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'Kuckucks Uhr' handelt von der Entwicklung zweier Protagonisten, deren Lebensverhältnisse sich deutlich ändern. Beide stellen sich neuen Herausforderungen und passen sich an. Anfangs mit Bedacht und mutig, dann verwegen und gerissen verfolgen diese ihre Ziele, geraten an Grenzen und stürzen darüber. Im Wesentlichen geht es dabei um Themen des aktuellen Zeitgeschehens wie Naturschutz und Wölfe, Unternehmertum und Waffenschieberei. Nebenbei handelt die Geschichte von menschlichen Abgründen, von Wildschweinen, Zigarren, Segeltouren, Feinschmeckerlokalen, Verkaufsfernsehen, einem Cherokee-Indianer, dem Wissenschaftsnachwuchs und zwei Kommissaren, einem heruntergekommenen und einem Karrieristen. Die Handlung ist in jeder Hinsicht frei erfunden. Zumal das Manuskript kein Verlagslektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreib-, Formulierungs- und Formatfehler, die dem Roman sicher noch anhaften.
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Seitenzahl: 710
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ninni Martin
Kuckucks Uhr
Roman
Oktober 2014
Impressum
Text: © Ninni Martin, Oktober 20144. überarbeitete Fassung, Mai 2024Umschlag: © Ninni Martin, CorelDRAWX3self-published with neopubli GmbH, Berlinself-published without [email protected]
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-759815-35-4
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
'Kuckucks Uhr' ist ein zeitgenössischer Roman, der die Entwicklung zweier Protagonisten nachzeichnet, deren Lebensverhältnisse sich deutlich ändern. Beide stellen sich neuen Herausforderungen und passen sich an. Anfangs mit Bedacht und mutig, dann verwegen und gerissen verfolgen sie ihre Ziele, geraten an Grenzen und stürzen darüber.
Zentrale Inhalte der Handlung sind Themen des aktuellen Zeitgeschehens wie Naturschutz und Wölfe, Unternehmertum und Waffenschieberei. Nebenbei handelt die Geschichte von menschlichen Abgründen, von Wildschweinen, Zigarren, Segeltouren, Feinschmeckerlokalen, Verkaufsfernsehen, einem Cherokee-Indianer, dem Wissenschaftsnachwuchs und zwei Kommissaren, einem heruntergekommenen und einem Karrieristen.
'Kuckucks Uhr' ist vollkommen fiktiv, deshalb in jeder Hinsicht frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen natürlichen Personen, mit bestehenden oder vergangenen juristischen Personen sowie mit geographischen oder örtlichen Gegebenheiten oder Begebenheiten sind oder wären deshalb rein zufällig und unbeabsichtigt.
Sämtliche Rechte in allen Ländern bleiben dem Autor vorbehalten, der diesen Roman unter dem Pseudonym Ninni Martin veröffentlicht. Dessen Urheberschaft ist nicht zuletzt mittels Veröffentlichung des Manuskripts durch Verlag epubli GmbH, Berlin, im Oktober 2014, gemäß Order der ISBN sowie Autorenvertrag begründet.
Zumal das Manuskript kein Verlagslektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreib-, Formulierungs- und Formatfehler. Zumindest die vierte Überarbeitung im Frühjahr 2024 sollte in dieser Hinsicht zu einer deutlichen Verbesserung geführt haben.
Der Autor, Jahrgang 1963, lebt im Raum Stuttgart. Nach 'Ferkel fliegen nicht', entstanden 2010, und 'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' 2012 ist 'Kuckucks Uhr' im Jahr 2014 die dritte Romanveröffentlichung.
gez.: Der Autor, Oktober 2014 sowie Mai 2024.
Im Halbschlaf streckte Darius die Hand hinter sich und fühlte in einer sanften leeren Mulde noch ihre Wärme und Feuchte, bis seine Finger an einen Schlüsselbund stießen. Das Metall, das nichts vom Klima des warmen Bettes angenommen hatte, war kalt geblieben und ließ ihn für einen kurzen Augenblick schaudern. Anjela musste eben erst gegangen sein. Verlassen zu werden, auch wenn eine Trennung das Beste bedeutete und sie zuletzt beide darauf zugesteuert hatten, schmerzte ihn. Niemals wagte er einen solchen Schritt als Erster, nicht weil er das Ende nicht wollte, sondern weil er immerzu zögerte. So fehlte ihm auch diesmal der Mut, im Nachhinein Reue über das Vorpreschen überwinden zu müssen. Unentschlossener, jedoch aus Erfahrung weitaus einfacher, schien es ihm hingegen erneut, der Verlassene zu sein. Die Enttäuschung eher über seine Bequemlichkeit verflog so rasch, wie sie gekommen war, und Darius Wolfer haderte nicht weiter mit sich und der steten Flüchtigkeit seines Liebesglücks. Im Grunde erleichtert und mit einem müden Lächeln versuchte er, wieder in den Schlaf zu finden. Er zog die Decke weit über sich. Anjelas verbliebener Geruch aus Parfüm, Schweiß und Kohlsuppe des Vorabends schlich ihm in die Nase und wog ihn traumhaft in Erinnerung an so viele schöne Stunden zusammen mit ihr. Beinahe bis zum Schluss war sie ihm im Bett eine nahezu vollendete Geliebte geblieben. Gedanken an all das Zermürbende in ihrer kurzen Beziehung ließ er gar nicht erst zu. So schnell also heilte die Zeit die Wunden. Nun war ein weiteres Kapitel zu Ende gegangen und ein neues wartete darauf, begonnen zu werden. Völlig einschlafen konnte er dennoch nicht. Blähungen, mit denen er die ganze Nacht und während des Versöhnungsaktes zu kämpfen hatte, drückten noch immer in seinem Darm und nur mühsam gelang es ihm, Druck abzulassen. Anjela war es nicht besser ergangen, wie er roch, denn aus den Federn ihrer Betthälfte dünstete noch immer eine nicht weniger scharf schwefelige Note aus. Er hätte eben mehr Kümmel als Zutat in die Suppe streuen sollen, dann wäre sie verdaulicher gewesen. Auf den Batzen Bauchspeck, den er zu brauchen glaubte, um dem Mal überhaupt Gehalt zu geben, hätte Darius zunächst nicht bestehen dürfen. Der Streit, der daraufhin entbrannte, war im weiteren Verlauf ziemlich hässlich geworden. Dachte er wirklich, dass sie das Ganze zum Spaß äße und ihr Kohl schmecken würde, suchte Anjela anfangs noch die sachliche Auseinandersetzung und predigte ihm abermals die Segnungen einer Kohldiät vor. Darius verfluchte das Zeitgeistmagazin, das sie vor etwa zwei Wochen auf diesen Trichter gebracht hatte. Mit dem Einwand, dass keine Frau, die weder die Schwelle zum Übergewicht noch zur Magersucht zu überschreiten drohte, eine Diät nötig hätte, überzeugte er sie nicht. Und überhaupt, warum sollte er fasten? Ein Schweinebauch gehörte in die Suppe, unbedingt! Tränen ihres Unverständnisses und Trotzes, ihrer Macht- und Hilflosigkeit flossen daraufhin und spülten jede Sachlichkeit in einem Schwall aus Wort und Widerspruch davon. Wie gemein er wäre, ihre Figur, mehr noch sie als Frau und Mensch so infrage zu stellen. Er wäre es doch gewesen, vor einiger Zeit angedeutet zu haben, dass sie zu dick sei, ihm ihre Hüfte zu füllig wäre und zudem ihn die Orangenhaut an ihren Schenkeln störte. Darius erinnerte sich beim besten Willen nicht daran, jemals solche Bemerkungen fallen gelassen zu haben, obwohl er durchaus daran gedacht hatte. Vor vier Wochen erst hatten sie sich kennengelernt und bald eine weitere verstrich, bis sie miteinander schliefen. Wann sollte er in einer so kurzen Zeitspanne des Über-beide-Ohren-Verliebtseins je in Verlegenheit geraten sein, sich offen und abfällig über ihre Figur zu äußern? Konnte Anjela Gedanken lesen? Sie wurde ihm unheimlich. So hatten sie sich letzten Endes wie ein altes Ehepaar laut und heftig über eine Nichtigkeit des Alltags und des Älterwerdens gestritten. Erschöpft und schweigend waren sie dann am Tisch vor einem Topf magerer, salzarmer und nahezu kümmelloser Kohlsuppe gesessen. Er hatte nachgegeben und doch gespürt, dass bei ihr die Würfel gegen ihn gefallen waren.
Das knarrende Gartentor und leise Schritte im Kies auf dem Weg vor dem Haus schreckten Darius auf. Er ahnte die Peinlichkeit, als ginge Anjela auf und ab, als zögerte sie. Große Unruhe befiel ihn, nicht nur deshalb, was die Nachbarn denken würden. Wollte sie ihn locken, damit er aufstünde, ihr nachliefe und sie in die Arme nähme? Alles wäre nur ein Missverständnis, denn beide waren sie müde und zu betrunken gewesen. Ein Streit im Alkohol ist niemals der Rede wert. Doch daran lag es nicht. Sie waren nicht füreinander bestimmt und die Regel, dass Gegensätze sich einander anziehen, hatte bei ihnen nur am Anfang Bestand und galt nicht für die Ewigkeit.
»Geh doch endlich!«, flehte Darius leise und vergrub sein Gesicht tief im Kissen, »lass mich endlich zufrieden mit Bloch und Habermas und Deinem ganzen intellektuellen Gewese!« Er konnte ihrem Maß nicht gerecht werden. Wären die Lehrer der Frankfurter Schule zwar erwiesenermaßen geniale, jedoch ein wenig in Vergessenheit geratene Erfinder, Konstrukteure oder nur einfache, patente Ingenieure gewesen, hätte er vor Anjela gerade noch bestehen können. Unterlegen in Eloquenz hätte er mit biederem, sprödem Fachwissen sowie überspielten Wissenslücken dagegengehalten. Habermas und Heidegger klangen zu sehr nach Leuten aus der Technik und so unterlief ihm leichtfertig der Fehler, sich aus den Untiefen eines belanglosen Bargeplauders leiten zu lassen. Zuvor hatte Darius urplötzlich gespürt, dass er sie zu langweilen begann und sie daran gewesen war, zu gehen. Aus Angst, die Eroberung zu verlieren und um sie tiefer in ein Gespräch zu verwickeln, hatte er sie unbedacht nach Bloch gefragt und was sie von ihm hielte. Er kannte sonst keine Soziologen oder Sozialphilosophen und bestünde keine zufällige Namensgleichheit mit einer Serienfigur im Fernsehen, wäre er überhaupt auf niemanden aus dieser Richtung gekommen. Unversehens war daraufhin der Flirt seiner Herrschaft entglitten und die Unterhaltung über den Weg einer kurzen Diskussion und dann doch und unabänderlich zu Anjelas überlegenem sozialwissenschaftlichen Exkurs gewandelt. Schließlich entwuchs daraus noch am selben Abend ein im Weiteren über Wochen und bis zuletzt wie gefühlt ununterbrochener Monolog. Von Anfang an hielt Darius ihr nur sein Ohr hin und versuchte, interessiert dreinzuschauen. Von gesellschaftsökonomischen Umwälzungen und konkreten Utopien verstand er nichts und wollte auch nichts wissen. Niemals wieder würde er die unsägliche Mühe, den Wissbegierigen zu mimen, auf sich nehmen, nur um mit einer Frau ins Bett zu steigen und sollte sie noch so schön und begehrenswert sein. Und das traf auf Anjela fraglos zu. Mit Mitte dreißig war sie gute zehn Jahre jünger als er und äußerlich voll blendender Ausstrahlung. Ihre in einem womöglich letzten Anflug erscheinende Jugendlichkeit gepaart mit der ganzen Lebenserfahrung einer gestandenen Universitätsdozentin bestimmten den ersten Eindruck und unwiderstehlichen Reiz, dem Darius sich nicht hatte erwehren können. Sie bedeutete ihm genau die Art von Frau, welche sein Sammlerherz begehrte. Sie in sein Haus, in sein Schlafgemach, Walhall und Himmelreich zu führen, entsprach einem Wettkampfstreben, gleichwohl eine weitere Trophäe in die Vitrine errungener Siegespokale zu stellen. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, er musste sie gewinnen und nur die Eroberung zählte. Nach außen hin wirkten sie stets in bewundernswerter Zweisamkeit als Traumpaar. Tatsächlich lebte Darius sein 'animalisches' Mannsein in vollen und selbstsüchtigen Zügen aus, bis der Reiz am Lustobjekt verflogen war und die Suche nach einem neuen begann. Ohne Zweifel hatte er sich während der vergangenen zwei Jahre seit der Scheidung und der damit wiedererlangten schier grenzenlosen Freiheit wiederholt, unverbesserlich und mit großem Eifer unehrenhaft verhalten. Wenn einige der Verflossenen ihn inzwischen als ausgemachtes Schwein bezeichneten und übelst über ihn herzogen, durfte er sich nicht beklagen, denn sie alle kannten guten Grund dazu. Was Anjela betraf, ließe er sich gewiss nichts nachsagen. Ihr gegenüber war er anständig geblieben, großherzig und duldsam, wie er fand. Denn ihr versprach er nicht die Ehe, ein leichtes Leben in Wohlstand und angestrebten gemeinsamen Kindern ein treusorgender Vater zu werden. Gegenüber Anjela brauchte er sich nicht als Fels in der Brandung verkaufen, als Universalversorger und Existenzsicherer. Gesellschaftlich gefestigt stand sie zu ihm mindestens auf Augenhöhe, eher sogar darüber. Sie hätte sich gewiss nicht mit ihm abgeben müssen, um sich zu verbessern. Wahrscheinlich wirkte gerade deshalb ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit wie ein Reizverstärker, mit dem sie Darius zusätzlich anstachelte. Mit ihr war es ihm offenbar ein zweites Mal gelungen, eine Frau zu finden, die ihn allein seinetwegen und nicht des Geldes wegen anzunehmen schien. Mehr noch als bei seiner geschiedenen Gattin, die ihn einst aus einem Grund heiratete, den er lange nicht verstand, spürte er zuletzt bei ihr ein Hauch von Gewissheit und Selbstbestätigung.
»Bild Dir bloß nichts ein!«, murmelte Darius in ernüchternder Selbsterkenntnis, hob die Decke und blickte auf seinen Schmerbauch. Nein, er war gewiss kein Adonis und kam sich beinahe vor wie ein Buddha. Bereits in jungen Jahren war er wegen seiner wenig beeindruckenden Erscheinung beim Werben um Bekanntschaften oft genug im Nachteil gewesen. Nicht gerade groß gewachsen, etwas krummbeinig, buckelig und mit früh schütter werdendem Haarwuchs lernte er schnell, meistens von vornherein zu verzichten und den Spaß auf später zu verschieben. Das Rennen machten derweil andere und das Später erwies sich immerfort als Vertrösten auf die Ewigkeit und als Warten bis zum Sankt Nimmerleinstag. So entwickelte er sich zwangsläufig zu einem Streber, dem nichts anderes übrig blieb, als das Lernen und Studieren und mit Fingerfertigkeiten und technischer Begeisterung sein Ingenieurstalent zur Vollendung zu formen. Genau genommen stellte sich der Erfolg bei Frauen für Darius erst spät ein und besonders ausgiebig in der Zeit nach der Scheidung. Die Gier nach ständig neuen Liebschaften schöpfte sich seitdem aus einem übergroßen Nachholbedarf und tatsächlich empfand er dabei mehr Freude und Erfüllung, als er in jungen Jahren je gefunden hätte.
Das Knirschen von Anjelas Schritten im Kies ebbte ab wie ein Pendelschlag, welches rasch an Schwung verlor. Schließlich hörte Darius nur noch die Blätter der Birken rund um sein Haus in einem leichten Morgenwind rauschen, und das lose Gartentor schlug quietschend den Takt dazu. Von einer Ahnung aufgeschreckt richtete er sich auf. Sie konnte sich gewiss nicht in Luft aufgelöst haben. Ungelenk kroch er aus dem Bett und schlich grundlos geduckt und übervorsichtig zum Fenster, dessen Flügel offenstanden und vor dem der Rollanden bis auf eine schmale Spalte heruntergelassen war. Mit angehaltenem Atem spähte Darius hinaus. Gegen den Zaun gelehnt wühlte Anjela in ihrer Handtasche. Er sah ihr die Erregung, die Wut und Enttäuschung an. Endlich zog sie ihr Telefon heraus und begann, darauf einzutippen. Unerbittlich wandelte die Ahnung sich in ihm zur Gewissheit und auf der Suche nach seinem eigenen sprang er jäh zurück und stürzte über die Bettkante hart zu Boden. Dabei riss er die Weinflasche um, die sie mitten in der Nacht nach einem Schlummertrunk davor abgestellt hatten. Die zerberstenden Gläser daneben, deren Scherben sich in das Fleisch eines Handballens drückten, ohne zum Glück tief einzuschneiden, gaben mit schrillem Klirren ein Übriges zum Lärm, den Darius unbedingt vermeiden wollte. Zu allem Überfluss schrie er vor Schmerz laut auf. Dennoch gelang es ihm, mit der unverletzten Hand noch rechtzeitig nach dem Telefon zu greifen, das auf einem Ankleidestuhl zuoberst auf der Wäsche lag. Noch ehe das Gerät einen Laut von sich geben konnte, schaltete er es aus und spürte dessen kurze Vibration mit eingestelltem Sende- und Empfangsbetrieb als Rettung in der Not. Regungslos verharrte er rücklings, ließ Stille einkehren, so als wäre nichts geschehen und doch zeigte er damit Anjela das Ende ihrer Beziehung überdeutlich. Darius fühlte sich nicht gut dabei. Ein leiserer Ausklang hätte noch als Zeichen der Achtung gegolten. Eher als Ausdruck seiner Bequemlichkeit wäre im Stillen der Schlussstrich leichter gezogen. Von ihr vernahm er lange nichts weiter, an ihrer statt das Rauschen der Bäume im Wind. Wie aus Boshaftigkeit, schien es ihm, ließe sie ihn liegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er erlösend das Heranrollen eines Fahrzeugs. Türen schlugen im bekannt dumpfen und satten Ton einer Limousine, und Anjela fuhr endlich davon. Mit Mühe wälzte Darius sich aus seiner Rückenlage auf die Beine und gab sich einem Wunschdenken hin: Sie hätte nichts anderes unternommen, als nur nach dem Fahrdienst zu telefonieren und ihm keine Nachricht gesendet. Wahrscheinlich hätte sie ihn auch nicht fallen hören. So schlecht schien der Tag also nicht zu beginnen.
Darius saß am Küchentisch beim Frühstück und bohrte sich mit dem Käsemesser den letzten Glassplitter aus der Hand. Ein wasserdichtes Pflaster langte hernach zur Wundversorgung, zumal die Verletzung kaum geblutet hatte. Die wenigen Blutspuren auf dem Schlafzimmerteppich wie auch auf dem Badevorleger reichten jedoch aus, um Berta Stuck aus der Fassung zu bringen und sie zur Raserei zu treiben. Darius hörte sie in einem Tobsuchtsanfall die Treppe herunterpoltern und ahnte, was ihm blühte. Sie würde ihm sogleich eine Strafrede halten, wenn nicht gar die Ohren lang ziehen, ähnlich einem Schuljungen, der beim Fußball soeben im Nachbarhaus ein Fenster eingeschossen habe. Ohne es zu wissen, würde seine Haushalshilfe damit nicht einmal falsch liegen. Kurt, ihr Ehemann und zu seinem Glück ein Mensch von ausgesprochener ruhiger Natur, musste den Schaden der Nacht im Garten und am Gästehaus bereits entdeckt haben. Sonst frühstückten sie beide gemeinsam und er war noch nicht erschienen. Sicher hatte auch er Bertas Wutausbruch vernommen und dachte im Moment nicht daran, seiner Frau wie ein Hiob mit weiteren Neuigkeiten zu begegnen. Darius gab seiner Haushälterin freien Lauf, ließ sie hereinstürmen und schimpfen, denn zu gut kannte er sie. Berta war der liebenswürdigste Mensch, den er sich wünschen konnte und schneller noch, als sie sich in Jähzorn steigerte, regte sie sich hernach ab, und das Gewitter war verzogen. Er schätzte Berta und Kurt mit grenzenloser Dankbarkeit, denn was sollte er ohne sie allein mit dem großen Haus anfangen. Häuslich war er nicht, ganz und gar nicht, und ein Schlamper wie aus dem Struwwelpeter. Sie hätten sein Angebot, weiterhin für ihn stundenweise zu arbeiten, nicht annehmen brauchen. Beide waren sie weit über sechzig und nach dem Ende ihrer Vollzeitbeschäftigung als Hausmeisterehepaar, welches damals noch das Gästehaus bewohnt hatte, in den Ruhestand gegangen. Nun lebten sie in einem Hochhaus in der Stadt nahe am Wasser und mit einem wunderschönen Panorama über die Havel nach Osten. Mit diesem Ausblick hätten sie zwar nicht wie einst den stimmungsvollen Sonnenuntergang über dem Spiegel des Flusses vor den Augen, hatten beide anfangs noch bemängelt, als sie in die neue Wohnung eingezogen waren. Ihres fortschreitenden Alters bewusst lernten sie bald den ersatzweisen Anblick des Sonnenaufgangs, sofern ihn die Witterung zuließ, als weitaus hoffnungsfroheren Gruß für jeden weiteren Lebenstag zu schätzen.
In einem nur noch leicht missmutigen Selbstgespräch suchte Berta unter dem Spülbecken nach Putzmitteln wie Essigkonzentrat und Zitronensäure, um sich für den Kampf gegen die Blutflecke zu wappnen. Darius gab ihr derweil ein Kompliment für den gelungenen Apfelkuchen. Er nahm einen etwas übertrieben genussvollen Bissen von dem bereits zweiten Stück in den Mund, das er sich auf seinen Teller geladen hatte. Geschmeichelt richtete Berta sich auf:
»Wirklich?«, entgegnete sie in nicht weniger gespielter Ungläubigkeit, denn alles andere als Lob und Anerkennung hätte sie tief enttäuscht. Dann setzte sie sich an den Tisch, aß selbst ein Stück Apfelkuchen und weihte Darius wie einen Zauberlehrling in die Geheimnisse ihrer Backkunst ein. Er kannte das Rezept längst wie aus dem Schlaf. Jedes Mal, wenn sie Selbstgebackenes mitbrachte, musste genau dieses Spiel folgen, und sie beide fanden ihren Spaß daran. Satt, gut gelaunt, entspannt und nichts ahnend gestärkt für den kommenden Wutausbruch suchte Berta noch Bürsten, Tücher und Schrubber zusammen und ging die Treppe hinauf ans Werk. Nur wenig später streckte Kurt seinen Kopf durch das Küchenfenster:
»Ist sie oben?«, fragte er prüfend und Darius gab ihm mit dem Daumen ein Zeichen. Dieser kam herein und füllte am Herd in eine übergroße Tasse mit der Aufschrift 'Vater ist der Beste' schwarzen ungesüßten Kaffee, ehe er sich zu ihm an den Tisch gesellte. Berta und er waren kinderlos geblieben und dennoch hatte der Schriftzug auf dem Porzellan eine Berechtigung. Darius musste sich eingestehen, dass er selbst in seiner ehrgeizlosen Vaterrolle keinen Ruhm erringen würde. Die Erziehung der beiden Töchter hatte er von Anbeginn der Mutter und bis zur Trennung von der Familie auch Berta und ihrem Mann überlassen. Noch immer ärgerte es ihn, dass Erika die Leistungen des alten Hausmeisterpaars von vornherein wenig anerkannte und deren Weiterbeschäftigung auf ihre und der Dynastie Kosten wieder aus dem Vertragsentwurf genommen hatte. Wie gewohnt rührte Kurt ausgiebig im Kaffee. Darius wollte ihn längst nach dem Sinn fragen, denn außer Satz gab es nichts umzurühren. Doch abermals schaute er nur wortlos zu und seine Blicke folgten dem kreisenden Löffel wie dem Pendel eines Hypnotiseurs. Endlich war es an der Zeit für das eigentliche Frühstück. Aus der Schublade unter der Tischplatte holte Kurt eine Zigarrenkiste hervor, die gerade noch zwei Coronas enthielt. Im Anschluss an diese Raucherstunde würde er aus dem unermesslichen Vorrat, der unter dem Dach des Hauses lagerte, für Nachschub sorgen. Dort verwaltete Bertas Ehemann einen wahren Schatz, den er nach dem Zusammenbruch des Ostens als ehemaliger Landarbeiter eines brandenburgischen VEB Tabakkombinats dem Zugriff der Treuhandgesellschaft entzogen hatte. Nach dessen Abwicklung waren in einer Nacht und Nebelaktion er, Berta und ein Verwandter nur einen Tag vor einer Übergabeinventur auf das Betriebsgelände eingedrungen. Nach mehreren Traktorfuhren hatten sie eine der Hallen nahezu leergeräumt und die Zigarren in einer Scheune des Verwandten zwischengelagert. Als dieser nach einiger Zeit verstarb und dessen Erben die landwirtschaftliche Pacht aufgaben, wollten Darius und Erika nichts dagegen einwenden, den Rest des Diebesguts von den Stucks eben in ihrem Haus verstecken zu lassen. Wann immer Kurt und Berta Geld für eine Reise oder das Auto benötigten, brauchten sie nur einige Kisten der Stumpen mithilfe eines befreundeten Vietnamesen auf dem Schwarzmarkt als täuschend echte Bolivars verkaufen. Für das Kombinat hatte Berta einst für ein gutes Jahr das Handwerk des Zigarrendrehens auf Kuba von den Besten lernen dürfen. Das Umarbeiten der sozialistisch märkischen Standardzigarren auf die wechselnd gefragtesten Nobelmarken bereitete ihr deshalb weder sonderlichen Aufwand noch Schwierigkeiten. So waren Cohibas allmählich aus der Mode geraten, Bolivars gerade hoch im Kurs und den Schimmelpennicks stand offenbar die Wiederentdeckung bevor. Das Geschäft erwies sich bislang als krisensicher und ungeachtet einer nur kleinen Rente brauchten Berta und ihr Mann Geldnot nicht wirklich fürchten.
Gedankenversunken schmauchten beide vor sich hin. Kurt lehnte sich weit in den Rücken und blies kreisrund gezirkelte Kringel in die Luft. Ein wunderbares süßlich schweres Aroma erfüllte die Küche, welches während des ganzen Tages auf alles, das hier zubereitet werden würde, unnachahmlich abfärben musste. Dem Kohldunst des Vorabends wurde die Atmosphäre entzogen und Darius fände noch weniger Grund, sich lange an Anjelas Diätwahn zurückzuerinnern. Im Gegenteil, je dichter der Rauch um ihn herum waberte, um so fruchtbarer wurde der Nährboden für eine neue Aussaat bereitet. Mit leichtem Geist überlegte er, wie er vorgehen würde. Er dachte an eine Bekanntschaft, die er gegen Mittag in Berlin-Mitte treffen wollte. Schon seit ein paar Tagen hatte er es sich fest vorgenommen, bei dieser jungen schönen Frau mit den engelsblonden Haaren eine klare Absicht zu verfolgen. Die Zeit schien endlich reif dafür, sie für den Abend auf ein Essen in einem der angesagten Sternrestaurants am Gendarmenmarkt einzuladen. Oder sollte er sich auf jemand anderes verlegen? Ihm kam die brünette Assistentin des Hotelgeschäftsführers in den Sinn, mit dem er dann und wann auf der Havel um die Wette segelte. Bestimmt würde er sie am Nachmittag in der Marina des Hotels antreffen. Zuletzt hatte sie ihm schöne Augen zugeworfen und unbedingt hätte er herauszufinden, ob nicht ein koketter Finger, sondern die ganze Hand und im Sturm ihr Herz zu nehmen wäre. Nach vielen verlorenen Wettfahrten gegen den Hotelier wertete Darius einen solchen Triumph überragender noch als den Raub der Sabinerinnen, und in einem alles übertreffenden Gegenschlag würde er die Schöne dem Biest entrissen haben. Kurt pfiff derweil leise eine Melodie durch die Zähne, die ihn ablenkte und daran hinderte, eine Entscheidung zu fällen, um die Qual der Wahl zu beenden. Er kannte das Lied bestimmt, hatte es in seiner Jugend auf einer inzwischen verschollenen Schallplatte gehört und konnte sich nicht an den Namen des Titels entsinnen. Die Musikgruppe lag ihm auf der Zunge, der Refrain im Ohr und die Frage, welches Frauenherz er nächstens erobern würde, rückte weit von ihm ab.
»Genau zwischen die Augen«, sinnierte Kurt mit Bewunderung im Unterton, »Erika hätte ich dieses Kunststück zugetraut.« Dann schmauchte er mit anerkennendem Nicken still in sich versunken weiter, denn er war kein Freund vieler Worte. Darius achtete kaum auf die Bemerkung, viel eher rückte ihm der Musiktitel und die ganze Geschichte, die sich damit verband, wieder in Erinnerung. Berta hatte sie ihm viele Male erzählt. Als sie auf Kuba gewesen war, hatte es Kurt allein und ohne sie kaum ausgehalten. Das Doppelalbum, von dem er im Westradio gehört hatte, in seinen Händen zu halten und auf einen Plattenteller zu legen, war ihm der Versuch einer Republikflucht wert gewesen. Der Hängegleiter, der von einem Freund aus Abfallstoffen und Lattenrosten gezimmert worden war, hatte sein Gewicht kaum getragen, das Schleppseil war viel zu kurz und der Trabant viel zu langsam und zu schwach gewesen. Dass er bereits kilometerweit vor der Sperrzone mit dem Fluggerät niedergegangen war, war strafmildernd bewertet worden. So war er nur zwei Jahre in Bautzen eingesessen, ehe ihn die Volksgemeinschaft des Arbeiter- und Bauernstaates geläutert wieder zurück auf die Felder geschickt hatte. Eines länger als vorgesehen von seiner lieben dicken Berta getrennt gewesen zu sein, bereute Kurt noch immer verbittert, wann immer er auf seine Vergangenheit angesprochen wurde, sei die wirkliche Strafe gewesen. Wie dumm sei er damals gewesen! Nach einer Weile erst begriff Darius, dass Bertas Ehemann von der toten Wildsau in seinem Garten sprach.
»Anjela hat es erlegt«, erklärte er freimütig und mutmaßte, benebelt vom Alkohol selbst das Gästehaus getroffen zu haben.
»Ihr einziger Schuss und nichts anderes als ein Zufallstreffer!«, kommentierte er noch hastig hinterher, um sich vor Kurt im Vergleich zu ihr nicht völlig unbedarft erscheinen zu lassen. Mit Erika konnte er tatsächlich nicht mithalten. Seine von ihm geschiedene Frau war in Kanada aufgewachsen und hatte dort das Jagen und Angeln bereits im Kindesalter erlernt. Wenn sie neuerdings ihren Vater zweimal im Jahr zur Bärenjagd auf Kamtschatka begleitete, unternahm sie solche Reisen um die halbe Welt auch, um Kindheitserinnerungen zu wecken. Im Eigentlichen jedoch ging es bei diesen Unternehmungen nicht um ein Zeitvertreib, sondern um Geschäfte vornehmlich mit Russen, Chinesen, Koreanern, Amerikanern und Kanadiern. Als spätere Alleinerbin und künftiges Haupt des Unternehmens musste Erika allmählich aufgebaut und an solche Geschäftspartner herangeführt werden. Anjela hingegen war in Warschau als Stadtkind groß geworden. Vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie in der vergangenen Nacht ein Jagdgewehr im Anschlag gehalten, geschossen und zweifellos zufällig getroffen.
»Die Wildsau ist ein Überläufer, nicht allzu massig und würde und zerteilt in eine Kühltruhe passen«, bemerkte Kurt, der sich nun vorbeugte, als wollte er Darius überreden.
»Du bist Tabakpflanzer und kein Fleischer«, winkte dieser ab, »Berta würde sich gehörig bei Dir für die Sauerei bedanken, die Du ihr damit aufbürdest. Wir werden klüger sein, nachher den Kadaver in den Fluss zu ziehen und abtreiben zu lassen. Wir verfahren damit genauso wie die anderen, und wenn wir Glück haben, wird Deine Frau davon nichts gesehen haben.«
Seine Ablehnung klang wie eine Ausrede. Tatsächlich ekelte ihn der Gedanke, dass bereits Ratten an dem toten Tier genagt haben könnten, obwohl ihm Kurts Vorschlag einer kulinarischen Verwertung durchaus durchdacht erschien. So gäbe es außer Küchenabfällen keine Spuren und deshalb kein weiteres Gerede in der Nachbarschaft. Auch ohne dies bildeten Wildschweine seit langem das einzig hitzige Thema in der Waldsiedlung, denn alle waren davon betroffen und niemand blieb verschont. Vornehmlich nachts und neuerdings tagsüber fielen mit wachsender Hemmungslosigkeit Wildschweinrotten aus der umliegenden Natur in diese ein und wüteten, wie es ihrer Art entspricht. Zäune, Hecken, Beete, Grünflächen, Müllplätze wurden gierig nach Fressbarem durchwühlt, um der überhandnehmenden Nachkommenschaft Nahrung zu bieten. Diese bedankte sich dafür ihrerseits nach wenigen Monaten mit eigenen Frischlingen. Darius selbst musste erst vor einigen Wochen für viel Geld einen neuen Rasen verlegen lassen, nachdem eine Schweinefamilie über den Fluss schwimmend auf seinem Besitz angelandet war. Die massive Umzäunung des Anwesens gegen Zutritt Unbefugter bewies sich bald als Verschlimmerung seines Unglücks. Gehindert am zügigen Weiterziehen war in einer anderen Nacht eine Rotte allein bei ihm mit apokalyptischer Zerstörungskraft zugange. Unvermeidlich gesellten sich tags darauf zum Schaden viel Spot und Häme der Nachbarn hinzu. Darius, der kaum Leidenschaft für die Jagd empfand, hatte sich deshalb dazu entschlossen, ein Exempel zu setzen und aufzurüsten. Er hatte sich von Erika ein Gewehr und Munition geben lassen, denn schließlich lag es vertragsgemäß in seiner Verantwortung, weitgehend ihren Grund und Boden zu pflegen, erhalten und zu schützen.
Im Umgang mit der Schweinefrage zeigte sich die Einwohnerschaft der Waldsiedlung ziemlich übereinstimmend mit ihrer Herkunft tief in zwei Lager gespalten. Ein Teil der Menschen, die hier wohnten, waren zu DDR-Zeiten mit ihren Familien als höhere Offiziere der NVA, des Staatssicherheitsdienstes oder als Führungskader der Partei zugezogen. Diese Wohngegend, welche einst aus einem kaiserlichen Jagdrevier hervorgegangen war, galt bereits in der Nazizeit als gehoben und insbesondere wegen der Abgeschiedenheit und der Nähe zum Wasser als bevorzugt. Hier lebten die Einwohner ungeachtet der Zeitenwende bis noch vor einem Jahrzehnt vornehmlich unter ihresgleichen. Allesamt besaßen die Alteingesessenen voll bestückte Waffenschränke. Schüsse in der Nacht gehörten hier zum guten Schlaf dazu und schreckten kaum jemanden auf. Zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen wurde auf alles geschossen, das Einbrecher hätten sein können: Tauben, Birkhühner, Enten, Kormorane, Graureiher und natürlich Wildschweine. Alarmierte Polizeistreifen patrouillierten schon lange nicht mehr. Gelegentliche Anzeigen wurden unter Hinweis auf das Recht der Selbstverteidigung in den meisten Fällen nicht weiterverfolgt. In diesem Sinne und mangels Zeugen etwa war eine entsprechende Klage gegen Darius' Nachbarn zur rechten Seite des Grundstücks bald wieder fallengelassen worden. Seither galt dieser alte, halsstarrige, einäugige, schwerhörige und uneinsichtige, ewig gestrige Betriebskampfgruppengeneral in Pension als ebenso unantastbar wie schießwütig. Darius mied den Kontakt zu ihm, konnte jedoch im Gegenzug darauf vertrauen, auch von ihm in Ruhe gelassen zu werden.
Hingegen entsprach seine Nachbarfamilie zur linken Seite mustergültig dem zweiten gängigen Einwohnertypus der Waldsiedlung. Dieser ergab sich nahezu vollständig aus Zugezogenen aus dem Westen. Zumeist im mittleren Alter, als Familienmenschen mit halbwüchsigen Kindern arbeiteten diese als höhere Beamte oder wissenschaftliche Angestellte in Ministerien, Landes- oder Bundesämtern sowie an den Hochschulen. Nach außen hin und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung um das Gemeinwohl folgend nahmen diese Neubürger alles sehr regeltreu in die Hand: Sie schossen nicht auf Schweine, sondern schrieben Petitionen und organisierten Bürgerinitiativen. Mit solchen Aktionen gelangten sie oft und gern in die Medien und genossen ihre Selbstdarstellung im Licht der Öffentlichkeit. Der Plage wurde sie damit nicht Herr. Weitgehend billigend und mit wortloser Unschuldsmiene begannen sie insgeheim dann doch auf die Erfahrung der alten Mauerschützen zu setzen und ließen von diesen mit unausgesprochenem Schießbefehl das Problem standrechtlich lösen. Als erforderte das Hinwegsehen einen Ausgleich, zeigten die Neubürger jedes andere, noch so kleine Vergehen um so eifriger an, wie Falschparken oder Lärmbelästigung durch Rasenmähen zur Mittagszeit. Ausgerechnet Darius’ Nachbarin, Gattin eines Konzertdirigenten, selbst erklärte vegane Tierschützerin und zu allem Überfluss dazu Grundschullehrerin mit ausgiebiger Freizeit am Nachmittag, hatte sich in dieser Hinsicht wiederholt als besonders streitsüchtig und gefährlich erwiesen. Als seine Töchter vor Jahren eine Übernachtungsparty veranstaltet hatten, war prompt ein anwaltliches Schreiben gefolgt, in dem die Lehrerin rechtliche Schritte hatte ankündigen lassen, sollte sie sich in ihrer Nachtruhe ein weiteres Mal gestört fühlen. Damit war sie jedoch bei seiner geschiedenen Frau an die Falsche geraten. Kurzum hatte Erika gleich die namhafteste ihrer Unternehmenssozietäten damit beauftragt, der überempfindlichen Pädagogin ihre Vorstellung von guter Nachbarschaft nahezulegen. Seither herrschte eine Art von Waffenstillstand. Die Veganerin schaute zwar dann und wann neugierig über den Zaun, denn nachmittags blieb ihr reichlich Zeit dafür, und Darius grüßte ihr freundlich zu, sonst zeigte sie sich eingeschüchtert. Nichtsdestoweniger versprach der trügerische Frieden, brüchig zu sein, denn die Nachbarin schwöre bestimmt auf Rache und würde seinen geminderten Rückhalt nach der Scheidung bereits bei der nächstbesten Gelegenheit leidlich ausnutzen.
»Hat sich die Hexe schon gerührt?«, fragte Kurt, der in Gedanken derselben Besorgnis nachhing und zu bereuen schien, das Schwein wenigstens nicht mit einer Plane abgedeckt zu haben. An einem Samstagmorgen konnte die vegane Tierschützerin über eine nach ihrer allseits bekannten Überzeugung qualvoll verendete Kreatur nicht hinwegsehen, sobald sie sich aus dem Fenster gelehnt haben würde.
»Sie ist mit ihren Kindern gestern Nachmittag ans Meer gefahren. Saßnitz, Binz oder sonst an einem Ort auf Rügen, an dem ihr Mann für den Sommer ein Engagement für ein Kurorchester übernommen hat«, antwortete Darius und mutmaßte, »vor morgen Abend wird sie wohl nicht zurückkehren.«
»Glück gehabt!«, lachte Kurt auf und drückte seinen Stumpen aus, um wieder an die Arbeit zu gehen. »Kann ich die 'OTTOMAR' klarmachen? Wir sollten das Schwein bis zur Eisenbahnbrücke ziehen, denn dort ist die Strömung am stärksten«.
»Zweihundert Meter mit dem Ruderboot in den Fluss hinein reichen aus«, bestimmte hingegen Darius, der die Jacht nicht aus dem ordentlichen Zustand gebracht haben wollte, den er anfangs der Woche mühevoll hergestellt hatte. Er hoffte noch immer darauf, den Motorsegler für ein paar Tage an seine nächsten Gäste vermieten zu können. Bei der Buchung am Telefon hatte die Familie zwar noch kein Interesse gezeigt, jedoch würde er nicht nachlassen, dieser die Vorzüge von Segelausflügen auf Havel und Spree bis hinein nach Berlin schmackhaft zu machen. Wenn sie ihn zusätzlich als Boots- und Reiseführer buchten, und damit rechnete er sehr, würde das Geschäft für ihn besonders einträglich werden. Seinen letzten Gast, der bereits am Vortag abgereist war, hatte er nicht für das Zusatzangebot erwärmen können. Wie Anjela herausfand, wäre dieser alleinreisende Sonderling ohnehin nur schwerlich für Wassersport der herkömmlichen Art zu begeistern gewesen. Aus einem Gefühl heraus, das die Zeit drängte, folgte Darius seinem Hausangestellten hinaus in den Garten. Gemeinsam zogen sie das Schwein bis zu einem schmalen Bootssteg, der unmittelbar vom Gästehaus und dann über eine Böschung für ein paar Meter und auf dünnen Stelzen in die Havel ragte. Außer Atem ließ er von Kurt den Rest erledigen. An den Läufen zusammengebunden wurde der Kadaver ins Wasser gestoßen. Als dieser sich anschickte, das Ruderboot mit dem anderen Ende der Leine zu besteigen, wurde er von Berta, die vom Schlafzimmerfenster der Villa aus das Treiben argwöhnisch beobachtet hatte, heftig zurückgerufen:
»Wenn Du das wagst, lasse ich mich scheiden!«, brüllte sie herunter und Kurt zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Wenn seiner Frau etwas nicht passte, drohte sie gewöhnlich mit allem Möglichen, brachte sie die Scheidung ins Spiel, war es ihr besonders ernst. Niemals würde sie sich wirklich von ihrem Mann trennen, eher wollte sie sterben. Doch nicht selten trieb sie die Angst um ihn bis zum Äußersten. Kurt war Nichtschwimmer. Bereits ihren Ehemann in der Nähe des Ufers Gartenarbeiten verrichten zu sehen, versetzte Berta stets in große Unruhe und Gereiztheit. Das Schicksal, so redete sie sich dann ein, wartete nur darauf, ein zweites Mal grausam zuzuschlagen, denn in ihrer Kindheit war auch einer ihrer Brüder beim Spielen an einem See ertrunken. Darius bedeutete Berta mit einer beschwichtigenden Geste, endlich Ruhe zu geben, fasste seinen Hausangestellten am Arm und zog ihn zurück.
»Ist schon recht, Kurt, ich beseitige das Schwein«, sagte er im Sinn, dass dieser sogleich für eine Fahrt zu einem Baumarkt nützlicher einzusetzen wäre. »Wir sollten uns vorher noch den Schaden ansehen, den ich heute Nacht hier angerichtet habe.«
Seine Vorahnung bestätigte sich, als beide das Gästehaus betraten. Eine Fensterscheibe war zersplittert und das Waschbecken im Badezimmer lag in Stücke zerbrochen am Boden. Das Geschoss, das Glas und Porzellan zerschlagen hatte, steckte verformt zwischen den Holzsplittern einer aufgerissenen Zwischenwand.
»Ein Glück nur, dass Dein Gast vorzeitig abgereist ist«, stellte Kurt erleichtert fest, »nicht auszudenken, er wäre die Nacht über noch geblieben. Du hättest ihn beim Pinkeln erschossen!«
»Oder bei Sexspielen mit den beiden jungen Männern«, ergänzte Darius in Gedanken, ohne vor ihm ein Wort darüber zu verlieren. Berta und ihr Gatte brauchten nicht alles wissen. Das, was es zu sehen und zu riechen gab, reichte aus. Der Geruch im Häuschen erinnerte stark an ein Bordell. Es stank nach billigem Parfüm von Gelen, Körperölen und Lederpflegemitteln. Überall auf dem Boden lagen kot- und blutverschmierte Papiertaschentücher verstreut und entsprechende Flecke übersäten das Betttuch. In der Toilette schwammen gebrauchte Kondome, die dank der darin eingeschlossenen Luftblasen und dem Auftrieb von Gleitcremen jedem noch so intensiven Spülvorgang beharrlich widerstanden. Kunterbunt dümpelten die Präservative im Siphon wie kleine Bojen in einem Miniaturmeer. Gleich bei der Ankunft vor einer Woche war dieser Gast Anjela seltsam vorgekommen. Als dann ab dem Folgetag regelmäßig bei Anbruch der Dunkelheit Besucher mit dem Taxi herangefahren und frühmorgens ebenso wieder abgeholt wurden, war sie nicht länger um Zurückhaltung zu bitten gewesen. In einer Nacht hatte sie sich an das Gästehaus herangeschlichen und durch einen Spalt am Fensterladen gespickt. Darius hörte ihr nur ungern zu, als sie ihm tags darauf beim Frühstück von ihren Beobachtungen und den offensichtlichen Vorgängen im Häuschen berichtete.
»Warum vermietest Du überhaupt?«, hatte Anjela ihn verständnislos angeherrscht, »ein solches Zusatzeinkommen hast Du nicht nötig! Die Gefahr, dass dieses Gesindel eines Nachts sich auch an Dir und mir vergreifen würde, siehst Du nicht?«
»Ich biete das Gästehaus als Unterkunft an, um meine Hausangestellten zu beschäftigen. Allein nur mir hinterherzuputzen und den Rasen zu mähen, kann sich für sie kaum lohnen. Sie würden dann bei anderen als Haushaltshilfen arbeiten. Immerhin decke ich mit den Einnahmen Bertas und Kurts Lohnkosten vollständig ab.«
Darius bot ihr eine plausible Erklärung und stellte sie dennoch nicht zufrieden. Tatsächlich brauchte er das Geld. Er verfügte zwar über ein ansehnliches Vermögen, bezog zudem ein üppiges Gehalt und weitere Einkünfte, doch sein aufwendiger Lebensstil mit all den zur Schau gestellten Attitüden fraß seine Mittel unversehens wieder auf. Darius lebte im gehobenen Luxus an der Grenze des Finanzierbaren. Im gewissen Sinne galt er durchaus als wohlhabend, täglich reicher wurde er nicht. Im Gegenteil, seit geraumer Zeit zehrte er sogar von der Substanz und das Fließgleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben schien auch dauerhaft gestört zu bleiben. Deswegen bereitete er sich noch keine Sorgen, denn Zukunfts- und Existenzängste kannte er nicht und mochte sich keinen Grund vorstellen, die ihn jemals so weit führen würden. Große Kuchen werden nicht gebacken, damit nur die Krümel gegessen werden.
»Familien mit Anhang als Gäste sind sicher nicht das Schlechteste«, urteilte Kurt beim Anblick der Verwüstung und kratzte sich unsicher im Nacken. Bislang hatte er diese Art von Kundschaft verpönt, denn nach seiner Einschätzung brachten nur Kinder alles in Unordnung. Künftig würde er sich auch auf Alleinreisende nicht mehr freuen.
»Anjela hat im Netz über den Mann nachgeforscht«, erklärte Darius entschuldigend, »ein Pastoralreferent aus dem Niederbayerischen klingt besonders harmlos, wenn dieser in sozialen Medien seine Freude darüber kundgibt, bald eine eigene Pfarrstelle übernehmen zu dürfen.« Weiter äußerte er sich nicht. Im Stillen gönnte er dem angehenden Pfarrer den Spaß, den er hier ausgelebt hatte, denn in dessen Heimat, und damit zurück in das tiefste Mittelalter, reichte allein der Verdacht auf solche Neigungen aus, um gesteinigt zu werden. So hatte Darius Anjelas Drängen nicht nachgegeben, dem Urlauber die zusätzlichen Übernachtungsgäste in Rechnung zu stellen.
Kurt rieb sich nachdenklich am Kinn: »Ich räume besser die allzu deutlichen Kampfspuren beiseite, ehe Berta kommt, um die Zimmer vorzubereiten. Was sollte sie sonst von Dir denken? Am Ende fühlte sie sich noch als Puffmutter.« Er betätigte den Lichtschalter, doch der Leuchter brannte nicht. Ebenso fiel auf, dass ein Rinnsal aus dem Kühlschrank tropfte. Offensichtlich war der Strom ausgefallen. Die Ursache erkannten Darius und Kurt, als sie an der Außenseite der Hauswand unter dem Dach den zerschossenen Hauptsicherungskasten entdeckten. Demnach hatte sein zweiter Fehlschuss in der Nacht die Metallabdeckung durchbohrt und das Starkstromkabel gekappt.
»Ich werde heute weder einen Elektriker, Glaser noch Installateur finden, also versuche Du, die Schäden zu beheben!«, forderte er seinen Hausangestellten auf:
»Im Baumarkt gibt es neben einem Waschbecken und einer Glasscheibe sicher auch alles Elektrische, das Du dafür brauchst.«
»Ich bin nicht vom Fach«, wehrte Kurt ab, »ich bin Tabakpflanzer und Gärtner!«
»Du bist Bauer mit geschickten Händen«, entgegnete Darius kurz und ließ keinen Widerspruch gelten, »Du schaffst das schon! Die Familie aus Süddeutschland wird erst am Spätnachmittag eintreffen, so bleibt Dir noch genügend Zeit.« Er zog ein paar Scheine aus seiner Brieftasche und reichte sie Kurt, der das Geld mit einem missmutigen Blick entgegennahm. Eine weitere Banknote, die er ihm direkt in die Brusttasche am Hemd steckte, hellte dessen Miene merklich auf. Er hatte sich noch nie lumpen lassen: »Das und der Rest ist für Dich.«
Mit dem Ruderboot erreichte Darius etwa die Mitte der Havel, die an diesem Flussabschnitt mit einer Breite von mehreren hundert Metern deutlich wie ein langgestreckter See wirkte. An den Schifffahrtszeichen konnte er ungefähr den Verlauf der Fahrrinne abschätzen, in der ab dem späteren Vormittag ein reger Verkehr von Ausflugsdampfern einsetzen würde. In der Hoffnung, dass bald Schiffsschrauben den Kadaver zerteilten, band er das Schwein los. Anstatt dass Forstaufsicht, Ordnungsbeamte, Lokalreporter und Tierschützer Anstoß nähmen, sollten eher Aale am Grund des Flusses die Überreste spurlos beseitigen. Als er in der Ferne ein Polizeiboot herannahen sah, beeilte er sich zurückzurudern. Jedoch ließen seine Kräfte bald nach. Er war noch nie sportlich gewesen und beinahe jede Art der körperlichen Betätigung brachte ihn schnell an den Rand der Erschöpfung. Die Ursache hierfür lag nicht am mangelnden Willen, sich in Form zu halten, sondern an einem angeborenen Herzfehler, den bislang Kardiologen übereinstimmend als ziemlich harmlos einstuften. So hatte er ein ärztliches Attest einen Tag vor Unterzeichnung des Ehevertrags und der Hochzeit den Familienoberen der Nettelblaads und der Eisenhaupts vorlegen müssen, das die Unbedenklichkeit seiner Herzanomalie bestätigte. Im Grunde war er seit jeher kerngesund und, weil ihm bereits seit geraumer Zeit jede berufliche oder familiäre Belastung erspart blieb, fühlte er sich ausgezeichnet, unbeschwert und wohl. Darius holte die Ruder ein und ließ sich treiben. Die Strömung wirkte dabei unmerklich und brachte ihn kaum von Fleck. Tatsächlich bildete die Havel an diesem Flussabschnitt eine geradezu bezaubernde, gemächlich verträumte, malerische Flusslandschaft, weit schöner als an jedem anderen Ort ihres Verlaufs. In diesen Anblick hatte er sich unsterblich verliebt, als er vor etwa 18, eher vor 20 Jahren mit einem Faltboot von Berlin kommend über die Spree bis Spandau und dann bis hier hinab gepaddelt war. Gefangen von den Eindrücken hatte er nicht länger daran gedacht, noch am selben Tag zurückzukehren, sondern hatte sich über das Wochenende und einen blauen Montag gleich am Ufer im Fischerhaus eines Gutshofs einquartiert. Ihm war die Gegend um das Gehöft wie Liebe auf den ersten Blick zugefallen. Etliche Landhäuser und Villen waren in der Nachbarschaft und den Fluss entlang im Entstehen, denn offenbar war bei den Neureichen und Bildungsbürgern der Geheimtippstatus der Waldsiedlung geschwunden. Deshalb waren die Immobilienpreise über die Maßen angestiegen, und Darius hatte unbedingt dabei sein wollen, ehe er mit dem bescheidenen Ingenieursgehalt als Berufsanfänger nicht länger hätte mitbieten können. Unweigerlich war ihm bald auch der ungünstigste Bauplatz unerschwinglich geworden, sodass seine Pläne bis auf unabsehbare Zeit unerfüllbar schienen. Wenigstens hatte er den Kontakt zu seinem Gastgeber und Gutsbetreiber erhalten und sich zumindest für die Wochenenden als Dauerbewohner für das Nebenhaus empfohlen. Nach kaum einem Jahr war die Adresse dann zu seinem wirklichen Wohnsitz geworden, und er wäre auch fester Mieter geblieben, wenn nicht ein Blitzschlag den Geräteschuppen des Gehöfts in Brand gesetzt hätte. Der Bauer war unterversichert gewesen. Weil dieser zu jener Zeit noch nicht daran gedacht hatte, den Betrieb aufzugeben, Bankkredite jedoch gescheut und dennoch Geld für die Wiederherstellung benötigt hatte, war Darius unversehens zum Zuge gekommen. Für einen vergleichsweise überschaubaren Betrag und mithilfe eines Hypothekendarlehens hatte er das kleine Fischerhaus und einen schmalen Grundstücksstreifen darum herum, mitsamt dem Bootssteg, zum Eigentum erwerben dürfen.
Darius horchte auf. Das Motorenbrummen des Polizeiboots gewann plötzlich an Kraft und eine weiß aufschäumende Bugwelle wies auf eine starke Beschleunigung hin. Offensichtlich hatte die Besatzung etwas Verdächtiges entdeckt. Zunächst meinte er noch, das Patroulienboot würde unmittelbar auf ihn zuhalten, dann jedoch schwenkte es leicht ab und nahm Kurs auf den in einiger Entfernung davonschwimmenden Schweinekörper, der nicht recht unterging. Vermutlich war das Tier mit seiner Rotte am Vortag in einen Gemüsegarten eingefallen und hatte ebenfalls Unmengen von Kohl in sich hinein geschlungen. Gemessen an der Wölbung des Rumpfes, schien der Kadaver entsprechend aufgebläht. Darius durfte nicht hektisch werden und mühte sich, jeden Anschein von Flucht zu vermeiden. So streckte er die Glieder von sich und mimte den sonnenbadenden Frühsportler, der den Samstagvormittag für eine Ruderpartie und die Ruhe auf dem Wasser nutzte, als gäbe es nichts Entspannenderes. Das Polizeiboot drehte derweil längs des Schweins bei und Beamte beugten sich mit Einholhaken über die Reling.
»Eine Leiche?«, rief Darius den Männern auf dem Boot zu, im Tonfall einer ängstlich besorgten Frage, die darauf abzielte, im Verbund mit einer aufgeschreckten und hochgereckten Betroffenheitshaltung besonders überzeugend zu wirken. Meine Güte, wie schlecht ist es um diese Welt bestellt, an der am helllichten Tag Menschen ertrinken, wenn nicht gar Opfer eines Verbrechens werden! Nichts anderes dachte er, durch furchtbar übertriebene Neugierde und fehlplatzierte Anteilnahme auszudrücken und vorzutäuschen.
»Keine Sorge!«, rief einer der Polizisten zurück und bekundete Entwarnung, »es ist nur ein Schwein. Fahren Sie! Sie behindern mit Ihrem Ruderboot den Schiffsverkehr!«
Weit und breit war von großen Motorbooten, Frachtschiffen und Ausflugsdampfern nicht eines zu sehen. Darius spielte dennoch mit einem allzu übertriebenen Wink und einem entspannenden Zurechtrücken auf der Ruderbank den Erleichterten, welcher der Anweisung beflissentlich folgen würde. Die Polizei, Dein Freund und Helfer, und nie hätte dieses Motto sich als wahrer erwiesen. Die Beamten begannen, verwundert zu ihm hinüberzusehen, unternahmen jedoch nichts weiter, als dass sie das Schwein mit den Haken an Bord zogen. Darius fing an, zu rudern und nahm sich vor, nicht wieder dick aufzutragen, um von sich abzulenken. Beim nächsten Mal zudem, wenn er wieder einen toten Körper im See zu versenken hätte, würde er zuvor den Kopf abgetrennt haben und, wenn nötig, auch die Gliedmaße. Die Kugel, die sicher noch im Schädel des Schweins steckte, konnte die Ermittler auf seine Spur führen. Doch Darius verwarf diese Sorge sogleich, denn ein Tierkadaver wie dieser wäre keine Ermittlungen wert und sollte unbesehen einer Tierkörperbeseitigungsanstalt zugeführt werden.
Hingegen schlich sich ein anderes Ärgernis in seine Gedanken, als er auf dem Uferweg seinen schweren BMW davonfahren sah. Offenbar hatte Kurt die Limousine für die Besorgungen im Baumarkt als Dienstwagen in Beschlag genommen. Die einst als Ausnahme zugestandene Billigung, dass das Hausmeisterpaar in wirklich dringenden Fällen auf seinen Fuhrpark zugreifen durfte, bestätigte sich ungefragt als Regelfall. Das Material, das sein Haus- und Gartenhelfer zu besorgen hatte, hätte auch in dessen altem Ford Platz gefunden und würde dort die zerschlissene Innenausstattung kaum weiter beanspruchen oder verschmutzen. Abgesehen davon wollte er selbst lieber mit dem BMW als mit seinem Porsche zur Mittagszeit nach Berlin fahren, und ohne bewusst darüber nachzudenken, entschied er sich in diesem Moment für den blonden Engel. Sie würde seine Einladung zu einem Mittagessen annehmen, würde mit ihm einen schönen Nachmittag in den bekanntesten Straßencafés verbringen, über die Prachtstraßen promenieren und mit ihm am Abend durch die Bars ziehen. Darius fühlte sich sicher, sie dann für die Nacht mit nach Hause zu bringen. Für den Augenblick blieb die brünette Assistentin des Hoteldirektors nur zweite Wahl und warum sollte er sich mit dem Guten begnügen, wenn das Bessere so leicht zu erobern war? Er hatte die Blonde in einem Bistro in der Friedrichstraße kennengelernt. Soweit er herausgefunden hatte, arbeitete sie als Juristin im wissenschaftlichen Dienst der Bundestagsverwaltung und war noch keine dreißig Jahre alt. Vor allem jedoch schien sie ihm gegenüber nicht abgeneigt, denn sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht und sich für dieses oder nächstes Wochenende verabredet. Darius nahm sein Mobiltelefon zur Hand und schaltete es ein, aus Sorge, dass etwas dazwischen gekommen wäre und sie bereits versucht hätte, das Treffen abzusagen. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass auf dem Sichtfeld kein Anrufversuch während der Zeit ohne Empfang vermerkt war. Beim zweiten Hinsehen fiel ihm jedoch ein blinkendes Symbol für den Eingang von Textnachrichten auf. Er erinnerte sich an Anjela und tatsächlich hatte sie ihm zwei Botschaften gesendet.
»Try draniu!«, lautete die Erste, gefolgt von einer Zweiten, welche gemäß dem Zeitstempel nur eine Minute später abgesandt worden war: »Dobrze ci tak.«
Liebevollere Abschiedsworte hätte er sich gewünscht und begriff, dass auch Anjela sich in den Chor der bitterlich Enttäuschten einreihte. Sie würde genauso hinter ihm herziehen wie all die anderen Verflossenen. Er fand darin Trost, dass sie im Grunde nicht besser zu ihm gepasst hatte als jede der bisherigen Liebschaften. Bereits der kleine Zeitabstand um einige Stunden, der nach ihrem Abgang entstanden war, reichte ihm aus, auf ihre Beziehung etwas nüchterner zurückzublicken. Das Einzige offenbar, dass sie wirklich verbunden hatte, war das Polnische. Sie war Polin, wie er gebürtiger Pole war, ungeachtet des österreichischen Passes, den er besaß. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass sie während der ganzen Zeit nur auf Polnisch miteinander gesprochen hatten. Ihr sozialphilosophisches Gerede, ihre tiefgründigen, nie endenden Vorträge über Ansichten und Einsichten der Gottväter ihrer Geisteswissenschaft stellten sich am Ende als Testläufe dar und Darius hatte als ihr Sparringspartner herzuhalten. In dieser Erkenntnis wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass Anjelas Mühe sich gelohnt haben sollte und sie doch noch einen Ruf auf einen Universitätslehrstuhl in Krakau, Posen, Danzig oder Warschau erhielte. Dann erst könnte sie dauerhaft auf Polnisch lehren, ihre Studenten von Habermas, Heidegger oder den weniger bekannten Gurus begeistern, und er würde ihr niemals wieder begegnen. In dieser Hinsicht glaubte er dennoch nicht an Utopien und an konkrete erst recht nicht. Von den vermeintlichen Segnungen des überstandenen Sozialismus sah Darius sich geheilt wie wohl die meisten seiner Landsleute auch. Wen in Warschau oder in einer anderen Universitätsstadt Polens interessierte Bloch? Auch auf Polnisch klang der Begriff 'Frankfurter Schule' furchtbar deutsch und bliebe auf ewig ein Reizwort historischer Verdammnis. Wohl deshalb konnte Anjela mit ihren bisherigen Bewerbungen um freie Professorenstellen in ihrem Heimatland niemanden überzeugen und auf einen Ruf würde sie aller Voraussicht nach ihr Leben lang vergeblich warten. Wie durch eine unangenehme Vorbestimmung festgelegt, bedeutete es eine Frage der Zeit, bis er ihr an jedem beliebigen Platz in Berlin und Umgebung wieder zufällig begegnen würde. »Try draniu«, wäre dann abermals alles, das von seiner Großherzigkeit übrig bliebe.
Darius vergaß zu rudern und in Ufernähe drehte ein sanfter Wirbel im Wasser das Boot langsam im Kreis. Er schloss Anjelas Nachrichten auf dem Sichtfeld und versuchte, nicht weiter an sie zu denken. So ließ er sich vom Panorama der Havellandschaft einnehmen und lernte von Neuem das Glück, das ihm zugefallen war, zu schätzen. Das Landhaus, in dem er lebte, das größte und schönste weit und breit, erstrahlte im Sonnenlicht. Auch vor dreihundert Jahren hätten Waldschlösschen und Sommersitze kaum prunkvoller gebaut werden können. Die Nettelblaads hatten dem Gutsbetreiber ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet, das ihm inzwischen einen glücklichen Lebensabend als Rosenzüchter auf St. Marteen ermöglichte. Anstelle des Gehöfts ließen Erikas Großeltern in ihrer herrschaftlichen Art die Mitgift in Ausgestaltung dieses prachtvollen Anwesens für die künftige Familienplanung ihrer Enkelin errichten. Deshalb glich auch das weiträumige Grundstück bis hin zum Ufersaum einem durchdachten Park, welcher sich zu jeder Jahreszeit vorbeifahrenden Ausflugsschiffen als beispielhaftes Schaustück der Gartenkunst präsentierte. Wie zur Untermauerung des Besitzstatus lag davor die 'OTTOMAR' vertäut an einem mächtigen Bootsanleger, der gut und gern noch Platz für zwei weitere Motorsegler gleicher Größe bot. Luxus und Pracht, wohin immer das Auge blickte. Bis auf das kleine Fischerhaus am Rand, das nun als Gästehaus diente, sowie der Porsche in der Garage gehörte Darius nur das wenigste von alledem. Der Zwillingstöchter und der obligatorischen Begleitperson wegen lief der BMW nicht auf seinen Namen, sondern wurde aufgrund von Vertragsklauseln sowie aus Sicherheitsgründen von Erika gestellt.
»Du wirst zur Made im Speck! Dich werden sie niemals wieder los«, hatte Tarik ihm bei der Hochzeit zugeflüstert und ihm die Ringe gereicht. Sein Trauzeuge hatte bislang recht behalten. Wäre die Aushandlung des Ehevertrags den üblichen Weg gegangen, hätte Darius auf sich allein gestellt ziemlich unbedacht unterschrieben. Mit einer beträchtlich dahinschwindenden Millionenabfindung unter Abtretung aller Rechte würde er nun andernorts für ein paar Jahre ein gutes Leben führen und in fernerer Zukunft alles verloren haben. Doch im Vorfeld der Eheplanung hatte Tarik ihm die Vertragsverhandlung aus der Hand genommen und sich um alles Weitere gekümmert. Der Hochzeitstermin war daraufhin mehrmals verschoben worden, so erbittert hatten die Unterhändler miteinander gestritten. Obwohl das recht bescheidene Anwaltshonorar über das wahre Ausmaß der Auseinandersetzung hinweggetäuscht hatte, war Tarik tatsächlich alles andere als ein Einzelkämpfer geblieben. Ohne sich klar darüber zu äußern, hatte er wohl auf eigene Rechnung in seine Strategie unverkennbar auch die Härte und Durchtriebenheit versierter angloamerikanischer Scheidungsanwälte einfließen lassen und damit die Justiziare der Gegenseite niedergerungen. Letztendlich musste Darius sein Patent nicht aus der Hand geben. Neben vielen anderen Vergünstigungen wurde ihm von der Dynastie für das Verwertungsrecht von geschützter Konstruktion und patentiertem Verfahren im Gegenzug eine uneingeschränkte, unentgeltliche und unbefristete Nutzung von Haus und Grund zugestanden. Soweit er keinen Vertragsbruch beginge, und Tarik würde immerwährend und peinlich genau darauf achten, sollte er im Ganzen für den Rest seines Lebens ausgesorgt haben. Obwohl ihm inzwischen ein Hausverbot für sämtliche Firmensitze und Niederlassungen erteilt worden war, blieb er dennoch auf der Gehaltsliste der Nettelblaad & Eisenhaupt GmbH & CoAG unkündbar als deren leitender Ingenieur eingetragen.
Nach nur noch wenigen Ruderzügen erreichte Darius den Bootssteg am Fischerhaus. Er hörte durch die offene Tür des Häuschens Bertas Gezeter, die drinnen mit dem Zimmer machen begonnen hatte und noch eine Weile brauchte, um der Unordnung und Zerstörung mächtig zu werden. Vorsichtig schwang er sich auf die Bretterplanken und schlich den Pfad entlang geräuschlos am Gästehaus vorbei. Sein Mobiltelefon klingelte und kaum eine Sekunde später lehnte Berta sich erbost aus dem Fenster und ließ ihren Unmut lauthals freien Lauf. Zunächst konnte er kaum verstehen, wer ihn anrief, und erst in einiger Entfernung erkannte er Tariks Stimme.
»Läuft das Techtelmechtel mit Deiner Professorin noch?«, erkundigte sich dieser.
»Nein, aus und vorbei!«, antwortete er knapp, und ehe er nachfragen konnte, was ihn sein Liebesleben anginge, zielte der Anrufer auf den eigentlichen Punkt seiner Neugier:
»Du triffst Dich heute mit der Blonden, hast Du mir neulich erzählt. Kam der Vorschlag für das Treffen von Dir oder von ihr?«
Darius musste kurz überlegen. Ihm wurde allmählich bewusst, dass Tarik einen unangenehmen Verhörton angeschlagen hatte.
»Ich glaube, von ihr«, erinnerte er sich und blieb darüber verunsichert, worin jemals eine Bedeutung läge, von wem von beiden die Initiative für ein Rendezvous ergriffen werden würde. Weil nur das Ergebnis zählte, hatte er sich über solche Fragen noch nie den Kopf zerbrochen.
»Vergiss sie und such Dir eine andere!«, kommandierte Tarik unvermittelt scharf. Darius holte Luft, um dagegen zu protestieren. Was fiel seinem alten Freund ein?
»Tu, was ich sage!«, fuhr Tarik ihn an und legte auf, bevor er auch nur ein Wort des Widerspruchs dagegen finden konnte.
Karin Allgaier versuchte das Gute im Übel des Stillstands zu finden und folgte dem bereits dritten Durchgang der Übungsdiskette für den Sprachtest mit ungebrochener Aufmerksamkeit. Mit wachsamen Blicken in den Schminkspiegel der Sonnenblende studierte sie genau ihre Tochter Lotta, welche in einem Begleitheft die richtige Auswahl aus den vorgeschlagenen Lösungen anzukreuzen hatte. Missmutig saß das Mädchen eingezwängt auf der vollgestopften Rückbank des Kombis und äffte mit tonlosen Grimassen die sympathische Lautsprecherstimme nach. Überdeutlich war ihr die Lust am Lernen vergangen, und würde Karin sie nicht unentwegt antreiben, wäre sie längst damit beschäftigt, über das Mobiltelefon gewohnheitsmäßig nichtige Kurznachrichten für unbekannte Freunde in ihr soziales Netz zu stellen. 'Highway to Hell. Urlaub wider Willen. Stecke im Stau. Hilfe!', würde sie mit flinken Fingern auf der Bildschirmtastatur tippen und ihre aktuelle Lagebeurteilung zum Besten geben, wen immer dies interessierte. Karin blickte dann und wann auch hinüber zu Ralf, der hinter dem Steuer inzwischen zur Salzsäule erstarrt zu sein schien. Tatsächlich verfolgte ihr Ehemann jedoch gebannt den Beziehungsstreit, der im Wagen vor ihnen zu eskalieren drohte. Vor gut zwei Stunden, als der Verkehrsfluss zumindest im Schritttempo die Hoffnung auf baldige Besserung genährt hatte, war das Paar noch ein Muster von Eintracht gewesen. Er hatte immer wieder seinen Arm um sie geschlungen und sie hatte sich bei ihm mit Liebkosungen von Körperteilen bedankt, die von den darum herumkriechenden Fahrzeugen aus nicht weiter einsehbar waren. Ralf hatte darüber Witze gerissen über die Karin kaum lachen konnte, denn was sollte Lotta von ihr denken. Insgeheim schätzte sie seinen Humor der derberen Art, denn für prüde hielt sie sich ganz und gar nicht. Soweit nicht offensichtlich, ließ sie sich ebenso von dem Schauspiel unterhalten, dass die beiden vor ihnen gerade aufführten: Sie schlug auf ihn ein mit allem, das ihr habhaft wurde. Er wehrte sich dagegen mit heftigen Stößen und Ausweichbewegungen, um nicht von Schirm, Handtasche, Thermoskanne, Straßenkarte, Hamburgerbrötchen, Deodorantspray und weiteren Reisebedarfsgegenständen getroffen zu werden. So leicht also offenbarten Fehlprogrammierung des Navigationsgeräts oder Missachtung der Stauumfahrung sich als Sollbruchstellen einer längst maroden Beziehung und zielten letzten Endes absehbar auf Trennung oder Scheidung. Karin verspürte eine gewisse Erleichterung, denn ihre Ehe erwies sich demgegenüber als ziemlich intakt. Ralf gab sich nicht der Mühe hin, jenes elektronische Orientierungshilfsmittel aus dem Handschuhfach zu nehmen, und für Zieleingaben, wären sie methodisch noch so durchdacht, hätte er niemals die Geduld. Ihr Gatte fuhr oft wie im Schlaf und nach Gefühl, wodurch den Mitfahrern nicht selten ein Erlebnis der besonderen Art beschert wurde. Kritik an der Fahrweise dieses Don Quichotte der Straßen zu üben, wäre überdies sinnlos. Nichtsdestoweniger ließ Karin sich lieber von Ralf chauffieren, als selbst zu steuern, und kaum etwas störte sie am Autofahren mehr als Radiohören. Gute-Laune-Moderatoren und Musikberieselung waren ihr seit jeher ein Graus. So blieb der Empfänger aus und anstatt Meldungen zu erfahren, würde sie die Übungsdiskette auch ein viertes oder fünftes Mal abspielen. Wenn Lotta damit ihren Punktestand nur leicht steigerte, bedeutete Karin auch der erbarmungslos längste Stau ein Nutzen. Die Sonne stach derweil noch immer vom Himmel und zur Gluthitze des späten Nachmittags trug der heiße weich gewordene Asphalt der Autobahn einen beträchtlichen Teil bei. Bei Fahrzeugen, die bereits Treibstoff sparen mussten, wurden die Motoren abgestellt. Weil damit den Insassen der Vorzug der Klimaanlage verloren ging, stiegen sie aus, vertraten sich die Beine oder suchten Schutz im Schatten der Büsche am Randstreifen. Einige Urlauber stellten Gartenstühle auf und begannen zu grillen, als spielte es keine Rolle, wo die Ferien verbracht wurden und sei es mitten auf der Autobahn, denn jeder Urlaubstag war kostbar. Wie durch eine Gedankenübertragung aufeinander abgestimmt, warfen Karin und Ralf gemeinsam einen Blick auf die Tankuhr. Bald würden auch sie den Motor abstellen, denn der Dieselverbrauch war bedingt durch den schweren Anhänger, den ihr Wagen hinter sich herzog, übermäßig hoch gewesen. Nun schien es sich zu rächen, dass sie die teurere Variante, ihren Messestand in Leichtmetallbauweise fertigen zu lassen, ausgeschlagen hatten. Die billigere, jedoch deutlich massivere Stahlkonstruktion, hatte sich als kaum handhabbar erwiesen, denn deren Montage setzte beinahe ein Ingenieursstudium voraus. Karin zweifelte an ihrer Fähigkeit und Kraft, aus den unüberschaubar vielen Einzelteilen in nur einem halben Tag in der Messehalle einen ansprechenden Schauraum für ihre Kollektion von Kuckucksuhren zusammenzubauen. Der Probelauf vor kurzem war erwiesenermaßen katastrophal verlaufen, alles war krumm und schief heruntergehangen und nichts hatte wirklich gut zusammengepasst.
»Übung macht den Meister«, hatte Ralf dennoch voller Zuversicht festgestellt und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, »Du wirst sehen, wie schnell wir fertig werden!« Seitdem waren ihre Zweifel nur umso größer geworden.
»Konzentriere Dich, meine Liebe!«, rief Karin ungehalten und ohne sich umzuwenden, »wir üben hier nicht zum Spaß!« Erneut mahnte sie ihre Tochter zur Disziplin, denn bei diesem Durchgang musste sie die Mindestpunktzahl endlich erreichen. Kaum dass die letzte Verständnisfrage zu einem vorherigen Zwiegespräch zweier Studenten über die Qualität des Mensaessens gestellt worden war, riss sie Lottas Antwortheft an sich. Diese wehrte sich noch nicht einmal dagegen, so gleichgültig war ihr die Vorbereitung auf den englischen Sprachtest als Teil der kommenden Aufnahmeprüfung geworden. Hastig legte Karin eine Schablone des Lösungsschlüssels über die Spalten mit den Auswahlfeldern und sackte nur wenig später tief und ernüchtert in den Beifahrersitz.
»So nicht, kleine Dame!«, schimpfte sie, »wenn Du den ganzen Aufwand leicht nimmst, vergiss dann bitte Eines nicht: Ich meine es ernst! Wir fahren nicht einen Meter weiter, ehe Du nicht die geforderte Punktzahl erreicht hast.«
»Ach, dann ist der Unfall da vorne also Deine Idee!«, patzte die Tochter zurück, »die Leute werden staunen, wenn ich aussteige und herumerzähle, dass dieser gottverdammte Stau allein Deine Schuld ist.«
»Haha!«, lachte sie daraufhin spöttisch auf, »wegen der Kindersicherung kannst Du gar nicht raus.«
»Ich bin kein Kind mehr«, brüllte Lotta wütend, mit hochrotem Kopf und in ohrenbetäubender Lautstärke, »Seit Du so lange den Wagen von Opa fährst, hast Du noch nicht einmal diese verfluchte Tür reparieren lassen!«
Karin tat so, als überhörte sie den Protest ihrer Tochter und stellte die Übungsdiskette entschlossen auf Anfang. Doch, noch ehe die euphemistisch süßliche Titelmelodie des Tonträgers abermals den Leidensgang durch die Übungslektionen einläuten konnte, presste Ralf beherzt den Ausschalter des Klangsystems. Ohne dass es ihm anzusehen gewesen war, hatte ihn das stundenlange, immer gleiche, einlullende und litaneiartige Englischgerede die Nerven gekostet. Ralf, Karin, Lotta, sie alle waren mit ihren Kräften am Ende.