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Felix, seine Freundin Tanja und ein mysteriöser Junge, der sich Aquila nennt, sind dicke Freunde. Gemeinsam schaffen sie es ins Mittelalter zu reisen, ahnen jedoch nicht, in welche Bedrängnis sie dort kommen werden. Als sie im 15. Jahrhundert landen, entdecken die Freunde Kinder, die ahnungslose Besucher eines ‚Spektakulums‘ beklauen. Sind das Kriminelle oder stehlen sie, um überleben zu können? Wer steckt dahinter? Die Zeitreisenden beschließen, der Sache nachzugehen und geraten selbst in große Gefahr. Kommen die Abenteurer unversehrt in die Gegenwart zurück?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Wolfgang Rüster
Ferien im Mittelalter
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbiografie; detaillierte biografische Daten sind im Internet über http//dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage, 2022 Neues Cover 2024
ISBN: 978-3-9823810-2-2
© 2022 Wolfgang Rüster Kiefernweg 3; 91809 Wellheim
Verleger: WPA Rüster, Wellheim
Texte: © 2022 Copyright by Wolfgang Rüster
Umschlaggestaltung: Wolfgang Rüster; unter Verwendung eines Fotos von Michel Wolgemut, Burg Nürnberg (gemeinfrei)
Fotografien: Alle Grafiken und Fotos sind eigene Aufnahmen oder nach CC BY-SA 2.5 bzw. 3.0 oder höher freigegeben.
Einzelnachweise sind im Quellenverzeichnis aufgelistet.
Cartoons: Der Autor ist im Besitz aller Lizenzen.
Ferien im Mittelalter
Eine abenteuerliche Zeitreise
Wolfgang Rüster
Inhaltsverzeichnis
Prolog1
Wie alles begann3
Planung11
Auf dem Campingplatz18
Vorbereitung21
Die Reise beginnt24
Nuremberga32
Neue Bekanntschaft91
Auf dem Bauernhof97
Versammlung im Rathaus113
Übernachtung im Stroh115
Wo ist Felix?121
Auf der Suche nach Felix130
Die Flucht148
Nachwort153
Bildnachweis156
Prolog
Er lag mit geschlossenen Augen auf hartem Untergrund und hatte keine Ahnung, ob es eine Pritsche1 oder der Fußboden war. Mit seinen Händen tastete er seinen Körper ab, da er Schmerzen empfand, die er aber nicht zu lokalisieren vermochte. Alles tat ihm weh, so sein Eindruck. Behutsam berührte er sein Gesicht und erschrak: Es war aufgequollen und er fühlte Verkrustungen um die Augen. Vorsichtig hob er das rechte Augenlid und schloss es sofort wieder, denn es brannte vor Schmerz. Hat mich jemand geschlagen, aber warum? Oder hatte ich einen Unfall?, fragte er sich. Und wo zum Teufel bin ich hier? Jetzt versuchte er, das andere Lid zu öffnen. Diesmal schmerzte es nicht so abscheulich wie eben. Aber er sah nichts, außer einem Hauch von Tageslicht, das auf dem Boden einen diffusen Lichtfleck bildete. Langsam öffnete er unter Schmerzen auch das rechte Auge. Er drehte den Kopf nach oben, um dem Lichtstrahl zu folgen. Ein heller Schein aus einem kleinen rechteckigen Loch in der Außenwand zwang den Jungen, die Lider sofort zu schließen. Er lehnte sich an die – wie er jetzt bemerkte – feuchte Wand und schirmte seine Augen mit einer Hand ab. So vermochte er, ohne geblendet zu werden, einen zweiten Blick zu wagen. Allmählich gewöhnte sich seine Netzhaut an das schüttere Licht. Der Schein durch das glaslose Fenster erhellte den Raum nicht wirklich. Zu erkennen war, dass die Mauer beträchtlich dick war, weswegen eben nur ein Lichtkegel einen Punkt erreichte; die Räumlichkeit blieb aber im Dunkeln. Er empfand Durst und Hunger. Ihm war kalt. Seine brennenden Augen wurden schwer und er legte sich mit geschlossenen Lidern zurück. Zu müde, um nachzudenken ...
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Ich will nicht zu weit vorgreifen, später folgt die Erklärung.
Wie alles begann
Tanja saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch und brütete über den Hausaufgaben. Geschichte war angesagt. Mathe und Deutsch hatte sie schnell erledigt. Aber dieses Fach war einfach nicht ihr Ding. Dabei hatte sie in den letzten Pfingstferien jede Menge mit der Vergangenheit zu tun. Man müsste das in natura erleben, dann würde ich es besser im Kopf behalten, überlegte sie. So wie damals, während ich mit Felix und Aky in Berlin im Jahr 1920 war. „Bim bam bom, bim bam bom“, erklang in diesem Augenblick der Haustürgong. Vor der Tür stand ihr Freund Felix. Wie üblich mit wirrem Haar, verwaschenen Jeans und legerem Shirt. „Hi Tanja.“ „Hi, Felix, komm rein, bist du schon fertig mit den Hausaufgaben?“ „Na ja, nicht wirklich, Geschichte ... ich krieg das nicht so richtig auf die Reihe. Die vielen Jahreszahlen, wer führte wann einen Feldzug gegen wen, ... wer realisiert schon ..., all die Namen und Daten?!“ Tanja lachte und umarmte ihren Freund. „Gut, dass du gekommen bist, mir geht's nämlich genauso!“ Dabei gab sie Felix ein Küsschen auf jede Backe, was er eifrig erwiderte. „Kommet hinauf in mein Gemach, holder Knabe“, witzelte Tanja im Tonfall einer Hofdame des Mittelalters und einer ausladenden Geste mit dem rechten Arm, welche einer Königin würdig wäre. „Schauen wir uns die Aufgabe gemeinsam an?“ „Äußerst gerne, eure Hoheit“, erwiderte der holde Knabe und folgte ihr in den ersten Stock. Felix blickte sich um und meinte dann: „Wie schaffst du das nur? Dein Zimmer sieht immer so aufgeräumt aus. Macht dies die liebe Mami?“ „Schön wär’s, das ist meine Aufgabe.“ „Da werde ich wohl noch üben müssen“, murmelte Freund Felix kleinlaut, aber grinsend. „Also“, wechselte Tanja das Thema, „wie du weißt, will Herr Vetter am Freitag mit uns über die Hexenverfolgung im Mittelalter diskutieren.“ „Ja, und er sprach von einem Buch, das ein Dominikanermönch im 15. Jahrhundert geschrieben hatte. In dem soll er genau beschrieben haben, was Hexen sind und wie man sie vernichten will.“
„Du, da fällt mir ein, meine Eltern haben in ihrem Bücherregal einen alten Schinken stehen. Den hatte ich mal kurz in der Hand. Glaube, darin gehts um das Thema Hexen.“ „Dann suchen wir’s doch!“, meinte Felix und sprang vom Stuhl auf. Bald entdeckten sie den Wälzer und zogen ihn aus der dicht bestückten Bücherwand.
Der Titel wurde in Großbuchstaben gedruckt: MALLEVS MALEFICARVM,
MALEFICAS ET EARVM.
„Ach du liebe Zeit“, rief Tanja, „das hilft uns ja gar nichts. In Latein sind wir ja noch nicht so weit.“ „Schauen wir doch mal rein, vielleicht ist es ja übersetzt.“ Tanja legte den schweren Band auf den Couchtisch und schlug den Buchdeckel auf.
Erste Seite:
„MALLEVS MALEFICARVM, MALEFICAS ET EARVM“ und darunter stand:
„Der Hexenhammer“ von 1486 in deutscher Übersetzung.
Ein äußerst unheilvolles Traktat2.
„Na super“, meinte Felix mit enttäuschter Miene, „da haben wir Lesestoff bis Weihnachten. Die Diskussion ist aber schon in drei Tagen.“ „Uff, du hast recht. Blättern wir mal durch, manchmal gibt es eine Zusammenfassung in solch wuchtigen Schmökern.“ Tanja setzte sich in den Sessel und durchsuchte das Werk. Ihr Freund schaute über ihre Schulter. Endlich wurde sie fündig, im Anhang hatte der Übersetzer eine Kurzübersicht abgedruckt. „Wir sind gerettet!“, jubelte Tanja.
Kopf an Kopf lasen die beiden über die schrecklichen Vorurteile des Verfassers und den Irrglauben der Menschen zu dieser Zeit. „Und dann behauptete der Mönch sogar, das sei wissenschaftlich belegt!“ Bald bekamen die beiden das kalte Grausen.
„Dabei habe ich mir das Mittelalter so romantisch vorgestellt“, seufzte Tanja nach der Lektüre. „Ob diese Anleitung zum Mord wirklich von den Gerichten angewandt wurde?“, fragte sich Felix halblaut. Tanja schaute bekümmert drein. „Ich fürchte ja. In unserem Geschichtsbuch steht, dass nach und nach etwa 30.000 bis 40.000 Menschen als Hexen hingerichtet wurden. Davon 90 Prozent Frauen. Meistens hat man sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“ „Zum Glück sind wir heute aufgeklärt und es gibt den Hexenglauben nicht mehr wirklich. Nur im Karneval bzw. Fasching oder zu Halloween wird er wieder lebendig“, meinte Felix beruhigend, „und natürlich in Romanen und Filmen.“
„Schluss für heute! Ich denke, wir haben genug Stoff, um bei der Besprechung am Freitag etwas zu sagen“, empfahl Tanja.
„Okay, ziehen wir uns doch ein Video von Bibi Blocksberg rein“, scherzte Felix, „die wird wenigstens nur vom Bürgermeister verfolgt und nicht vom Pfarrer.“ „Spinner! Was unternehmen wir jetzt wirklich?“, fragte Tanja energisch.
Ein alter Freund taucht auf
In diesem Moment ertönte der Türgong erneut. „Bim bam bong, bim bam bong.“ „Nanu, erwartest du Besuch?“
Tanja guckte verdutzt. „Nein, ich rechne mit niemandem, schau’n wir einfach nach, wird schon keine Hexe sein.“ Tanja spielte die Ängstliche, zog ihre Jacke enger um die Brust und lachte dabei.
Bevor die beiden unten waren, klopfte es an die Haustür und eine Stimme rief: „Jemand zuhause? Tanja mach auf!“ „Wer ist draußen?“, fragte Felix. „Hey, macht kein Scheiß, ... ich bin’s.“
Tanja legte ihre Stirn in Falten und flüsterte: „Du, den Tonfall kenne ich.“ „Mir kommt er jetzt auch bekannt vor.“ Tanja öffnete die Tür einen Spalt breit und blinzelte hinaus. Dann folgte ein Aufschrei und die Tür flog auf. „Mensch Meier, ist das wahr, du hier?“ Tanja stürzte nach draußen und umarmte den Ankömmling. Felix, der hinter der Tür stand und den Türflügel beinahe auf die Nase bekommen hätte, wäre nicht sein Fuß zur Bremse mutiert, wunderte sich über das Geschrei und linste hinaus. „Hey, altes Haus!“, brüllte er und schoss auf den Besucher zu. Mit geballten Fäusten schlug er seinem Freund kameradschaftlich in die Seite und umarmte ihn dann kraftvoll. „Das ist aber eine Überraschung dich zu sehen. Lange her, dass du hier erschienen bist. Wo warst du die ganze Zeit? Ich dachte schon, du hättest uns total vergessen.“
Aky, der eigentlich Aquila hieß, zeigte sich gerührt über den stürmischen Empfang. Bevor er etwas antwortete, schnaufte er erstmal tief durch.
„Ich hatte schon längst vor, mal wieder reinzuschauen, aber mir blieb keine Zeit dafür. War dauernd unterwegs im Auftrag meines Vaters und wegen eigener Interessen.“
„Gehen wir rein und hocken uns in den Garten“, forderte Tanja die beiden Jungs auf. „Ich hol uns was zum Trinken und dann quatschen wir über deine Erlebnisse.“ „Und die euren“, ergänzte Aky.
Tanja und Felix hatten Aky kurz vor den letzten Pfingstferien kennengelernt. Damals hatten sie zusammen irre Abenteuer erlebt, an die sie sich noch gerne erinnern. Er half ihnen, ein Referat zu schreiben, und sie lernten mit ihm eine Menge. Die drei lümmelten sich auf die Gartenstühle und Tanja und Felix forderten ihren Freund erneut auf zu berichten. „Oh Leute“, begann Aky, „meinereiner hat so viel erlebt, das kann ich euch gar nicht auf die Schnelle erzählen. Habe aber vor, die nächsten Wochen hier zu verbringen, da ist reichlich Gelegenheit zum Ratschen.“ Enttäuscht knurrte Tanja: „Du spannst uns wieder mal auf die Folter, das ist unfair.“ „Ach komm, sei kein Frosch, hau doch wenigstens eine Story raus!“, bettelte Felix, der merklich angesäuert war. „Wir haben uns seit drei Monaten nicht gesehen und sind jetzt voller Neugier, was du erlebt hast.“ „Na schön, es sollte zwar eine Überraschung für die nächsten Abenteuer werden, aber wenn ihr mich so bittet, gebe ich wenigstens einen Hinweis. Ich war in der Zukunft und habe unsere Kutsche etwas modernisieren lassen. Die Ingenieure haben sich große Mühe gegeben, meine Anregungen zu realisieren, die ham’s echt gecheckt.“ „Willst du uns verscheißern?“, fragte Felix mit erstaunter Miene. „Du warst in der Zukunft?“ „Na und? Ihr wisst doch, dass ich in der Zeit herumreisen kann. Erinnert euch an die letzten Ferien.“ „Das ist wahr, aber da fuhren wir in die Vergangenheit.“ „Für mich alleine geht das auch in die andere Richtung.“ Felix wurde ungeheuer neugierig. „Dann gibt es ja doch News – außer zu deinem Fahrzeug?“ Aky machte ein besorgtes Gesicht. „Leider darf ich über die Zukunft nichts erzählen. Wahrscheinlich wollt ihr das auch gar nicht wissen.“ „Du Aky, gehe ich recht in der Annahme, dass du uns nicht mehr verraten wirst, selbst wenn wir versprechen, nichts weiterzusagen?“, fragte Tanja mit einem verschmitzten Blick. „Du hast es erraten, aber auf unserer nächsten Walz werdet ihr erkennen, was sich an dem Gefährt verändert hat.“
„Jetzt redet der schon wieder so geschwollen, auf der Walz. Was ist das denn?“, flüsterte Felix Tanja zu.
Aky hatte das gehört, sagte aber nichts dazu. „Das haben früher die Handwerksgesellen gesagt, wenn sie auf Wanderschaft waren“, wusste Tanja zu erklären. „Aha, also werden wir wieder Abenteuerreisen unternehmen?“, fragte Felix begeistert. „Falls ihr möchtet und eure alten Herrschaften einverstanden sind, dann zählt auf mich“, antwortete Aky. „Die Ferien fangen ja bald an. Oder habt ihr schon was vor?“ „Kann ich nicht sagen, meine Eltern tüfteln an Reiseplänen, haben aber noch kein Ziel“, murmelte Tanja kaum hörbar. „Irgendwas mit Natur und Wandern und so, hab ich gehört. Heute Abend befrage ich sie.“
Felix überlegte und versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt mit seinen Eltern im Urlaub war. „Meine Leute haben es nicht so mit dem Verreisen, sie bleiben lieber auf Balkonien und unternehmen Tagesausflüge in die nähere Umgebung“, gestand Felix. „Mein Papa ist beruflich sehr angespannt und nimmt sich immer nur kurze Auszeiten.“
„Das hört sich an, als wärst du unabhängig in den Ferien“, tippte Tanja. „Dann werde ich meine Eltern fragen, ob du mit uns kommen darfst, falls wir wegfahren.“ „Klingt cool, aber was ist mit Aky, sollen wir ihn ignorieren? Wir wollen doch etwas gemeinsam unternehmen!“, wandte Felix besorgt ein. „Macht euch darüber mal keine Gedanken. Erstens wisst ihr noch nicht, was Sache ist, und zweitens könnte ich ja auch mitkommen.“ „Wo du recht hast, hast du recht“, gab Tanja zu, „warten wir’s ab und planen später. Treffen wir uns morgen Nachmittag im Freibad, Aky? Felix, wir sehen uns ja schon in der Schule.“
Planung
Felix kam gerade rechtzeitig zum Abendessen, sogar sein Vater war heute schon da. Für gewöhnlich kam er später und war dann kaum ansprechbar. Felix’ Papa ist Direktor eines großen Unternehmens und häufig auf Reisen. Oftmals muss er auswärts übernachten.
„Hallo Herr Hansen!“, rief Felix scherzhaft, als er das Speisezimmer betrat, „schön Sie zu sehen!“. „Ganz meinerseits, Herr Hansen junior“, entgegnete dieser und drückte ihn lachend an sich. Die Mutter kam mit einem Tablett ins Esszimmer. „Ist das eine Freude, endlich essen wir wieder mal zusammen.“
Bei Tisch erzählte er von seinen Sorgen im Geschäft und von der letzten Geschäftsreise, was Felix nicht wirklich faszinierte. Felix’ Mama hingegen hing an Papas Lippen und gab hie und da einen Kommentar ab: „Hmm“ oder „Oha“ oder so. „Da hast du ja erfolgreiche Tage hinter dir!“ „Das kannst du laut sagen“, kommentierte er stolz.
Jetzt ist ein geeigneter Zeitpunkt, meine Angelegenheiten anzusprechen, vermutete Felix und fragte: „Habt ihr in letzter Zeit mal über einen Urlaub nachgedacht?“ Sohnemann erntete überraschte Blicke, weil die Äußerung absolut nicht zum Thema passte. „Wie meinst du das?“, fragte die Mama. „Es sind bald Ferien und da stellt sich doch die Frage, oder? Wir haben schon ewig keine gemeinsame Reise unternommen.“ Die Eltern sahen sich verdutzt an, bevor Kurt, Felix nannte seinen Papa manchmal beim Vornamen, sagte: „Urlaub, Urlaub, über so was habe ich tatsächlich nicht nachgedacht.“ Die Mama meinte mit einem Lächeln. „Oh ja, Ferien wären wirklich mal nötig. Aber wie soll das gehen? Papa hat so viel um die Ohren.“ Felix sah seinen alten Herrn ernst an und fuhr fort: „Meinst du nicht, Kurt, du solltest mal ausspannen? Und Mama hat es ebenfalls verdient. Mir ist es egal, ich bringe die sechs Wochen schon irgendwie rum, davor habe ich keine Panik.“
Papa Kurt lehnte sich bequem zurück, schloss die Augen und lächelte. Seine Frau sah ihren Sohn zufrieden grinsend an und flüsterte: „Ich räum mal den Tisch ab“, sie packte das Geschirr auf ein Tablett und verließ das Zimmer. Felix schaute seinem Erzeuger beim Denken zu, anscheinend hatte er bei Papa einen Nerv getroffen. Nach einer halben Ewigkeit erschien seine Mutter in der Tür und winke Felix zu sich. „Komm, lassen wir ihn in Ruhe meditieren“, flüsterte sie.
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Bei Tanjas Familie wurden ebenfalls Urlaubspläne geschmiedet. Tanja brachte das Thema auf den Tisch. Sie fand es echt klasse, dass solche Fragen gemeinschaftlich und demokratisch besprochen wurden. „Ihr habt doch kürzlich davon gequatscht, dass ihr euch gerne einen Campingurlaub gönnen wollt und wandern möchtet, ist das noch aktuell?“
„Aha, du hast das mitgekriegt?! Ja eigentlich wollen wir das“, sagte Mama Schuster und Papa meinte: „Mal einfach leger kleiden, am Lagerfeuer Würstchen braten und zwischendurch die Gegend erkunden.“ „Cool, das ist genau mein Geschmack“, freute sich Tanja. Insgeheim mochte sie überlegen: Da kann ich mich leicht unsichtbar machen und mit Felix und Aky auf Wanderschaft gehen.„Aber wir haben doch nur ein kleines, altes Zelt“, fuhr Tanja fort. „Das bekommst du, wir leisten uns einen Wohnwagen zur Miete“, antwortete Papa Schuster. „Auf manchen Campingplätzen stehen die fest herum. Somit brauchen wir keinen Anhänger durch die Gegend ziehen.“ „Dann benötigen wir nur noch ein Ziel und den Termin“, rief Tanja heiter. Hierauf stutzte sie und schob eine Frage nach: „Was haltet ihr davon, wenn Felix und Aky sich uns anschließen?“ „Das wäre ja wunderbar, dann hätten wir gleich drei Domestiken3, die uns verwöhnen können; kochen, abwaschen, Feuer machen usw.“, platzte Tanjas Mutter scherzhaft heraus. „Das kannst du dir abschminken! Wenn überhaupt, helfen alle fünf zusammen, falls wir ‚Jungen‘ Zeit dafür haben“, erwiderte Tanja ausgelassen. Herr Schuster schaltete sich lachend ein und meinte: „Sei’s drum! Wer forscht nach einem geeigneten Zeltplatz und der Region?“ „Das mache ich, gehe gleich rauf an den PC und suche. Wann soll’s losgehen Papa?“ „Mein Urlaub beginnt in zwei Wochen und dauert 14 Tage“, bekundete der knapp. „Na super, ob ich das so schnell auf die Reihe krieg? Wie wäre es mit Bayern? Dort fangen die Ferien erst später an, sodass es wahrscheinlich noch Plätze gibt.“ „Klingt gut, da wollten wir schon immer mal hin, mach einfach.“
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Tanja, Felix und Aky trafen sich am nächsten Tag wie verabredet am Eingang zum Freibad. Die Sonne strahlte mit aller Kraft vom fast wolkenlosen Himmel. Die Besucherzahl war überschaubar an diesem frühen Nachmittag. „Suchen wir uns einen schattigen Platz, bevor wir uns umziehen“, regte Tanja an. „Der Ansturm wird bald beginnen.“ „Dort drüben!“ Felix deutete in Richtung einer mächtigen Eiche. „Die Stelle ist ideal, Schatten spendend und frisch gemähter Rasen.“
„Wer zuerst dort ist!“, rief Aky und sprintete los. „Der gibt ne Runde Eis aus!“, brüllte Tanja ihm hinterher. Sofort wurde Aky langsamer und tat, als müsste er verschnaufen. Dann trabten sie gemächlich und lachend nebeneinander her, immer bemüht nicht der Erste zu sein. Urplötzlich rannte Tanja los und rief: „Wenn wir weiterhin so bummeln, schnappt uns noch jemand den Platz weg, ich gebe freiwillig die Runde aus!“ Alle drei kamen fast gleichzeitig an und ließen sich lachend ins Gras plumpsen. „Jetzt aba nüscht wie ins Wassa rinn“, rief Felix in Erinnerung an ihre Abenteuer in Berlin während der letzten Ferien. Dort hatte das Trio den Dialekt der Spreemetropole kennengelernt.
Schnell waren die beiden Jungen ausgezogen, ihre Badehosen hatten sie schon an und brauchten nur Shirt und Hose ablegen. Tanja trabte zur Umkleidekabine und kam umgezogen und mit dem versprochenen Eis zurück. „Wo seid ihr?“ Sie suchte in die Runde und entdeckte die beiden am Sprungturm. „Das Eis wird kalt!“, rief Tanja aus vollem Hals. Aber zu spät, schon war Aky mit einem Salto unterwegs Richtung Wasser, sein Freund folgte ihm mit einer Arschbombe.
„Habe ich da was von Eis gehört?“, fragte Felix grinsend, als er am Beckenrand erschien. „Ne, kann nicht sein, ich habe ‚Heiße Milchsuppe!‘, gerufen!“ Aky, der nun auch auftauchte, strahlte. „Habt ihr gesehen, wie ich den Salto hingekriegt habe?“ Tanja stand mit den Eistüten in der Hand da und leckte ab und zu an der einen, dann an der andern, weil ihr das Eis über die Arme lief. „Kommt endlich raus, sonst ist das Eis wirklich nur noch Matsch.“ „Gib schon her“, forderte Felix und hob seinen rechten Arm. „Willst du, dass der Bademeister uns rausschmeißt? Eisschlecken im Wasser ist das Letzte, was der durchgehen lässt!“ Mit Schwung katapultierten sich die Jungs aus dem Pool und nahmen das nicht mehr so kalte und viel kleinere Eis in Empfang.
Zurück unter ihrem Baum fragte Aky: „Habt ihr gestern mit euren Eltern über Urlaubspläne gesprochen?“ „Stellt euch vor, meine alten Herrschaften denken tatsächlich darüber nach, ein paar Tage zu verreisen, haben aber noch keine Idee wohin und so. Ich hab ein bisschen Druck gemacht und meinem Vater ins Gewissen geredet“, berichtete Felix. Tanja erzählte von ihrer Unterhaltung mit den Eltern: „Die hatten einen bombigen Einfall, sie denken an einen Campingurlaub und wollen einen Wohnwagen mieten und ich darf im Zelt wohnen. Außerdem sollen wir recherchieren, wo Plätze frei sind. Ich habe Bayern vorgeschlagen, weil dort die Ferien erst später beginnen.“
Felix rief begeistert: „Hey, das könnte passen, meine Leute haben ja noch keine Vorstellungen davon, was sie machen wollen. Papa hat aber eine Bemerkung gemurmelt, von wegen ‚alle Fünfe gerade sein lassen‘. Was meint ihr zu folgendem Vorschlag: Wir überreden unsere Eltern, gemeinsam zu reisen, wäre das eine Option?“ „Echt krass“, fand Aky, „dann hätten wir freie Bahn und die Alten können ihr Ding machen.“ Tanja war begeistert von der Idee. „Mein Vater bekommt in zwei Wochen Urlaub. Wie sieht es bei deinen Eltern aus, Felix?“ „Da muss ich fragen, aber er ist ja der Boss in der Firma und kann sicher spontan entscheiden.“ „Ich versuch gleich mal, meinen Papa zu erwischen“. Tanja wühlte nach ihrem Handy in der Badetasche und tippte die Nummer ein. Felix stoppte sie. „Halt, ich habe eine bessere Idee. Wir arrangieren ein Abendessen in einem Restaurant, da können sich alle beschnuppern und den Plan diskutieren.“
Am selben Tag telefonierte Frau Schuster mit den Hansens und lud diese zu sich zum Essen für den nächsten Abend ein. Den Einfall mit dem Restaurant hatte sie sofort umgemünzt und gemeint: „Hier ist es doch viel gemütlicher und kochen tu’ ich sowieso gerne.“ ~~~~~~~~~~~~~~
„Darf ich vorstellen“, sagte Tanja höflich, als die Besucher eintrafen, „meine Mutter Maria und mein Vater Helmut.“ Die beiden Paare gaben sich die Hände, während Herr Hansen sich mit Kurt vorstellte. „Und ich bin die Helga“, fügte Felix’ Mutter hinzu. Die Tafelrunde verlief äußerst angenehm, die beiden Ehepaare verstanden sich auf Anhieb und waren sofort per Du. Die Gespräche dauerten bis in die Nachtstunden. Mit einem Glas Sekt besiegelten sie ihre neue Bekanntschaft. „Auf einen wunderschönen gemeinsamen Campingurlaub“, rief Helga gut gelaunt. „Ab jetzt sind die ‚Jungen‘ für die Planung zuständig, lassen wir uns überraschen.“ Kurt schloss sich mit den Worten an: „Ich hab gar keine Ahnung mehr, wie Urlaub geht!“ Schallendes Gelächter folgte und seine Frau umarmte ihn. „Du wirst es wieder lernen, mein Lieber“, flüsterte sie dabei vergnügt.
Auf dem Campingplatz
Die Autofahrt dauerte nur vier Stunden und schon war die Reisegesellschaft am Ziel. Tanja hatte einen Campingplatz gefunden, der Wohnfässer zur Miete anbietet. Direkt an einem kleinen Fluss namens Altmühl gelegen. Die beiden Elternpaare entschlossen sich, nur mit einem Wagen zu fahren, um etwas zum Umweltschutz beizutragen. Aky, Tanja und Felix hingegen wollten unabhängig reisen und dies wurde möglich durch Freund Aky.
Wie schon anfangs erwähnt, waren Tanja und Felix dem Aky bereits vor den letzten Ferien begegnet, damals hatte er sich als Aquila vorgestellt und sich als außermenschliches Wesen geoutet. Völlig überrascht waren die beiden Kameraden, als sie entdeckten, dass Aky sich verwandeln konnte und außerdem ein ganz besonderes Fahrzeug besaß, das nun wieder zum Einsatz kommen sollte.
Wie sollten die drei es anstellen, damit sie separat fahren durften, schließlich waren Tanja und Felix gerade mal vierzehn Jahre alt und somit minderjährig, wie es im Juristendeutsch heißt. Also mussten sie sich etwas einfallen lassen.
~~~~~~~~~~~~ Während der Vorbereitung zur Reise erzählte Aky der versammelten Mannschaft beiläufig, er habe einen Onkel, der ein Wohnmobil besitze und sich gerne anschließen würde. Tags darauf stellte sich Onkel Alfred bei beiden Elternpaaren vor. Da er auf alle einen positiven Eindruck machte, einigte man sich schnell. Die zwei Freunde fuhren mit Alfred im Camper und die anderen eben im Wagen der Familie Schuster.
Nach dem Check-in am Campingplatz wies der Verwalter des Geländes den Stellplatz für das Wohnmobil zu und zeigte danach den Erwachsenen ihre Wohnfässer mit entsprechenden Erklärungen. Eilig wurde das Gepäck aus dem Auto in die Unterkünfte verfrachtet, denn der PKW musste auf einem Parkplatz abgestellt werden. „Ach, wie gemütlich“, rief Tanjas Mutter aus. „Besser hättet ihr es nicht treffen können.“ Aus der Nachbartonne klang ähnliche Begeisterung. „Wo ist Onkel Alfred, der hat gar nicht beim Ausladen geholfen?“, fragte Frau Schuster ihre Tochter. „Der, der kümmert sich um Stromanschluss für das Mobil“, schwindelte Tanja. In Wirklichkeit war Onkel Alfred überhaupt nicht da, denn es war Aky, der sich in einen erwachsenen Mann verwandelt hatte und das Auto fuhr. Jetzt stand er unbekümmert mit Tanja und Felix beisammen. „Aha, das muss ja auch gemacht werden.“ Frau Schuster war beruhigt. „Dann wollen wir mal unser Schiff klarmachen und die Zelte aufbauen“, sagte Aky und warf den Freunden einen verschwörerischen Blick zu. Der Camper hatte seinen Platz an einer Stelle, die von den Fässern aus nicht zu sehen war. Neben dem Fahrzeug gab es genug Freifläche für zwei Zelte, in denen Tanja und Felix schlafen wollten. „Aky, du und dein ‚Onkel‘ werden wohl im Auto pennen?“, scherzte Felix und machte sich an die Arbeit. Tanja und Aky halfen mit, und so waren die Wigwams4 schnell bezugsbereit. Sogleich wurden Tisch und Stühle ausgepackt, Aky sorgte für Erfrischungen aus dem Bordkühlschrank und nun begann die Planung für das eigentliche Abenteuer.
Der Abend war angenehm warm, sodass auch die Nachbarn noch draußen saßen. Deshalb unterhielt sich das Trio nur leise, schließlich hatten sie etwas zu besprechen, das nicht für fremde Ohren bestimmt war. Aky begann flüsternd: „Wenn ich richtig rate, wollt ihr eine Zeitreise unternehmen, oder?“ „Da triffst du den Nagel auf den Kopf“, gab Tanja zurück. „Hast du wieder spioniert, wie damals, als du unsichtbar im Klassenzimmer warst?“ „Nein, diesmal habe ich durch dein Fenster gehört, wie ihr über die Hexenverfolgung geredet habt“, erwiderte Aky mit grinsender Miene. „Es interessiert uns sehr, wie es im Mittelalter wirklich zuging“, meldete Felix. „Siehst du da eine Möglichkeit?“
„Und ob, ich verrate euch jetzt meine Überlegung; wir machen einen Ausflug ins 15. Jahrhundert.“
Vorbereitung
Es war früh am Morgen, etwa halb sieben, Tanja steckte den Kopf aus ihrem Zelt und war erstaunt, dass Felix schon auf den Beinen war. Er kam gerade von den Waschräumen zurück. „Na, du Frühaufsteher“, grüßte Tanja. „Guten Morgen, gut geschlafen?“ „Ich habe wie ein Murmeltier gepennt.“ Sie flüsterte, um die übrigen Gäste nicht zu stören. „Wenn ich vom Duschen komme, machen wir Frühstück oder lassen uns von den Eltern einladen?“ „Besser hier, die schlafen wahrscheinlich noch“, antwortete Felix und verschwand in seiner Behausung. In diesem Moment kletterte Aky verschlafen aus dem Wagen und streckte seine Glieder wie ein Kater. „Ihr seid aber früh dran“, murmelte er. „Na ja, wir haben doch einiges vor heute.“
Das Frühstück wurde kurz gehalten, schließlich gab es noch recht viel zu tun. Die Drei – Aky hatte sich als Onkel verwandelt – wanderten zu den Wohnfässern, um den Eltern Bescheid zu sagen.
„Hallo ihr Morgenmenschen!“, rief Papa Schuster frohgelaunt. „Wollt ihr schon los, wo ist Aky?“ „Der liegt noch in der Koje“, flunkerte ‚Onkel Alfred‘ sehr überzeugend. Tanja dachte bei sich: Ob unser Lügenmärchen lange hält?
„Wir möchten gerne einen mehrtägigen Ausflug mit dem Camper unternehmen“, sagte Felix. „Ihr habt doch nichts dagegen?“ „Wenn Alfred die Verantwortung übernimmt“, entgegnete seine Mutter, „habt ihr meinen Segen.“ Auch Tanjas Eltern und Kurt Hansen hatten keine Einwände. „Ihr werdet Kohle brauchen, habt ihr Geld genug?“ „Das wäre unsere nächste Frage gewesen“, antwortete Tanja mit einem spitzbübischen Lächeln.
Die Erwachsenen zeigten sich äußerst großzügig und machten zusammen einen ordentlichen Betrag locker. „Schließlich müsst ihr ja tanken“, meinte Papa Schuster. „Und verhungern sollt ihr auch nicht“, schloss sich seine Frau an. „Muchas gracias“, bedankte sich Tanja. Felix rief grinsend. „Cool, vielen Dank, dann brauchen wir nicht zu sparen und müssen uns keinen Job besorgen um zu überleben.“ Onkel Alfred dankte ebenfalls. „Wir fahren gleich zum Supermarkt und decken uns mit dem Nötigsten ein. Aky wird wohl inzwischen wach sein.“
„Du bist sicher, dass wir das alles brauchen?“, fragte Tanja, nachdem sie den Discounter verlassen hatten. „Ihr werdet euch noch wundern, vielleicht haben wir sogar zu wenig eingekauft!“ Felix witzelte leise: „Vielleicht ist bei Aky eine Schraube locker?!“ Der reagierte nicht darauf, sondern sagte freundlich: „Nun brauchen wir noch eine Apotheke.“ „Aha, willst du die auch leerkaufen?“, frozelte Felix. „Nicht ganz, aber wir benötigen Medikamente und Verbandszeug für alle Fälle, haben wir gestern Abend besprochen, jedoch nichts notiert.“
Auf dem Parkplatz trennten die Gefährten die Lebensmittel, die gekühlt werden mussten, von den übrigen Waren und lagerten diese im Bordkühlschrank. Der Rest wanderte in den Kofferraum. „So, das wäre geschafft“, stöhnte Aky und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. „Ich denke, wir haben alles beieinander, oder?“ „Checken wir nochmal durch“, meinte Tanja und zog den Notizzettel aus der Hosentasche. „Sieht aus, als fehlt nichts, außer Kleidung, die in die Zeit passt. Wo bekommen wir die her?“ Aky schaute seine Freunde mit todernster Miene an. „Da haben wir ein riesiges Problem.“ ... Betretenes Schweigen folgte.
Unverhofft fing Aky lauthals an zu lachen. „Eure Gesichter solltet ihr sehen!“ „Wir machen uns Sorgen und du feixt dir einen ab, was soll das?“, entrüstete sich Felix. „Wenn wir zurück auf dem Campingplatz sind, beichte ich. Aber eine andere Sache: Haben wir genug Batterien für die Funkgeräte und die Taschenlampen.“ Felix nickte und antwortet: „Ja, hab außerdem Akkus mit Ladegerät eingepackt.“ Kaum war ihr Stellplatz erreicht, forderte Tanja: „Was ist jetzt mit den Klamotten, wo bringen wir die her?“ „Als ihr noch Schule hattet, war ich kurz im Jahr 1450, und besorgte in einer Stadt verschiedene Kluften nach der damaligen Mode. Äußerst schick, kann ich euch sagen, in der Kiste unter eurem Hintern ist das Kleiderdepot.“
„Mann hast du mir einen Schrecken eingejagt, ich dachte schon, jetzt ist alles aus“, fauchte Tanja.
„Ihr kennt mich, ich muss euch immer wieder mal ein wenig foppen.“ „Das ist dir voll gelungen, machen wir doch gleich eine Kostümprobe“, wünschte sie sich sogleich aufgeregt und hob den Deckel der Sitzbank an. „Dazu ist unterwegs genug Gelegenheit!“, widersprach Aky.
Die Reise beginnt
„Alles einsteigen!“, rief Aky gut gelaunt, nachdem die Freunde den Camper betankt hatten. Dabei waren sie darauf bedacht, dass niemand sieht, dass sie nicht nur ihren Frischwassertank, sondern auch den Treibstofftank aus der gleichen Leitung befüllten. Tanja und Felix wunderten sich nicht darüber, denn sie kannten das ja schon aus früheren Abenteuern. Der Caravan war kein gewöhnlicher Camper. Es war ein Zeitreisemobil und hatte auch sonst noch einige Besonderheiten.
Dieses Fahrzeug war ein Modell aus der Zukunft und benötigte kein Benzin oder Diesel, sondern Wasserstoff. Den produzierte ein eingebautes Aggregat aus Wasser mittels Elektrizität aus Sonnenenergie. Die Solarkollektoren auf dem Dach stammten gleichermaßen aus künftigen Jahren und hatten einen wesentlich besseren Wirkungsgrad als unsere heutigen. Zudem lud eine Lichtmaschine die Batterien zusätzlich durch den Fahrtwind.
Aky fragte: „Alles klar?“ „Aye, aye Sir“, meldete Felix mit einer zackigen Bewegung mit dem rechten Arm Richtung Stirn wie ein Soldat. Dabei grinste er übermütig. Tanja hingegen machte einen weniger mutigen Eindruck. Zaghaft flüsterte sie: „Von mir aus kann’s losgehen.“ Sie hatte zwar Erfahrung mit dem Zeitreisemobil, aber die letzten Reisen hatten sie nur in die jüngere Vergangenheit geführt. Nun jedoch sollte es in die unzivilisierte Welt des Mittelalters gehen. „Hast du Bammel, Tanja?“ Felix waren ihre Zweifel nicht entgangen. „Nein, ich bin kein Feigling und Angst habe ich schon gar nicht“, schnauzte sie zurück. „Ich, ich, na ja, ich mach mir nur ein bisschen ... ach was, alles roger, packen wir’s an.“ „Na dann, anschnallen und auf gehts!
Wenn’s recht ist, fahre ich die ersten paar Kilometer“, sagte Aky, der inzwischen wieder erwachsen erschien, und kletterte auf den Fahrersitz. Tanja und Felix setzten sich auf die Beifahrerplätze. Langsam steuerte Aky das Vehikel durch die schmalen Wege des Campingplatzes. Auf der öffentlichen Straße lenkte er es zunächst aus der Stadt, dann drückte er auf die Tube. „Wir werden eine kleine Strecke normal fahren und später die Zeitmaschine einschalten“, entschied Aky. Bald darauf sagte er zu Felix: „Bitte stell doch auf der Anzeige vor deiner Nase die Zahl 1470 ein.“ „Diese hier?“ „Ja, einfach das Rädchen nach links drehen.“ „Ok. 1470 ist eingestellt, und nun?“ „Rechts daneben ist ein Joystick, den schiebst du auf LOW.“
„Ok, gemacht!“ „Jetzt bewegen wir uns langsam in die Vergangenheit und können aufsteigen. Es wird keiner sehen, denn wir sind bereits eine Stunde hinter der Normalzeit. Tanja, du kennst das ja bereits. Weißt du noch, wie das geht mit dem Abheben?“ „Na klar, ich drücke die Taste ‚Gravit off‘ und schon ist die Gravitation5 fast auf null.“ „Richtig, mach das!“ Sie drückte und in dem Moment hob sich das Wohnmobil in die Luft. „Warum fahren wir nicht einfach auf der Straße?“, wollte Tanja wissen. „Weil es in Kürze keine mehr geben wird, höchstens Feldwege und Trampelpfade.“ „Kann ich mir vorstellen, wir fahren ja in die Vergangenheit. Wohin eigentlich?“, meldete sich Felix. „Wir werden in der Region bleiben und nur ein wenig über der Gegend kreuzen“, gab Aky zur Antwort. „Wenn wir das Tempo beibehalten, brauchen wir 100 Jahre bis zum Ziel, wir müssen beschleunigen.“ Felix meldete sich etwas verunsichert: „Ich habe das Gefühl, die Sonne bewegt sich in die falsche Richtung, nämlich ostwärts.“ „Gut beobachtet, wir bewegen uns rückwärts in der Zeit, gleich wird sie im Osten unter- und dann im Westen aufgehen.“ „Cool!“, rief Tanja mit gedämpfter Begeisterung. „Und du meinst, wir brauchen 100 Jahre? Das erleben wir ja nicht.“ „Keine Sorge, es dauert nur circa sechs bis sieben Stunden. Schieb den Joystick ein wenig nach oben, etwa auf 30 Minuten pro Tag, wir wollen uns erst mal einen Eindruck von der Gegend verschaffen.“ Tanja tat das, und schon rasten die Wolken über ihnen hinweg und die Sonne verschwand am östlichen Horizont. Es wurde dunkel im Auto und Felix kletterte nach hinten, um die Bordbeleuchtung einzuschalten. Kaum war das Licht an, erschien im Westen bereits das Abendrot. „Phänomenal, dass man so etwas erleben darf, ist ja voll krass!“, schrie Tanja jetzt völlig begeistert. „Warte es ab, das wird noch interessanter“, meinte Aky gelassen. „Schieb den Regler auf 60:100, dann gibts was zum Staunen.“
Tanja traute sich zuerst nicht recht, bewegte aber doch den Schalter ein wenig noch oben. Was für ein Schauspiel, das Sonnenlicht raste von West nach Ost über den Himmel, kaum wurde es hell, war es auch schon Nacht und gleich wieder Tag.
Tanja schob den Stick weiter bis zur gewünschten Marke. Jetzt wurde es weder hell noch dunkel, die Landschaft unter ihnen erschien in einem diffusen Gemisch aus Licht und Schatten. Wie in einen unterbelichteten Film. „In welchem Jahr sind wir wohl?“, fragte Tanja nach einigen Minuten. „Ich schätze, etwa im 19. Jahrhundert, weiter sicher nicht, denn früher gab es keine Stadtbeleuchtung“, meinte Felix stolz. „Wenn du dich damit nicht irrst“, konterte Aky. „Bereits im Mittelalter gab es Beleuchtung in den Gassen. Nicht so wie heute, aber immerhin.“
„Wollen wir uns die Kleidung ansehen, die Aky besorgt hat?“, fragte Tanja. „Logisch, jetzt ist Zeit für eine Kostümprobe“, erwiderte Felix erfreut. Tanja öffnete die Truhe unter der Sitzbank, und Felix zog das erstbeste Stück Stoff heraus. Zunächst sah es aus wie ein Kartoffelsack, doch dann erkannte er, dass es eine Art Mantel war. Sofort warf er sich das Stück über. Keine Ärmel, keine Knöpfe, keine Manteltaschen. Der Stoff war grob gewebt und an die Kapuze hatte man ein Band als Verschluss angenäht. Außerdem fand Felix ein Seil, das offenbar als Gürtel diente.
Unterdessen kramte Tanja ein farbenfrohes Kleid aus feinem Stoff hervor. „Oh, das sieht edel aus, ich probier’s gleich an.“ „Das ist aber ein Männerkleid, sowas trugen die hohen Herren wie Grafen, Kastellane und so“, dämpfte Aky Tanjas Euphorie. „Das gute Stück nähte der Schneider für einen Fürsten ‚Sowieso‘, der es nachher aber nicht bezahlen wollte. Ich bekam es für ein Butterbrot.“ „Und was kann ich dann anziehen?“, murrte Tanja enttäuscht. Aky holte ein grob gewebtes Leinenkleid mit einem Gürtel aus geflochtenem Leder und einer Schürze hervor. „Wie wäre es mit dem zum Beispiel?“ Gefrustet blickte Tanja drein. „Na wunderbar, wenn wir bei Hofe eingeladen werden, gehe ich dann als Aschenputtel.“ „Nicht sauer sein, in der Kiste sind jede Menge Gewänder. Für fast alle Gelegenheiten habe ich vorgesorgt, weil wir nicht wissen, ob wir uns als Kinder reicher Eltern ausgeben oder als Bauernknechte arbeiten müssen.“
„Dann will ich eine Prinzessin sein und du bist mein Lakai.“ „Ich bin der Prinz von ‚Ichweißnichtwo‘ und ihr seid mein Gefolge“, schwärmten Tanja und Felix durcheinander, mit herzlichem, übermütigem Lachen.
Die Freunde schwatzten noch eine ganze Weile über die Möglichkeiten der Verkleidung und die Rollen, in welche sie schlüpfen könnten.
Felix wurde ernst und sachlich. „Was erzählen wir den Leuten, falls man fragt, wer wir sind?“ „Da bleiben wir flexibel und entscheiden je nach Situation. Wenn wir auf Landbevölkerung stoßen, werden wir anders agieren als beim Besuch einer Burg. Eines bleibt aber immer gleich: Wir kommen aus einem fernen Land, welches, überlegen wir uns später.“
Inzwischen war die Zeit vergangen und Aky meldete: „Wir haben das 15. Jahrhundert beinahe erreicht, wollen wir mal kurz langsamer reisen und gucken, wie es am Tage aussieht?“ „Oh ja“, riefen Tanja und Felix gleichzeitig, und Felix fügte an: „Wieder Tageslicht wäre spitze.“ Aky stieg ins Cockpit und bewegte den Schalter nach unten. Beim ersten Sonnenstrahl, der im Westen auftauchte, reduzierte er die Zeitgeschwindigkeit soweit, bis die Sonne scheinbar stillstand. „So, nun können wir in aller Ruhe einen Rundblick riskieren. Eine ganze Stunde haben wir Tageslicht, dann wird es wieder dunkel.“
„Wo, bzw. in welchem Jahr sind wir jetzt?“, fragte Tanja. „Im Jahr 1500, und zwar im Mai“, sagte eine freundliche Frauenstimme aus dem Armaturenbrett. „Aha, guten Morgen Navi“, grüßte Aky, „aufgewacht?“ „Ich schlafe nie, wie du weißt, außer du ziehst den Schlüssel.“
Tanja und Felix kletterten nach vorne, dort war die Sicht besser als von den Kabinenfenstern aus. Vor ihnen tauchte eine größere Stadt mit einer riesigen Burg in der Mitte auf. Die Festung thront auf einem Hügel und eine Mauer, unterbrochen von mehreren Türmen und Eingangstoren, umgab die Ortschaft in einem weiten Rund. „Wenn ich mich nicht irre, ist das Nürnberg“, vermutete Tanja.
„Da kannst du recht haben, wir sind immer im Kreis von etwa 100 km um den Startplatz geflogen, das kommt hin“, stimmte Felix zu. „Das wäre doch ein guter Anfang für unsere Expedition, was haltet ihr davon?“ Tanja reagierte mit einem „Juhu, das wäre toll, wird sicher aufregend da unten! Ich bin jedenfalls dafür.“
„Könnt ihr Gedanken lesen?, fragte Aky, ich wollte euch eben denselben Vorschlag machen. Ich fliege einmal um die Stadt herum und suche einen Landeplatz.“ „Aber wir dürfen doch nicht einfach in den Gassen landen, das würde riesiges Aufsehen erregen“, gab Felix zu bedenken. „Tun wir auch nicht, ich schau nach einem Platz außerhalb der Mauern, wo normalerweise keine Leute sind.“ „Na dann, mach mal, ich bin gespannt.“ Aky steuerte das Zeitreisemobil über der Stadtmauer entlang. Nahe der Burg erkannte er, dass diese nicht den Mittelpunkt der Stadt bildete. Vielmehr war sie Teil der Stadtbefestigung am nördlichen Rand. Unten, auf der Außenseite der Mauern, verlief ein Graben, über den an verschiedenen Stellen Brücken zu den Stadttoren führten. Insgesamt zählte er sechs.
„Schaut her“, rief er, „da unten sind Wiesen, Felder und ein kleines Wäldchen! Wenn ich da lande, haben wir es nicht weit zur Stadt.“
Nuremberga
„Einspruch!“, rief Tanja besorgt, „da sieht uns doch jeder, der über die Mauer guckt.“ „Keine Sorge, wir parken dort hinter der Scheune. Während des Sinkflugs kann uns niemand sehen, weil wir immer noch im Zeitreisemodus sind. Unten schalte ich ihn aus.“ „Und wenn einer um den Schuppen wandert, was ist dann?“, wollte Felix wissen. „Lasst uns erst einmal ankommen, es wird gleich dunkel. Danach kläre ich euch auf.“ „Ha ha, aufgeklärt sind wir schon.“ „Witzbold.“ In einem leichten Bogen steuerte Aky das Gefährt in die Tiefe und setzte es genau hinter dem Holzbau auf dem Boden auf.
„Da wären wir, Normalmodus an, Antrieb aus!“, rief Aky in bester Laune. „Und nun vertreten wir uns die Beine“, schlug Felix vor, „alles aussteigen!“ „Halt, stop, zieht euch einen Umhang über, es könnte uns jemand beobachten!“, mahnte Aky. Rasch kramte sich jeder ein Cape aus der Kleiderkiste und kletterte aus dem Wagen. Die frische Luft tat gut nach der langen Reise. „Ist es wahr, wir sind über 500 Jahre in die Vergangenheit gereist? Nicht zu fassen!“, rief Tanja aus und hüpfte tanzend im Kreis. Wie erstarrt hielt sie mitten in einer Drehung inne und brüllte: „Wo ist unser Auto? Wir sind eben erst ausgestiegen und jetzt ist es weg!“
Felix drehte sich ebenfalls um und schaute in die Richtung, in der der Camper stehen sollte. „Verschwunden, wie kann das sein?“
Aky konnte sich nicht mehr zurückhalten und fing an, lauthals zu lachen. Es dauerte eine Weile, bis er sich gefangen hatte. Immer wieder schaute er in die verdutzten Gesichter seiner Freunde und prustete jedes Mal von neuem los. Außer Atem brachte er schließlich einen Satz heraus: „Ha, ha, ha! Ich hab doch vorhin gesagt, ich werde euch aufklären.“ „Soll das ein Witz sein? Unser Camper löst sich in Luft auf und du lachst dir einen Ast“, schimpfte Felix verärgert. „Keine Panik, das Auto ist nicht weg, man kann es nur nicht mehr sehen und ich freue mich darüber, dass die Erfindung funktioniert. So können wir überall parken, ohne Sorge entdeckt zu werden.“
„Kannst du das genauer erklären?“, fragte Tanja gereizt. „Ihr kennt doch die niedlichen kleinen Echsen, die ihre Farbe der Umgebung anpassen können?“ „Du meinst Chamäleons?“ „So einen Mechanismus hat neuerdings auch unser Fahrzeug, es passt sich dem jeweiligen Hintergrund an, und zwar durch ein Hologramm. Es scheint also für den Betrachter so, als ob der Camper Teil des Stadels wäre.“ „Geil“, fiel Felix nur dazu ein. Tanja meinte: „Das ist der Hammer, eine irre Erfindung.“ Erleichtert über die Erklärung des Phänomens war Felix voller Tatendrang. „Was machen wir jetzt? Du sagtest vorhin, es wird bald dunkel.“
„Das war vor der Landung“, antwortete Aky. „Nun ist morgen.“ „Du spinnst!“ „Nein, nein, erinnert euch! Wir sind gegen die Zeit gefahren und die Sonne ging Richtung Ost. Wir sind jetzt am Tagesanfang und können noch allerlei unternehmen.“
„Na dann, gehen wir in unser – nicht vorhandenes – Häuschen und halten Kriegsrat“, tönte Felix frech. Tanja fuhr fort: „Habt ihr gar keinen Hunger, wie wär’s mit Frühstück? Mir hängt der Magen in der Kniekehle.“ Dabei hielt sie sich den Bauch. „Wenn wir dich nicht hätten, würden wir glatt verhungern“, witzelte Felix. „Ran an die Bordküche.“
Während des Essens diskutierten die Abenteurer über ihr weiteres Vorgehen. Als Erstes überlegten sie, wie sie in die Stadt eingelassen würden. Ob Wachen an den Toren stehen könnten und Fragen stellen. Welchen Vorwand hätten sie, um Einlass zu erhalten. Vieles mehr ging ihnen durch den Kopf und wurde besprochen. Schließlich merkten die drei, dass alles Rätseln keinen Sinn ergab, und machten sich daran, geeignete Kleidung zusammenzustellen, denn mit Jeans, Shirt und Turnschuhen kämen sie vermutlich nicht weit.
„Ich schlage vor, wir verkleiden uns als einfache Jungs vom Land. Sucht euch Beinlinge, Hemden und alte Pantoffeln zusammen. Barfuß ist auch ok.“ Tanja maulte los: „Was heißt da Jungs, ich bin kein Bursche und was um Himmelswillen sind Beinlinge?“
„Entschuldigung, meine Dame, ich dachte nur, als Jüngling würdest du ohne Anmache besser an den Wachen vorbeikommen.“ „Vielleicht hast du recht, und wie heiße ich dann?“ „Dein Name kommt aus dem Russischen und bedeutet Kriegerin, wie gefällt dir Tatius? Der war angeblich ein römischer König und regierte zusammen mit Romulus.“ „Hey echt klasse, klingt edel, den nehme ich, ‚KRIEGERIN‘ ist auch nicht ohne, aber woher weißt du das schon wieder.“ „Du erinnerst dich an unser erstes Zusammentreffen?“ „Stimmt, du bist ja so alt wie die Welt, hast du behauptet damals.“ „Ich will auch so einen klangvollen Namen haben“, Felix mimte eine kindlich weinerliche Stimme. „Du kannst glücklich sein mit deinem Vornamen, Felix kommt von ‚felicis‘ das heißt Glück und bedeutet ‚der Glückliche‘, ‚der Erfolgreiche‘ oder ‚der vom Glück begünstigte‘. Felix ist lateinischer Herkunft und war ein römischer Beiname, der vielen Herrschern zusätzlich gegeben wurde! Machen wir Felicius draus?“ „Da kann ich ja zufrieden sein und muss meinen ‚alten Herrschaften‘ danken. Felicius gefällt mir. Wie willst du dich nennen, Aky?“ „Ich behalte den meinigen, Aquila bedeutet ja Adler und der kann fliegen.“
„Gut, schmeißen wir uns in die Kostüme und dann rein ins Vergnügen“, drängelte Felicius und öffnete die Kiste unter der Sitzbank. Tatius wühlte auch in den Klamotten und zog ein paar schlauchähnliche, lange Wäschestücke hervor. „Das sind wohl die Beinlinge?“
„Genau, man zieht sie wie Strümpfe an und bindet sie am Oberschenkel mit einer Schnur fest. Wir haben aber Sicherheitsnadeln dabei, damit hefte ich sie ans Hemd oder an die Unterhose“, erläuterte Aquila. Mit viel Gelächter vollzog sich der Kampf mit den ungewohnten Kleidungsstücken. „Wie siehst du denn aus, Bruder Tatius?“, witzelte Felix. „Wie eine Vogelscheuche.“ „Selber, schau dich mal an, du Spatzenschreck“, konterte Tatius. Jeder trug nun ein sandfarbenes Hemd mit einer Schnur um die Taille und einen Hut. Weil die Hosen keine Taschen hatten, hängten sie sich Stoffbeutel an den Gürtel. Aky war auch fertig und kommandierte mit erhabener Geste. „Lasset uns zur Tat schreiten, holde Jünglinge!“ „Zu Befehl mein General, schreiten wir dem Unausweichlichen entgegen!“, scherzte Felicius mit einer tiefen Verbeugung. „Ihr seid ganz schön übermütig Jungs, habt ihr keinen Schiss?“ „Na ja, nenn es Galgenhumor“, murmelte Felicius kleinlaut. Tanja schaute ihre Freunde prüfend an und meinte dann: „Irgendetwas passt nicht, was ist das nur?“ Aky und Felix sahen sich daraufhin gegenseitig an. „Meinst du, an uns stimmt was nicht?“, erkundigte sich Felix, „Ja, ... ich habs, Aky, deine Brille und die Armbanduhr.“ „Au weia, das geht ja gar nicht, die Gläser trage ich sowieso nur als Intelligenzverstärker“, scherzte Aky und legte beides ab. „Vergesst nicht, etwas Geld und die Funkgeräte mitzunehmen“, erinnerte Tatius. „Okay, hab ich schon eingesteckt“, erwiderte Aquila.
Schon von Weitem sah man jede Menge Volk vor dem Tor auf der Zugbrücke stehen. Alle schienen guter Laune zu sein. Männer und Frauen gestikulierten mit den Armen. Kindergeschrei mischte sich mit lauten Worten und Gelächter tönte herüber. „Ich glaube, da ist ein Volksfest oder sowas im Gange“, vermutete Aky. „Gehen wir hin und hören, was die Leute erzählen.“ „Warum sind die vielen Menschen hier? Wollen die alle in die Stadt?“, traute sich Felicius, einen Burschen von etwa zwanzig Jahren zu fragen. „Er ist wohl auch fremd hier?“, antwortete der junge Mann freundlich. „Die wollen wie ich zum Gesellenstechen.“ „Und das ist was?“ „Die reichen Patriziersöhne spielen Ritter, dabei tun sie so, als seien sie große Herren und ahmen Ritterturniere nach. Wird jedes Jahr veranstaltet und soll ein riesiger Spaß sein.“ Felix kehrte zu seinen Gefährten zurück, die etwas abseits warteten. „Habt ihr das mitbekommen? Die halbe Welt ist unterwegs in die Stadt.“ „Ja“, sagte Aky, „habe ein bisschen verstanden, dann haben wir ja überhaupt kein Problem reinzukommen.“
Das Trio reihte sich in die Menge ein und spähte nach vorne zu dem Tor mit überdimensionalen Torflügeln. Zu beiden Seiten stand je ein Wächter mit einer Art Speer in der linken Faust. Der rechte Arm lag eng am Körper. Auf dem Kopf trug jeder Soldat einen Helm, der auch Stirn und Nase schützte. Sie machten einen wachsamen Eindruck und musterten die Besucher einzeln, bevor sie durch das Tor gelassen wurden. Tanja – nein Tatius, Felicius und Aquila versuchten, sich hinter größeren Personen zu verbergen, aus Furcht befragt zu werden. „Halt!“, schrie plötzlich einer der Stadtknechte. „Wer seid ihr? Ich kenne euch Burschen doch.“ Tatius bekam sofort weiche Knie und traute sich nicht, die Soldaten anzublicken. Felicius senkte abrupt den Kopf und machte sich so klein wie nur möglich. Auch Aquila war zunächst erschrocken, doch er sah, dass die Augen des Torwächters in eine andere Richtung schauten.
Der zweite Wächter erkannte nun wohl auch den Ernst der Lage und stürzte auf drei Gestalten zu, die recht ärmlich gekleidet waren. Für die Burschen war der Rückweg durch die Menschenmenge versperrt und so war es ein Leichtes, die Männer zu fassen. „So, meine Freunde, haben wir euch endlich“, flüsterte einer der Wachsoldaten dem ersten der drei Verdächtigen, mit bedrohlicher Miene ins Gesicht. „Wir dulden hier keine Diebe, auch wenn heute fette Beute zu machen wäre.“ Der zweite Wachmann hatte inzwischen nach Verstärkung gepfiffen und schnürte die drei mit einem Tau zusammen. „Abführen und in den Kerker!“, befahl der Ältere der Recken den eingetroffenen Männern der Verstärkung. „Wenn die Zeit kommt, wird sich die Gerichtsbarkeit um die Halunken kümmern.“ Unsere drei verschüchterten Helden nutzten die Situation und huschten unbemerkt durchs Tor. Der Szene schauten sie aus sicherer Entfernung zu. Der Tumult hatte sich bald aufgelöst, sodass die wartenden Besucher die Stadt betreten durften.
Die Zeitreisenden wurden von der Menge bis zum Schauplatz durch die Gassen geschoben. Alle wollten das Turnier sehen. Auf dem Platz drängelten sich die Menschen an die Barrikaden der extra für diese Veranstaltung geschaffenen Arena. Ringsherum an den Fenstern der Häuser war Publikum zu erkennen. Selbst die Dächer waren mit Schaulustigen besiedelt. „Hört mal her!“, Felix musste schreien, um verstanden zu werden, denn das Volk machte einen entsetzlichen Lärm. „Da drinnen in der Arena geht es sicher erbarmungslos zu, setzen wir uns ab und sehen uns in der Stadt um.“
„Das machen wir, hab auch keinen Bock auf das Gemenge“, bestätigte Aky. Etwas abseits der Menschenmasse drehte sich Tatius um die eigene Achse und ließ den Blick schweifen. „Tolle Fachwerkhäuser hier, ich fühle mich wie im Mittelalter.“ „Hallo? Wo bist du Bruder Tatius? Wir sind im Jahr 1500, ist dir nicht wohl?“ „Doch, ich bin nur so hin und weg, das alles im Original zu erleben.“ Dabei starrte sie in die Menschenschar bei der Arena.
„Lasset uns einen Rundgang unternehmen und die Gebäude betrachten.“ Tanja sah Felix verwundert an. „Wie redest du daher?“ „Meine Wenigkeit übt die Sprechweise dieser Zeit!“ „Möge er das tun, edler Herr, aber nicht unter uns.“ „Na gut, dann lass uns halt ’ne Runde drehen.“ Auf ihrem Weg stellten sie fest, dass fast jedes Haus im Erdgeschoss Geschäfte oder Werkstätten hatte. Da hing eine Brezel als Zeichen für eine Bäckerei, dort ein Zunftzeichen mit einer Schere, ein anderes zeigte einen Schuh und so weiter. Heute waren die meisten aber geschlossen wegen des Spektakels. Tanja stellte fest: „Eine feine Sache, das mit den Schildern. Obwohl die Leute weder schreiben noch lesen gelernt haben, erkennen sie so, welcher Handwerker hier arbeitet und wohnt.“
Die Mauern im unteren Geschoss waren vorwiegend gemauert. Die oberen Stockwerke bestanden teilweise aus Holzfachwerk, andere waren komplett aus Stein. Jetzt stehen sie vor einem klotzigen Turmhaus mit schmalen Butzenglasfenstern6. Im Dachgeschoss waren an drei Ecken kleine Türmchen angebaut.
Man erkannte, dass die beiden oberen Stockwerke und das Dach erst kürzlich aufgebaut wurden. An der Südseite ist eine Sonnenuhr aufgemalt. „Kannst du erkennen, welche Zeit die Uhr anzeigt?“, fragte Felix. „Irgendwo zwischen zehn und elf“, antwortete Tanja und fuhr fort: „Es ist schon erstaunlich, wie die Leute das alles geschafft haben, die riesigen Gebäude, und ganz ohne Maschinen. Ob es wenigstens Kräne gibt?“ „Bestimmt“, meinte Aky, „guck hinauf zu den Giebeln, dort hat beinahe jedes Haus einen Galgen, an dem ein Rad angebracht ist, darunter eine Tür. Die Dachböden werden als Vorratsspeicher genutzt, zum Beispiel für Getreide.“ „Verstehe, mit einem Seil wird ein Sack oder ein Fass nach oben gezogen und dort nimmt es ein anderer in Empfang, aber ohne Motor, nur mit Muskelkraft.“ Die Wanderung führte zur Frauenkirche und zurück zum bevölkerten Hauptmarkt. „Wie lange müssen die Handwerker an so einem Prachtbau geschuftet haben“, fragte sich Tanja. „Wahrscheinlich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.“
„Jetzt wäre ein schöner, großer Eisbecher recht“, sagte Felix und leckte sich die Lippen. „Da wirst du Pech haben, aber dort drüben ist ein Gasthaus, gönnen wir uns eine Pause“, schlug Aky vor. Sie setzten sich an einen Tisch und warteten. Ein uniformierter Kellner in etwa ihrem Alter kam hinter der Theke hervor und betrachtete die drei missbilligend. „Was steht zu Diensten?“ „Uns dürstet“, antwortet Felix, „möge Er einen Trunk bringen!“ „Euere Gewänder sagen mir, Ihr seid nicht von edler Herkunft.“ „Ist bei Euch nicht jedermann willkommen, der bezahlen kann?“ „Zeiget her Euer Gold.“ Aky kramte in seinem Beutel nach Euros und legte drei Eurostücke auf den Tisch. Der Junge betrachtete sie lange. „Diese Münzen kenne ich nicht, sind die aus Silber?“ „Das sieht Er doch. Was bekommen wir dafür?“ „Hierfür würde ich den Herren einen Krug vom besten Wein servieren, jedoch herausgeben kann ich nicht.“ „Behaltet den Rest, aber bringe Er vielmehr drei Becher vom Dünnbier.“ Das Bier wurde gebracht und der Junge war wie ausgewechselt, außerordentlich höflich. Vor der Wirtschaft fing Felix an zu lachen. „Das hat tatsächlich geklappt mit den Euros, hätte ich nie geglaubt.“ „Aber wir dürfen uns künftig hier nicht mehr sehen lassen“, murrte Tanja, dabei schweifte ihr Blick über den Marktplatz. „Seht nur, das Mädchen dort!“ Tanja deutete auf eine Gruppe Leute. „Es hat gerade einer Frau etwas aus ihrem Einkaufskorb genommen.“
„Wo, wo ist das Kind?“, fragte Felix. „Da drüben, es trägt eine Schleife im Haar. Jetzt gibt sie einen Gegenstand an einen Jungen weiter.“ „Wollen wir der Angelegenheit auf den Grund gehen?“, fragte Aky, der die Situation auch beobachtet hatte. „Klaro – bleiben wir den Kindern unauffällig auf den Fersen“, hauchte Tanja und fuhr fort: „Ich übernehme die Kleine und ihr folgt dem Bengel.“ „In Ordnung. Hier, nimm das Funkgerät, damit wir Verbindung halten können, Kanal 8 ist eingestellt.“ Aky steckte ihr das Minigerät zu und Tanja klemmte es gleich an ihr linkes Ohr. Felix bekam auch eins: „Ich hätte nie erwartet, dass wir die Dinger wirklich benutzen.“ Während dieser Aktion behielten die drei ihre Verdächtigen scharf im Auge. Tanja trabte gemächlich Richtung Arena und folgte dem Mädchen. Als der Junge von vorhin erneut bei dem Mädel ankam, drückte sich die Kleine zwischen die Menschenmenge. „Es geht wieder los“, kam die Stimme von Felix an ihr linkes Ohr. „Ich glaub’s auch“, flüsterte Tanja. Kaum ausgesprochen, sah sie das Kind aus der Versenkung schlüpfen und dem Buben etwas in die Hand drücken. Der lief sofort ohne Hast davon. „Mann, sind die clever“, wisperte Tanja, „spazieren einfach gemütlich rum, als wäre nichts gewesen.“ „Würde er rennen, würde er Aufmerksamkeit erregen“, antwortete Felix. Aky blieb im Hintergrund und beobachtete die Situation. Da entdeckte er in der Ferne eine Gestalt, die scheinbar gelangweilt in einer Eingangsnische lehnte und in die Gegend blickte. Verwunderlich fand er, dass diese Person nicht wie alle anderen den Ritterspielen zuschaute, sondern nur einsam rumstand. Außerdem war sie zu warm angezogen für das Wetter. Der Statur nach musste es ein Mann sein. Er trug einen langen, weiten Wollumhang mit Kapuze, die sein Gesicht beschattete.Vielleicht ist er krank und hält sich deshalb warm, überlegte Aky, aber warum liegt er dann nicht im Bett? „Felix, Tanja, seht ihr den Mann, der in einer Nische lehnt, etwas oberhalb Richtung Burg?“ Felix fragte: „Der mit der Kapuze und dem dicken Mantel?“ „Ja den, ich werde ein wenig näher rangehen, um ihn besser zu sehen, der kommt mir sonderbar vor.“
Aky war eben im Begriff loszuschlendern, als er bemerkte, dass der Knabe schnurgerade auf den dunklen Gesellen zumarschierte. Das ist der Boss der Bande, fiel es Aky wie Schuppen von den Augen. Der Bengel näherte sich dem Kerl zögerlich. Dann übergab er ihm mit beiden Händen, die er zu einer Schüssel formte, irgendwelche kleine Gegenstände, die der Alte sofort unter seinem Cape verschwinden ließ. Leider stand Aky zu weit entfernt, ansonsten hätte er gehört, wie der Mann den Jungen beschimpfte. „Das ist alles?! Strengt euch gefälligst mehr an, sonst setzt’s was!“ Der Kerl verließ seinen Platz und bog in die nächste Gasse ein. Der Kleine schlurfte niedergeschlagen zurück zu seiner Kumpanin. „Hallo Leute, wir müssen uns besprechen“, hauchte Aky ins Mikrofon. „Kommt in die Mitte des Marktplatzes, dort belauscht uns keiner.“
„Wir müssen den beiden Kindern helfen“, fing Aky an, nachdem sie sich getroffen hatten. „Denen helfen beim Klauen?