Vom Leben und Streben der Eissturmvögel - Ninni Martin - E-Book

Vom Leben und Streben der Eissturmvögel E-Book

Ninni Martin

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Beschreibung

Eissturmvögel sind an Küsten der Nordmeere beheimatet. Ihre Suche nach Lebensräumen an steilen Klippen und schroffen Felsen ist rastlos und ungewiss. Ähnlich zu diesem unstillbaren Drang zur Ver­änderung verhält es sich mit Heinrich, Mahoud, Marlene und Tamara, die aus gehobenen, abgesicherten, engen, starren und aussichtslos gewordenen Existenzen ausbrechen. 'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' begleitet die Protagonisten auf dem Weg zur Selbstver­wirklichung und beleuchtet deren Selbsttäuschung und Skrupel, Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit. Zumal das Manuskript kein Lektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreib-, Formulierungs- und Formatfehler. Zumindest die vierte Überarbeitung im Juli 2024 sollte zu einer deutlichen Verbesserung geführt haben. Für die Buchdruckausgabe wurde eine kleine Schriftgröße gewählt, ca. 8 pt.

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Seitenzahl: 645

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Vom Leben und Streben derEissturmvögel

Roman

Oktober 2012

Ninni Martin

Impressum

Vom Leben und Streben der EissturmvögelNinni MartinText: © Ninni Martin, Oktober 20124. überarbeitete Fassung © Ninni Martin, Juli 2024Umschlag: © Ninni Martin 2021, 2024, CorelDRAWX3self-published with neopubli GmbH, Berlinself-published without [email protected]

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-759836-19-9

Bildnachweis:

Titelbild: Montage, Quellen verändert, Ninni Martin, CorelDrawX3,

Quellen: a.) Kirt Edblom 'A Lonely Existence', www.flickr.com/photos/kirt_edblom/15194617048, gemäß CC BY-SA 2.0. b.) Arne List, Havhestur, www.flickr.com/photos/arne-list/2518211959, gemäß CC BY-SA 2.0.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Eissturmvögel sind an Küsten der Nordmeere beheimatet. Ihre Suche nach Lebensräumen an steilen Klippen und schroffen Felsen ist rastlos und ungewiss. Ähnlich zu diesem unstillbaren Drang zur Ver­änderung verhält es sich mit Heinrich, Mahoud, Marlene und Tamara, die aus gehobenen, abgesicherten, engen, starren und aussichtslos gewordenen Existenzen ausbrechen. 'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' begleitet die Protagonisten auf dem Weg zur Selbstver­wirklichung und beleuchtet deren Selbsttäuschung und Skrupel, Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit.

Die Handlung ist vollkommen fiktiv und deshalb in jeder Hinsicht frei erfunden. Mögliche Überein­stimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen natürlichen und mit bestehenden oder vergangenen juristischen Personen sowie mit geographischen Gegebenheiten oder Begebenheiten sind oder wären deshalb rein zufällig und unbe­absichtigt.

Sämtliche Rechte in allen Ländern sind dem Autor, der diesen Roman unter dem Pseudonym Ninni Martin veröffentlicht, vor­behalten. Dessen Urheberschaft ist nicht zuletzt durch Veröffentlichung des Manuskripts über Verlag epubli GmbH, Berlin, im Oktober 2012 begründet, gemäß Order der ISBN sowie Autorenvertrag.

Zumal das Manuskript kein Lektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreib-, Formulierungs- und Formatfehler. Zumindest die vierte Überarbeitung im Juli 2024 sollte zu einer deutlichen Verbesserung geführt haben. Für die Buchdruckausgabe wurde eine kleine Schriftgröße gewählt, ca. 8 pt.

'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' im Oktober 2012 ist nach 'Ferkel fliegen nicht' im Januar 2010 die zweite Veröffentlichung des Autors. 'Kuckucks Uhr' folgte als dritter Roman im Oktober 2014.

gez.: Der Autor, im Oktober 2012 sowie Juli 2024.

I. Mahoud

1.

Das Eis war nicht dick genug und Schnee lag darüber. Bretter­bohlen, die den Aushub für einen Fundamentsockel hätten abdecken müssen, stapelten sich meterweit daneben. Jeder Polier hätte sie wieder zurück an ihren Platz geschoben. Auf diesem Teil der Bau­stelle hatte sich seit Langem kein Vorarbeiter mehr sehen lassen. Überhaupt gab es kaum gelernte Fachkräfte um diese Jahreszeit. Die Wenigen, die das ganze Jahr über in dem Subunternehmen durch­hielten, waren damit überfordert, immer neue Tagelöhner anzuweisen und zu beaufsichtigen. Der übergroße Termindruck und eine leicht­fertige bis fahrlässige Bauaufsicht ließen kaum Vorkehrungen für den Arbeitsschutz zu. Jeden Tag ereigneten sich Unfälle. Ein Werkstatt­wagen brachte die Verunglückten fort. Wohin wusste niemand. Nach besonders schlimmen Vorfällen wurde ein kleiner Zuschlag auf den Lohn versprochen, damit die aufkommende Betroffenheit die Arbeitsmoral nicht schmälerte. Meistens blieb es bei dem Versprechen. Der strenge Frost der vergangenen Wochen hatte in den letzten Tagen nach­gelassen. Dafür war über Nacht Schnee gefallen. Für Mahoud zeigte sich die Welt in einem für ihn noch unbekannten Kleid. Natürlich kannte er Winter aus dem Fernsehen. Jedoch konnte er sich nicht vor­stellen, wie Schnee sich anfühlt oder riecht. Bislang hatte er gedacht, dass Niederschlag einen Geruch haben musste. Alles Feuchte, das er kannte, roch nach etwas. Besonders Trinkwasser aus den Leitungen, das oft viel zu stark mit Chlor versetzt war, hatte er je nach Herkunft am Gestank zu erkennen gelernt. Auch hier, in einem Land mit Wasser im Überfluss, bildete er sich ein, selbst den Regen noch riechen zu können. Nun bot Schnee ihm eine völlig neue Erfahrung, wenn auch eine schlechte. Mahoud brach durch das Eis. Im Loch stand das Wasser metertief und er konnte nicht schwimmen. Mit den dicken Handschuhen fand er am Rand des Bruchs keinen Halt und der durchweichte Schnee wirkte wie Schmierseife. Der Parka quoll auf, wurde schwer und drückte ihn hinunter. An einer Eisscholle zog er sich noch einige Male hoch, um kurz Luft zu holen, ehe er davon wieder abrutschte. Seine Kräfte schwanden und die Kälte lähmte ihn. Er hätte besser laut um Hilfe gerufen. Aus dem Gefühl, ohnehin nicht verstanden zu werden, gab Mahoud kaum einen Laut von sich. Soviel er wusste, war er der einzige Araber auf dieser Baustelle. Hingegen arbeiteten hier Pakistaner, Angolaner, Ghanaer und Liberianer sowie einige Kasachen und Usbeken. Kaum jemand verstand Deutsch oder Englisch und gewiss niemand Arabisch. Sein Trupp von Drahtbindern war viel zu weit entfernt und jeder darin allein mit sich selbst beschäftigt, der Kälte zu widerstehen. Niemand von ihnen sollte bemerkt haben, dass er verloren gegangen war. Mahoud verspürte keine Angst, nur Ärger. Er verfluchte seinen Cousin, der ihm geraten hatte, in dieses Land zu ziehen. Vor Schnee, Frost und Winter hatte er ihn nicht gewarnt. Der Verwandte hatte keine Ahnung davon. Das Wasser trübte sich von aufgewirbeltem Schlamm und Lehm und er sah die Oberfläche über sich immer dunkler werden. Seltsame Gedanken, die sich niemals in Worte fassen ließen, gingen ihm durch den Kopf. Allmählich schwebte er abwärts, obwohl er sich immer leichter fühlte, so als würde er fliegen. Er nahm noch verschwommen Gesichter wahr, die unendlich weit oben über den Rand der Baugrube erschienen. Dann spürte er einen Stoß, so hart und durchbohrend wie ein Stich und verlor die Besinnung.

Mahoud hatte unglaubliches Glück. Ein Kranführer hätte ihn von weit oben nicht beinahe ertrinken sehen, wenn ein Lastwagen mit den Armierungsmatten nicht in einen Graben abgerutscht wäre. So hatte sich der Entladetermin um einige Minuten verzögert. Der Mann auf dem Mast hätte in alle möglichen Richtungen blicken oder in der Gondel einen kleinen Fernsehapparat anschalten können, um die Wartezeit zu überbrücken. Ein vereinzelter Bauarbeiter, der ziem­lich orientierungslos über ein Feld aus Eis und Schnee stolperte, wäre ihm kaum von Interesse gewesen. Dreißig Jahre Berufserfahrung ließen ihn das Unglück kommen sehen. Der Kranführer wartete geradezu darauf. Als es geschehen war, und Mahoud um sein Leben kämpfte, rief er über Funk um Hilfe und lotste die Heraneilenden heran. Einer der Männer stach mit einem Armierungseisen Mahoud hinterher und fasste ihn an der Kapuze. Mit Mühe und klammen Fingern zogen sie ihn aus dem Loch und legten ihn auf den Rücken. Mit seinem ganzen Gewicht drückte ein Usbeke Mahoud einige Male auf den Brustkorb. Dann rollten sie ihn zur Seite. Wasser und Erbrochenes flossen aus seinem Mund und Nase und er begann wieder zu atmen. Zwei der Arbeiter packten ihn auf einen Karren. Die anderen wurden von einem Polier wieder an die Arbeit gescheucht. In einem ungeheizten Baucontainer und auf einer Pritsche liegend fand Mahoud wieder zu sich. Er war allein. Jemand hatte eine Flasche Wodka vor ihm hingestellt. Er dachte zunächst nicht daran, den Alkohol anzurühren. Weil er noch immer in durchnässter Kleidung steckte und zu zittern begann, überlegte er, ob Schnaps ein wenig helfen würde. Mahoud widerstand der Versuchung. Nichts war ihm wichtiger als trockene, warme Sachen. Daran mangelte seine Versorgung ohnehin und überhaupt blieben auf der Baustelle Sauberkeit und Hygiene ohne Bedeutung. Tagelöhnern wie ihm standen keine heiße Dusche zu, nur Waschtröge mit bestenfalls lauwarmem Wasser. Mahoud sah sich um. Er befand sich in einem Gerätelager. Handtücher und warme Decken würde er hier nicht finden. Er wollte aufstehen und hinausgehen. Auf der entfernten anderen Seite der Baustelle befanden sich die Schlaf- und Wohncontainer. Dort hatte er in einer Sporttasche eine Garnitur Wäsche zum Wechseln verstaut. Doch die Beine erwiesen sich so wachsweich, dass er sich schnell wieder auf den Rand der Pritsche setzte. Dann hockte er einfach da, wartete und fror erbärmlich. Nach einer Weile betrat ein Kraftfahrer den Container, um ihn abzuholen. Sie stiegen in einen Kleintransporter. Mahoud sah auf der Rückbank bereits seine Tasche liegen. Über mehr Habseligkeiten verfügte er nicht, und nichts würde er auf der Baustelle zurücklassen. Das Polster des Beifahrersitzes sog sich voll mit Wasser, das aus seiner Kleidung sickerte. Er lehnte sich vorwärts und ließ sich von dem Heißluftgebläse am Armaturenbrett, so gut es ging, wärmen. Als sie die Baustellenausfahrt durchquerten, fuhr ihnen eine Kolonne von Fahrzeugen des Zolls entgegen.

»Mann, hast Du ein Glück!«, bekundete der Fahrer und nickte Mahoud zu. »Die filzen zurzeit jede Baustelle nach Schwarzarbeitern. Die würden Dich, wie alle anderen auch, festnehmen, schon morgen ausweisen und in ein Flugzeug setzen. Die Regierung greift durch und die Zöllner sind unerbittlich und machen vor nichts halt.«

Mahoud beherrschte die fremde Sprache noch wenig und doch verstand er, was der Fahrer ihm zu erklären versuchte. Seit Tagen gab es unter den Arbeitern kein anderes Thema. Ständig und eher mit Händen und Füßen erzählte einer von anderen, die auf Baustellen, in Restaurants oder Wäschereien festgenommen worden waren. Mahoud zweifelte, ob der Rat, die Ausweispapiere rechtzeitig zu vernichten, ein guter wäre. Zumindest konnte so die Ausweisung verzögert werden. Er dachte nicht daran, seine Identität zu verschleiern. Sobald er ausreichend Geld verdient hätte, wollte er ohnehin weiter­reisen und bis dahin durfte er sich nicht erwischen lassen. Dieses Land gefiel ihm nicht und bei dem Gedanken, einen Fehler begangen zu haben, verfluchte er abermals den Cousin. Der Fahrer verfiel in Schweigen. Sie fuhren stundenlang auf einer Autobahn erst in die Dämmerung und dann in die Nacht hinein. Allmählich begann Mahoud etwas trockener zu werden, dafür beschlugen die Seitenscheiben des Transporters zunehmend mit Kondenswasser. Mahoud nickte ein. Als er aufwachte, stand der Wagen auf einem Autobahnrastplatz. Der Fahrer war bereits ausgestiegen und öffnete die Seitentür von außen. Kalte Luft zog hinein.

»Endstation!«, rief er und riss Mahoud so derb vom Sitz, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Asphalt fiel. Ungerührt stieg der Mann zurück in das Fahrzeug und fuhr davon. Nach etwa hundert Metern stoppte der Transporter. Die Seitentür schwang auf und Mahouds Tasche flog im hohen Bogen heraus. Dann fuhr der Wagen wieder an und verschwand endgültig. Auf einem ähnlichen Rastplatz war Mahoud vor mehr als drei Wochen abgeholt und zur Baustelle gebracht worden. Er hatte das Areal die ganze Zeit nicht verlassen und wo er sich befand, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht, denn er hatte wöchentlich das Geld in bar erhalten. Schnell lief Mahoud zu seiner Tasche, öffnete sie und wühlte tief hinein. Den Umschlag mit den Ersparnissen fand er nicht. Einer der Tage­löhner musste ihn bestohlen haben. Vor einigen Tagen hatte er einen ertappt, wie dieser einem anderen Arbeiter das Geld aus der Tasche zog. Der Tagelöhner bot ihm davon etwas an, damit er ihn nicht ver­petzen würde. Mahoud nahm nichts an, doch verraten hat er den Dieb nicht. Das war ein Fehler gewesen, wie er nun begreifen musste. Unter der Innensohle eines Turnschuhs hielt er eine Banknote versteckt. Erleichtert stellte er fest, dass ihm wenigstens dieses Geld und ebenso der Ausweis noch geblieben waren. Er schulterte die Tasche und lief hinüber zu einem Restaurantgebäude. Im Eingangsbereich fand er eine Nische, die als Kiosk eingerichtet war. Er wechselte die Banknote in Kleingeld und kaufte Marken für Duschkabinen im Keller. Dort herrschte Betrieb. Viele Fernfahrer bereiteten sich für die Nacht vor und erledigten ihre Toilette. Im Umkleidebereich war die Luft ver­braucht, dämpfig und stickig, zumindest war es warm. Mahoud genoss das heiße Wasser und die Zeituhr für den Duschautomaten schien es nicht eilig zu haben. Nach mehr als einer halben Stunde hatte er erst zwei Marken geopfert. Dann kleidete er sich wieder an, soweit die trockene Unterwäsche reichte. Über Oberbekleidung zum Wechseln verfügte er nicht. Die nasse Hose, den Pullover und den Parka klemmte er zwischen die Lamellen eines Heizkörpers und setzte sich davor. Die Fernfahrer sahen ihn misstrauisch an. Sie hielten ihn für einen Obdachlosen, der in ihrem Badezimmer nichts verloren hätte. Ihm wurde bewusst, dass er tatsächlich obdachlos war. Der Dusch­bereich leerte sich allmählich und Mahoud musste keine weiteren An­feindungen fürchten. Er hoffte, die Nacht über vor der Heizung sitzen bleiben zu dürfen, doch dann erinnerte er sich an das Türschild mit den Öffnungszeiten. Spätestens ab Mitternacht würde er wieder auf die Straße geschickt werden. Ein Nachzügler betrat den Umkleide­raum und grüßte ihn wortlos. Als der Fernfahrer unter der Dusche stand, begann dieser ein Lied vor sich hin zu trällern, das Mahoud kannte. Unentwegt wurde es im letzten Jahr in den Radiostationen vieler arabischer Länder gespielt. Er summte mit. Die Melodie erinnerte ihn an seine Heimat und an bessere Tage. Als der Fernfahrer aus der Dusche stieg und sich abtrocknete, bemerkte er, dass Mahoud mitsang.

»Woher kommst Du?«, fragte er ihn auf Arabisch.

»Aus Katar«, antwortete Mahoud.

»Was hast Du ausgefressen?«

Mahoud schwieg. Der Fernfahrer zog sich an und setzte sich neben ihn.

»Wenn Du aus Tunesien oder Marokko kommen würdest, wäre es nicht ungewöhnlich, Dich so erbärmlich zu sehen. Aber Du bist Araber eines reichen Lands. Bestimmt hast Du im Wohlstand gelebt. Wer ist hinter Dir her? Ein Emir persönlich?«

Mahoud fühlte sich berührt und bedrängt zugleich, denn der Fremde schätzte ihn ziemlich treffend ein. Was ginge ihn sein Leben an? Um nicht abweisend zu wirken, schenkte er dem Mann ein un­verbindliches Lächeln. Er dachte zwar nicht daran, mit ihm über die Vergangenheit zu reden, doch würde er die Gelegenheit nur ungern verstreichen lassen, überhaupt mit einem Menschen zu sprechen. Seit Wochen suchte er ein Gespräch, und wenn es darin nur um Belang­loses ginge. Manchmal meinte er, seine Sprache bereits verloren zu haben.

»Nimm mich mit!«, bat Mahoud den Fernfahrer unversehens, »ich kann hier nicht bleiben.« Ihm war es gleich, wohin der Mann ihn bringen würde. Er wollte nicht viel erklären, denn er fühlte sich durchschaut und die Ziellosigkeit war ihm anzusehen.

»Gut«, sagte der Fernfahrer, »ich werde Dich ein Stück weit mit­nehmen. Ich brauche ohnehin jemanden, der mir morgen beim Ver­laden helfen wird.« Er warf ihm ein gewinnendes Lächeln zu und fragte ihn, ob er Hunger habe. Mahoud nickte, während er sich den nicht mehr triefend nassen Pullover überstreifte. Gemeinsam stiegen sie aus dem Untergeschoss die Treppe hinauf und setzten sich in das Restaurant. Der Fernfahrer bestellte für ihn mit, ohne sich zu vergewissern, was er essen wolle. Ihm wurde ein schlichtes und preiswertes Gericht serviert, ohne dass der Fremde sich dafür verausgaben musste.

»Woher kommst Du?«, fragte Mahoud den Gastgeber, der auf ihn dem Wesen nach einfach, offen und ehrlich wirkte. Er ver­mutete, dass dieser genauso getrieben wurde, nur zu sprechen, um die Muttersprache nicht zu verlernen. Wie angenehm erschien es deshalb beiden, nicht nach fremden Wörtern zu suchen, um am Ende doch nicht verstanden zu werden.

»Aus Marseille. Ich bin dort geboren. Von meiner Herkunft her bin ich Marokkaner. Ich besitze zwar einen französischen Pass und fühle mich dennoch nicht als Franzose. Französisch habe ich nie richtig ge­lernt, weil es in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, nicht nötig war«, erzählte der Fernfahrer, während er aß. Mahoud erkundigte sich, was den Marokkaner hierher geführt habe, zumal es sich in Südfrank­reich um diese Jahreszeit erträglicher leben und arbeiten ließe. Die Unterhaltung kam in Gang und sein Gastgeber zeigte sich redselig. Er fahre für eine französische Spedition vor allem Tiertransporte. Die Touren reichten unentwegt von einem Ort zum anderen, ohne dass Grenzen von Bedeutung seien. Allein die Aus­lastung des Fahrzeugs zähle sowie Umsatz und Gewinn. So reise er bereits seit Wochen ausschließlich in den Ländern Nord- und Ost­europas umher. Der Disponent würde andere Fahrer für Einsätze in südlichen Regionen bevorzugen. Natürlich quäle ihn inzwischen das Heimweh. Bald jedoch würde er alles hinwerfen, endlich heiraten und sich eine andere Arbeit suchen.

Mahoud hörte zu und dachte zurück. Auch er hatte eine Frau ge­funden und war davor gestanden, zu heiraten. Dafür hätten sie ihm den Kopf abgeschlagen. Mahoud verdrängte die Erinnerung und schenkte dem Kraftfahrer wieder seine Aufmerksamkeit. Der Marokkaner erzählte noch eine Weile von sich und beschrieb die Gegend um Fes, woher seine Eltern stammten und wohin er im Alter ziehen würde. Es gäbe keinen besseren Ort als dort, um in Ruhe alt zu werden. Marseille sei dann eine schöne Stadt, wenn sich auch Geld verdienen ließe, solange es überhaupt möglich sei, zu arbeiten. Für Alte, Kranke und für Einwanderer hätten Franzosen dort nicht viel übrig. Die Bedienung erschien, um abzurechnen und um sie hinauszubitten. Der Service würde um Mitternacht schließen. Etwa 50 Kilometer die Autobahn entlang gäbe es jedoch eine weitere Raststätte, welche rund um Uhr geöffnet bliebe. Mahoud und der Fernfahrer verließen das Restaurant und gingen über den Parkplatz auf den Lastwagen mit Anhänger zu. Unter Planen waren die Ladeflächen voll mit Transportkisten, in denen Hühner dicht gedrängt eingeschlossen waren. An einer Seite hob der Marokkaner die Plane an und kontrollierte mit einem flüchtigen Blick die Fracht. Dann fluchte er. Die Zahl der verendeten Tiere hatte deutlich zugenommen. Er hätte das Ziel, den Schlachthof einer bekannten Handelskette, längst erreicht haben sollen, jedoch war er stundenlang in einem Stau hängen geblieben. Noch dazu hatte ihn eine Polizeistreife herausgewunken. Frachtpapiere und Fahrtenschreiber waren genau überprüft worden. Die Kontrolleure fanden nichts und suchten umso mehr nach dem Haar in der Suppe. Bei einem Reifen wurden sie fündig, bei dem das Profil zu sehr abgefahren war. Der Fernfahrer musste von einem Händler einen Ersatz liefern lassen und montieren, ehe er weiter ziehen durfte. Das große Sterben unter den Hühnern hatte derweil längst begonnen, ohne dass die Kontrolleure sich daran störten. Mahoud wollte an der Beifahrerseite einsteigen.

»Du fährst!«, bestimmte der Fernfahrer kurz und nahm selbst auf dem Beifahrersitz Platz.

»Ich kann nicht!«, versuchte Mahoud einzuwenden, »ich habe noch nicht einmal einen Führerschein.«

»Den brauchst Du auch nicht. Du musst nur einige hundert Kilo­meter geradeaus fahren. Alles andere regeln die Automatik und der Tempomat.« Der Fernfahrer gab ihm einige Anweisungen, um das Fahrzeug zu starten und anzufahren. Er achtete gerade noch darauf, dass Mahoud den Lastzug auf der Autobahn einfädelte. Dort herrschte kaum Verkehr. Als er am Steuer sicherer wirkte, verkroch der Fernfahrer sich im hinteren Teil der Kabine in eine Koje. Bald hörte Mahoud ihn schnarchen. Alles schien ihm wie ein Traum. Auf den Golfplätzen war er als Heranwachsender mit Freunden nachts auf Trolleys um die Wette gefahren: steuern, Gas geben, bremsen. Unglaublich, dass ihm die dort erworbene Fahrkunst nun von Nutzen wurde. Er fühlte sich viel zu aufgeregt, um sich von der Müdigkeit des Fernfahrers anstecken zu lassen. Straßenschilder mit den Kilometerangaben tauchten im Scheinwerferlicht auf und zogen an ihm vorbei. Sie sagten ihm nichts. Er kannte die Städte nicht und das Ziel dieser Tour war ihm unbekannt, soweit für ihn der Weg nicht bereits ein solches bedeutete. Für den Moment war Mahoud zufrieden. Er fror nicht und fühlte, dass die Kleidung allmählich trockener wurde. Er brauchte nirgendwo ankommen und wäre noch Millionen Kilometer weiter gefahren. Dunkelheit und Eintönigkeit nahmen ihm das Zeitgefühl. In den frühen Morgenstunden passierte er eine Unfallstelle. Eine Zugmaschine wurde gerade von einem Autokran aufgerichtet. Die Wechselbrücke ragte noch umgestürzt aus der Böschung und unzählige Bierkästen lagen über die halbe Fahrbahn verstreut. Von den Lichtern und Geräuschen wurde der Marokkaner wach. Er tippte Mahoud an und mahnte ihn, langsamer an der Unfallstelle vorbeizufahren. Als sie wieder Fahrt aufnahmen, fragte ihn der Fernfahrer, ob er sich mit Hühnern auskennen würde.

»Sollte ich? Gebe ich dafür den Anschein?«, antwortete Mahoud und abermals wunderte er sich darüber, wie gut ihn der Mann einschätzte. Als sie auf dem Parkplatz die Planen angehoben hatten, war diesem aufgefallen, dass er das Federvieh mit Verstand gemustert hatte.

»Ich habe Hühner und Tauben gehalten«, erklärte Mahoud und er hätte darüber mehr erzählt. Der Fernfahrer ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen und mutmaßte:

»Sicher nicht der Eier wegen und auch nicht, um sie zu züchten.«

»Das stimmt«, bestätigte Mahoud. Offenbar beschäftigte den Marokkaner bereits eine Ahnung. Er kam der Nachfrage zuvor und fuhr fort:

»Ich bin Falkner«, sagte Mahoud stolz. »Mir dienten Küken und Tauben als Futter sowie als Lock- und Beutetiere für meine Vögel.«

Der Fernfahrer blickte ihn prüfend an:

»Als Falkner in Katar warst Du bestimmt ein Künstler gewesen, ein geachteter und gemachter Mann. Hier hingegen bist Du nichts. Du musstest Dir dort eine goldene Nase verdient haben. Was hat Dich hierher getrieben? Du bist völlig am Ende. Was hast Du ausgefressen?«

»Du bist ziemlich neugierig«, entgegnete Mahoud widerstrebend, über seine Lebensgeschichte zu reden, soweit sie über die Falknerei hinausging.

»Nein, ich vermute nur, dass wir vielleicht eine ähnliche Ver­gangenheit haben«, erklärte der Marokkaner. »Sieh mich an! Ich bin kein Fernfahrer, sondern Goldschmied und habe in der Werkstatt meines Onkels gearbeitet. Einmal hat er nachgewogen und zwei Gramm Gold fehlten. Er bot mir keine Gelegenheit, den Verlust aus eigener Tasche auszugleichen. Er zeigte mich sofort an.«

»Und deshalb fährst Du nun Tiertransporte?«, fragte Mahoud un­gläubig.

»Vor Gericht konnte mein Onkel den Diebstahl nicht beweisen, und ich wurde frei gesprochen. Am Tag nach der Verhandlung habe ich von ihm eine Entschuldigung verlangt und dass er mich weiter­beschäftigen solle. Er hat mich ausgelacht. In der Wut habe ich ihn bei­nahe erschlagen und ihm die Knochen gebrochen. Dafür bin ich sieben Jahre im Gefängnis gesessen. Ich habe Schulden aus unbeglichenen Anwalts- und Gerichtskosten und zahle noch immer Schmerzensgeld. Jeden Tag weiß ich, warum ich Lastwagen fahre. Als Goldschmied war ich begabt, ein Meister, ein Künstler so wie Du wohl als Falkner. Ich hätte in Lyon oder in Paris mit einem eigenen Atelier Fuß fassen können und ein gutes Leben erwarten dürfen. Wenn mir heute Leute begegnen, die sich etwas zuschulden kommen ließen, kenne ich deren Last, denn ich kann ihnen nachfühlen. Dir jedoch erscheint meine Menschenkenntnis nur wie Neugierde!«

Der Marokkaner versuchte Mahoud hervorzulocken, damit auch er über sich zu erzählen begänne.

»Ich habe die Nichte eines Ministers geschwängert«, gab Mahoud zu und dachte, dass ihn der Fernfahrer sofort mit zotigen An­spielungen aufziehen würde. Stattdessen schlug er ihm zunächst an­erkennend auf die Schulter und erst nach einer langen Weile sagte er:

»Du siehst gut aus und beeindruckst! Sie hätten eben auf die Kleine gründlich aufpassen müssen.« Gut gelaunt verteilte der Marokkaner ein Kompliment und begann wie erwartet und doch verspätet über den Fehltritt zu witzeln. Bald lachten beide über verschiedene lustige Vorstellungen vom Obachtgeben, obwohl Mahoud nicht wirklich zum Lachen zumute war. In dennoch guter Stimmung zog die Fahrt sich eine weitere Stunde hin. Bei Anbruch der Dämmerung fuhren sie auf einen Parkplatz am Straßenrand, um auszutreten. Danach über­nahm der Fernfahrer selbst das Steuer. Wenig später erreichten sie eine Geflügelschlachterei in einem namenlosen Industriegebiet einer hässlichen mittelgroßen Stadt. Ein Mitarbeiter des Schlachthofs lotste sie auf einen abgelegenen Stellplatz fernab von den Betriebsgebäuden. Er besah die Fracht und ordnete in einem mürrischen Kasernenhofton das Umpacken des Geflügels an. Damit hatte der Fernfahrer gerechnet. Mahoud staunte, als er von ihm angewiesen wurde, noch lebende gegen tote Hühner in den Kisten umzusetzen und nach diesem Muster die gesamte Ladung umzusortieren. Gemeinsam brauchten sie für das Umpacken eine gute Stunde. Am Ende waren lebende und tote Tiere sauber voneinander getrennt und kistenweise jeweils auf Lastwagen oder Anhänger verteilt. Den Hänger mit den verendeten Hühnern ließen sie zurück, als sie zu gegebener Zeit mit der lebenden Fracht an die Laderampe gerufen wurden. Eine Schar von Tagelöhnern begann mit dem Entladen. Ein Amtstierarzt ging die Runde, begutachtete die Ware und füllte einen Kontrollbogen aus. Bald verschwand der Kontrolleur im Büro. Diese Gelegenheit wurde genutzt, um von dem Fernfahrer auch den Anhänger an die Rampe fahren zu lassen. Die toten Hühner wurden entladen, sofort aus den Kisten entnommen und nach unten hängend auf die Transporthaken für die Schlachtstraße gesteckt. Alles musste zügig geschehen. Mahoud wurde von einem Vorarbeiter angeherrscht, nicht nur herumzustehen, sondern mitzuhelfen. Der Tierarzt schien sich mit der Pause be­sonders lange Zeit zu lassen. Möglicherweise wusste er, was vor sich ging. Sobald auch das letzte Huhn geköpft, ausgeblutet, federlos und ohne Innereien in die Zerlegestraße einmünden würde, ließe er sich wieder blicken. Erst dann würde er sich von der tadellosen Güte aller Schlachtkörper überzeugen. Mahoud arbeitete flink und geschickt und sah, wie der Fernfahrer sich mit dem Vorarbeiter besprach und sie mit Handschlag eine Verabredung trafen. Schließlich schritt er auf ihn zu, um sich zu verabschieden.

»Leider kann ich Dich nicht weiter mitnehmen und wünsche Dir viel Glück«, sagte er und reichte ihm die Hand. Mahoud fiel es schwer, die Enttäuschung zu verbergen. Gern wäre er mit bis nach Frankreich gefahren, auch wenn es noch Wochen hätte dauern können, bis eine Frachtroute dorthin führte.

»Du kannst hier bleiben«, bot der Fernfahrer an. »Ich habe mit dem Vorarbeiter gesprochen, und sie lassen Dich auch ohne Papiere arbeiten. Auf dem Betriebsgelände gibt es eine Sammelunterkunft. Sie zahlen nicht schlecht. In ein paar Wochen wirst Du genug Geld beisammenhaben, um allein weiterzukommen.«

Mahoud nahm es als einen schwachen Trost. Er dankte dem Marokkaner und wünschte ihm eine gute Fahrt. Den ganzen Vormittag arbeitete er an verschiedenen Stellen der Zerlegestraße, wodurch der Schichtleiter seinen Einsatzwillen sowie Fingerfertigkeit und Auf­fassungsgabe beurteilen konnte. Er schien mit ihm als neuen Arbeiter zufrieden zu sein. In der Mittagspause führte er ihn zu den Unter­kunftsräumen im Keller einer Lagerhalle. Ein gruftartiger Zugang unter einer Bodenklappe sollte nicht leicht zu finden sein und blieb tagsüber mit Verpackungskisten verstellt. Diese waren zunächst bei­seite zu schieben, hätte jemand außer Plan die Räumlichkeiten aufzusuchen. Mahoud ahnte, was auf ihn als Neuen zukommen würde, und das Kistenstapeln versprach, morgens und abends zu einer täglichen Übung zu werden. Der Schichtleiter wirkte nicht gerade freundlich und sprach recht gut Englisch. Er erklärte ihm die Verhaltensregeln. Vom Geld und der Höhe der Entlohnung erwähnte er nichts. Mahoud wagte es nicht, danach zu fragen. Für die restlichen Minuten der Mittagspause schickte der Vorarbeiter ihn zum Essen. Es gab Hühnersuppe und nichts anderes hätte er erwarten dürfen. Am Nachmittag traf ein weiterer Tiertransport ein. Das Sortieren toter und lebender Tiere vollzog sich nach dem gleichen Muster wie am Morgen. Gegen Abend wurden die Arbeiter mit Hochdruckreinigern zum Säubern der Schlachträume und Hallen eingeteilt. Mahoud erhielt keinen Gehörschutz und das laute Zischen und Tosen des Wasserstrahls führte zu einem unerträglichen Lärm. So hörte er nicht den Warnruf des Vorarbeiters. Er bemerkte nicht, dass er allein mit einem Afrikaner, der ebenso taub wie er war, zwischen den Förderbändern herumstand. Unversehens stürmte eine Gruppe Uniformierter heran und packte zu. Ein Vollzugsbeamter redete auf ihn ein, ein anderer auf den Afrikaner. Dieser zeigte sich gut vorbereitet und spielte zunächst vor, als würde er nichts von alledem verstehen. Als ihm die vorgebliche Ahnungslosigkeit nicht länger weiterhalf und der Beamte die Geduld mit ihm zu verlieren drohte, wechselte er plötzlich in ein einwandfreies Englisch. Wie ein Wundermittel zog der Afrikaner einen Hochschulausweis aus der Tasche. Die Visitenkarte einer Anwaltskanzlei, die der unbestreitbare Studiosus gleich darauf nachreichte, beeindruckte den Zöllner weitaus mehr. Offensichtlich ahnte der Beamte voraus, was ihm blühte, wenn er den Studenten nicht sofort laufen ließe. Mit einigen ermahnenden Worten durfte der Afrikaner gehen. Neidvoll erkannte Mahoud, dass er mit solchen überzeugenden Argumenten nicht aufzuwarten in der Lage war. Nun bereute er, sich allein darauf verlassen zu haben, niemals gefasst zu werden. Von zwei Zöllnern wurde er zu einem Kleintransporter geführt. Als sie die Verladerampe passierten, sah er seine Sporttasche in einer Ecke liegen. Er bat die Aufpasser, diese mitnehmen zu dürfen und diese ließen die Bitte zu. Neugierig geworden überprüften sie den Inhalt. Dabei fanden sie den Ausweis und waren zufrieden, endlich einen Einwanderer aufgegriffen zu haben, dessen Identität sie ermitteln konnten. Ein Glücksgriff wie dieser war ihnen in der Vergangenheit wohl nicht oft gelungen. Die Beamten fuhren Mahoud in ein Untersuchungsgefängnis. Auf der Fahrt dorthin gingen ihm die vergangenen Wochen durch den Kopf. Er hatte hart gearbeitet und sich geschunden. Gelohnt hatte sich die Mühe nicht. Beinahe wäre er ertrunken. Welcher große Fehler war ihm unterlaufen? Ihm lag es fern, sich selbst zu bemitleiden oder zu bedauern. Jedoch bereitete ihm die Ungewissheit darüber, wie es nun mit ihm weiterginge, Unruhe und Angst, denn die Rückweisung in sein Heimatland käme einem Todesurteil gleich. Mahoud wurde in eine Zelle gebracht. Ein Beamter erklärte ihm auf Englisch die Rechtslage und den Ablauf des kommenden Verfahrens. Für den nächsten Tag sei ein Dolmetscher für Arabisch bestellt. Allein in der Zelle setzte er sich auf die Pritsche. Bald stand er auf, ging hin und her und fühlte sich wie ein Tier im Käfig. Nur langsam wich die Angst und allmählich nahm ihn eine seltsame Gleichgültigkeit ein.

2.

Oberregierungsrat Beck saß am Schreibtisch, sah aus dem Fenster und gönnte sich eine Pause. Der Schneefall war am Vormittag in Regen übergegangen und übertünchte die schmucklose Fassade auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs mit einem düsteren Grau. Obwohl es auf die Mittagszeit zuging, blieb es draußen noch so dunkel, dass in etlichen Büros das Licht brannte. Einige unbeleuchtete Zimmer erinnerten Heinrich daran, dass nicht wenige der Kollegen die Faschingswoche für einen Skiurlaub nutzten. Er hätte sich besser ebenso freigenommen, um auf der Baustelle nach dem Rechten zu sehen. In diesem Jahr gab es kaum Brückentage. So war er ge­zwungen, mit dem Urlaub hauszuhalten, denn in den Sommermonaten würde er viel freie Zeit für eigene Renovierungsarbeiten zu opfern haben. Heinrich kämpfte mit dem Entschluss, noch vor der Mittags­pause mit der Bearbeitung einer neuen Akte zu beginnen. Eine leichte Arbeitswoche erwartete ihn. Zwischen Aschermittwoch und dem Wochenende standen nur drei Verhandlungstermine auf dem Plan. Die jeweiligen Stellungnahmen hatte er bereits in der Vorwoche verfasst und er kannte Richter und Anwältin, auf die er jedes Mal von Neuem treffen würde. Ebenso war er ihnen nicht fremd. Überraschungen sollte es für niemanden geben. Heinrich Beck stellte sich ohnehin nicht als ein Mensch dar, der sich zu unerwarteten oder gar außerordentlichen Aktionen hinreißen ließe. Seine Vorgesetzten schätzten an ihm diese Berechenbarkeit im Mittelmaß. Bei Kollegen hingegen galt er als Langweiler und Aktenfresser sowie bei Richtern und Rechtsanwälten als seelenloser Bürokrat. Wann immer ein Entgegenkommen not­wendig wurde und Verfahren mit Vergleichen abgeschlossen werden sollten, handelte Heinrich stets nach dem gleichen Muster: Einmal festgezurrte Grundsätze hatten für die Ewigkeit zu bestehen. Seit fünfzehn Jahren, länger als jeder andere Kollege, ging er dieser Arbeit nach. Sie bereitete ihm keine Freude, bot ihm keine Heraus­forderungen, sorgte nicht für Abwechslung, führte nicht zu Erfolgs­erlebnissen und brachte ihm wenig, eigentlich keine Bestätigung seiner selbst. Das Gemenge an Trostlosem kümmerte ihn kaum, denn nach dem Besonderen suchte er nicht. Er war damit zufrieden, als Jurist im gelernten Beruf zu arbeiten und dafür ein sicheres, regelmäßiges und angemessenes Gehalt zu erhalten. Heinrich kannte Studienkollegen von früher, die als Notare, Wirtschaftsprüfer, Steueranwälte oder Geschäftsführer ein Vielfaches verdienten. Diese besaßen Ferienhäuser und Jachten und hielten sich in Zweit­wohnungen Geliebte wie bescheidenere Normalverdiener Kanarien­vögel. Kehrseitig erfuhr Heinrich von zwei Studienfreunden, die sich umgebracht hatten. Er hingegen verstand es, mit der Mittelmäßigkeit gut zu leben. Anfangs und in einer kurzen Ehrgeizphase war ihm der berufliche Aufstieg noch leicht gefallen und hatte ihn mit allen Ver­heißungen des gesellschaftlichen Vorteils gelockt. Bald verloren die Verlockungen den Reiz und Heinrich hatte mit der Karriereleiter nichts weiter anzufangen gewusst. Warum und wozu hätte er sich für einen andauernden Gipfelsturm schinden oder verstellen sollen? Sicherlich begünstigte eine ausgeprägte Antriebslosigkeit seinen eher steten, wenn gleich nicht unüblichen Entwicklungsweg. Er wurde zu einem Menschen, der andere weder um ihr Glück beneidete noch um ihr Unglück bedauerte. Offenbar zeichnete gerade diese Eigenheit ihn für die Arbeit als Jurist in einer höheren Ausländerbehörde besonders aus. Persönliche Gefühle oder gar Anteilnahme am Schicksal anderer wären hierbei nur hinderlich. Im Tagesgeschäft des Ausweisens, Ab­schiebens, Duldens oder Anerkennens zählten vor allem Routine und Berechenbarkeit. Heinrich Beck blieb es verborgen, dass ihm bereits vor Jahren ein damaliger Vorgesetzter Gefühlsblindheit und emotionale Führungsschwäche attestiert hatte. Ein entsprechender Vermerk war in die Personalakte nicht eingegangen. So lag es wohl an dieser geheimen Beurteilung, die dazu führte, dass er niemals für eine Beförderung zum Ressortleiter vorgeschlagen wurde. Allerdings hatte Heinrich sich nicht nach einem Aufstieg in eine Führungs­position gesehnt. Ihn plagte kein Misstrauen, weil er sich längst hätte übergangen fühlen müssen, und er sah keinen Grund, Nachforschungen anzustellen.

Heinrich blickte hinüber zum Kollegen und beobachtete, wie der junge Assessor sich mit einer abschließenden Textpassage mühte. Ihm fehlten eindeutig Erfahrung und etwa zwei Dutzend Textbausteine, über die hingegen Heinrich wie ein Jongleur verfügte. Im Handumdrehen konnte er juristische Standardphrasen auf nahezu jeden nur denkbaren Einzelfall anpassen. Ottmar von Mannwitz hieß der Nachwuchsbeamte. Er hatte im letzten halben Jahr, seitdem er in das Ressort versetzt worden war, kaum ein Verfahren für sich entscheiden können. Bei den Richtern galt er als eloquentes, wenngleich auch als ziemlich unfähiges Großmaul. Die Anwaltschaft begann, auf von Mannwitz herabzusehen, und kaum würde er den Respekt der Anwälte wiedererlangen. Vor Wochen hatte der Abteilungsleiter Heinrich gedrängt, den Assessor unter die Arme zu greifen und ihn für die Dienstprüfung besser vorzubereiten. Die Hilfe hatte nicht viel gebracht, außer eine Art von Alibi, und Ottmar von Mannwitz erwies sich noch immer als vollkommen unbelehrbar. Ungeachtet seiner unzureichenden Eignung für den Staatsdienst sollte der Nachwuchsbeamte am frühen Nachmittag in einer kleinen Feierstunde zum Regierungsrat ernannt werden. Dieser offizielle Akt würde anschließend in eine amtsinterne Rosenmontagsfestlichkeit mit ausgiebigem Umtrunk übergehen, wovor es Heinrich bereits grauste.

»Lust auf einen Kurzen?« Der Assessor zerknüllte das Blatt mit dem Textentwurf und beförderte es mit sportlicher Leichtigkeit zielsicher in den gemeinsamen Papierkorb. Übung machte den Meister. Dann holte er aus einer Schublade zwei Whiskeyfläschchen hervor und warf eines davon Heinrich zu, der es mit sicherer Hand fing. Auch hier machte Übung den Meister. Sie prosteten einander zu und tranken in einem Zug.

»Putz Dir nachher die Zähne und nimm Mundwasser!«, mahnte Heinrich den Assessor. »Der Regierungspräsident ist empfindlich. Als trockener Alkoholiker befindet er sich gerade auf einem Kreuzzug gegen Suchtgefahren im Amt. Anstatt Dir die Ernennungsurkunde zu überreichen, wird er Dich in eine Therapie schicken.«

Ottmar von Mannwitz lachte unbekümmert über den Rat, ob­wohl er einzuordnen hätte, dass die Warnung durchaus nicht als Scherz gemeint war. Heinrich lächelte milde zurück. Mehr konnte er für seinen Schützling nicht bewirken und beinahe bedauerte er, ihn bald als Zimmergenossen zu verlieren. Längst hatte er auf­gehört, die Nachwuchskräfte zu zählen, die an ihm vorbei in die Be­amtenlaufbahn der höheren Ränge weit nach oben geschleust wurden. Er vermutete, dass er Ottmar nach einigen Monaten vergessen hätte und ihm dessen Stimme oder Gesicht entfallen wären. Nach einem Jahr legte er sich auch auf den Namen nicht mehr fest. Er käme eher auf Edgar von Gallwitz oder auf einen ähnlichen Namen, wenn er auf den ehemaligen Kollegen angesprochen werden würde. Am Morgen hatte ihm der Assessor ein Rundschreiben herübergereicht, in dem auf eine Ausschreibung für die Besetzung einer freien Position im Baurechtsamt hingewiesen wurde. Warum er sich nicht ebenfalls darauf bewerben möchte, hatte von Mannwitz ihn gefragt. Nach fünf­zehn Jahren Ausländerbehörde müsse schließlich jeder den Wunsch nach einer beruflichen Veränderung hegen. Sicher bestünden für ihn beste Aussichten, für die Baurechtsstelle berücksichtigt zu werden. Heinrich schüttelte über den Vorschlag den Kopf und sagte nichts da­zu. Er schätzte, dass diese Position dem werdenden Regierungsrat von Mannwitz längst zugeschoben war. Nichtsdestominder würde dieser auch dort jämmerlich versagen. Heinrich wünschte von Mannwitz einen Mentor, der ihn wenigstens vor dem gröbsten Unfug bewahrte. Er hingegen brauchte nur aus dem Fenster zu blicken, um sich be­stätigt zu fühlen, dass berufliche Veränderungen für ihn einen Alp­traum bedeuteten. Über nasse Baustellen zu waten, sich beinahe die Füße abzufrieren, mit abgehobenen Architekten und verschlagenen Bauherren zu streiten, widerstrebte ihm zutiefst. Es ginge stets um viel Geld und er hätte sich mit erstklassigen Rechtsanwälten herumzu­schlagen. Im Vergleich dazu schien ihm der Umgang mit Asylanten ein Kinderspiel. Die Anwälte, mit denen er sich auseinandersetzen musste, hielt er zumeist für Idealisten und Gutmenschen, die nicht viel auf Streitwert und außerordentliche Honorarabrechnungen gaben. Aus Mangel an Gier blieben diese zahnlos. Sie bissen ihn nicht und Oberregierungsrat Heinrich Beck lernte, sein Arbeitsumfeld in jedem Fall von Neuem zu schätzen. Der Whiskey wärmte ihn von innen auf. Ottmar von Mannwitz schlug eine zweite Runde vor, die aus Heinrichs Schubladenvorrat bestritten werden sollte. Dieser lehnte ab und sah auf die Uhr. Er würde noch eine halbe Stunde warten müssen, bis er in die Mittagspause gehen durfte. Dennoch räumte er den Schreibtisch leer, stand auf und griff an der Garderobe nach dem Mantel. Heinrich hatte es eilig. Bis zur Mittagsstunde war er mit der Anwältin der drei aktuellen Fälle für ein kurzes Gespräch in einem Café verabredet. Anschließend hatte er vor, einen Bankberater von seinen Plänen zu überzeugen.

»Wir sehen uns auf Deiner Ernennungsfeier. Wenn jemand nach mir sucht, sage einfach, ich wäre auf der Toilette«, bat Heinrich den Assessor um eine Ausrede. Verstohlen warf er einen prüfenden Blick in den Stockwerksgang, denn niemand sollte bemerken, dass er ging. Er verließ das Gebäude des Präsidiums an einem Seitenflügel durch einen Notausgang, den die meisten Bediensteten im Haus für fest ver­schlossen hielten. Nur wenigen Mitarbeiter war diese Möglichkeit ge­läufig, die elektronische Zeiterfassung an der Pforte zu umgehen.

Im Café wartete die Anwältin bereits auf Heinrich. Ihr schien wie üblich die Zeit zu drängen. Er kannte sonst keinen Anwalt, der wie sie den Terminkalender überfrachtete. Die Dame war weit über sechzig und hatte es im Grunde nicht mehr nötig, zu arbeiten. Innere Unruhe und wohl die Angst vor Bedeutungslosigkeit trieben sie un­entwegt an, auch die hoffnungslosesten Fälle anzunehmen. Um den Verdienst ging es ihr eher nicht, und gerade deshalb fand Heinrich sie recht sympathisch. Mit keinem anderen Anwalt hätte er sich außerhalb des Präsidiums oder des Gerichtsgebäudes für ein Gespräch getroffen. Zudem war sie die Taufpatin seines Sohns und die Schwester seiner Schwiegermutter. Ungeachtet der verwandtschaftlichen Verbindung und Nähe wahrten sie einander eine förmliche Distanz und blieben beim 'Sie'. Es hätte an ihr gelegen, ihm das 'Du' anzubieten. Hauptsächlich aus beruflichen Gründen dachte sie nicht daran, und auch persönlich vermied sie es unverkennbar, mit ihm vertraulich zu werden. Überhaupt hatte Heinrich früh den Eindruck gewonnen, dass die Verwandtschaft seiner Frau nicht viel von ihm hielt und am aller wenigstens die Schwiegermutter. Bei der Beerdigung von Marlenes Vater nur wenige Monate nach der Hochzeit hätte er der trauernden Witwe so gut wie kein Mitgefühl gezeigt, so der Vorwurf. Auch Marlene hatte ihm vorgehalten, am Grab kalt und teilnahmslos gewirkt zu haben, und er hatte somit ihre erste Ehekrise heraufbeschworen. Die Schwiegermutter begann, ihn zu hassen und äußerte sich unter vorgehaltener Hand abfällig über seine Arbeit. Außer Hörweite bezeichnete sie ihn fortan als Inquisitor, Hexenverbrenner, Scharfrichter oder Henker. Schließlich bekleidete sie den Vorsitz der lokalen Sektion einer internationalen Menschenrechtsbewegung und war um jedes Feindbild dankbar. Heinrich konnte den moralischen Wertevorstellungen von Mutter und Tochter niemals gerecht werden. Als er Marlene den Antrag machte, konnte er es kaum fassen, dass sie ihn als Ehemann annahm. Sie willigte wohl ein, um wenigstens ein einziges Mal der Dominanz der Mutter getrotzt zu haben. Aus deren Sicht wäre für die Tochter nur ein Gatte mit überragendem moralischen Anspruch infrage gekommen. Weil er jedoch als höherer Beamter für eine gesicherte Zukunft zu sorgen versprach, gab diese sich, wenn auch nur oberflächlich, mit ihm zufrieden.

Mit einem verkrampften Handschlag begrüßte Heinrich die Anwältin und setzte sich zu ihr an den Tisch.

»Renate, schön Sie zu sehen!«, sagte er und versuchte lockerer zu wirken. »Leider bleibt mir nur wenig Zeit, denn wegen eines weiteren Termins heute Mittag bin ich in Eile«, entschuldigte er sich im Voraus.

»Auf der Bank?«, fragte Renate Wuttke spitz und Heinrich ärgerte sich darüber, dass Marlene die Angelegenheit bei ihrer Mutter bereits ausgeplaudert hatte. Offenbar war die vermeintliche Sensation in­zwischen in der gesamten Verwandtschaft verbreitet worden. »Ich hätte nie von Ihnen gedacht, dass Sie solch ein Träumer sind«, stichelte sie weiter, als sie sah, dass er mit einer Antwort kämpfte.

»Ich bin von mir selbst überrascht«, bestätigte er mit leichter Ironie, um unversehens das Thema zu wechseln. »Was führt uns diesmal hier zusammen?«

Der Anwältin ging es um jene drei Fälle, die im Laufe der Woche zu verhandeln waren. Sie hatte ihn um ein Gespräch gebeten, das einem längst eingeschliffenen Ablauf folgen würde. Einer aus drei, galt die Regel, zu der Heinrich von Marlene einst gedrängt worden war. Um den Ehefrieden zu wahren, hatte er sich daran zu halten. Seit Jahren musste er immer in einem von drei Fällen der Tante seiner Ehefrau entgegenkommen. Damit die Absprache vor Gericht und bei den Mandanten nicht auffiel, fanden er und Renate Wuttke jeweils einige Tage im Voraus zu Treffen wie diesem zusammen.

»Zwei Iraner und einer aus Sri Lanka«, erinnerte Heinrich und ließ viel Zeit verstreichen, um nachzudenken. So zeigte er der Anwältin, dass er sich bereits mit den Möglichkeiten eines Entgegenkommens befasst hatte und einen Vorschlag im Sinn hielt. Renate Wuttke ahnte wohl, dass sein Angebot nicht in ihre Vorstellung passen würde, und griff mit einem eigenen Lösungsansatz vor:

»Die beiden Iraner befinden sich noch in Ausbildung. Ein un­bekannter Gönner würde für sie eine Art von Schmerzensgeld an den Geschädigten zahlen und zudem einen angemessenen Betrag an eine gemeinnützige Organisation spenden. Die Bedingung wäre, dass die jungen Männer bis zum Abschluss der Lehre noch geduldet werden würden«, erklärte die Anwältin. Heinrich erkannte, auf welche Lösung sie zusteuerte und sah sich sogleich bestätigt. »Insgesamt wäre es für das Gemeinwohl am vorteilhaftesten, wenn die Iraner bleiben dürften«, versuchte sie ihn schließlich zu überzeugen.

»Die Regel heißt einer und nicht zwei aus drei«, widersprach Heinrich leicht verärgert. »Sie bekommen nur einen, und zwar den aus Sri Lanka«, entschied er und unterstrich mit einer bedauernden Handbewegung, sich auf keine Diskussion einlassen zu wollen. Er käme ihr mit dem Tamilen weit genug entgegen, den er nach Aktenlage für einen Rebellenhauptmann hielt. Mit der Ab­schiebung zurück in die Bürgerkriegsregion würde Heinrich den Rädelsführer nur dorthin befördern, wo diesen ein gerechtes und landestypisches Schicksal ereilen würde. Je eher die Kriegsherren sich dort unten gegenseitig massakrierten, so dachte er pragmatisch, je seltener hätten hierzulande Asylbewerber das Gemeinwohl mit Sozialkosten zu belasten. Heinrich wog den Fall der beiden Iraner dagegen. Eine hohe Geldspende, die an eine gemeinnützige Organisation flösse, beeindruckte ihn wenig. Er wunderte sich, warum Renate Wuttke ihn ausgerechnet mit diesem Anreiz locken wollte. Sie musste aus der Erfahrung gelernt haben, dass er in Fällen, in denen auch Drogenvergehen eine Rolle spielten, kein Entgegenkommen zeigte. Niemals würde er sich von einer harten und toleranzlosen Haltung abbringen lassen. Er kannte die Strafprozessakten der Iraner. Nur auf den ersten Blick wirkten sie als kleine Fische im Drogenhandel. Über einen langen Zeitraum hatten diese tagsüber in Berufs­schulen und abends in Diskotheken nicht unerheblicheMengen Methamphetamin und Heroin angeboten und verkauft. Nach einer Schlägerei, bei der sie einen Mitschüler schwer verletzt hatten, wurden sie festgenommen und angeklagt. Zumal die Iraner noch nicht voll­jährig waren, bestand die Aussicht, dass der Richter ihre Ausweisung aussetzen würde. Einer Duldung würde Heinrich jedoch mit Nach­druck entgegenwirken. Deshalb hakte er bei den Strafermittlern nach und erhielt vorab Hinweise, welche die beiden Asylbewerber in einem noch schlechteren Licht erscheinen ließen. Bis Ende der Woche er­wartete er von den Kollegen belastende Ermittlungsergebnisse, mit denen er dem Richter seine ablehnende Haltung begründen konnte. Demnach stellten die jungen Männer durchaus feste Größen in einem gut durchorganisierten Händlerring dar. Heinrich brauchte nicht raten, um davon auszugehen, dass der unbekannte Gönner sicher einer der örtlichen Drogenbosse wäre. Überhaupt stammte das Geld, das dieser Hinterhofpate spendete, vorwiegend aus den denkbar schmutzigsten Quellen, nämlich aus Drogengeschäften in Schulen.

»Gestalten wie diese haben Floh hineingerissen!«, bekundete Heinrich knapp und ging nicht weiter auf die jungen Drogenhändler ein. Beim Gedanken an Florian fühlte er Wut und Ohnmacht. »Hat Ihnen Marlene davon nichts erzählt?«, fragte er die Anwältin ver­zweifelt. Renate Wuttke zeigte sich überrascht. Sie schien nichts davon zu wissen. Zwar würde sie ihren Patensohn Florian nicht als Musterknaben kennen, dass er inzwischen weit abgerutscht war, ent­setzte sie offensichtlich.

»Ich erinnere mich an bedenkliche Vorfälle mit Alkohol vor zwei oder drei Jahren«, bestätigte sie. »Marlene ließ mich glauben, dass sie Florians Sucht wieder in den Griff bekommen hat.« Renate Wuttke wurde nachdenklich. »Wie schlimm steht es um ihn?«, fragte sie betroffen. Hätte sie von Florians Suchtproblemen geahnt, wäre sie im Fall der beiden Iraner sicher nicht auf Heinrich zugegangen.

»Alkohol ist ihm nicht mehr schick genug. Er ist im letzten Jahr ehrgeiziger geworden und will nach dem Abitur Medizin studieren. Dafür braucht er gute Noten, die er mit seiner mittelmäßigen Be­gabung kaum erreichen kann. Jedenfalls ist er von Alkohol über Ecstasy auf Kokain übergegangen und hat wohl auch Geschmack an Methamphetamin gefunden. Vor drei Wochen war er nachts vor einer Diskothek zusammengebrochen. Er lag einige Tage auf der Intensivstation und war nicht ansprechbar. Dafür sprachen die Ergebnisse der Bluttests Bände, und die Ärzte haben uns eindringlich auf den ernsten Zustand hingewiesen. Marlene und ich dachten, Florian wieder auf einen guten Weg gebracht zu haben. Dennoch habe ich befürchtet, dass nach den Alkoholexzessen der Vorjahre bei Floh die Entzugstherapie nicht dauerhaft anschlagen würde.«

»Sollte ich einmal mit Florian reden?«, bot Renate Wuttke sich an, »ich bin schließlich seine Patin.«

Heinrich dachte über den Vorschlag nur zögerlich nach. Ablehnen durfte er das Hilfsangebot nicht. Zu Florian fühlte er schon seit Monaten, den Zugang zu verlieren. Wenn er dem Sohn nicht mehr helfen konnte, dann hätte es einen Wert, wenn die Patin an seine Stelle treten würde.

»Ja, sicherlich nützt ein offenes Wort von Ihnen«, willigte Heinrich ein und schob die Verantwortung von sich, »bitte sprechen Sie sich vorher mit Marlene ab. Sie ist empfindlich, wenn jemand sich un­gefragt in ihre Angelegenheiten einmischt.« Er hingegen hatte es auf­gegeben, ihr Ratschläge zu erteilen, denn beinahe alles, das er be­merkte, fasste seine Frau als maßlose Kritik auf. Im Café wurde es unruhiger und lauter. Zur Mittagspause erschienen viele Gäste, die vor allem Schutz vor dem Regen suchten. Wortlos saßen beide noch einige Minuten beisammen und tranken Kaffee. Schließlich endete ihr Treffen mit der Verabredung eines Vergleichs im Fall des Tamilen. Heinrich versprach, eine Expertise über die gegenwärtige Lage in Sri Lanka anzufordern, aus der er eine tatsäch­liche Bedrohung des Flüchtlings vermutlich würde nicht herauslesen können. Ungeachtet, zu welchem Schluss der Experte darin wirklich käme, schlösse das Gutachten dann die Akte im Zweifel für den Tamilen. Im Fall der beiden Iraner hingegen hätten sie sich ordentlich vor dem Richter zu streiten und das Urteil abzuwarten.

Der Weg zur Bank führte Heinrich durch eine überdachte Ein­kaufspassage. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Er nutzte die Gelegenheit, im Trockenen, wenn auch im hastigen Gehen, zu telefonieren. Zunächst versuchte er, Marlene zu erreichen. Sie hatte ihr Mobiltelefon ausgeschaltet. Offenbar befand sie sich gerade in der Vorstellungsrunde. Heinrich wertete die Serviceansage der Telefon­gesellschaft, dass der Gesprächsteilnehmer vorübergehend nicht er­reichbar sei, als ein gutes Zeichen. Dennoch ließ seine Unruhe nicht nach. Marlene konnte sich inzwischen bei Florian gemeldet haben. Heinrich wählte über eine Kurzwahltaste die Nummer des Sohns. Zu Hause auf dem Festnetz brauchte er ihn nicht anzu­rufen. Florian kam nur noch selten mittags heim. Wenn nicht spät in der Nacht, kehrte er oft überhaupt nicht mehr zurück und trieb sich tagelang bei Freunden herum. Wohl wegen der Faschingsferien blieb er seit Tagen unauffindbar. In wenigen Monaten würde er volljährig werden, und an der Aufsicht und Kontrolle Florians wollte Heinrich sich nicht mehr aufreiben. Nach dem Abitur, sofern er die Prüfungen bestünde, zöge er ohnehin fort. Als Student würde er in einer anderen Stadt ein vor den Eltern vollends verschlossenes Leben führen. Das Einzige, das Florian mit ihm dann noch verbände, wäre die monatliche Banküberweisung. Mit Unbehagen hörte Heinrich das Freizeichen. Er musste lange warten, bis sein Sohn das Gespräch annahm.

»Heini, was ist?«, antwortete Florian merklich gestört und in einem pampigen Ton.

»Sag nicht immer Heini zu mir, ich bin Dein Vater!«, platzte Heinrich wütend heraus. Einige Passanten in der Einkaufspassage drehten sich verwundert nach ihm um. Er erhöhte das Schritttempo, denn seine Unbeherrschtheit war ihm peinlich und er wollte nicht er­kannt werden. Papa, und nicht Mama, war das erste Wort, das Floh zu sprechen gelernt hatte. Heinrich hatte sich wie ein König gefühlt. Mit 'Paps' musste er sich abfinden, als Florian aus dem Kindergarten kam und eingeschult wurde. Als Achtklässler, nach dem Land­schulheim, hörte er Floh Heinrich zu ihm sagen. Seitdem blieb ihm nur noch übrig, die schleichende Entfremdung zwischen Vater und Sohn hinzunehmen. Seit einigen Monaten ließ Florian ihn deutlich spüren, dass er ihn wirklich für einen Heini hielt.

»Hat Deine Mutter sich bei Dir gemeldet?«, fragte Heinrich un­geduldig, nachdem er sich etwas gefasst hatte.

»Ja, vorgestern. Warum?«, entgegnete Florian ungerührt. Heinrich gab ihm keine Antwort und beendete das Gespräch, indem er das Gerät ausschaltete. Beinahe hätte er es vor Wut in den nächsten Abfalleimer geworfen. Gleich würde er auf die Knie fallen und auf der Bank um den Kredit zu betteln haben.

Missmutig saß Heinrich in einem Besprechungszimmer des Geldhauses. Der Finanzberater hatte sich bereits auf den Weg in die Mittagspause begeben, obwohl er gerade noch pünktlich zum verabredeten Termin erschienen war. Die heftige Beschwerde beim Filialleiter zeigte Wirkung und ein Auszubildender im Clownskostüm wurde dem Mit­arbeiter hinterhergeschickt, um ihn zurückzuholen. Ein anderer, als Biene Maya verkleidet, servierte ihm eine Tasse Kaffee. Nach einer Weile erschien der Berater und übertraf Heinrich an Übellaunig­keit. Er holte die Antragsunterlagen hervor und warf sie lustlos auf den Schreibtisch.

»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Kreditantrag ab­lehnen werden«, erklärte der Bankmensch nüchtern. Für ihn war das Be­ratungsgespräch damit abgeschlossen.

»Ich verstehe nicht!«, haderte Heinrich, »Sie sagten doch, meine Chancen stünden nicht schlecht. Bitte berücksichtigen Sie, dass meine Frau bald mit einem eigenen und sicheren Einkommen dazu beisteuern kann, den Kredit zu bedienen.« Er log. Die Zusage für die Stelle hatte Marlene offenbar noch nicht erhalten. Andernfalls hätte sie ihn sofort angerufen. Falls sie bald über ein eigenes Ein­kommen verfügte, wollte sie gewiss nichts zu der Renovierung bei­steuern, denn von Anfang an war sie dagegen.

»Mögliche Finanzierungsleistungen Ihrer Frau sind leider nicht die entscheidenden Kriterien, nach denen wir uns richten«, antwortete der Finanzberater kalt. »Wir haben inzwischen das Gutachten erhalten. Das Objekt ist nicht viel wert. Selbst das Grundstück taugt nicht als Sicherheit für einen Hypothekenkredit. Es ist zu klein, zur Hälfte von einem Friedhof umgeben und grenzt mit einem Viertel an ein Sumpf­gebiet. Für einen erweiterten Neubau würde auch auf lange Sicht keine Baugenehmigung erteilt werden.« Der Bankangestellte schüttelte verständnislos mit dem Kopf. »Wie konnten Sie sich nur auf ein solches Objekt eingelassen haben? Das werden Sie niemals wieder los!«

Heinrich dachte nicht daran, seine Erwerbung jemals abzugeben. Gerade deshalb brauchte er dringend den Hypothekenkredit mit einem günstigen Zinssatz.

»Ich bin ein langjähriger Kunde dieser Bank. Was hielten Sie davon, wenn ich mich zukünftig für eine andere, zuvorkommendere entscheiden würde«, drohte Heinrich angespannt. Schließlich warb das Geldhaus damit, dass bei diesem der Kunde König sei. Heinrich wollte sehen, was geschähe, wenn er laut darüber nachdachte, einem anderen Geldinstitut seine königliche Gunst zu schenken. Der Berater blieb unbeeindruckt und lachte ihn aus:

»Ein solches müssten Sie zunächst einmal finden. Keine Bank wird Ihnen für diese Ruine mehr entgegenkommen. Wie bei uns erhielten Sie auch an anderer Stelle nur einen Privat­kredit mit marktüblichem Zinssatz. Wir unterbreiten Ihnen ein faires An­gebot und schneiden die Schuldlast auf Ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten zu­. Zumal Ihre Frau bald dazuverdienen wird, sollten Sie hierfür Zinsen und Tilgung ebenso begleichen können wie bei einem Hypo­thekendarlehen.«

Der Finanzberater schlug einen freundlicheren Ton an, denn er witterte einen einträglichen Abschluss, bei dem er Heinrich als Bankkunden nicht verlöre. Nichtsdestoweniger hatte er ihn als König soeben gestürzt. »Sie sind Beamter. Wir wissen Ihre sichere und berechenbare Einkommenslage durchaus zu schätzen«, endete der Bankmensch überlegen und wies ihn zum Ausgang. Beim Hinausgehen zögerte Heinrich, denn er musste eine Entscheidung treffen. Letztendlich wäre er vor dem Berater auch auf die Knie ge­sunken.

Heinrich schlich auf demselben Weg in das Präsidiumsgebäude hinein, auf dem er es verlassen hatte. Im Foyer gesellte er sich zu den Kollegen. Jedoch dachte er nicht daran, mit ihnen in der Kantine zu Mittag zu essen. Der Appetit war ihm vergangen. Was für ein Narr war er gewesen. Er hatte den Kreditvertrag unterschrieben. Zinslast und Tilgung nähmen ihm für die kommenden Jahre jeden Spielraum. Wie lange noch würde sein alter Mercedes halten? Weite und häufige Wege standen dem Fahrzeug bevor. Eine Neuanschaffung musste er sich auf absehbare Zeit aus dem Kopf schlagen. Sollte er am Nachmittag versuchen, den Vertrag zu widerrufen? Schließlich war es Rosenmontag und deshalb ein Tag, an dem auch die größten Dumm­heiten verzeihlich schienen. Dann allerdings konnte jeder daher kommen und um Vergebung bitten. Wo er sich umblickte, sah Heinrich nur Narren. Eine Narrheit bedeutete es, am Nachmittag Ottmar von Mannwitz zum Regierungsrat zu ernennen. Im Zweijahresrhythmus würde dieser Versager fortan befördert werden und die Karriereleiter hinauf fallen. Millionenschwere Bauprojekte, für die der Jungbeamte unweigerlich zum Hemmschuh zu werden drohte, warteten auf ihn. Menschen, die über von Mannwitz wachten, mussten wohl um deren Fehlentscheidung wissen. Nur an einem Rosenmontag durften sie ungestraft einen Untauglichen wie ihn in ihren Kreis aufnehmen. Die sichere Erkenntnis, von keiner Gunst bevorteilt worden zu sein, tröstete Heinrich, während er unschlüssig vor einem Getränkeautomaten stand. Schließlich überwand er die Abneigung gegen lauwarmen und zu dünnen Kaffee. Mit einem halb vollen Becher bestieg er einen bereits überfüllten Aufzug. Einer fragte ihn, ob er auch zum Rosenmontagsfest käme. Mit einem nur kurzen und wortlosen Nicken bestätigte Heinrich seine Teilnahme, weil von wollen nicht die Rede sein konnte. Er durfte nicht fehlen. Andernfalls würde noch mehr über ihn geredet werden. Er ahnte, dass hinter seinem Rücken heftig und bösartig über ihn gespottet wurde. Schlechterdings war es Rosenmontag. Jemand im Aufzug wagte sich offen vor, ihn vor den Kollegen ins Lächerliche zu ziehen.

»Als was verkleiden Sie sich?«, fragte dieser scheinheilig und schob gleich darauf einen als Witz gemeinten Vorschlag nach: »Wie wäre es als Mönch oder als schwarzer Abt?«

»'Als Glöckner von Notre Dame'«, scherzte ein anderer, den Heinrich im dichten Gedränge nicht ausmachen konnte.

»Als Leuchtturmwärter!«, rief ein weiterer dazwischen. Alle bogen sich vor Lachen. Heinrich wandte sich ab und stand wie erstarrt vor der Kabinentür in der Hoffnung, der Aufzug erreichte schneller als sonst das Stockwerk des Büros.

»Halt, halt!«, tat sich ein Naseweis hervor, »vergesst nicht die Kleiderordnung! Am Rosenmontag darf niemand als das kommen, was er ist. Unser Oberregierungsrat Beck wird daher in einer völlig anderen Verkleidung erscheinen, die mit allem, das er sonst noch ist, nichts gemein hat!« Ein neidvoller und giftiger Unterton in der Be­merkung des Kollegen rief im Gedränge zunächst beipflichtendes Gemurmel hervor. Danach herrschte bedrückende Stille. Aus Ärger über den unverhohlenen Spott schluckte Heinrich so laut, dass alle mithörten. Sollen sie doch lästern, redete er sich ein und entschloss sich, Rosenmontagsfeierlichkeiten ab kommendem Jahr für immer zu meiden.

Als Heinrich Beck das Präsidium durch die Hauptpforte verließ und die Anwesenheitsdauer am Zeiterfassungsgerät verbuchte, war es bereits dunkel geworden. Er hätte noch länger bleiben und den aus­gelassenen Teil der Rosenmontagsfeier miterleben können. Wie jedes Jahr würden ihm die Kollegen am nächsten Morgen darüber berichten, wer als Erstes die Kontrolle verloren habe. Er kannte welche, die im alkoholisierten Überschwang dazu neigten, den Damen an die Brüste zu grapschen oder Vorgesetzte zu beleidigen. Auf dem Weg zur U-Bahnstation ließ der Regen nach und nur die Schuhe wurden nass. Der Bahnsteig war von Berufspendlern und Narren überfüllt. In der Stadt hatte es einen Umzug gegeben. Kostümierte und betrunkene Heim­kehrer quetschten sich in immer neuen Anläufen in die hoffnungslos überbesetzten Wagons. Heinrich hastete heran, als vor ihm ein Sitz frei wurde. Er dachte nicht daran, einer älteren Frau den Platz zu überlassen. Sein Glück währte nur kurz und er sah im Gesicht dieser die Schadenfreude, als eine betrunkene Biene Maya sich über ihm er­brach. Ihm kam der junge Mann bekannt vor, als wäre er ihm erst wenigen Stunden zuvor begegnet. Was der Regen nicht erreichte, glich das Bienenmännchen mit einem massiven und übel riechenden Schwall aus. Heinrich schrie wütend auf und fing dafür die Faust eines Unbekannten ein, die ihn nur einen Augenblick später hart im Gesicht traf. Er blieb benommen sitzen, als Sicherheitspersonal durch das Gedränge den Weg zu ihm bahnte.

Die frische Luft an einer ver­lassenen Vororthaltestelle, an der er als vermeintlicher Unruhestifter aus dem Zug gestoßen wurde, brachte ihn allmählich wieder zur Be­sinnung. Seine Lippe war geschwollen, aufgeplatzt und Blut rann ihm in den Hals. Heinrich wusste genau, warum er Karneval hasste und dass ihm als Frohsinn-Verweigerer geradezu ein Unglück widerfahren musste. Zwei einsame Taxis standen auf dem Vorplatz. Die Fahrer wärmten sich an einem Kiosk mit Kaffee auf. Heinrich winkte zu ihnen hinüber. Einer von beiden kam und fragte, ob er ihn in ein Krankenhaus fahren solle. Er wollte nach Hause. Die Verletzung sah nur schlimm aus und nicht das erste Mal war ihm in der U-Bahn auf den Mund geschlagen worden. Unterwegs senkte der Fahrer die Seitenscheiben herunter. Der Gestank von Erbrochenem war ihm so unerträglich geworden, dass er zu schimpfen begann. Im Anschluss an die Fahrt müsse er den Wagen einer Vollreinigung unterziehen, klagte er. Vor dem Wohnblock angekommen, zahlte Heinrich den exakten Betrag und gab kein Trinkgeld.

»Du stinkender Geizkragen!«, rief ihm der Taxifahrer wütend zu, ehe er davonfuhr. An einem Rosenmontag brauchte der Chauffeur von keinem Fahrgast eine Beleidigungsklage fürchten. Heinrich blickte an dem Hochhaus hinauf, bis er über der Kante den Sternenhimmel funkeln sah. Er wohnte in einem der größten Gebäude des Stadt­bezirks, das Platz für nahezu 350 Wohneinheiten bot. Mit seiner Familie hatte er sich in eines der beiden Dachapartments eingemietet, für deren sieben Zimmer eine stattliche Miete einen guten Teil des Monatsgehaltes aufzehrte. Die Aussicht war ihm den Preis wert. Fast wie im Himmel hatte er sich gefühlt, als er vor beinahe 20 Jahren mit Marlene darin eingezogen war. In der Anfangszeit hatte sie nach dem Studium als Berufsanfängerin noch dazuverdient. Nach der Ge­burt von Florian wurde sie Hausfrau und fand danach nicht mehr in ihre Sparte zurück. Sie arbeitete zwar hin und wieder freiberuflich, im Wesentlichen war Heinrich der Alleinverdiener geblieben. Marlene hatte ihn oft gedrängt, fortzuziehen und für die Familie eine billigere Wohnung auf dem Land zu nehmen. Er wollte nicht fort, zumindest bislang nicht. In den letzten Jahren hatte sich die Gegend stark ver­ändert. Immer neue Gewerbegebiete und Wohnanlagen waren in der Umgebung aus dem Boden gestampft worden. Wenn er früher am Fenster gestanden war und die Blicke über Wiesen und Wälder hatte streifen lassen, so sah er seit Neuem über öde Dachlandschaften. Vor Fabrikhallen und Einkaufscentern erstreckten sich betonversiegelte Parkplätze mit Flutlichtanlagen. Nachts war es so hell geworden wie tagsüber und nirgendwo herrschte noch Dunkelheit. Um nach den Sternen zu blicken, hatte er den Kopf weit in den Nacken zu strecken. Heinrich fühlte sich nicht mehr frei und entrückt, sondern ruhelos und getrieben. In den Anfangsjahren hatte er noch viele der Bewohner gekannt, die ihm im Aufzug begegneten. Nachbarschaftliche Gespräche gab es seit Langem nicht mehr. Er hatte es aufgegeben, sich die Gesichter von Menschen zu merken, die auf ihn fremd wirkten. Er wurde unsicher, ob der Zufall es so wollte und er bald Mitbewohner würde abschieben müssen. In Rastlosigkeit schienen die meisten Mieter nur noch auf der Durchreise zu sein. Überall im Gebäude nagte der Zahn der Zeit. Wirtschaftlich war das Haus abgeschrieben, aufgegeben und dem allmählichen Verfall überlassen. Lange würde er Marlenes Drängen nicht mehr standhalten. Er dachte an den Kredit und daran, ein Luxusappartement wie solches sich nicht endlos leisten zu dürfen.

Heinrich betrat die Wohnung und sah aus dem Esszimmer den Lichtschein von Kerzen. Marlene war zu Hause, und er rief nach ihr. Er erhielt keine Antwort. Im Esszimmer fand er den Tisch für drei Personen gedeckt. Marlene musste einen Lieferservice bestellt haben, denn Besteck und Geschirr passten nicht zum Hausrat. Eine Tortenhaube und eine Salatschüssel überdeckten die Tischplätze, an denen er und Florian für gewöhnlich saßen. Marlenes Teller war bereits zur Hälfte leer gegessen. Die Essensreste darauf waren erkaltet und der überbackene Käse auf der Lasagne erstarrt und verkrustet. Neben einer geleerten Flasche Wein stand eine an­gebrochene mit Grappa. Erneut rief Heinrich nach Marlene, nun mit einem unguten Gefühl, weil er ahnte, was ihn erwarten würde. Er ging zum Badezimmer. Die Tür war nicht verschlossen. Sie lag in der Wanne und glotzte ihn an. Ihr Kopf ragte gerade noch aus dem Schaum heraus. Ein ätherischer Melissenduft in Schwaden von Dampf erfüllte den Raum. Neben der Wanne sah Heinrich eine weitere Flasche Wein, aus der seine Frau unmittelbar und ohne Glas die Hälfte getrunken hatte.