahmen.

Ähnlich wie mit den Rechten und Pflichten des Betreuers verhält es sich mit den freiheitseinschränkenden Maßnahmen. Noch heute ist vielen nicht klar, dass ein Strampelanzug in die Persönlichkeitsrechte eingreift, ebenso wie Ortungsgeräte und Überwachungsgeräte unterschiedlicher Art. Viele Pflegekräfte sind unsicher, ob die mündliche Aussage eines Klienten zum Bettgitter genügt und glauben, man dürfe ein Bettgitter ohne Genehmigung 24 Stunden hochgezogen sein lassen.

Mit diesem Buch möchten wir Ihnen zum einen sagen, was im Gesetz steht und wie einige es interpretieren. Zum anderen zeigen wir Ihnen, dass freiheitseinschränkende Maßnahmen eben nicht immer das Mittel der Wahl sind und regen Sie zum Nachdenken darüber an, wann Sie in das Grundrecht »freie Entfaltung der Persönlichkeit« eingreifen dürfen. Wir geben Tipps und möchten uns gleich als Gegner von freiheitseinschränkenden Maßnahmen outen. Wir finden, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, ob

eine Demenz vorliegt oder nicht. Wer von uns möchte sich bei irgendetwas überwachen lassen? Wir zumindest leben nach dem Motto: Lieber einmal am Tag gefallen als 30 Tage ordentlich am Stuhl festgemacht. Übrigens bevorzugen wir das Wort »freiheitseinschränkend« und nicht »freiheitsentziehend «. Beide Begriffe werden synonym verwendet.

Uelversheim, im Mai 2021

Jutta König, Uelversheim Marion Schibrowski, Fürstenzell

 

 

 

 

 

Dankeschön

Unser besonderer Dank gilt Steffen Krakhardt, Geschäftsführer und Gesellschafter der Azurit-Gruppe, der durch die Freigabe von Daten aus seinen Einrichtungen einige Grafiken und Darstellungen erst möglich machte.

1 Freiheit und Selbstbestimmung – das oberste Gut aller Menschen

Unser deutscher Rechtstaat verbrieft die Freiheit der Person im Grundgesetz an zweiter Stelle, gleich nach Artikel 1, der Würde. In jeder Einrichtung der Pflege finden sich auch Leitbilder mit den Inhalten Freiheit, Selbstbestimmung und Würde. Aber wie ernst ist das wirklich gemeint? Offensichtlich ist es wichtiger, dass jene, die in der Pflege arbeiten, zufrieden sind. Erst dann kommt der Mensch, der in Obhut und/oder Pflege gegeben wurde. So zumindest der Eindruck, wenn man Mitarbeitenden zuhört. Da heißt es: »Der Herr Müller ist schon wieder aus dem Bett gefallen, wir sollten ein Bettgitter beantragen.« Was man einem Klienten damit antut, steht nicht zur Debatte, es geht um Sicherheit. Leider nicht die des Klienten, sondern es geht um das Sicherheitsbedürfnis der Mitarbeitenden. Weit weg vom Leitbild einer Einrichtung und auch weit weg von Empathie.

1.1Gesetzestexte

Betrachtet man das deutsche Rechtssystem als Pyramide (Abb. 1), so steht das Grundgesetz über allem. Danach folgen weitere, bundesweit geltende Gesetze wie Sozialgesetze, Heimgesetz oder Strafgesetz. Dann kommen landesrechtliche Regelungen, schließlich hat nahezu jedes Bundesland (bis dato 15 Länder) neben dem bundesweit geltenden Heimgesetz eigene heimrechtliche Vorschriften. Darunter befinden sich Einzelverträge mit Kunden und Leitbilder. Es gibt in Deutschland fast so viele Leitbilder wie Einrichtungen. Aber alle dürften eines gemein haben: eine Aussage zur Würde und

Abb. 1: Das bundesdeutsche Rechtssystem als Pyramide.

Selbstbestimmung ihrer Pflegebedürftigen, Kunden und Klienten. Die folgenden beiden Artikel sind die Basis unserer Gemeinschaft, unseres Miteinanders und unserer Demokratie:

Artikel 1 Grundgesetz (GG)

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Artikel 2 Grundgesetz (GG)

(1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich …

Dennoch gibt es Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen, die Menschen fixieren und sich keine Gedanken über das hohe Rechtsgut der Freiheit machen. Es gibt auch heute noch Mitarbeiter, die annehmen, dass das Grundrecht auf Freiheit bei Menschen mit Demenz eingeschränkt ist. In Vorträgen und Seminaren erlebe ich immer wieder Teilnehmer, die vehement für die freie Entfaltung der Persönlichkeit eintreten. Sie fordern, dass Bewohner in Pflegeheimen essen und trinken können, wann und was sie möchten; dass Bewohner aufstehen und zu Bett gehen können, wann sie möchten; dass sie anziehen können, was sie wollen; dass sie sich waschen oder nicht. Aber dies gilt stets nur für Menschen, die keine kognitiven Einschränkungen haben. Wenn ich frage, wie lange ein demenziell erkrankter Mensch ungewaschen bleiben darf, wie oft er nachts aufstehen und umhergehen darf, wie oft er sich das Inkontinenzmaterial ausziehen und neben das Bett werfen darf, wie oft er allein aufstehen und hinfallen darf – dann heißt es: »Das ist ja etwas ganz anderes.« Liebe Leser, das ist nichts anderes!

Aber Ergebnisse von Untersuchungen1 zeigten, dass die Fixierungsrate bei Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz höher ist. Ebenso stieg die Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen mit der Pflegebedürftigkeit. 40 % der fixierten Bewohner hatten die Pflegestufe III. Nach Einführung der Pflegegrade haben wir keine erneute Erfassung gefunden.

Info

Jeder Mensch in Deutschland hat die gleichen Rechte. Eine demenzielle Erkrankung ändert daran nichts.

§ 34 Strafgesetzbuch2(StGB) rechtfertigender Notstand

Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

§ 34 StGB zeigt, dass wir im Notfall durchaus straffrei Maßnahmen ergreifen können. Allerdings muss es sich um eine gegenwärtige, also akute Gefahrensituation handeln, eine simple Wahrscheinlichkeit reicht nicht. Es ist also nicht unerlaubt, das Bettgitter hochzuziehen, weil Sie den Menschen noch nicht kennen und fürchten, er könne herausfallen. § 34 StGB zeigt weiter, dass die eingeleitete Maßnahme ein angemessenes Mittel sein muss. Bevor Sie also jemanden ortsfixieren, müssen Sie andere Varianten nachweislich diskutiert oder probiert haben. Die Alternativen sollten Sie genau dokumentieren, um sie im Streitfall nachweisen zu können. § 34 StGB kennt keine zeitliche Befristung. Es ist also nicht klar, wie lange Sie diese Notfallmaßnahme ergreifen dürfen und wann diese zu beenden ist. Auch in § 1906 Abs. 4 BGB steht lediglich »über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig«.

Es ranken sich einige Märchen um die Zeitdauer einer freiheitseinschränkenden Maßnahme im rechtfertigenden Notstand. Die einen sprechen von 12, andere von 24 und wiederum andere von 48 Stunden. Auch über wikipedia3 werden Aussagen verbreitet und Meinungen verfestigt. Dort steht: »Derjenige, der das Bettgitter hochzieht und somit eine Freiheitsberaubung begeht, muss sich selbst überzeugen, ob eine ausreichende rechtliche Grundlage vorhanden ist – also eine kurzfristige (24 h) Arztanordnung oder eine betreuungsrechtliche richterliche Genehmigung.«4Diese Aussage ist grundsätzlich falsch.

Info

Das Gesetz kennt keine zeitliche Befristung. Es gibt in Deutschland keine zeitliche Regelung bei der Ergreifung einer freiheitseinschränkenden Maßnahme im rechtfertigenden Notstand. Jede nicht genehmigte Maßnahme ist unverzüglich dem Gericht zu melden. Fristen von 12, 24 oder gar 48 Stunden sind Meinungen, aber kein Gesetz. Die 24-Stunden-Frist wird lediglich aus dem Strafgesetzbuch hergeleitet, in dem es heißt, dass ein festgesetzter Tatverdächtiger binnen 24 Stunden dem Haftrichter vorzuführen ist, so lange darf die Polizei ihn in Gewahrsam halten. Wir sind aber in der Pflege tätig und haben Klienten, keine Tatverdächtigen.

Wer eine freiheitseinschränkende Maßnahme akut ergreift, muss dies im Notfall rechtfertigen können und darf die Maßnahme nur so lange durchführen, wie sie erforderlich ist. Zudem heißt es im § 1906 Abs. 2 BGB: »Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen «.

Was bedeutet »unverzüglich«? 12, 24 oder 48 Stunden? Das Bürgerliche Gesetzbuch definiert an anderer Stelle im §121 »unverzüglich« auch »ohne schuldhafte Verzögerung«. Und so verstehen wir »unverzüglich« als »sofort « und das wiederum bedeutet: Sie schicken unmittelbar nach der Ergreifung der Maßnahme ein Fax oder eine E-Mail an das zuständige Betreuungsgericht (früher Vormundschaftsgericht). Das Gericht ist immer besetzt für Notfälle, und mit der Meldung haben Sie Ihrer Pflicht Genüge getan. Wie lange sich dann der Richter Zeit mit der Genehmigung lässt, ist allein seine Sache.

Vielleicht ist es in Deutschland an der Zeit, ein Exempel zu statuieren. Die folgenden Paragrafen sollten konsequent angewendet werden, um die Wichtigkeit der Rechtsgüter Würde, Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit wieder ins Bewusstsein zu rücken:

§ 239 Freiheitsberaubung (StGB)

Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Der Versuch ist strafbar

Würden alle Mitarbeitenden der für die Heimaufsicht zuständigen Behörden in Deutschland ihre Vorschriften (z. B. alter § 3 HeimG) kennen und anwenden, gäbe es keine Heime in Deutschland, bei denen 30 % der Bewohner eine Fixierung erdulden müssen: »Heime sind verpflichtet, ihre Leistungen nach dem jeweils allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen.« Wären die Mitarbeiter der Pflege auf dem aktuellen Stand der fachlichen Erkenntnisse, hätten sie mehr Handlungssicherheit und damit mehr Kompetenz eine Fixierung zu unterlassen.

§ 11 Rechte und Pflichten der Pflegeeinrichtungen (SGB XI)

Die Pflegeeinrichtungen pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten.

Die Pflegekasse fordert zu Recht eine aktivierende und humane Pflege. Über die Vergütung dieser Maßnahme wird dann aber in anderen Paragrafen gesprochen. Die Pflegekasse hat ihren Sitz bei der Krankenkasse. Die Krankenkasse wiederum versucht Einrichtungen in Regress zu nehmen, wenn diese ihre Pflichten verletzen. Als Pflichtverletzung (Sorgfalt-/Aufsichtspflicht etc.) sehen es viele Kassen, wenn ein Pflegebedürftiger stürzt und sich Verletzungen zuzieht. Letzteres ist für viele Einrichtung der vorgeschobene Grund, warum Fixierungen vermehrt angewendet werden. Man möchte keinen Ärger mit den Kassen.

1.2Rechtsentscheidungen

Sie und wir haben bereits mehrfach erlebt, dass unterschiedliche Richter auch sehr unterschiedliche Entscheidungen treffen. Das ist teilweise nachvollziehbar, denn jeder Fall sollte ein Einzelfall sein. Dass Richter unterschiedlich entscheiden, ist auch menschlich. Denn der eine Richter hat ähnlich gelagerte Fälle von freiheitseinschränkenden Maßnahmen vielleicht schon Dutzende Male entschieden und ein anderer Richter ist diesbezüglich ohne viel Erfahrung. Ein weiterer Richter hat selbst eine demenziell veränderte Person in seinem Umfeld und großes Verständnis für deren Freiheitsdrang. Ein anderer Richter kennt an Demenz Erkrankte nur aus der Akte.

Interessant allerdings ist, dass die Richter mitunter falsch urteilen. So stellte die »Nationale Stelle zur Verhütung von Folter« (auch »Antifolterkommission « genannt) in ihrem Jahresbericht 2018 auf Seite 34 Folgendes fest: »im Rahmen ihrer Besuche nahm die Nationale Stelle stets auch Einsicht in die vorliegenden richterlichen Entscheidungen bezüglich freiheitsentziehender Maßnahmen. Hierbei wurden deutliche Unterschiede in der rechtlichen Bewertung einzelner freiheitsentziehender Maßnahmen festgestellt. Zudem waren Begründungen zu Entscheidungen nicht immer nachvollziehbar, in Einzelfällen bestanden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit richterlicher Entscheidungen.«5

Info

Auch wenn Richter unterschiedlich entscheiden, teilweise auch Fehler machen, so sind Entscheidungen vom Bundesgerichtshof immer richtungsweisend für alle.

Unser höchstes Gericht, der Bundesgerichtshof, fällte 2005 zwei wesentliche Grundsatzentscheidungen. Beide Entscheidungen sehen den Sturz eines Menschen als allgemeines Lebensrisiko an und in beiden Fällen erkannten die Richter, dass eine Vermeidung von Stürzen mittels freiheitseinschränkender Maßnahmen nicht höher bewertet werden darf als die Selbstständigkeit der Bewohner. Zwei Urteile, die beruhigen sollten. Sie sind vom obersten Gericht gefällt, beide Male gleichlautend und haben bis heute Gültigkeit.

Entscheidung vom 28.04.2005

Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine Bewohnerin einer Pflegeeinrichtung mit Stufe III, einer demenziellen Erkrankung und entsprechenden Verwirrtheitszuständen. Diese Frau war binnen drei Jahren dreimal gestürzt und hatte sich jedes Mal verletzt. Zwei Stürze lagen vor dem Heimaufenthalt und einer im ersten Jahr des Heimaufenthalts. Dann stürzte die Dame während der Mittagsruhe ein viertes Mal und zog sich eine Oberschenkelhalsfraktur zu. Die Krankenkasse der Dame forderte Regress und ging über mehrere Instanzen. Die Bundesrichter entschieden, dass alle Vorwürfe zurückzuweisen seien.

• Vorwurf 1: Ein Sturz ist eine Pflichtverletzung. Das sei zurückzuweisen, da auch Menschen im Heim stürzen können, ohne dass es sich grundsätzlich um eine Pflichtverletzung handelt.

• Vorwurf 2: Verletzung der Aufsichtspflicht. Dieser Vorwurf wurde entkräftet, weil die Dame gegen 13:00 Uhr zur Mittagsruhe gelegt wurde, die Klingel sei in Reichweite gewesen. Mehr hätte man nicht tun können.

• Vorwurf 3: Das Bettgitter hätte hochgezogen werden müssen. Dies wurde zurückgewiesen mit der Begründung, dass die Sicherungsmaßnahme »Bettgitter« eine genehmigungsbedürftige Maßnahme sei und das Heim keine aktuellen Hinweise darauf gehabt habe, dass diese Maßnahme jetzt zu beantragen sei.

Entscheidung vom 17.07.2005

Auch in diesem Fall handelte es sich um eine Heimbewohnerin. Die Dame war innerhalb eines Monats jeweils in der Nacht gestürzt, jeweils ohne Folgen.

Die Bundesrichter betonten sehr wohl die Obhutspflichten des Heimes zum Schutz vor körperlicher Unversehrtheit. Auch wiesen die Richter darauf hin, dass die Einrichtung verpflichtet ist, die Leistung nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse zu erbringen. Aber auch hier urteilten die Richter wie wenige Monate zuvor und wiesen die Klage der Kassen zurück:

• Die Tatsache dass ein Heimbewohner stürzt, erlaube nicht automatisch den Rückschluss auf eine schuldhafte Pflichtverletzung.

• Der Pflegebedürftige sei auch im Heim weiterhin selbstbestimmt.

1.2.1Keine Haftung nach Sturz aus dem Bett

Das Landgericht Köln (Urteil vom 27.10.2020 – 3 O 5/19) sah es als erwiesen an, dass die durch einen Sturz aus dem Bett geschädigte demenzerkrankte Heimbewohnerin durch eine Fixierung noch schlechter dran gewesen wäre als mit Bettgitter. Die Sachverständige argumentierte, dass eine Fixierung aus mehreren Gründen kontraindiziert gewesen sei. Fixierungen bergen die erhebliche Gefahr von Strangulationsverletzungen. Zudem führen Fixierungen zu weiterem massiven Muskelabbau, was wiederum die Sturzgefahr erhöhe. Zudem sei nicht auszuschließen, dass die an Demenz erkrankte Heimbewohnerin versucht hätte über das Bettgitter zu steigen, was noch größere Risiken einer Verletzung berge. Wir finden: ein bemerkenswertes Urteil.

1.2.2Es kommt nicht auf die Dauer einer Maßnahme an

in einem BGH-Beschluss vom 7. Januar 2015 (XII ZB 395/14) wird deutlich, dass ein »regelmäßiges« Hindern (im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB) auch dann vorliegt, wenn eine Maßnahme zur Freiheitseinschränkung stets zur selben Zeit oder aus wiederkehrendem Anlass erfolgt. Es kommt offenbar nicht auf die Dauer der jeweiligen Einzelmaßnahme an. So können dem Gericht zufolge auch kurzzeitige Beschränkungen der Bewegungsfreiheit genehmigungspflichtig sein, insbesondere dann, wenn sie regelmäßig vorgenommen werden. Kann allerdings mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Betroffene seine Bewegungsfreiheit nicht ausüben kann, so ist die Maßnahme keine Beschränkung und es besteht für eine betreuungsgerichtliche Genehmigung kein Anlass.

1.2.3Entscheidungsmöglichkeiten von Angehörigen und Betreuern

Genügt eine Vollmacht, um über Fixierungen zu entscheiden? Sehen Sie sich folgenden Fall an: Eine ältere Dame bevollmächtigte ihre Tochter und ihren Sohn per notarieller Vollmacht »mich soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einschaltung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen (General- und Vorsorgevollmacht). «

Der Sohn dachte, dass diese Vollmacht genüge, um der Jahre später im Heim gestürzten Mutter ein Bettgitter und im Sessel einen Bauchgurt angedeihen zu lassen. Natürlich nur zum Schutz der Mutter, denn sie hatte sich bereits einen Kieferbruch zugezogen. Die Richter am Landgericht Heilbronn (LG Heilbronn (Lexetius.com/2012, 2981)) urteilten anders. Sie sahen § 1906 BGB mit dieser Vollmacht nicht erfüllt und wollten eine richterliche Entscheidung über die Fixierung. Der Sohn ging in Revision und hoffte beim Bundesgerichtshof auf die uneingeschränkte Anerkennung seiner Vollmacht. Aber auch der BGH verwies in seinem Beschluss vom 27.6.2012 (XII ZB 24/12) auf den § 1906 BGB:

a) Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mittels eines Beckengurts stellen freiheitseinschränkende Maßnahmen im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB dar, wenn der Betroffene durch sie in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Dies ist dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene zu einer willensgesteuerten Aufenthaltsveränderung in der Lage wäre, an der er durch die Maßnahmen gehindert wird.

b) Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen wird nicht dadurch verletzt, dass die Einwilligung eines von ihm Bevollmächtigten in eine freiheitseinschränkende Maßnahme der gerichtlichen Genehmigung bedarf.

Info

Eine notarielle Vollmacht reicht im Einzelfall nicht aus, um Fixierungen rechtlich einwandfrei anzuwenden.

1.2.4Keine Haftung, wenn Fixierung nicht angewendet wird

Eine Bewohnerin eines Heims in Coburg hatte eine richterlich genehmigte Fixierung mittels Fixierbrett am Rollstuhl. Diese Fixierung war nicht durchgängig angebracht und so stürzte die Heimbewohnerin eines Tages aus dem Rollstuhl. Das Landgericht (AZ 222O 355/13) urteilte, dass eine Fixierungserlaubnis kein Befehl sei. Daher urteilte das Gericht, dass die Klientin auch ohne Fixierung zum Essen am Mittagstisch sitzen konnte, ohne dass eine Pflichtverletzung des Heimes vorlag. Insbesondere die Situation im Speiseraum bedeute, dass es keine längere Zeit ohne Aufsicht für die Heimbewohner gäbe.

1.2.5Sitzwache statt Fixierung

Eine sehr ungewöhnliche und unerwartete Entscheidung trafen die Richter des Sozialgerichts in Freiburg am 15. 12. 2011 (AZ S9 SO 5771/11 ER). Eine pflegebedürftige 80-jährige Frau mit schweren Psychosen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen war nachts unruhig. Sie verließ das Bett, urinierte ins Zimmer, stuhlte ein und stürzte mehrfach. Die Pflegenden sahen die Notwendigkeit, die Frau in einer Einzelbetreuung zu schützen, das bedeutete eine Sitzwache am Bett. Tatsächlich war die Frau weniger unruhig, halluzinierte weniger und zeigte weniger Verhaltensauffälligkeiten. Stürze waren so vermieden.

Diese Sitzwache kostete Geld. Da die Dame im Heim lebte und auf Sozialhilfe angewiesen war, wurde die Kostenübernahme beim Sozialamt beantragt. Dort wies man den Antrag ab, vermutlich aus Kostengründen, und verwies auf die Möglichkeit freiheitseinschränkender Maßnahmen. Das Gericht genehmigte diese Maßnahmen. Ein Betreuer war damit aber nicht einverstanden, weil die Frau unter diesen Maßnahmen litt. Er klagte gegen das Sozialamt auf Kostenübernahme einer Einzelbetreuung in der Nacht. Das Sozialgericht Freiburg entschied, eine Fixierung sei ein zu einschneidender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Frau und sie habe das Recht auf eine menschenwürdige Existenz.

Dieses Urteil ist wohl bisher einzigartig in Deutschland, hatte aber keine Klagewelle oder Kostenschwemme für die Sozialämter zur Folge. Denn klar dürfte sein, dass zunächst andere Alternativen überprüft werden müssen. Bevor also eine kostenintensive Einzelbetreuung ergriffen wird, gibt es sicher andere Varianten der Vorbeugung.

1.2.6Ein ganzer Bezirk fast ohne Fixierungsgenhmigung