Ferkel fliegen nicht - Ninni Martin - E-Book

Ferkel fliegen nicht E-Book

Ninni Martin

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Beschreibung

'Ferkel fliegen nicht' handelt von der verhängnisvollen Verwicklung zweier Protagonisten, deren Lebenswege sich kreuzen: Friedemann, ein Weltenbummler, der mit wachsendem Zynismus Schutz hinter der Fassade eines bürgerlichen Lebens sucht. Fatima, eine von sich selbst ernüchterte Journalistin, der um jeden Preis die gewaltig große Geschichte gelingen will. Weitere Zutaten zum Handlungsverlauf sind Schweinedoping, Landluft, Jachtausflüge, Trinkgelage, ein Behindertenausweis, eine Art Waschmaschine, ausgebrannte und gesprengte Labore, Scheunentheater, Filz und Klüngelei. Schlagworte: Belletristik, Investigativer Journalismus, Nachwendezeit. Zumal das Manuskript kein Verlagslektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreib-, Formulierungs- und Formatfehler, die dem Roman sicher noch anhaften. Davon abgesehen darf beim Lesen abwechslungsreiche und spannende Unterhaltung erwartet werden. Autorenschaft: Der Autor, Jahrgang 1963, lebt im Raum Stuttgart und veröffentlicht unter Pseudonym.

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Seitenzahl: 599

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ferkel fliegen nicht

Roman

Januar 2010

Ninni Martin

Impressum:

Ferkel fliegen nichtNinni MartinCopyright: © 2012 Ninni Martin2. verbesserte Fassung, Juni 20163. überarbeitete Fassung, Februar 2024Umschlag: © 2012 Ninni Martin,CorelDrawX3ISBN 978-3-758473-22-7****self-published with neopubli GmbH, Berlinself-published without [email protected]

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, BerlinPrinted in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

'Ferkel fliegen nicht' handelt von der verhängnisvollen Verwicklung zweier Protagonisten, deren Wege sich kreuzen: Friedemann, ein Weltenbummler, der mit wachsendem Zynismus Schutz hinter der Fassade eines bürgerlichen Lebens sucht. Fatima, eine von sich selbst ernüchterte Journalistin, der um jeden Preis die gewaltig große Geschichte gelingen will.

'Ferkel fliegen nicht' ist als Roman vollkommen fiktiv und frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen natürlichen Personen, mit bestehenden oder vergangenen juristischen Personen sowie mit geographischen oder örtlichen Gegebenheiten oder Begebenheiten sind oder wären deshalb rein zufällig und unbeabsichtigt. Zudem hält der Autor Überlegungen, die im Handlungsverlauf beschrieben sind, keinesfalls, also weder im Ganzen noch in Teilen, für in Wirklichkeit umsetzbar.

Sämtliche Urheberrechte in allen Ländern bleiben dem Autor vorbehalten, der diesen Roman unter dem Pseudonym Ninni Martin veröffentlicht. Die Urheberschaft ist begründet nicht zuletzt mittels Veröffentlichung des Manuskripts durch Verlag epubli GmbH, Berlin, im Oktober 2012, gemäß Order der ISBN über epubli GmbH sowie Autorenvertrag mit epubli GmbH im Oktober 2012.

Zumal das Manuskript kein Verlagslektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreib-, Formulierungs- und Formatfehler. Zumindest die dritte Überarbeitung im Frühjahr 2024 sollte in dieser Hinsicht zu einer deutlichen Verbesserung geführt haben. Dabei fiel auf, dass einige Dinge des Handlungsverlaufs wie Telefonzellen, Telefaxe, gedruckte Straßenkarten oder Schlüssel für Hotelzimmer heute nicht mehr Teil des Alltäglichen sind. Der Autor entschied sich, es dabei zu belassen und keine Anpassung an die Gegenwart vorzunehmen. Das Geschehen spielt in der späten Nachwendezeit, irgendwann in den 2000er Jahren. Nichtsdestoweniger darf der Leser bei der Lektüre gute, abwechslungsreiche und spannende Unterhaltung erwarten.

Der Autor, Jahrgang 1963, lebt und arbeitet im Raum Stuttgart. 'Ferkel fliegen nicht', fertiggestellt im Jahr 2010, ist die erste Romanveröffentlichung, gefolgt von 'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' (2012), überarbeitet Sommer 2021 und 'Kuckucks Uhr' (2014), überarbeitet ebenso Sommer 2021.

gez.:  Der Autor, im Oktober 2012 sowie  im Frühjahr 2024

Das Apartment

1.

Es ist nur eine Frage, wie Zeit vergeudet wird. Im Bett zu liegen den ganzen Tag, ist die bequemste Art, sich im Netz zu verlieren die sinnloseste und Roulette mit den Warteschlangen vor den Kassen im Supermarkt zu spielen die vielleicht häufigste. Doch fraglos kostet Müßiggang dieser oder jener Sorte Lebenszeit.

»'Carpe Diem'. Sei wie du bist, aber nutze den Tag, denn alles ändert sich«, dachte Frieder und fand, dass ihm Weisheiten nicht halfen. Die Luft in dem kleinen Apartment war inzwischen so schlecht geworden, dass sich für Dr. med. vet. Friedemann Bronn das Sein über das Dasein zum quälenden Hiersein gewandelt hatte.

Am Vormittag waren im Billigsupermarkt die Sonderposten interessant genug, sie anzusehen, zu begreifen und zu prüfen auf Herz und Nieren. Es bereitete fraglos Spaß, im Gedränge an den Körben mit zumeist Arbeitslosen, bürgerlichen Beamten und Angestellten, türkisch gewandeten Frauen und vietnamesisch scheinenden Gastronomen mit Haut und Haaren sowie Ellenbogen Körpereinsatz zu zeigen. Hier fühlte Frieder sich wieder in seinem Element. Er stemmte sich gegen alle Widerstände aus Muskeln, Schweiß, Schleim und purem Rotz wie einst gegen kalbende Kühe, kopulierende Eber und Jungbullen bei der Kastration. Am Nachmittag am Rechner saß Frieder wieder einsam, verlassen vor dem Bildschirm und ging im Netz weltweit verloren. Die telefonische Anwahl einer Erotik-Nummer verschaffte ihm Erleichterung von der Niedergeschlagenheit und hob bei wiederholtem Male sogar die Stimmung. Juttas Konto würde dafür nächstens von der Telefongesellschaft mit einer entsprechend angehobenen Schlussrechnung belastet werden. War es das wert? Ja, ohne Frage.

»Morgen bleibe ich im Bett«, nahm Frieder sich im Selbstgespräch vor.

Vorgestern war Frieder mit Jutta ein letztes Mal zusammen. Morgens schlief er mit ihr und fühlte sich dabei ohnmächtig, sie wirklich noch zu lieben. Dann frühstückten sie gemeinsam und tranken Kaffee. Jutta meinte, es sei das Aroma und die Stärke der Zubereitung, die sie noch lange missen werde, selbst dann, wenn alle Erinnerung an Frieder längst verblasst sein werde. Dann trieben sie es erneut, erst recht und wild und in dem verbliebenen spärlichen Mobiliar, alles samt nichts mehr wert, schien die Geschirrablage des Spülbeckens wie dafür geschaffen. Später rauchten sie Hasch, die Zigaretten so groß, prall und dick wie kaum zuvor und pinkelten sich vor Lachen und Erschöpfung in die Hosen, dass ihnen die gereizten Genitalien brannten und sie erbärmlich stanken. Hunger und Appetit lockte sie zum Kühlschrank, der keine Nahrungsmittel mehr enthielt, und so genossen beide ein weiteres Mal einander, mit unbändiger Lust und betäubter Müdigkeit vom Leben.

Es klingelte. »Die Tür ist offen!«, rief Jutta und ein kleiner Trupp so sonderbar hoffnungsfroh scheinender junger Christen knäulte sich eng durch den Rahmen. Die Vorderen wendeten sich rasch mit geschützten Augen ab und liefen gegen die von hinten gierig Ahnenden und Drängelnden an. Frieder war weggetreten und so verschwitzt wie das Becken feucht. Jutta bekundete Sinn für das Praktische:

»Hallo, ihr Freunde, bedient euch mit allem, was ihr findet, doch lasst uns das Bett.« Mit ihren nackten Beinen stieß sie Frieder von sich und schleifte ihn an den Füßen über Fliesen und Parkett. Dann wuchtete sie ihn auf die Matratze, schwang sich auf ihn und zog die Decke weit über ihre beiden Körper. Sie hörte den Trupp der Gotteskämpfer leise zu Werke gehen und achtete auf Frieders schwachen Atem. Über all diesem unwirklichen Klangbild fielen Ströme fahler, dumpfer Farben, die sie sah, als sie durch die geschlossenen Lider ihrer Augen klar zu schauen suchte. Sie nahm Frieders näselndes Pfeifen genauso wahr wie dieses Schieben und Schrauben, Rücken und Ziehen, verschämtes Kichern, ein 'Igittigitt' hier und ein 'Ach guck mal' da. Dann wähnte sie noch im Chor ein 'Danke', ein 'Vergelt's Gott', ein einfaches 'Tschüss' und das Schnappen der Wohnungstür. Über die Stille danach legte sich der Schlaf. Vielleicht zwei Stunden nur mochte sie gelegen haben, ehe sie das Taxi rief, sich zurechtmachte und sie ihre Habseligkeiten in einen Beutel stopfte. Frau Dr. rer. nat. Jutta von Lindenburg verließ das Apartment. Sie küsste Friedemann nicht zum Abschied, sie drehte sich nicht einmal nach ihm um.

2.

Gestern noch harmonierte die Leere in der bis auf das Bett ausgeräumten Kleinwohnung so verträglich mit jener in Frieders Gefühlsleben. Sollte dieser Einklang ein Vorbote sein für einen erfolgreichen Neubeginn, losgelöst von allen Fehlern der Vergangenheit? Es klang wie der Startschuss für eine normale, anständige und tadellose berufliche Entwicklung sowie für eine grundsolide Zukunftsplanung. Frieder suchte nach einem Leben ohne lästige Anhaftungen von Blut, Urin, Kot, Eiter, Abszessen und Geschwüren, ohne Tritte von Pferden und Rindern, ohne Bisse von Hunden und Katzen und ohne den Gestank von Schweinen. Er mochte sich zudem die Unsicherheit ersparen, welche die Selbstständigkeit als praktizierender Tierarzt ebenso mit sich brächte wie die als Geschäftsmann, der er in den letzten Jahren hauptsächlich gewesen war. Dann ähnelten auch die kahlen Wände mit ihren nicht vergrauten Flecken an Stellen ehemaliger Bilder und Poster den weit offenen Toren in Rennen um risikolose Pöstchen und Posten. Als Lohn und Siegprämie würde ihn angemessenes gesellschaftliches Ansehen, Ruhe, Frieden und müheloses Festgehalt erwarten, ohne dass er vom Letzteren wirklich leben musste. Wie ein Pokal bliebe es für ihn eher nur von ideellem Wert. Der von der Zimmerdecke, den Wänden und vom Boden erzeugte Widerhall seiner gelegentlichen Selbstgespräche kam ihm vor wie das Johlen und Toben anfeuernder Zuschauer. Kein Sportler hätte Muße, die Rufe im Einzelnen wahrzunehmen. Frieder hingegen nähme sich gern die Zeit, aus den bunt gerufenen Fetzen von Spott, Hohn, Lob und Bewunderung einer gesichtslosen Masse sich den ureigenen Ansporn für den langen Weg zum Ziel zurechtzuzimmern. Dass er sich vielleicht einsam fühlte, schien passend zu einem Athleten, der ebenfalls als Letzter an den Start ging. Ebenso wie dieser würde er seine Mitstreiter längst auf und davon eilen sehen. Aber es kümmerte ihn nicht, weil er voraussah, dass seine härtsten Gegner letztendlich die Zeit und die eigene Überwindung wären. Frieder dachte nicht, dass er der Letzte bliebe, nur weil er als solcher in den Wettkampf ging. Er glaubte sogar, ohne Nachteil zu kämpfen. Im Gegenteil. Er hatte den Vorteil erlangt, viele andere Rennen und Wettkämpfe zu bestreiten, die er mal verloren und mal gewonnen hatte. Daher sah er sich umso besser gewappnet, in der kommenden Konkurrenz das Feld eben von hinten aufzurollen. Er würde ohnehin nur gegen diejenigen antreten, die sich in ihren vorgezeichneten und geplanten Karrierewegen immerzu in einer einzigen Richtung bewegten. Doch wenn er bestehen wollte, das wusste Frieder ebenso, dann musste er jetzt, nicht später und nicht in Etappen seine Vergangenheit hinter sich lassen. Geradezu war er gezwungen, mit allem abzuschließen und ohne Ansatz den Fuß auf einen neuen Startblock zu setzen. Er hatte alle Momente von Siegen oder Niederlagen, welche er bisher im Leben durchlebt hatte, zu bloßen, vielleicht gerade noch lehrreichen Erinnerungen verblassen zu lassen. Er schien auf einem verheißungsvollen Weg. Das Apartment war so leer, wie Frieder sich fühlte. Das gab ihm Zuversicht.

»Morgen bleibe ich einfach nur im Bett«, murmelte Frieder immerzu vor sich hin, »morgen ist Sonntag und der Monatsletzte und ab Montag beginnt ein neues Leben.«

Genau betrachtet bedeutete es nicht ein neues, das Frieder bevorstand. Vielmehr sollte die Wiederaufnahme seines alten stattfinden, für das er sich vor ungefähr 15 Jahren ziemlich unbeabsichtigt die Freiheit genommen hatte, es auf unbestimmte Zeit ruhen zu lassen. Diese Unbestimmtheit blieb für Frieder wichtig. Er war so frei (nicht wirklich, denn er saß gerade im Gefängnis), seine Identität auf lange Dauer zu wechseln. Und doch behielt er sich all die Jahre insgeheim die Wahl vor, wenn es ratsam schien, seinen alten Lebensweg wiederaufzunehmen und dort fortzusetzen, wo er ihn unterbrochen hatte. Aber wo genau lag das damalige Ende seines ersten Werdegangs und wie konnte er nun daran anknüpfen? Darüber grübelte Frieder seit langem nach, ohne Ergebnis. Vielleicht dachte er deshalb daran, morgen im Bett liegenzubleiben und noch einmal fest an die Zeit vor etwa zwei Jahrzehnten zurückzudenken. Er suchte gewissermaßen wie auf einem Tonband, jene Stelle zu finden, auf der das vorangegangene Lied mit dem Schlussakkord endet und der Klang für kurz in ein unbestimmtes Rauschen übergeht. Exakt dort war die Schere anzusetzen und die folgenden Jahre wie die nächsten Musikstücke einfach wegzuschneiden und damit zu löschen. Dabei kam es ihm nicht auf das Äußerliche oder Dingliche an. Es schien ihm nicht wichtig, wieder die Frisur oder den Bart zu haben, den er damals noch trug. Natürlich war es nicht bedeutsam, sich ab Montag genau so zu kleiden, wie er es zu jener Zeit mochte. Es war belanglos, erneut die gleiche Musik gut zu finden, die er damals gern hörte, oder eine bestimmte Art von Büchern oder Magazinen zu lesen. Er dachte überhaupt nicht daran, alte Freundschaften aufleben zu lassen oder an Orte von damals zurückzukehren. Was Frieder wünschte, zielte auf etwas anderes: seine Skrupel. Er brauchte wieder ein Urteilsvermögen wie genau zu jener damaligen Zeit, seine Vorsicht, die Unbedarftheit, seinen Anstand und den Glauben an Gerechtigkeit. Er suchte wieder die Neugier an allem, das ihm heute eher abgedroschen und erschöpft erschien, seinen Ehrgeiz auch im Kleinen, den Hunger nach Anerkennung und den Drang zum bürgerlichen, bescheidenen Aufstieg. Wenn Frieder ab Montag bestehen wollte, dann musste er bis dahin sein bereinigtes leeres Innenleben wieder mit den Werten aus jener Zeit aufgefüllt haben. Er spielte mit der Ironie. Über die Schwere dieses, wie ihm schien, nur im Bett zu ertragenden Eingriffs war er sich als erfahrener Mediziner durchaus bewusst. Operativ gesprochen ähnelte der Vorgang einer Ektomie mit anschließender Transplantation. Blutverluste gäbe es zwar nicht, eher heftige Abwehrreaktionen ausgelöst von Verlust- und Versagensängsten einerseits und andererseits von zu viel Fremd gewordenem in einem Umfeld, aus dem er ausgestiegen war und auf Anhieb nicht zurückfände. Aus medizinischer wie ironischer Sicht bedeutete dieses Zusammenspiel die Möglichkeit herauszufinden, ab wann die Seelenwelt eines selbstbewussten Organismus auf sich selbst allergisch, eben fremd reagiert. Frieder war in den vergangenen Jahren mitunter zu einem hervorragenden Experimentator gereift und hatte mit aberwitzigen tiermedizinischen Versuchen verblüffende Ergebnisse erzielt. Vielleicht verglich er sich deshalb mit einem Versuchsferkel. Jedoch betrachtete er diese nun anstehende Korrektur tiefgründiger, als ein Sinneswandel jemals sein kann und nicht als bloßes Experiment. Denn am Montagmorgen hatte er, wie er nicht daran zweifelte, ein allerletztes Mal die Gelegenheit, die Option auf die Unbestimmtheit seiner Zweitidentität einzulösen und deren notwendiges Ende zu bereiten.

3.

Da war er, dieser Augenblick, wenn das Klingeln des Telefons zu einer Ahnung führt, die sich nicht in Worte fassen lässt: Tatsächlich, es klingelte! Jutta hatte die Nummer des Anschlusses nicht eintragen lassen und alle ihre Verwandten, Bekannten, Freunde, Kollegen und wer sonst noch sie an diesem Samstag hätte sprechen wollen, wussten sie in Rom. In diese Stadt war sie gezogen, um ebenso wie Frieder zum Monatsbeginn eine neue Stelle anzutreten. Dorthin war sie die Karriereleiter hinaufgeklettert und auf einer Traumposition als teilhabende Partnerin in einer FAO-nahen Kommunikations-Agentur angelangt. Sie wagte den Wechsel, nicht um dort nur zu bleiben, sondern um zu lauern. Irgendwann, sicher bald, böte sich für sie ein erneuter Klimmzug auf eine noch höhere Stufe des sozialen Status als lohnend an. Jutta war unersättlich. Die Gier nach Anerkennung durch Position verwandelte sie in eine Art von Schlossherrin, die sich begehrenswert durch den zur Schau gestellten Prunk hält. Doch ihre Unersättlichkeit ließ sie genauso zu einer kalten Festungskommandantin verkommen, die rücksichtslos alles einfordert, verbraucht und fortwirft, das zur Verteidigung des hinter den Schutzwällen Zusammengerafften auch nur entfernt taugt. Jutta opferte dafür Vertrauen, Großmut, Achtung, Anstand, Freundschaft und all die anderen hehren Werte des guten, soweit nicht treuen Umgangs mit allen ihren Weggefährten.

Es klingelte unerlässlich. Telefonvertreter würden auch samstags anrufen, um in ihrem anonymen Gewerbe irgendwelchen Schund samt Knebelverträge an Kunden oder Opfer zu verkaufen, deren Telefonnummern zuvor ein Zufallsgenerator ausgeworfen hatte. Doch nicht ausgerechnet an diesem Wochenende! Darauf hoffte Frieder so überzeugt, dass sich pures Wunschdenken bei ihm, der ungern mit dem Schlimmsten rechnet, wie selbstverständlich einstellte. Er ließ es weiter klingeln. Wer immer anrief, meinte kaum Jutta. War dieser Anruf dann für ihn bestimmt? Frieder konnte es sich nicht vorstellen, dass es außer Jutta jemanden gäbe, der wüsste, wo er sich genau gegenwärtig oder im Ungefähren bis vor Montag aufhielte. Eben wegen dieser Einschätzung schied sie für Frieder als Anruferin aus der Wahl des Möglichen aus. Was es zu regeln galt, hatten sie bereits vereinbart und was andernfalls noch zu besprechen wäre, hätte Zeit und keine Dringlichkeit. Wozu also noch weitere Worte? Jutta spräche erst wieder in zwei oder drei Wochen mit ihm. Dann würde sie sich erkundigen, ob Interessenten oder bereits Käufer sich für das Apartment eingefunden hätten oder ob Rechnungen in ihren Briefkasten geworfen worden wären, die es zu begleichen galt. Jutta zeigte sich oft sachlich und nüchtern und beschränkte sich auf das rein Geschäftliche, vor allem Menschen gegenüber, von denen sie sich nach aller Intimität wieder distanzierte. Frieder wusste daher, dass sie ihn nicht nach dem Verlauf und dem Erfolg seines beruflichen Neubeginns fragen würde. Es spielte für sie keine Rolle mehr, dass er als Nachfolger ihren vormaligen Arbeitsplatz einnehmen durfte und er diese Stelle maßgeblich durch ihr ureigenes, unermüdliches, mitunter kompromittierendes Betreiben erhalten hatte. Solche persönliche Anteilnahme erwartete er von Jutta nicht. Aber auch seinerseits verbot sich ihm weitergehendes Interesse an ihr. Frieder versuchte gegenüber ihr eine Haltung beizubehalten, die er sich als Ergebnis gelegentlicher schmerzlicher Erfahrung, blanker Vernunft und vielleicht insgeheim eigennütziger Überlegung vor 20 Jahren für den absehbaren Fall schwindender Zuneigung zurechtgelegt hatte. Er wollte, wie damals nicht, an ihr nicht zerbrechen.

Frieders Vorahnung ließ es auf einen Wartetest ankommen und hielt ihn davon ab, den Hörer abzunehmen. Schließlich verstummte das Klingeln. Die Ruhe im Apartment in einem ohnehin ruhigen Haus gewann für ihn etwas Bedrückendes. Diese Totenstille leitete sich aus der vollkommenen Anonymität ab, für die der Wohnkomplex und überhaupt das gesamte Stadtviertel konstruiert worden waren. Frieder brauchte dringend ein Geräusch, das ihn ablenkte. Er konnte nicht anders, als wieder und wieder, wie in einer Litanei, vor sich hinzumurmeln:

»Morgen bleibe ich nur im Bett.« Dabei verlor er die Konzentration. Vergeblich versuchte er erneut eine Vorstellung davon zu finden, wie er dann liegend auf alle denkbaren Herausforderungen des bevorstehenden beruflichen Neubeginns sich vorab passende Verhaltensregeln zurechtlegte. Wer hatte eben angerufen? Eine beunruhigende Ahnung trieb ihn beinahe bis zur Gewissheit, dass nicht Jutta, sondern er damit gemeint gewesen war, und dass sie sich nicht gemeldet hätte, um mit ihm sprechen zu wollen. Dann drängte sich ihm eine andere, recht einfache Erklärung auf. Jemand hatte sich eben vertan und würde im zweiten Anlauf die Richtige, somit nicht abermals Juttas Nummer wählen. Die Stille im Raum im Wechsel mit seinem Murmeln zog sich hin. Ein erneutes Klingeln blieb aus, kein weiterer Ruf läutete bei ihm an. Seine Befürchtung, dass dieser Anruf etwas Unvorhergesehenes, Folgenreiches und für ihn Unangenehmes bedeutete, schien sich nicht zu bewahrheiten. Davon zumindest ging Frieder fest aus.

Frieder lag eine ganze Weile rücklings auf dem Bett und verspürte keinen weiteren Antrieb. Der Rechner lief im Ruhemodus und lud nicht zu Streifzügen durch das Netz ein. Dieser fing zu surren an und der Wasserhahn in der Küche begann, dazu in einem bemerkenswert eingängigen, Ohrwurm verdächtigen Rhythmus zu tropfen. Als er anfing, bewusst darauf zu hören und mit den Füßen im Takt zu wippen, fiel ihm auf, das eine absolute Stille auch hier nicht wirklich herrschte. Er nahm immerzu Geräusche wahr, wenn er nur darauf achtete. Frieder richtete sich auf und saß etwas getrieben von innerer Unruhe krummbuckelig auf der Bettkante. So schien es ihm leichter, zu überlegen, wie er den Rest dieses Tages verbringen würde. Für heute hatte er es sich vorgenommen, das Apartment aufzuräumen und es besenrein zu hinterlassen. Denn schließlich sollte er es an Juttas Stelle und mit ihrer Vollmacht veräußern und am besten bereits an diesem Wochenende per Inserat einen Käufer gefunden haben. Bisher hatte er nichts unternommen, gestern nicht inseriert, heute nicht gewischt, gekehrt, verkauft. Am Morgen war er zum Bäcker und in den Supermarkt gelaufen und am Kiosk um die Ecke hatte er sich eine Zeitung gekauft. Den Rest des Vormittags hatte er mit Lektüre ausgefüllt, dann legte er sich hin und schlief und wachte und grübelte – bis eben das Telefon klingelte. Nach Putzen und Herausputzen einer Wohnung, die ihm nicht gehörte, war ihm nicht. Er empfand einfach keine Lust dazu. Bis vor etwa einem Monat hätte er für solche Aufgaben noch seine Hausangestellten angewiesen.

Er wollte nur noch weg von hier. Die Dämmerung draußen offenbarte das Apartment als ein von Grund auf lichtarmes, beinahe jämmerlich dunkles Loch. Frieder blickte hinaus zur Häuserzeile auf der anderen Straßenseite, deren Wohnungen beneidenswert noch von einem letzten warmen Abendlicht der bald untergehenden Sonne beschienen und im Innern erhellt wurden. Er beobachtete dort zwei Nachbarinnen, die eine ziemlich dick und die andere nicht viel weniger, wie sie sich von Balkon zu nahem Fenster unterhielten, lachend und gestikulierend einander zunickten. Sie pflegten Nachbarschaft, und Frieder fand solches für diesen Stadtteil so untypische menschliche Miteinander unglaublich. Er sah in den Straßenschluchten dieses Viertels für gewöhnlich die Menschen wortlos und vereinzelt in oder aus Hauseingängen huschen. Dann hetzten sie zur Straßenbahn, zum Bus oder geparktem Auto, so als wären alle, nicht nur er, irgendwie und sowieso auf der Flucht. Niemand schien halten und pausieren zu wollen, um einander zu grüßen. Er hörte Menschen nicht normal miteinander reden. Dafür ärgerte er sich über Mütter, die ihre unentwegt quengelnden Kinder ebenso unablässig kommandierten und maßregelten wie nicht anders die Hunde, die offenbar zum jedem Familienglück dazugehörten. Und gäbe es das Bedürfnis dieser und ihre Dressur auf Stubenreinheit nicht, dann fehlten auf den Straßen dieses Viertels abends und am Wochenende die Bewohner völlig. Die vielen Schmierereien an Fassaden und in Treppenhäusern sowie der ganze Müll und Unrat überall wäre dann nur wie von Geisterhand dorthin geraten. Vereinzelung und Anonymität zählten zu den Gründen, dass sich keiner um all den Dreck scherte. Ohne unmittelbare und persönliche Betroffenheit lehnte sich hier niemand gegen Verfall und Niedergang, gegen Natürliches wie Mysteriöses auf. Dabei galt das Viertel gewiss noch nicht als Arme-Leute-Gegend, in der Armut für gewöhnlich und noch viel eher mit resignierender Gleichgültigkeit einhergeht.

Frieder begann, seine Sachen in eine Sporttasche zu packen. Er beabsichtigte, in ein Restaurant zu gehen, das er noch von früher kannte, als ihn immer wieder Dienstreisen aus Ägypten in diese Stadt geführt hatten. Er hatte sich dort mit Jutta, ihren Kollegen und Vorgesetzten wiederholt zu Arbeitsessen getroffen. Viel Zeit nähme er sich und würde ohne Hast und Eile die Speisekarte von oben bis unten durchprobieren und Ober und Koch die Vielfalt und Qualität ihres Angebots beweisen lassen. Er ließe sich zu den Gängen ein paar der vielleicht besten, mit Sicherheit teuersten Weine des Hauses kredenzen und sich von ihrem Geist und Gehalt das plumpe Gefühl der Sättigung benebeln und betäuben lassen. Am Ende der Völlerei würde er mit den Worten 'Beehren Sie uns bald wieder' im Ohr das Lokal verlassen und, wenn nicht gerade als anerkannter Feinschmecker, so doch als zahlungsfähiger und verfressener Kunde gegolten haben. Doch was sollte Frieder dann am weiteren Abend unternehmen: Kino, Theater, Konzert? Nein, dafür war er in dieser Stadt noch zu wenig angekommen. Sein Koffer war nicht ausgepackt und in einer Pension in Nachbarschaft des Restaurants abgestellt. Er hatte sich bislang nicht auf die Suche nach einer eigenen Wohnung und fester Adresse begeben. So logierte er noch für einige Wochen in dieser Bleibe und pflegte eben ein paar Türen weiter wie ein Graf von Rotz zu speisen. Erst nach und nach würde er die Untiefen und Riffe des erwartet unruhigen beruflichen Neueinstiegs hinter sich gelassen haben. Im ruhigeren Fahrwasser einer sich einschleifenden Routine fände er später Gelegenheit, die Stadt besser kennenzulernen. Erst dann hätte er sich für ein Zuhause einen ansprechenderen Platz auszusuchen und sein neues bürgerliches Leben zu festigen. Also ließe er sich nachher im Restaurant noch länger Zeit, um dann umso müder, gesättigter und betrunkener im Zimmer der Pension für den Rest des Abends und für die Nacht in den Schlaf zu fallen.

Frieder warf eine große Tagesdecke über das ungemachte Bett und schaute sich um. Die Dämmerung war inzwischen so weit vorangeschritten, dass er das Licht hätte anschalten müssen, um sich zu vergewissern, dass das Apartment leer und bis auf das Bett ausgeräumt war. Frieder nahm sich vor, gleich beim Verlassen der Wohnung den Schlüssel einfach unter die Matte vor der Tür zu legen. Am Montag wollte er telefonisch eine Maklerfirma mit der Reinigung und dem Verkauf beauftragen. Vermittler einzuschalten, lag nicht in Juttas Budget und sollte vermieden werden. Sie konnte nicht wissen, dass für ihn Geldbeträge selbst in Höhe einer Maklerprovision keine wirkliche Belastung bedeuteten. Sonst hätte sie Frieder ungeniert gebeten, als Gegenleistung für ihr erfolgreiches Engagement seinetwegen im Stellenbesetzungsverfahren alle Kosten für den Verkauf des Apartments durch gute, aber teure Immobilienexperten zu übernehmen. Zu ungeschickt hantierte Frieder, als er den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche hervorzuziehen versuchte. Dieser entglitt ihm und rutschte unter das Bett. Es war inzwischen zu dunkel, als dass Frieder kniend und bis unter das Gestell herabgebeugt danach suchen konnte. Er richtete sich auf, um nahe dem Türrahmen das Licht anzuschalten. Damit jedoch nahm jenes von ihm geahnte und doch verdrängte Unglück seinen Lauf. Als zwei billige Glühbirnen von der Decke herab das Apartment grell erleuchteten, dachte Frieder sich nichts dabei, blieb arglos und fern jeder Vorstellung, das Unheil geradewegs heraufbeschworen zu haben. Denn nur wenige Augenblicke später, als er sich bückte und nach den Schlüsseln suchte, begann das Telefon erneut zu klingeln. Sofort begriff er, dass ihm soeben ein schwerer Fehler unterlaufen war. Er hatte sich verraten und war mit dem Anschalten des Lichts in eine Falle geraten. Er konnte seinem Schicksal nicht entrinnen. Frieder nahm den Hörer ab und antwortete:

»Ja?«

»Johann?«, fragte eine ihm bekannte, akzentuierte Stimme etwas unsicher in das Rauschen der Leitung und in die bedrückende Leere Frieders Sprach- und Fassungslosigkeit.

»Johann, ich weiß, dass Du am Apparat bist, ich weiß, wo Du bist und ich werde Dich finden, wo immer Du Dich verstecken wirst!« Dann folgte eine Pause.

»Johann?«, bohrte die Stimme nach.

»Ja!« Mehr brachte Frieder nicht hervor, denn die Luft blieb ihm weg. Er wankte und fiel vornüber auf die Knie.

»Johann! Komm herunter, ich warte auf Dich auf der anderen Straßenseite vor dem Haus in einem blauen Lieferwagen. Lass uns reden!«

Frieder schwieg, seine Knochen schmerzten. Er hätte allein deshalb laut aufgeschrien und zorniger noch aus Ärger und Verzweiflung.

»Komm schnell, denn ich bin kein Geduldsmensch. Deine Zeit läuft ab, auch für Friedemann!«, forderte die Stimme plötzlich mit bedrohlicher Bestimmtheit. Nicht die gänzliche Ungelegenheit dieses Anrufs, nicht die drohende Konfrontation, nicht die Gewissheit unter Druck zu geraten, sondern der Name 'Friedemann' traf ihn wie ein Schlag. Er verlor völlig die Fassung. Aus unbändiger Wut und mit jäher Wucht schleuderte Frieder das Telefon so hart gegen die Wand, dass es in Stücke zerbarst.

4.

Die junge Journalistin Fatima Siniola, Mitte zwanzig, gertenschlank, Rehaugen, Schmollmund, langes schwarzes Haar gebändigt in einer reizenden Hochsteckfrisur, saß unruhig mit übereinandergeschlagenen und wippenden Beinen auf einer Stuhlkante. Sie wartete im schmucklosen Vorzimmer eines Büros in einem Geschäftsgebäude irgendwo in der Altstadt Vallettas. Der Saum des Kleids rutschte ihr immer wieder über die Knie und verriet am rechten Oberschenkel einen bereits gelblich-grünen Bluterguss, den sie sich vor ein paar Tagen bei einem Reitunfall zugezogen hatte. Sonst jedoch war ihre Erscheinung makellos. Dessen war sie sich voll bewusst und dass sie im gleich folgenden Interview allein durch ihre Ausstrahlung ihrem Gesprächspartner einen souveränen und professionellen Eindruck hinterlassen würde. Und das war wichtig. Nach Universitätsstudium und Volontariat bei einem italienischen Fernsehsender sowie anschließender freier Mitarbeit bei verschiedenen namhaften Zeitungen übernahm sie erst vor kurzem für ein Nachrichtenmagazin die Korrespondenz für Südost-Europa und den Nahen Osten. Dieser Einsatz hier war für sie die erste Gelegenheit und auch Verpflichtung, ihrem neuen Arbeitgeber ihr journalistisches Talent zu beweisen. Sie hatte für die nächste Ausgabe des Magazins ein Interview für drei Seiten und sieben Spalten mit dazugehörender Bildstrecke zu liefern. Für das geforderte Bildmaterial stand Fatima Siniola der Fotoreporter ihres römischen Redaktionsbüros beiseite. Er saß neben ihr und nutzte die Sitzfläche des Stuhls in ganzer Breite und mit der Routine eines langen Reporterlebens gerade für eine Schlummerpause. Tom Greenwood, alt ergraut, ein Brite und weltgereistes Urgestein der Branche, war eingenickt und schien seinem Ruhestand entgegenzudämmern, in den er in letzter Zeit des Öfteren vorgab, bald einzutreten. Die Journalistin dachte, wie längst jeder in der Redaktion, dass Tom selbst noch bei seiner eigenen Beerdigung seiner Berufung verbunden bliebe und aus dem noch offenen Sarg heraus die an seinem Grab versammelte Trauergemeinde fotografieren würde. Kultur war Fatima Siniolas Sache nicht, soweit sie es vertrauten Kollegen hin und wieder andeutete. Viel lieber lagen ihr Themen aus Politik und Wirtschaft, mit denen sie durch zahlreiche Beiträge ungeachtet ihrer noch jungen Jahre in der Medienbranche bereits hatte aufhorchen lassen. Im Besonderen wegen ihrer unbestechlichen und genauen Analysen über die sozialen und ökonomischen Entwicklungen in den Ländern des Maghreb und Ägyptens wurde sie von den Wortführern der Medienzunft beinahe einhellig als aufstrebendes Talent beachtet. Mit Brecht jedoch, und überhaupt mit ins Arabische übersetztem epischen Theater, fing Fatima Siniola von Grund auf nichts an. Doch war es Wille der Redaktions- und sicher auch der obersten Verlagsleitung, den Lesern einen der prominentesten Förderer arabischer Literatur und zudem bekennenden Bewunderer von Brecht vorzustellen. Die vorbereitende Recherche für das Gespräch mit Mohamad Achmadi bereitete ihr Mühe. Stichwortartig zusammengefasst bestand das Ergebnis aus wenigen Blättern, die in einer Dokumentenmappe auf ihrem Schoß enthalten waren. Der Anlass für das Interview ergab sich aus dem Zusammentreffen aktueller Ereignisse, die ohne das enorme finanzielle Engagement des ägyptischen Mäzens völlig undenkbar geblieben wären. Zum einen förderte er das überraschend erfolgreich durchgeführte Brecht Festival in Kairo mit in Arabisch aufgeführter Dreigroschenoper und einigen anderen Stücken dieses Dramatikers. Zum anderen ermöglichte der Ägypter das seit einigen Jahren mit wachsendem Zulauf in Tunis stattfindende Max-Frisch-Seminar zur Ausbildung junger ägyptischer und nordafrikanischer Schauspieler. Nun sollten die Schüler des Seminars sowie die Ensembles des Festivals in den kommenden Wochen auf Tournee durch West-Europa geführt werden. Das Ziel bestand darin, jugendliche Nachkommen maghrebinisch stämmiger Migranten zur Reflexion und schöpferischen Auseinandersetzung über ihre Lebenssituation in der westlichen Gesellschaft anzuregen. Die Journalistin öffnete ihre Mappe und nutzte die Wartezeit, um ihr Material und die notierten Punkte, welche auf einem Blatt ganz oben standen, noch einmal zu überfliegen. Interessanter als Fragen, die unmittelbar auf diese Kulturereignisse und die Gründe zu deren Förderung abzielten, schienen ihr Ansätze, die den bemerkenswerten Hintergrund des Mäzens ausleuchten sollten. Er war kein Moslem, sondern Christ und engagiertes Mitglied der orthodox-koptischen Kirche Ägyptens. Seine Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie des gehobenen Mittelstands, seine Ausbildung zum Bauingenieur mit Promotion auf Hochschulen der DDR und Ehe mit einer ostdeutschen Ärztin waren für sich allein schon berichtenswert. Sein kometenhafter geschäftlicher Aufstieg vom lokalansässigen Schrotthändler bis hin zum weltweit tätigen Stahlgroßhändler, Reeder und Immobilienmogul gäbe zudem Stoff für eine Hofberichterstattung. Er ließ seine Familie vermutlich zu einer der reichsten in Nordafrika werden. Für Fatima Siniola von besonderem Interesse galt jedoch der weitreichende Einfluss ihres Interviewpartners durch Mitgliedschaft in unzähligen Bei- und Aufsichtsräten vielfältiger ägyptischer, libanesischer, französischer, italienischer, englischer, deutscher und überhaupt internationaler Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen. Wer immer sich eine fundierte Meinung über die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und denen des Nahen Ostens und Nordafrikas erlaubte, sollte mitunter Mohamad Achmadi zitieren. Am besten sollte jeder, der sich auf ihn berief, ihn persönlich kennen gelernt haben. So schätzte sie sich dankbar für diese einmalige Gelegenheit, wenn auch um den Preis einer glücklich seltsamen Fügung, ausgerechnet über Kultur mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre Neugier an dem Ägypter beschränkte sich nicht allein auf Wirtschaft und Kunst. Am weitaus interessantesten schienen ihr einige eher unangenehme Fragen an den Mäzen, die sie sich auf einem gesonderten und weit nach unten geschobenen Blatt notiert hatte. Es ging ihr nicht um Klatsch von der Sorte, die auch in jedem beliebigen Friseursalon kursierte. Dabei galt ihr Gesprächspartner alles andere als skandalumwittert. Es gab ungewöhnlich wenig für einen Menschen solcher Bedeutung, dass bisher über sein Privatleben berichtet worden war. Das, wodurch er bei ihrer Recherche besonders auffiel, war im Tenor der Gesamtheit aller veröffentlichter und verfügbarer Quellen seine Unauffälligkeit. Jeder hätte demnach meinen können, dieser Ägypter sei wie ein netter, alter Herr von nebenan. Er galt als liebevoller Ehemann und treu sorgender Vater von inzwischen vier erwachsenen Kindern und Großvater einer kleinen Schar von Enkeln. Sein Privatleben hätte die Journalistin anfangs trotz allen professionellen journalistischen Gespürs nicht im Mindesten interessiert, arbeitete sie nicht, wie sie glaubte, zufällig für diesen Auftrag mit Tom Greenwood zusammen.

Der Bildreporter war vor beinahe 20 Jahren an einer Berichterstattung über einen Justizskandal auf Malta beteiligt. Der Sohn eines ägyptischen Industriellen, eben einer der drei ihres Interviewpartners, wurde wegen Verdachts auf groß angelegten Drogenhandel inhaftiert. Doch es kam zu keinem Prozess. Es wurde noch nicht einmal Anklage gegen ihn erhoben. Stattdessen wurde er gegen Zahlung einer Kaution aus angeblich anonymer Quelle und in nie veröffentlichter Höhe zusammen mit einem mutmaßlichen Komplizen, einem Deutschen namens Bogart, noch in derselben Nacht wieder auf freien Fuß gesetzt. Dem Sohn und dessen Begleiter gelang es, Malta auf unbekanntem Weg rechtzeitig zu verlassen, noch ehe am Folgetag nach einer juristischen Überprüfung des Verfahrens die Freisetzung gegen Sicherheitsleistung revidiert werden sollte. Medialer Aufruhr drohte, weil nach wenigen Tagen die Ermittlungen gegen die verdächtigen Drogenhändler fallen gelassen wurden, so als wäre nichts geschehen. Die Vermutung, dass der ausländische Industrielle mit Schmiergeld und Unterdrucksetzung auf die maltesische Justiz in seinem Sinne eingewirkt habe, wäre zu aufdringlich gewesen, um nicht darüber zu berichten. Dennoch erwies sich die Berichterstattung im Ganzen als ausgesprochen dünn und zurückhaltend. Der leise Verdacht auf Verwicklungen des ägyptischen Vaters selbst in den internationalen Drogenhandel, genährt durch nicht unplausible Gerüchte auf Grundlage nicht völlig unglaubwürdiger Zeugen, blieb in den Medien bis auf eine beiläufige Randnotiz ausgespart. Tom Greenwood fand es zwar merkwürdig, allerdings gemessen an seinen langjährigen Erfahrungen als Reporter nicht überraschend, dass die Polizeifotos von der Festnahme der beiden offiziell nie an die Presse weitergegeben wurden. Doch was der Industrielle scheinbar im großen Stil hinter den staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kulissen beeinflussen und schmieren konnte, das vermochte Greenwood im Rahmen seiner Möglichkeiten ebenso. So besorgte er sich die Aufnahmen im inoffiziellen Gestrüpp journalistischer Informationsbeschaffung. Eben diese Fotos steckten nun in Fatima Siniolas Dokumentenmappe unter all den anderen Blättern und Notizen ganz zuunterst. Tief im Innern von der Versuchung angespannt, folgte die Journalistin dennoch der Vernunft, ihrem Interviewpartner niemals Fragen zu jenem damaligen persönlichen und familiären Vorfall zu stellen. Zumindest nicht bei ihrer ersten Begegnung mit ihm wollte sie so weit gehen.

Die Tür zum Büro schwang auf. Eine kleine Gruppe asiatischer vielleicht chinesisch anmutender Geschäftsleute zwängte sich leise murmelnd durch den Türrahmen und füllte im Gefolge zweier Mitarbeiter des Hausherrn das Vorzimmer.

»Herr Dr. Achmadi bittet Sie zum Interview«, bedeutete eher beiläufig einer der beiden Sekretäre und schenkte der Journalistin und ihrem soeben erwachten Begleiter kaum Beachtung. Mit ungleich größerer Aufmerksamkeit versorgte er hingegen die erhofft zukünftigen Handelspartner mit allerlei bunten Informationsbroschüren. Diese wussten sich daraufhin ihrerseits mit noch viel bunteren und bestimmt erwartungsvoller werbenden Präsenten zu revanchieren. 'Joint Venture' würde Tom Greenwood ein Foto dieses Kammerspiels untertiteln, ginge es ihn im Moment etwas an.

In dem deutlich repräsentativer gestalteten Raum schritten die beiden Journalisten und Mohamad Achmadi freundlich aufeinander zu. Sie begrüßten sich geschäftsmäßig, begaben sich zu einer Gruppe schwerer Ledersessel in der Nähe des Balkons und nahmen Platz. Sie einigten sich auf Englisch als Interviewsprache mit Rücksicht auf Tom Greenwood. Fatima Siniola hatte zwar eine tunesische Mutter und nicht das Italienische, sondern das Arabische wäre ihre Herkunftssprache, wäre sie nicht in Italien, Frankreich und in Deutschland aufgewachsen. Bedingt durch ihren Vater, ein prominenter und erfolgreicher italienischer Fernsehkorrespondent, war sie Italienerin. Ihre Jugend verbrachte sie zumeist in Rom. Bis auf Arabisch hätte Tom Greenwood ebenso auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch oder Deutsch mitreden können, was ihm jedoch von keinem der beiden polyglotten anderen zugetraut, und erst recht nicht zugestanden worden wäre. Mohamad Achmadi entschuldigte sich, dass er die Journalisten warten ließ, und dafür, dass ihm für das Interview durch einen dringenden familiären Termin noch am Abend in Luxor unversehens weniger Zeit zur Verfügung stünde. Er wäre dankbar, wenn Fatima Siniola ihm einen Teil der Fragen schriftlich überließe. So hätte er in den nächsten Tagen weiter Gelegenheit, darüber nachzudenken und ihr ausführlichere Antworten zu geben. Etwas enttäuscht ging Fatima Siniola auf den Vorschlag ein. Sie bat den Ägypter jedoch, ihr für die Fragen, die ihr besonders am Herzen lagen, wenigstens für eine halbe Stunde Zeit zu finden. Das gäbe ihr die Möglichkeit, für die Leserschaft des Magazins viel von seiner Ausstrahlung und seiner Wesensart authentisch einzufangen. Ihre Bitte konnte und wollte der geschmeichelte Mäzen nicht abschlagen.

Die Journalistin erfuhr, dass ihm während seines Studiums in Dresden in den 50er Jahren das Mitspielen in einem Studententheater einen glücklichen und weiten Zugang zum Marxismus geöffnet habe. Von Brecht gelernt zu haben, bedeutete für ihn gleichsam, Kraft getankt zu haben, um über den eigenen Horizont hinauszugehen, die Gesellschaft von anderer Seite zu betrachten, zu erkennen, wie sie ist, um sie zu verändern. Er sei überzeugter Marxist und tiefgläubiger Christ und sähe in Klassenlosigkeit Menschheit und in einem weltweit organisierten Gemeineigentum die beste Antwort auf die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur. Die Journalistin warf ein, dass er selbst ein nicht unbedeutender Vertreter des Kapitals sei. Sein offenbar großes Vermögen sei ihm weder vererbt noch wie Manna vom Himmel zugefallen. Sie schätze seine Haltung, aber verstehen würde sie diese dennoch nicht.

Mohamad Achmadi holte aus: Sie dürfe nicht Marxismus mit Sozialismus verwechseln. Gemeineigentum an Produktionsmitteln sei das Zukunftsideal, nicht die Gegenwart. Das naheliegende, erreichbare Ziel sei durchaus, in Verantwortung um das Gemeinwohl Kapital und Produktion zunächst in die Hände der Besten, der Gebildetsten, der Fähigsten zu legen. Es gäbe überdies noch kein vielstaatliches oder internationales Gebilde, dass die weltweite Produktion für eine umfassende und menschenwürdige Bedarfsdeckung lenken könne. Es bestünde noch nicht einmal ein global leistungsfähiges Bildungssystem. Mit der Zerschlagung des Sozialismus nahezu überall auf der Welt durch die scheinbare Überlegenheit westlicher Gesellschaftsformen sei die Aussicht auf gleiche Bildungschancen und existenzielle Grundsicherung der Menschheit vernichtet worden. Der Westen habe einen Pyrrhussieg erzielt und anstelle des unterlegenen Sozialismus ein Vakuum erschaffen, das von dem radikalen Islamismus mit dem Zulauf enttäuschter, verarmter und ausgebeuteter Massen nach und nach aufgefüllt werde. Er begreife es mit großer Sorge, wenn zusehends Menschen, die im Diesseits keine Perspektive fänden, diese eben im Jenseits suchten. Es sei daher eine Pflicht, mit gesellschaftlicher Bildung für den Wandel ungenügender Verhältnisse in eine gerechtere Welt zu kämpfen. Der radikale Islamismus der Gegenwart hätte ebenso wie der Sozialismus der Sowjetunion seine Untauglichkeit vor allem wegen der Unfähigkeit ihrer geistigen Führer bewiesen.

Was seinen vermeintlichen Reichtum beträfe, gäbe es keinen Widerspruch zu seinem sozialen und kulturellen Mäzenatentum. Für sich persönlich und für die Familie habe er niemals mehr als 30 Mitarbeiter beschäftigt. Zwar verlange er hohe Leistungen von seinem Personal, entlohne es jedoch anständig. Er erinnere sich nicht an einen einzigen Fall, bei dem ein Angestellter wegen Unzufriedenheit über die Bezahlung sich von ihm getrennt habe. Er sei vor allem ein erfolgreicher Kaufmann, mit einem offenbar guten Gespür für den Markt. Seine Angehörigen wie er selbst würden gewiss keinen anmaßend überzogenen und aufwendigen Lebensstil pflegen. Kulturelles und soziales Engagement seien für alle Mitglieder der Achmadis nicht nur angetragene Verpflichtung, sondern auch von Herzen bestimmte Lebensaufgabe. Seine beiden Söhne, Karl und Friedrich, verdienten sich als Gelehrte. Der Älteste lehre als Professor für Gefäßchirurgie an der Universität von Kairo. Friedrich forsche als Mathematiker, Entwicklungsleiter sowie geschäftsführender Teilhaber an einer Firma für biologische Kybernetik und Analytik in Dublin, Irland. Fatima Siniola sah puren Vaterstolz in den Augen Mohamad Achmadis und nicht weniger die Überzeugung von sich selbst. Denn nach seinem Tod ginge der größte Teil des Geschäftsvermögens in eine Stiftung über. In karitativen und kulturellen Bereichen würde diese dann von seiner Frau Anna, den beiden Söhnen sowie von seiner Tochter Maria repräsentiert werden.

Fatima Siniola notierte auf einem Block bei laufendem Diktiergerät die sinngebenden Stichworte. Leichte Enttäuschung beschlich sie, weder zum Kern des Themas hinsichtlich der geplanten Theatertournee noch zum persönlichen Wesenszug des Ägypters vorzudringen. Mit politischer Phrasendrescherei, Traumtänzerei und Selbstbeweihräucherung mochte sie sich nicht zufriedengeben. Sie ahnte, dass sie auch durch die schriftlich ausgearbeiteten Antworten Achmadis kaum Bedeutsameres über den Mäzen erführe. Sollte sie die verbleibenden wenigen Minuten nutzen, um schärfer nachzufragen? Der auf Malta einst festgenommene Sohn Achmadis hieß Ali. Warum erwähnte der Industrielle diesen mit keinem Wort? Es wirkte sonderbar, interessant, fragwürdig, doch leider fiele ihre Nachfrage nach Ali vollkommen aus dem vorab verabredeten Gesprächsrahmen.

Tom Greenwood schien nicht an solche Hintergründe zu denken. Er saß nur gelangweilt im Sessel und blickte wiederholt auf die Uhr. Der alte Reporter hatte es wohl aufgegeben, das festgefahrene, unausgewogene Frage- und Antwortspiel der beiden mitzuverfolgen. Vielleicht war er bei der Assoziation des Ägypters von ideologischer Schönfärberei mit John Lennons 'Imagine' hängen geblieben. Es verwunderte einen Althippie wie ihn, wie jemand nicht nur als heroinsüchtiger Popstar, sondern auch als harter, profitorientierter Geschäftsmann scheinbar im Marxismus ein kleidsames Mäntelchen so einfach fände. Der Bildreporter unterbrach die Konversation, nein, den Monolog des Mäzens, und fragte, ob er für eine bessere Belichtung der Fotos die abgedunkelte Balkontür einen Spalt weit öffnen dürfe. Natürlich durfte er, doch nach dem zustimmenden Nicken blieb Mohamad Achmadi still. Er war aus dem Konzept gebracht, hatte den Faden verloren und auch die Journalistin wusste nicht so recht, wie nun weiter. So setzten sich beide wortlos, mit gespielt guter Miene in Pose und überließen dem Fotografen die Arbeit. Ein angenehm kühler Luftzug säuselte durch den offenen Balkon in das Büro und kräuselte Fatima Siniolas Kleid weit über ihre Oberschenkel. Mit geschwungener Hand hätte die junge Frau noch so schnell ihre Knie wieder bedecken können, und gleichwohl hätte sie damit dem wachen Blick des alten Herrn nichts verborgen.

»Haben Sie Schmerzen? Sie sollten zu einem Arzt«, gab sich Mohamad Achmadi besorgt und bekundete in einer zwanglosen Manier, dass er die Unterhaltung nun in eine andere Richtung zu lenken gedachte.

»Das Hämatom?«, fragte Fatima Siniola deutlicher verlegen als überrascht. Sie verstand genau, dass Dr. Achmadi daraufhin anspielte. »Nein, das ist weder schmerzhaft noch tragisch und wird bald ausgeheilt sein. Es war nur ein kleiner Reitunfall. Mein Wallach hat beim Aufsatteln ausgeschlagen und mich leider unglücklich getroffen. So etwas passiert immer wieder, wenn sich ein neues Pferd an mich und an die Umgebung eines noch fremden Stalls gewöhnen muss.«

»Sie reiten?«, fragte der Ägypter entzückt. Pferde, Reiten. Damit war mit einem Mal ein neues, ein einziges Gesprächsthema gefunden, und nichts davon würden die Leser des Magazins je erfahren. Angeregt und doch entspannt, ohne Druck und zeitvergessen unterhielten sich Mohamad Achmadi und Fatima Siniola über alles, worin sie diese gemeinsame Leidenschaft teilten. Es vergingen eine halbe Stunde, eine weitere und eine noch längere Dauer, bis hinein in die Dämmerung. Sie erzählte von sich als eine erfahrene, begeisterte Reiterin, die mit ihren zwei eigenen Holsteiner Pferden, einem Hengst und einem Wallach, an Amateurspringreitturnieren teilnahm. Sie glänzte als Wettkämpferin, wo immer es Zeit und Ort irgendwo in Europa zuließen. Der Mäzen hingegen sprach von Maria, die sich der gleichen Leidenschaft hingab. Diese galt ebenfalls als eine erfolgreiche Springreiterin. Sicher wären seine Tochter und Fatima Siniola sich bei dem einen oder anderen Turnier über den Weg gelaufen, ohne wohl aufeinander aufmerksam geworden zu sein. Er war ein besessener Pferdezüchter, vernarrt in Vollblutaraber und Hannoveraner. Bereits der Familienehre halber sollte Maria bei den Wettkämpfen nur mit dem besten Material aufwarten. Sie beide betrieben ein eigenes Gestüt unweit Luxors. Es wäre eine große Freude für ihn, wenn er auf diesem, wie auch auf jedem weiteren seiner ägyptischen Anwesen, Fatima Siniola bald einmal als Gast empfangen dürfe. Warum nicht schon gleich? Für ihn bedeutete es eine Ehre, wenn die junge Reiterin seine Einladung annähme, ihn noch am Abend auf seinem Privatflug nach Luxor begleiten würde und Gast im Hause seiner Familie sein wolle. Natürlich brächte nach ihrem geschätzten Aufenthalt eines seiner Flugzeuge sie zurück nach Malta oder Rom, so wie es ihr beliebe und wann immer sie es wünsche. Die Journalistin überlegte kurz und entrückte für einen Moment aus ihrer Schwelgerei. Sie blickte sich nach Tom Greenwood um, der längst gegangen war. Kaum noch erinnerte sie sich daran, dass, als von draußen noch das Sonnenlicht hereinschien, Tom sie fragte, ob er noch gebraucht werden würde und daraufhin mit einem leisen Gruß das Büro verließ. Eher behielt sie im Gedächtnis, dass später einer der beiden Sekretäre Kaffee und sehr süßes Gebäck servierte und die Kerzen eines wundervollen Kristallleuchters ansteckte. Dessen warmer, voller Schein nahm dem Raum die Kälte des Geschäftlichen und entfaltete die entspannte Atmosphäre eines Salons. Und sie erinnerte sich daran, dass der betagte, sympathische, einnehmende Pferdenarr ihr einige der unglaublich alt gelagerten, sündhaft teuren Cognacs einschenkte, die sie sich in ihrem ganzen Leben nicht würde leisten können. Fatima Siniola ahnte, dass sie seit einigen ausgetrunkenen Gläsern ziemlich entrückt war, zumal sie ihren Redefluss über Pferdesport nur mit Mühe noch in Zaum hielt.

»Ja, sehr gerne. Ich nehme Ihre Einladung an, Herr Dr. Achmadi. Ich freue mich darauf, Ihre Tochter persönlich kennenzulernen und morgen vielleicht sogar mit ihr ausreiten zu dürfen«, stimmte Fatima Siniola ihm mit einem von ungespielter Freude umstrahlten Lächeln zu. Genau in diesem Moment, völlig klar und unvernebelt vom Alkohol, sah sich die Journalistin darin bestätigt, dass der alte Ägypter sie im Grunde für ein dummes Huhn hielt. Die Einladung bedeutete nicht nur eine Verabredung für zwei oder drei Tage pferdesportlichen Miteinanders, sondern öffnete ihr zudem einen Schlupf, um hinter die Fassade dieses Clans zu gelangen. Er schien nicht zu begreifen, dass sie ihr Handwerk besser beherrschen sollte. Überdies ritt sie nur gelegentlich, besaß keine eigenen Pferde und nahm an Turnieren, wenn überhaupt, zuschauend teil. Bis die Achmadis das Trugbild, das sie von sich gezeichnet hatte, bemerkten, wäre sie längst in Rom, um mit einem demaskierenden Bericht über Mohamad Achmadi die Spalten des Magazins zu füllen.

5.

Der Schnellimbiss, eine mit Sitzgelegenheit aufgerüstete türkische Döner-Kebab Bude, bedeutete nicht gerade eine Lokalität, wo Graf von Rotz zu speisen pflegt. Schmutziges, abgenutztes Interieur, fettig-klebrige Tische und Geschirr und Besteck von einer Art, der Vorzug auch ungewaschenen Fingern gegeben werden sollte, waren vom Imbissbetreiber vielleicht nicht ungewollt. Warum sollten Gäste länger zum Verweilen eingeladen sein als für die Zeit, die ausschließlich zum Stillen von Hunger, Durst und für den schnellen Umsatz notwendig ist? Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln übertünchte den Bratendunst mit den so typischen Aromen von Zwiebeln, Knoblauch und von Körperschweiß. Gerade deshalb noch hinterließ das Lokal auf Frieder den Eindruck, dass die behördliche Aufsicht, zu dessen Teil er ab übermorgen zählte, diesen Ort besonderer hygienischer Herausforderung nicht völlig aufgegeben hatte. Draußen regnete es und ein kalter böiger Wind tat sein Übriges, um eine Traube von Menschen in den Imbiss zu treiben. Es war überfüllt, verraucht und laut. Jeder, der sich hier umsah, selbst ein von weit her Zugereister, so wie Frieder auch, wüsste recht bald, wo und in welchem Teil der Stadt dieses Lokal seine ureigene Kundschaft anzog. Hier verkehrten Prostituierte aus aller Welt. Viele schienen verbraucht, etliche hysterisch und durch Drogen aufgekratzt, einige durchfroren, andere nur müde. Kein anderer, einladenderer Ort in einem für sie so fremden Land hätte ihnen eher das Gefühl von Heimat vermittelt. Außer der Döner Bude gab es für sie keine andere Wahl und war ihnen als Teil der Arbeit und nicht des Traums vom besseren Leben gerade recht. Kleinganoven und Zuhälter schlugen sich die Zeit tot. In der Mehrzahl waren sie wohl einheimisch und Menschen, die hier mit gewissem Erfolg ihr Organisationstalent bewiesen, um Krümel vom großen Rotlichtkuchen abzubekommen, nachdem sie zuvor in bürgerlichen Berufen gescheitert waren. Freier aus eben solcher Bürgerlichkeit füllten den Rest der Bude auf. Sie tranken sich mit billigem Bier und Raki warm, um in den meisten Fällen eher Scham und Nervosität als schlechtes Gewissen und Kälte zu überwinden. Schummrig beleuchtet, blieb der kleine, schmale Bereich mit den Tischen im Halbdunkel, wo sich die Gesichtszüge von Gästen, die kaum weiter entfernt saßen, nur noch erahnen ließen. Es war so düster, dass jeder, der hier Platz fand und durch die Fensterscheibe schaute, ungeblendet von der Reflexion des inneren Lichtscheins das rege Nachtleben draußen und entlang der Straße gut beobachten konnte. Genau gegenüber der Imbiss-Stube lag eines der Bordelle des Rotlichtviertels. Es zog wie auf einer unglaublich regelmäßigen Perlschnur die Freier an und verschluckte sie in einem aufreizenden, von einer rot-weißen Lichtergirlande umrandeten Eingangsbereich. Zwei grobschlächtige Gestalten standen davor wie auf Wache. Bereits nach weniger als einer halben Stunde spukte das Laufhaus die allermeisten wahrscheinlich befriedigten Kunden wieder aus. Frieder saß zurückgezogen an einem Eckfenster, das sich als erstbester, weil noch freier Beobachtungsplatz für das Bordell gegenüber angeboten hatte. Er wartete auf Ali bereits deutlich länger als eine Stunde. Frieder würde es nicht überraschen, wenn er sich noch eine weitere zu gedulden hätte. Sein ehemaliger Freund war nicht nur potent wie ein Büffel mit schier unbändiger sexueller Triebgier, sondern hatte auch die Taschen voll Geld. Dieser schien gerade alle verfügbaren Damen des Etablissements genüsslich und der Reihe nach durchzuprobieren. Der Taxifahrer, den sie bezahlten, damit er sie vorneweg fahrend in ihrem blauen Lieferwagen hierher lotste, hatte ihnen nicht zu viel versprochen. Offensichtlich war er den Preis wert gewesen und hatte zudem für seinen Schlepperdienst vom Bordellbetreiber noch dazu eine recht ansehnliche Provision zu erwarten. Frieder überlegte, ob er Alis Einladung, ihn auf seine Rechnung zu begleiten, hätte annehmen sollen. Zwar hatte er wegen einer Entzündung kein Verlangen, doch besser hätte er sich diesem trotz Schmerzen hingegeben, allein um langes stumpfsinniges Warten an diesem so trostlosen Ort zu entgehen. Bei dem Gedanken, gleich auf dem warmen Bauch einer Frau zu liegen, fand seine Lust allmählich Auftrieb. Gerade wollte Frieder aufstehen, seine Jacke anziehen und hinübergehen, als ein hoch aufgeschossener, gutgekleideter, etwas älterer Mann das Lokal betrat. Der Herr bahnte seinen Weg durch das Gedränge zur Theke. Er bestellte sich ein Bier und besprach etwas mit dem Wirt. Ministerialdirektor Dr. Gottlieb Schwarz. Frieder schien es schlicht unfassbar, ausgerechnet hier seinen zukünftigen Vorgesetzten und Abteilungsleiter im Ministerium anzutreffen. Dr. Schwarz durfte ihn nicht entdecken. Frieder zog sich, statt aufzubrechen, noch tiefer in die Ecke zurück. Er hoffte, dass Dr. Schwarz ihn von der Theke aus nicht sehen würde, solange er dort nur bliebe und sich nicht auf die Suche nach einem freien Sitzplatz begäbe.

Frieder erinnerte sich an Arbeitsessen der letzten beiden Jahre, an denen der Ministerialdirektor teilnahm. Zumal Jutta das Heft des Forschungsprojektes fest in der Hand hielt, war während dieser Zeit sein Kontakt zu Schwarz nur oberflächlich und auf das Sachliche beschränkt. So schätzte Frieder ihn zunächst als freundlich, zurückhaltend und wohlwollend ein. Damit lag er, wie er es im Vorstellungsgespräch vor ungefähr einem Monat besser lernen sollte, völlig falsch. Dr. Schwarz erwies sich als Genickbrecher und gebärdete sich als unerträglicher Moralist. In der Vorstellungsrunde führte er, und nur er allein, das Wort, sekundiert bestenfalls noch vom Personalchef. Jutta hingegen saß zahm neben ihm und unternahm nichts, als die beiden im Beisein von Personalratsvertretern und eines Staatssekretärs, der seinen Günstling durchbringen wollte, Frieder ins Kreuzverhör nahmen. Das Fachliche und Wissenschaftliche interessierte sie nicht, und Frieder hoffte vergeblich, mit der für beide Seiten fruchtbaren Zusammenarbeit der vergangenen zwei Jahre zu punkten. Jenes Forschungsprojekt zur Verbesserung der Resistenz von Nutzgeflügel gegen Stress durch pharmakologische und haltungstechnische Beeinflussung der hormonellen Regulation wurde von der Universität der Landeshauptstadt dem ägyptischen Institut des Dr. Johann Bogart in Auftrag gegeben. Das Vorhaben wurde von Juttas Abteilung im Ministerium maßgeblich finanziert, federführend betreut sowie von Frieder als Projektleiter und Angestellter der Forschungseinrichtung in Ägypten erfolgreich bearbeitet und zum Abschluss gebracht. Deshalb wirkte es naheliegend, dass Frieder im Anschluss daran sein großes Interesse an einer Rückkehr nach Deutschland bekundete. Er bot sich für die frei werdende Stelle als besonders geeignete wissenschaftliche Fachkraft an, welche die Mitarbeiter der Abteilung bereits persönlich kannten und deren Arbeit und Leistungen sie schätzen gelernt haben. Darüber hinaus bestach Frieder mit dem nahezu unschlagbaren Vorteil, Arabisch in Wort und Schrift zu beherrschen, womit außer ihm wohl kein anderer Mitbewerber aufwarten konnte. Aber alles das schien für Schwarz ohne Belang zu sein. Stattdessen geriet die persönliche Integrität Frieders auf den Prüfstand. Der Ministerialdirektor betonte, und der Staatssekretär nickte ihm zustimmend bei, dass er von jedem seiner Mitarbeiter ein klares Bekenntnis zu den rechtsstaatlichen demokratischen, aber auch zu den christlichen Grundwerten erwarte. Jeder habe Charakterstärke und Ergebenheit durch feste Verankerung in Familie sowie in ehrenamtlichen Verpflichtungen wie in gemeinnützigen Vereinigungen, Parteien oder in der Kirche zu beweisen. Der Personalchef schoss nach, dass ihn weltenbummlerisches Abenteurertum weniger beeindrucken würde als die Bereitschaft zur Bodenständigkeit und Unterordnung unter familiäre und gesellschaftliche Bindungen. Bedeutete es dann nicht ein Nachteil, dass der Bewerber als über Vierzigjähriger noch unverheiratet und kinderlos war und offensichtlich keinen familiären oder sozial gefestigten Hintergrund besaß? Frieder traf das Gefühl, dass die beiden mit solchen Anspielungen auch seine sexuelle Orientierung hinterfragten, aber sich zu einer offeneren Attacke in dieser Richtung nicht weiter trauten. So schwenkten sie auf den Glauben ein: Kann ein Christ, der für Jahre allein in einem nahezu vollkommen islamischen Land und ohne Kontakt zur Kirche lebt, sein Bekenntnis bewahren und wie überhaupt beweisen? Frieder konnte auf diese Fragen nicht antworten. Natürlich hatte er eine Familie und war Vater eines elfjährigen Sohns und einer neunjährigen Tochter. Durch seine Lebenserfahrung in einem islamischen Land glaubte er als Christ an Gott genau so, wie er als Moslem sich zu Gott nicht anders bekennen würde. Zudem besuchte er zusammen mit seiner Frau nicht immer, so doch gelegentlich die Gottesdienste der koptischen Kirchengemeinde in Luxor und organisierte für deren Festlichkeiten die Bewirtung von Armen. Hinsichtlich seines sozialen Hintergrundes hatte er im Vergleich zu seinen Mitbewerbern bestimmt nicht weniger aufzubieten – eben als Dr. Johann Bogart. Er aber hatte sich als Dr. Friedemann Bronn beworben. Als diese Person entsprach sein Werdegang tatsächlich nur dem eines Weltenbummlers. Er hatte nicht in die staatlichen Sozialkassen eingezahlt und sich nicht in irgendeiner Funktion in Gesellschaft, Partei und Kirche eingebracht. Er hatte vorgeben müssen, noch kinderlos und ledig zu sein. Frieder lag es auf der Zunge, diese Moralapostel mit schlagfertigen Argumenten und stechenden Beweisen seiner moralischen Integrität rückstandslos unter den Tisch zu reden. Das jedoch durfte er nicht, denn nur als Johann Bogart war er integer und hätte dem geforderten Wunschbild entsprochen, zumindest dem Anschein nach. So saß Frieder einsilbig, geradezu wortlos da und musste sich von Dr. Schwarz und dessen Messdiener infrage stellen lassen. Schließlich gab er zum Ende des Vorstellungsgesprächs jede Hoffnung auf die Stelle auf. Sie verabschiedeten ihn kurz und kühl und ohne Händedruck. Doch als Frieder beim Verlassen des Zimmers Jutta ihm mit einem leichten Augenzwinkern zunicken sah, wusste er sicher, dass er und nicht einer seiner Mitbewerber die Zusage erhielte. Für ihn war es noch immer unerklärlich, warum er genommen wurde, nachdem er in ein so schlechtes Licht gerückt worden war.

Frieder beobachtete Gottlieb Schwarz aufmerksam, dass ihm Ali für den Moment nicht mehr allzu wichtig schien, als dieser das Bordell verließ, in die Döner-Stube herüberkam und sich zu ihm an den Tisch setzte. Gerade wollte sein ehemaliger Freund etwas sagen, vermutlich sein Urteil über die drüben in Anspruch genommenen Dienste fällen, als Frieder ihm schnell über den Mund fuhr:

»Sei mal ruhig und platziere Dich direkt vor mich!« Weil sein Kompagnon ohnehin für lange Diskussionen noch viel zu ausgelaugt wirkte, fügte er sich seinem Wunsch. Wie Frieder beobachtete, benahm sich Dr. Schwarz gelassen und völlig unauffällig. Er blickte niemandem außer dem Wirt in die Augen, nippte an seinem Bier und zog an einem Zigarillo. Zweifellos fand er des Öfteren hierher. Gelegentlich schaute er den Kneipier fragend an, der dann immer wieder auf die Uhr sah, bis er bei einem weiteren Mal der wortlosen Nachfrage zum Telefon griff. Infolge des Kneipenlärms hörte Frieder, wie sich der Dönermann laut vernehmlich über den Verbleib von Toni erkundigte. Toni, so stellte Frieder sich vor, wäre wohl eine Edelprostituierte, die gleich im bayrisch-alpinen Dirndl erschiene, um den Ministerialdirektor als Nächsten ihrer für die Nacht bestellten Kunden abzuholen. Wo gedachte Schwarz, sich mit ihr zu vergnügen? Vermutlich gingen sie in ein Apartment nicht weit weg von hier, jedoch weit genug entfernt, um gehobener abgegrenzt zu sein von all den billigen Absteigen und Wohnmobilen des Rotlichtviertels und der näheren Umgebung. Sie verschwänden in einem gepflegten Gebäude, vor dem keinesfalls Freier warten durften. Dr. Schwarz wirkte im Milieu anonym, das zeigte seine Gelassenheit, und dennoch in gewisser Weise bekannt. Einige Gäste nickten ihm verhalten zu, um dann mit einigen Schritten von ihm abzurücken. Seine distanzierte, autoritäre Ausstrahlung, sein zurückhaltendes beherrschtes wie gleichwohl kontrollierendes Benehmen sicherten ihm an diesem völlig anderen Ort die genau gleiche Bedeutung zu wie im Ministerium. Hier wie dort galt er als graue Eminenz. Jutta hatte erzählt, dass letztendlich alle in der Behörde vor Gottlieb Schwarz kuschten und besonders der Minister, der unter all den verfügbaren Abteilungsleitern ihn als rechte, und sicher nicht vertraute Hand aussuchen musste. Es boten sich lautere, jüngere und schneidigere Direktoren an, aber es gab keinen wie Dr. Schwarz, der über die Jahrzehnte die Resortchefs und Staatssekretäre kommen und gehen sah. In der Fülle der Macht langer Dienstjahre, reich an Verbindungen, Abhängigkeiten und Beziehungen bis hinein in die höchsten politischen Ämter ließ er ministeriale Würdenträger und Gefolgschaft gedeihen und verenden. Allein Gottlieb Schwarz gebot über das Ministerium. Alle wussten es, alle akzeptierten es. Offensichtlich kannte Jutta jedoch als Einzige über den Ministerialdirektor eine Einzelheit, die sie außer ihm in erpresserischer Weise sonst niemandem, auch Frieder nicht, preisgab. Ihr Wissen reichte aus, um Frieder als ihren Nachfolger für die frei werdende Stelle durchzusetzen.

Ali sah sich unauffällig um, indem er sich kurz bückte und vorgab, als bände er seine Schuhe. Er erkannte, wen Frieder so aufmerksam an der Theke beobachtete.

»Was ist, Johann?«, fragte er, »kennst Du den alten, feinen Herrn?«

Frieder saß still und antwortete nicht. Warum sollte er mit Ali über etwas sprechen, was nur in einer Zukunft ohne seinen ehemaligen Freund von Bedeutung wäre?

»Wer ist er? Was hast Du mit ihm zu tun?«, fragte der Ägypter argwöhnisch.

»Das geht Dich nichts an«, beharrte Frieder missmutig.

»Dein ganzes Tun und Lassen in den nächsten Wochen geht mich etwas an. Wir werden beide einen Plan fassen und ausführen und nichts soll uns dabei stören«, erwiderte Ali bestimmt, jedoch ohne Ärger in der Stimme und fuhr fort:

»Deshalb will ich erfahren, wer dieser Mann dort ist. Ich will alles über Dich wissen. Ich will Kenntnis darüber, wie Du lebst, wo Du wohnst, wo Du arbeitest und mit welchen Menschen Du verkehrst. Ich will Klarheit über Dein ganzes Umfeld!«

»Das gebe ich Dir nicht preis. Finde es doch selbst heraus!«, entgegnete Frieder widerwillig und unbeabsichtigt spöttisch. Er zweifelte nicht daran, dass Ali teils aus Prinzip und als Zeichen seiner Stärke und teils aus Notwendigkeit jede Gelegenheit nutzen würde, ihn bis ins Detail auszuforschen. Eher früher als später würde er erfahren, was ihn mit diesem Herrn verband. Einzelheiten wie diese wären für sein undurchsichtiges Vorhaben am Ende noch nicht einmal wichtig. Für den Moment schien für ihn gleichwohl alles von Bedeutung zu sein. Es überraschte Frieder deshalb nicht, dass sein Kompagnon nicht locker ließ:

»Das werde ich auch, Du wirst schon sehen!«

Frieder lachte ihn aus, sagte nichts weiter dazu.

»Nun gut!«, lenkte Ali nach einer Weile ein, weil er begriff, dass zumindest für diesen Abend Pläneschmieden mit ihm nicht möglich war. »Dann gib mir die Schlüssel zum Apartment Deiner Freundin«, forderte er.

Wortlos zog Frieder den Bund mit den vier Schlüsseln zu Juttas Hauseingang, Wohnung, Briefkasten und Kellerraum aus der Hosentasche. Er schnipste diese über den Tisch, die dann unter der Hand Alis verschwanden.

Bereits im Wagen sprachen sie davon, wenn auch nicht viel. Sein ehemaliger Freund musste untertauchen. Warum genau wurde nicht klar. Frieder hätte ihm zu helfen, sollte mitmachen. Wobei? Frieder blieb im Unklaren. Stattdessen wuchs in ihm die bedrückende Gewissheit, dass er als Johann Bogart ein weiteres Mal in Angelegenheiten des Ägypters mit hineingezogen werden würde. Die von ihm mühsam aufgebaute Legende zerbräche, der gemäß längst in jedermanns Annahme Johann Bogart durch einen Verkehrsunfall zu Tode gekommen sei. 'Tot-Gesagte leben länger', ging es Frieder als Redensart durch den Kopf. Auch diese Weisheit nutzte ihm nichts. Im Grunde war er nun froh, die einst vom Staatssicherheitsdienst der DDR für ihn auf den Namen Johann Bogart hergestellten Identitätspapiere wie Pass, Geburtsurkunde, Zeugnisse und andere ausschmückende Dokumente nicht vernichtet zu haben. Denn offenbar hielt sein ehemaliger Freund Dr. Johann Bogart für seine wahre Identität. Der Ägypter unterlag mit dieser Verwechslung einem Fehler. Frieder sah darin die kleine Chance, nur für eine kurze Zeit allein für ihn noch als Johann Bogart weiterzuleben. Nichtsdestotrotz und bei der nächstbesten Gelegenheit hätte er Johann Bogart auch für Ali auf immer und ewig verschwinden zu lassen. Der Ägypter fände danach keinen Grund mehr, nach ihm zu suchen. Offenbar hatte er noch nicht allzu viel von seiner wahren Vergangenheit herausgefunden und ebenso wenig von seinen gegenwärtigen Zielen sowie über sein neues U