Festung des Teufels – Band 3 - Elisabeth Vinera - E-Book

Festung des Teufels – Band 3 E-Book

Elisabeth Vinera

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Beschreibung

Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, in der Tadur einst herrschte und sie den Namen Sinara trug, erwachen in Sarai. Die Auserwählte begreift, dass die eingekehrte Ruhe nur ein Trugbild ist und ihr die größte vom Schicksal zugeteilte Aufgabe noch immer bevorsteht. Ist es eine Krankheit, ein Fluch oder tatsächlich der Teufel, der ihr geliebtes Zeder abermals heimsucht? Um Sarai zu schützen, trifft Karkara eine folgenschwere Entscheidung, nach der sie sich in einem wahr gewordenen Alptraum wiederfindet. Ihre Gefährten sind tot, ihr Sohn womöglich sterbenskrank. Und der Teufel hält alle Trümpfe in der Hand.

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Seitenzahl: 250

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Vorwort 3

Kapitel 1 6

n einer rauen Nacht 6

Kapitel 2 45

er Sohn kehrt zurück 45

Kapitel 3 66

ie Kutsche aus Sagem 66

Kapitel 4 80

erhängnisvolle Vorzeichen 80

Kapitel 5 97

rei Auserwählte 97

Kapitel 6 123

ine Welt im Wandel 123

Kapitel 7 142

ie Hinrichtung 142

Kapitel 8 162

insternis 162

Kapitel 9 181

er Sprössling zweier Welten 181

Kapitel 10 197

ie auserwählte Braut 197

Kapitel 11 205

ie wahre Macht eines Schlüssels 205

achwort 209

lossar 211

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum Verlag

ISBN Printausgabe:978-3-99064-797-4

ISBN e-book: 978-3-99064-798-1

Lektorat: K. Kulin

Umschlagfotos:Oleksii Yaremenko, Alena Kratovich, Frui | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen:Elisabeth Vinera

Ornament:Lyotta | Dreamstime.com

www.novumverlag.com

Vorwort

Erinnere dich daran, wer du wirklich bist!

„as bisher geschah …“

Teufel, so nannten die Völker ein Wesen, welches Grauen verbreitete, um der Welt zu schaden. Dieses war zwar versiegelt, aber eine Legende berichtete von seinem Wiedererwachen. Es stand geschrieben: „Einem unbefleckten Mädchen und zwei ungleichen Jungen wird die Bürde auferlegt, den legendären Feind zu besiegen. Sie, die die Auserwählten sind, tragen das verhängnisvolle Zeichen des Teufels.“

So geschah es, dass die drei im Jahre des Drachenblutes 56 aufeinandertrafen. Sarai, die Gutherzige, Akira, der Priester, und Karkara, der Barbar. Ein Abenteuer begann, das jeden von ihnen an seine Grenzen führen sollte.

Am Ende der Reise offenbarte Akira den beiden, dass er der Sohn des Teufels und somit ihr eigentlicher Gegner sei. Es folgte ein Kampf, den der Barbar verlor, jedoch von Sarai vor dem Tode gerettet wurde, die daraufhin ihren geliebten Akira erstach.

Die dämonischen Wesen verließen die Welt. Tadur schien besiegt. Doch nahm die Machtrolle kurz darauf jemand anderer ein: der Mensch selbst.

Im Jahre des Schlangenbisses 57 hatte sich die einst sanftmütige Sarai zu einer blutrünstigen Kriegerin entwickelt, die ihren eigenen kleinen Clan Schicksalshammer mit fairer und doch harter Hand anführte. Die vermeintlichen Opfer? Allesamt Propheten.

Immerhin zerstörte jene Prophezeiung, durch die man sie als Auserwählte anerkannte, ihr Leben. Den tiefsten Hass hegte Sarai auf das legendäre Orakel und begab sich mit ihren ungleichen Gefährten nach Sagem, wo es angeblich auftreten sollte.

Hier wurde Sarai als gesuchte Mörderin gefangen genommen und abtransportiert. Ausgerechnet Karkara war es, der sie zufälligerweise aus ihrer misslichen Lage erlöste. Das einstige draufgängerische Großmaul hatte sich inzwischen zu einem starken, beeindruckenden Mann entwickelt. Er gab Sarai klar zu verstehen, dass er sie für sich beanspruchte.

Sarais Clan-Gefährten, die sie eigentlich befreien wollten, trafen im Barbarenlager ein. Als Karkara vor dem Jungen Akeru stand, den Sarai als ihren Sohn vorstellte, sah er sofort die Ähnlichkeit zu Akira in ihm und war fassungslos darüber, wie sie sich diesem verfluchten Teufelssohn zu dessen Lebzeiten hatte hingeben können. Die Wut auf Akira konnte Sarai in keiner Weise teilen. Tief in ihrem Herzen liebte sie ihn immer noch. Dennoch bemühte sie sich, nach all den Jahren Akiras Verlust endlich anzunehmen und wandte sich stetig mehr dem

Barbaren zu.

Auch begegneten sie auf ihrem Wege, um Zeder vor einer Unterwerfung durch die Nachbarkontinente zu behüten, dem jungen Mönch Michelle, ein Ebenbild Akiras, den sie als wahren dritten Auserwählten erkannten – ihm gegenüber aber davon nichts preisgaben.

Plötzlich stand der tot geglaubte Akira vor ihnen, der aus einem einzigen Grund in die Welt der Sterblichen zurückkehrte, allerdings durch die Entscheidung des Barbaren nicht bleiben durfte.

Sarai gelang es, das legendäre Orakel aufzuspüren und es mit gespanntem Bogen zur Rede zu stellen. Als sie seinen Turm verließ, hatte sie wieder zu sich selbst gefunden.

Kapitel 1

n einer rauen Nacht

Zweiter der Vil Cemie im Jahre des Wolfsschädels 57.

Sanft bedeckte der Schnee des alten Jahres den gefrorenen Boden. Ein verspielter Wind wirbelte Flocken auf und pustete sie wie ein Kind, welches auf einer satten Wiese die flauschigen Samen des Löwenzahns fliegen ließ, über die schlafenden Äcker. Es herrschte Stille in der Einsamkeit von Monshire, dem Hauptsitz derPriester der alten Zeit. Die mondlose Nacht war lang und bitterkalt.

„Zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig …“ Bibbernd zählte ein Junge namens Everos die Sterne, um sich vergeblich von den niedrigen Temperaturen abzulenken. „Verdammt, ist das eisig“, klapperte er mit seinen Zähnen und zog die Kordel seiner apfelgrünen Kutte mit schmerzenden Fingerkuppen enger. Er war zum Wachdienst auf der Mauer eingeteilt, die dieAbtei des Mondesvor unliebsamen Gästen bewahren sollte – ein völlig sinnloser Posten, wenn ihn jemand nach seiner Meinung fragen würde. Allerdings tat das keiner, da er, erkennbar an der auffälligen Farbe seines Gewandes, den Rang eines unwissenden Anfängers bekleidete. Seit Jahrhunderten war nichts passiert, was den Bau des Gemäuers annähernd gerechtfertigt hätte. Selbst als die Armeen des Teufels im Jahre des Drachenblutes 56 den Kontinent gleich einer Heuschreckenplage bestürmten, blieb Monshire von ihnen unbeachtet.

Ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Lenzen, einem gutmütigen Antlitz und der einen Kopf höher gewachsen war, trat zum fröstelnden Everos heran. „Du gewöhnst dich an die Kälte. Mit jedem weiteren Jahr wirst du ihr mehr und mehr trotzen.“

„Das sagst du so einfach. Du bist in Monshire aufgewachsen, warst die unmenschliche Frische sogar ohne den bösartigen Einfluss von Zasra gewohnt und hast zu allem Übel die Rückkehr dieser weißen Schererei vor knapp zehn Jahren miterlebt. Ich wurde fernab dieses Ortes geboren. Dort, wo es immer warm ist und die Menschen die Sonne, nicht den Mond, anbeten. Wir sind glücklicherweise beständig von dem widerwärtigen Matsch und der folternden Eisfront verschont.“

„Dieses Leben in Kanan hast du hinter dir gelassen.“ Der junge Mann stützte seine Unterarme auf dem steinernen Geländer ab.

„Unfreiwillig. Sogar meine geliebte schwarze Haarpracht habt ihr mir rigoros abrasiert“, brabbelte Everos schweren Herzens und strich sich wehmütig über das kahle Haupt. Einen Moment schwieg er und wog innerlich ab, ob er weitersprechen durfte oder lieber darauf verzichten sollte. Dann platzte es verzweifelt aus ihm heraus: „Jin, ich will gehen. Ich will zurück in meine Heimat nach Andúl. Ich gehöre nach Hause zu meinen Eltern. Ich bin erst zwölf und ihr zwingt mich zu einem Leben, das ich nie für mich gewählt hätte. Monshire ist ein Kerker.“

Jin starrte in die Düsternis und erinnerte ihn mit ruhiger Stimme: „In Kanan wollten sie dir die Hände abschlagen, weil du gestohlen hattest. Du kannst froh sein, dass Meister Piquell de Vason zur Stelle war und dir dank seinem Fürspruch eine neue Existenz in unseren Reihen bescherte. Verlässt du die Abtei, bist du vogelfrei. Das weißt du.“

„Für Meister Piquell war ich gefundenes Fressen. Sieh dich doch um, Jin de Gross! Die hundekalten Mauern dieser eintönigen Klosteranlage beherbergen fast nur noch alte Knacker. Ich habe von einem neuen, fortschrittlichen Clan gehört.Umbruchwird er genannt. Seine Anhänger wenden sich zu Recht von den Heiligenfiguren ab. Was haben denn all die Gottheiten, die sich nicht einmal zeigen, sondern einzig durch Legenden erhalten werden, jemals für uns getan?Umbruchpropagiert, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Insbesondere schließen sich ihm junge Menschen begeistert an. Wir könnten zwei davon werden. Ich prophezeie dir, die Zeit einiger alteingesessener Clane ist vorbei.“

„Bedarf es denn immer der Beweise, um zu glauben? Manchmal genügt es, wenn man sein Mitgefühl zeigt, damit dir ein Wunder begegnet. Du bist grün hinter den Ohren und klopfst große Sprüche.“ Jin grinste ihn verschmitzt an und deutete dabei auf das schlichte Gewand, das Everos trug. Dieser ermahnte ihn beleidigt: „Deine Tracht ist gleichermaßen giftgrün, vergiss das nicht!“

„Nicht mehr lange“, wisperte Jin in die raue Nacht und sein warmer Atem formte sich sichtbar im spärlichen Licht der verankerten Fackeln. „Zwei oder drei Jahre schätzt Meister Olong. Dann bin ich so weit, die blaue Kutte der Meister anzulegen.“

„Das ist eine Ewigkeit. Willst du in dieser Ruine verrotten? Ich nicht! Ich will auch keinen blauen Sack tragen! Ich will weg. Es gibt zwei markante Unterschiede zwischen euch und mir. Der erste ist meine braune Hautfarbe. Ihr seid alle blass wie Leichen oder dieser verfluchte Schnee. Meine Hautfarbe wird immer ein Signum dafür sein, woher ich stamme. Deshalb kann ich im Grunde nie ein Teil von euch sein. Der zweite Unterschied besteht darin, dass mein Herz niemals für eure Mondgöttin Selene schlagen wird.“

Jin drehte der Ferne seinen Rücken zu und lehnte sich an die Brüstung. „Du machst dir Sorgen wegen deiner Hautfarbe? Meister Rusin va God ist nicht braun, er ist schwarz. Der kleine Meros fragte ihn neulich, ob er sich ebenso anmalen dürfte.“ Everos guckte ihn verwundert an und beide lachten herzhaft.

„Ich mag dich, Jin de Gross. Dennoch werden weder du noch ein anderer mich in Monshire halten können. Der Ruf der Heimat hallt in meinen Ohren. Wenn nicht bald etwas Interessantes geschieht, das die Greise der Abtei mit neuen Lebensgeistern füllt, schwöre ich dir, ziehe ich von dannen, ehe euer verrückter Hahn am siebten Morgen kräht.“

„Dann muss der Vogel wohl am sechsten Tag in den Topf. Schade! Immerhin verdanken wir seinem bemerkenswerten Schrei, dass sogar die Schwerhörigen pünktlich ihr Lager verlassen“, zwinkerte Jin. „Du willst ein Abenteuer? Wenn du in Selenes Gunst stehst, wird sie dein Gebet erhören.“

Jin de Gross wollte soeben die Stufen zum Innenhof hinabsteigen, da erklang zögerlich die warnende Glocke auf der anderen Seite der Mauer. Zuletzt war dieser Ton vor etwa einem Monat zu hören gewesen, als einer der Alten einen hungrigen Hasen für einen tollwütigen Wolf gehalten hatte. Jin fragte sich zu dieser Zeit, ob sein Verstand ihm in vier bis sechs Jahrzehnten ebenso skurrile Sachen vorgaukeln würde.

„Bestimmt wieder ein Kaninchen“, rief Everos scherzend Jin nach, der sich zum gegenüberliegenden Wachposten aufmachte und murmelte: „Oder dein Abenteuer hat sich angekündigt.“

Jin stapfte durch den knöchelhohen Schnee im Hof und erklomm eiligen Schrittes die zweite Treppe zum Gemäuer. Oben wurde er hektisch vom Priester Emeraud erwartet, der den Alarm geläutet hatte.

„Jin, Jin! Gut, dass du da bist. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Da draußen sind zwei.“ Mit geröteten, dicken Wangen und durchgefrorenem korpulenten Leib verlor der knapp fünfzigjährige Ordensbruder vor lauter Angst, falsche Entscheidungen zu treffen, fast die Nerven.

„Beruhige dich, Bruder Emeraud. Was ist dort unten?“ Jin nahm eine Fackel aus der Vorrichtung und beugte sich über das Geländer.

Emeraud kam mit seinem Mund dicht an Jins Ohr und flüsterte furchtsam: „Zwei Menschen.“

Jin hielt in seiner Bewegung inne, schnupperte und musterte ihn daraufhin vorwurfsvoll. „Hast du wieder getrunken?!“

„Nur ein klitzekleines Schlückchen“, zeigte Emeraud ein winziges Maß zwischen Daumen und Zeigefinger. „Wirklich. Das hat nichts damit zu tun.“

„Doch! Es erklärt einiges. Ich muss das dieses Mal melden. Es ist genug! Du kennst die Regeln.“

Emeraud hielt Jin am Arm fest, der sich gerade abwenden wollte. „Jin, ich flehe dich an, das nicht zu tun. Sie werfen mich sonst raus. Überlege, mein junger Freund! Hätte ich es riskiert, dich oder gar einen anderen über die Glocke zu rufen, wenn ich bloß verdeutlichen wollte, dass mich Hirngespinste dank des süßen Weins plagen? Mir ist bekannt, was für mich auf dem Spiel steht. Ich bitte dich, Jin, sieh hin!“ Emeraud nahm ihm die Fackel ab und warf sie über die Brüstung in das freie Gelände.

„Hey, passt gefälligst auf wo ihr euren Kram hinschmeißt! Was ist nun, Pfaffe? Dürfen wir rein? Oder müssen wir über euren Gartenzaun klettern?“, wetterte eine weibliche Stimme vor der Mauer. Jin spähte sofort herunter und sichtete im Schein des Feuers eine verärgerte Frau, die die lodernde Fackel aufgenommen und eine Hand in die Hüfte gestemmt hatte. Bis auf einen Schatten war von ihrem Begleiter, der am Wall kauerte, nichts zu erkennen.

„Wer seid ihr?“, fragte Jin. Für einen kurzen Moment kehrte die Erinnerung an eine stürmische Nacht in seine Gedanken zurück, in der einem Mädchen die für Auswärtige dauernd verschlossenen Tore der Abtei geöffnet wurden, sie sogar vom Hohepriester empfangen wurde und wenige Tage nach ihrer Ankunft die Gemeinschaft mit dem Ordensbruder Akira verließ.

„Mach die blöde Tür auf oder ich trete sie ein! Mein Bruder braucht Hilfe!“

Jin guckte Emeraud unschlüssig an, der ratlos mit den Schultern zuckte. Er verkniff sich, die sarkastische Erkundigung, wer von beiden das blaue Gewand trug und demzufolge entscheidungsberechtigt war.

„Wenn er krank ist … Wir können ihn ja schlecht vor dem Kloster sterben lassen“, murmelte Jin und schätzte die Konsequenzen für sein bevorstehendes Handeln ab.

Der Schnee knirschte unter den sich nahenden Schritten. Everos stieß unverhofft mit einer kleinen Laterne dazu. „Was gibt es? Ist etwas passiert?“

Jin rügte ihn ohne Umschweife: „Was tust du hier? Du darfst deinen Posten nicht verlassen! Geh zurück!“

Von draußen ertönte drohend: „Ich zähle bis drei, dann macht ihr entweder freiwillig eure Burgruine auf oder ich brenne das lächerliche Holztürchen mit dem Feuer ab, das ihr mir rüber geworfen habt.“

Everos’ Neugier war geweckt. Bevor er jedoch einen Blick auf das Geschehen außerhalb der Anlage erhaschen konnte, stellte Jin sich ihm in den Weg und wies ihn mit deutlichem Nachdruck an: „Geh zurück! Das ist ein Befehl, Everos! Keine Bitte!“

„Wir stehen auf der gleichen grünen Stufe, Jin. Du hast mir nichts zu befehlen.“

Jin versetzte Emeraud einen leichten Tritt, der glücklicherweise den Hintergrund dessen verstand und rasch anordnete: „Als ein untertäniger Meister Selenes gebiete ich dir, unverzüglich auf deinen Posten zurückzukehren.“

„Eins“, begann die Frau ermahnend laut zu zählen.

Everos wusste um Jins Schlauheit, ebenso um seine Großherzigkeit, an die er nun versuchte zu appellieren: „Vielleicht hat Selene mich erhört. Vielleicht ist diese Nacht dafür vorgesehen, mich zu eurem Glauben zu bekehren. Es könnte sich alles ändern, Jin. Das Leben hier könnte leichter, erträglicher und erfüllter für mich werden. Lass mich dabei sein. Bitte, Jin.“

Eine Leidenschaft brannte in seinen dunklen Iriden, die Jin nie zuvor bei Everos hatte entdecken können. Möglicherweise hatte er recht. Oder es war ein Fehler. Das würde man allerdings erst im Nachhinein feststellen.

„Zwei.“

Jin wandte sich von Everos ab, um halbwegs klare Gedanken fassen zu können. Für den Burschen war es ein Zeichen, dass er bleiben durfte. Hätte Jin keinen kahlen Kopf gehabt, wie es unter den Priestern gebräuchlich war, dann hätte er sich überlegend die Haare gerauft. Stattdessen hielt er die Hände gegen seine Schläfen, wie Meister Olong es ihm gezeigt hatte, und konzentrierte sich auf seine innere Mitte. Diese wenigen Sekunden waren für ihn ein Fenster zur Ewigkeit. Er drang in sein eigenes Unterbewusstsein ein – eine eigenständige, feinstoffliche Welt ohne jegliche räumliche Begrenzung. Der unendliche Horizont war in das Licht der sanften Abenddämmerung getaucht. Auf einer Wolke saß im Schneidersitz sein Geistführer, ein betagter Mann mit schlankem, langen Gesicht und geschwungenen Lippen. Der Schnurrbart war zu zwei dünnen waagerechten Linien gedreht und seine geflochtenen Haare reichten bis zu seiner Hüfte. Ein Hütchen mit einer winzigen Glocke, ein weißes Hemd und eine schwarze, weite Bundhose kleideten ihn.

„Ein schwieriges Unterfangen“, sprach der Geistführer und öffnete bei Jins Ankunft seine schmalen azurblauen Augen.

„Meister, welchen Rat könnt Ihr mir gewähren?“ Jin kniete sich auf einem aus dem Wolkenfeld ragenden Felsen nieder und setzte sich auf seine Fersen.

„Diese Entscheidung ist von großer Tragweite. Keiner der Pfade, die dir in dieser Situation zu Füßen liegen, wird mit gutem Ausklang sein Ende nehmen. Es geht um viel mehr, als wir jetzt erahnen können. Schickst du sie fort, wird ihre Rache und die ihres Volkes fürchterlich sein. Die Priesterschaft des Mondes wäre vermutlich dem Untergang geweiht. Gewährst du den Fremden den Einzug, wirst nicht nur du einen hohen Preis dafür bezahlen.“

Überfordert strich sich Jin über das erhitzte Gesicht, blies die Wangen auf, um kurz darauf seinen Atem mit der Anspannung zu entladen. „Das klingt, als wäre es egal, wofür ich mich entscheide.“

„Egal ist nie etwas. Jede Entscheidung bestimmt den weiteren Verlauf der Geschichte.“

„Aber wenn der Ausgang stets ungünstig ist, werden mich viele Menschen verachten, unabhängig davon, welchen der Wege ich erwählt habe.“

„Du bist reif und wurdest auserwählt, derjenige zu sein, der die Zukunft des Clans in ihre entsprechende Bahn lenken darf.“

„Auserwählt? Wer hat mich dafür bereit gefunden?“

„Drei.“

„Jin!“, rüttelte Everos heftig an seinem Ärmel und holte ihn gedanklich wieder nach Monshire. „Die will wirklich das Tor anzünden!!!“

Jin stockte der Atem. Sein Puls überschlug sich. Das Holz war dermaßen feucht, dass es gewiss nicht brennen würde. Die Bedrohung durch das heiße Element war also nicht sein Problem, sondern die Wahl, welche ihm derb auf den Magen schlug. Jemand setzte enormes Vertrauen in ihn, den richtigen Entschluss zu fassen. Er beugte sich hastig über die Brüstung, wäre zu allem Übel fast noch schwungvoll heruntergefallen und schrie: „Warte!“

Die Frau hielt die Fackel und stand vor dem Tor.

„Ich komme. Der Einlass ist euch gestattet“, fügte Jin zügig hinzu. Er wandte sich an Everos: „Wecke Meister Olong! Hol ihn her! Niemand anderen! Lauf!“ Everos machte widerspruchslos kehrt und rannte los.

Jin griff nach dem rundlichen Emeraud und hechtete mit ihm die Treppe hinunter. „Wir müssen das unbedingt geheim halten. Wenn der Hohepriester erfährt, dass eine Frau unser Gast ist, will ich nicht wissen, was mit uns geschieht.“

Emeraud hatte Mühe Jins Tempo zu halten und keuchte: „Das Mädchen im Jahre des Drachenblutes 56 soll ein wahrer Segen gewesen sein. Gehen wir also optimistisch an die Sache heran.“

Die zwei erreichten mit bebenden Herzen das verbarrikadierte Tor. Jin machte sich tölpelhaft daran, den schweren, waagerecht gelagerten Balken herunterzuheben, was allein vollkommen unmöglich war und das wusste er auch. Emeraud drehte ihn noch einmal entschlossen zu sich: „Du hast mich des Öfteren errettet und mir eben eine Last abgenommen. Jin, sollte etwas schieflaufen, dann werde ich die Schuld auf mich nehmen.“

Jin hörte die Ehrlichkeit in seiner besorgten Stimme. „Was sollte schiefgehen?! Wir sind Priester. Wenn nicht wir in der Gunst unserer Göttin stehen, wer dann?“

Die beiden quälten sich schnaufend und zähneknirschend ab, den drei Meter langen, klobigen Balken beiseitezuschaffen, bis sie die ersehnte Hilfe von Everos und dem hellwachen Olong van Ga erhielten. Obwohl dieser soeben aus dem Schlaf gerissen wurde, war sein Geist klar und aufmerksam.

Der breitschultrige Meister stellte keine Fragen. Ein bedeutsamer Blick zwischen ihm und seinem jungen Schüler Jin genügte, um sich wortlos zu verständigen. Ein tiefes Vertrauen verband beide, sodass unnötige Begründungen jetzt fehl am Platz waren.

Everos und Jin, dem der kalte Schweiß auf der feurigen Stirn stand, rissen das Tor energisch auf.

Olong, der sich zu voller, beeindruckender Größe aufgerichtet hatte, schaute der Fremden starr ins Angesicht. Ihre stechenden Augen visierten ihn bedrohlich an. Die wallende, lange Mähne war rubinrot. Ein aschgrauer Mantel, unter dem ein weißer Rock hervorblitzte, barg ihren grazilen Körper.

„Dort ist er!“, sagte sie kühl und deutete mit einer knappen Kopfbewegung in die Richtung ihres Bruders, der vollkommen entkräftet an den Wall gelehnt saß. Olong trat aus dem Schutz der Abtei hinaus ins Freie und hockte sich zum Fiebernden nieder.

Die Frau behielt die Fackel fest in ihrer Hand – entschlossen, das Tor nach wie vor in Brand zu stecken oder sogar zuzuschlagen, sollte das hier nicht so vonstattengehen, wie sie es sich vorstellte.

Olong fühlte den Puls des erkrankten Mannes am Hals. „Wir müssen ihn sofort reinbringen – in die Kammer der Salbungen, der schenkt derzeit keiner Beachtung. Emeraud und Jin, helft mir, ihn behutsam zu tragen! Everos, du läufst vor und achtest darauf, dass niemand auf den Gängen unterwegs ist.“ Mit Sicht auf die Frau fügte Olong hinzu: „Wir müssen so leise sein wie unsere Schatten. Lösche das Feuer! Werden die anderen auf unsere Spur gebracht, ist seine Reise beendet und er wird in entfernten Gefilden wandeln.“ Sie zögerte, biss sich verärgert auf die Unterlippe, denn sie mochte es überhaupt nicht, wenn man ihr Vorschriften machte. Sie verstand aber, worauf es ihm ankam und drückte die Fackel im Schnee aus.

Everos nickte und tat, wie ihm geheißen. Jin und Emeraud packten zu. Eine Bö umspielte die Gruppe und wirbelte Schneeflocken auf. Der Rotschopf bildete das Schlusslicht und ließ sie nicht aus seinen wachsamen Augen.

Jin sah im Gehen zweifelnd zum offenen Tor zurück. Man würde erst im Nachhinein wissen, ob die getroffene Entscheidung die richtige war …

Everos begegnete auf einem der Flure einem hungrigen Mönch, der sich heimlich in die Küche schleichen wollte. Ertappt blaffte dieser den Burschen an: „Everos, du gehörst auf deinen Posten! Scher dich raus! Die Jugend bibbert mehr als die Alten. Ihr seid alle verweichlicht. Raus mit dir!“

Everos pflichtete ihm bei: „Ihr habt recht, Meister. Mir war zu kalt und ich suchte nach ein wenig Wärme. Was haltet Ihr davon, wenn ich Euch – selbstverständlich nur auf Euren Befehl hin – Brot in Euer Gemach bringe? So füllt sich Euer knurrender Magen und ich kann ein bisschen die Wärme im Bauwerk genießen.“

Verdrießlich stierte der Mönch ihn an und antwortete: „Zwei Scheiben und schneide was vom Schinken ab.“ Everos verbeugte sich ehrerbietig, während der Mönch den Weg in sein Kämmerlein antrat. Die Hände hinter seinem Rücken winkten die Gruppe zur hinabführenden Treppe in die unterirdischen Gewölbe. Feuchtigkeit und gelegentlich auch ein leichter, frostiger Wind drangen durch das Mauerwerk.

„Seid vorsichtig mit ihm!“, fauchte die Frau, die ihnen dicht auf den Fersen war. Sie kam ins Straucheln, da sich ihre Augen nicht so schnell an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Everos konnte sie gerade noch halten, damit sie nicht die harten Stufen hinabstürzte.

„Fass mich nicht an!“, keifte sie undankbar und löste sich von ihm. Er wisperte beleidigt: „Bei uns nannte man solche Weibsbilder Kratzbürsten.“

Jin drückte die Klinke zur besagten Kammer mit dem Ellenbogen herunter und konnte sie öffnen. Die drei Priester legten den Kranken auf einem steinernen Tisch ab.

Olong verteilte die Aufgaben: „Jin und Emeraud, wir benötigen Licht! Everos, hole Wasser und Brot!“

„Das passt gut. Ich hatte Pfabbel mi Kos versprechen müssen, ihm sein zweites Abendbrot zu bringen. So kann ich beides verbinden.“

„MeisterPfabbel mi Kos“, erinnerte Olong ihn an die korrekte Bezeichnung.

Everos brabbelte: „Ja, ja! Als wäre sein praller Bauch nicht schon gefüllt genug! Kein Wunder, dass die Vorräte rasch aufgebraucht sind!“ Er verließ nuschelnd die Kammer.

Jin und Emeraud suchten sämtliche Kerzen im Raum zusammen. Der junge Mann schlug die Feuersteine zigmal aneinander. Zu seinem Verdruss ging es nicht über einen Funkensprung hinaus.

Mit einem Trick gelang es Emeraud, die Kerze zu entzünden. „Mit diesem Flämmchen können wir nun die anderen Dochte entfachen.“

Jin hätte dies nicht gedacht und war beeindruckt, dass der sonst gemächliche Emeraud sich voller Tatkraft einem gewagten Unternehmen mit voraussichtlich üblem Resultat anschließen würde.

Mit Adleraugen beobachtete die unruhige Frau, wie Olong das Gewand des Kranken aufknöpfte. Da fragte sie schon: „Wie geht es ihm?“

„Leider verfüge ich nicht über die Gabe der Voraussicht. Ihr werdet schon warten müssen, bis ich ihn untersucht habe.“

„Ihr müsst ihm helfen!“

„Ich werde tun, was ich kann.“

Die Antwort stellte sie nicht zufrieden. Sie musste ihrer Aufforderung wohl mehr Nachdruck verleihen. Plötzlich zog sie einen Dolch aus einer Seitentasche an ihrem Gürtel und hielt dessen blankpolierte Spitze Olong entgegen. „Wenn ich auch nur für einen Moment den Eindruck habe, dass euer Handeln meinem Bruder schadet oder ihr zu wenig für ihn tut, schlitze ich Euch die Kehle auf.“

Provokativ nahm Olong seine Hände von dem Kranken und starrte sie herausfordernd an. Er würde sich nicht bedrohen lassen. „Wenn Ihr mich tötet, habt Ihr Euren Bruder gleichermaßen verdammt.“ Sie haderte mit sich und man sah ihr an, wie sehr sie es verabscheute, nachgeben zu müssen. Der Rotschopf ließ bereits die Waffe widerstrebend sinken, da zerschlug Everos einen Wasserkrug auf ihrem Kopf, wodurch sie bewusstlos niedersackte. Er war mit einem Tablett aus der Küche zurückgekehrt, hatte seinen geschätzten Meister in Gefahr gesehen und ihn beschützen wollen.

Acht Stunden später erwachte die Fremde mit schmerzendem Kopf. Sie lag auf mehreren Decken, die die steinerne Tischplatte bequemer machen sollten. Ihr Mantel war auf einem Stuhl ordentlich zusammengelegt. Ein beiges, eng anliegendes Mieder blitzte hervor, als sie sich aufrichtete und ihr ein Teil der Wolldecke auf den Schoß fiel. Etliche Kerzen erleuchteten den fensterlosen Raum und schufen eine gemütliche Atmosphäre. Sie rutschte von der Platte und huschte auf den Zehenspitzen zu ihrem Bruder herüber. Schweiß perlte ihm von der Stirn. Er atmete mit schweren Zügen durch den offenen Mund. Sie strich ihm eine rotbraune, schweißnasse Haarsträhne aus dem fahlen Gesicht. „Du wirst gesund, Micel. Das verspreche ich dir.“

Auf einem Hocker standen zwei Becher frischen Wassers, wovon sie das eine gleich herrlich erfrischend ihre Kehle hinunterschüttete. Dann hob sie Micels Haupt an und hielt ihm den zweiten Becher vor den Mund. Micel drehte seinen Kopf mit schwacher Bewegung fort und hielt seine Augen vehement geschlossen. Sie benetzte ihm wenigstens die spröden Lippen.

Auf dem Hocker warteten zudem eine dick belegte Scheibe Brot und ein dampfendes Süppchen in einem handgroßen Gestell über einer Kerzenflamme. Sie griff hungrig nach dem leckeren Brot. Den letzten Bissen verschlang sie hastig, als die Tür zur Kammer aufgeschoben wurde und Olong hereintrat.

Mit feurigroter, üppiger Mähne stand sie in kerzengerader Haltung am Krankenbett. Sie verschränkte die Arme vor dem Mieder, wodurch ihr beeindruckender Vorbau noch mehr betont wurde. Der geraffte Rock raschelte bei jeder Regung.

Olong schenkte dem wenig Aufmerksamkeit. „Du bist wach. Das Brot hat dir hoffentlich geschmeckt.“

Sie bemerkte mit unterdrückter Scham, dass ihr ein Krümel am Kinn hing. Eilig wischte sie ihn weg und sprach reumütig: „Ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen. Die Sorge um meinen Bruder treibt mich in den Wahnsinn.“

Olong entdeckte Aufrichtigkeit in ihren Sätzen und nickte vergebend. „So verzeihe du uns, dass dich ein Schlag in die Welt der Träume geschickt hat.“

Sie ignorierte das Thema und die sich entwickelnde Beule am Hinterkopf. „Wie geht es Micel?“

„Das ist also sein Name. Wie lautet deiner?“

Ein kurzer Moment der Stille hüllte die erleuchtete Kammer ein. Olong tauchte derweil ein gefaltetes Tuch in eine Schale mit geschmolzenem Schnee und legte es Micel auf die heiße Stirn.

„Lucrezia Demonde. Die meisten nennen mich Zia.“

„Erzähle mir, wo dein Bruder sichdas hiereingefangen hat!“ Olong schob das Laken von Micels nacktem Oberkörper. Schwarze Flecken zogen sich über seinen Brustkorb, der durch die Hechelatmung auf und ab wippte.

Lucrezia schluckte. „Vor drei Monaten hat uns ein Schiff an der Küste von Xander abgesetzt. An Bord war eine greise, sehr kranke Magierin. Micel hat sich in seiner Gutmütigkeit ihrer angenommen, sie hingebungsvoll gepflegt und dennoch ist sie unmittelbar vor der Ankunft in seinen Armen verstorben. Die Alte wies auch solche Male auf, hielt sie jedoch versteckt, aus Angst, man würde sie den Wellen übergeben, wenn die Fantasie der Leute zu galoppieren begann. Ich warnte Micel vor einem Fluch, der womöglich auf ihr lastete und auf ihn übergehen könnte! Dieser törichte Nichtsnutz, verdammt, nein, das meine ich nicht so …“

Ihre Augen bewegten sich rastlos hin und her, als wäre sie mitten im Geschehen und würde den Tod der Frau erneut miterleben.

Olong fuhr mit der Spitze eines dünnen Holzstäbchens an Micels Ohr entlang. Dabei veränderte er an den jeweiligen Stellen bewusst den Druck und pikste ihn gegebenenfalls sogar leicht. Nach wenigen Minuten entspannte sich der Atemrhythmus des Kranken. „Was passierte danach?“

„Zuerst war alles in Ordnung, doch je näher wir Herras kamen, desto mehr verschlechterte sich sein Zustand. Micel tippte auf eine Erkältung, die ihn etwas schwächeln ließ. Ich wollte, dass er sich sicherheitshalber untersuchen ließ.“

„DieGesandten des Himmelsbeteuern, wer auf der Suche nach Gott ist, wird in ihren Reihen fündig. Auch wenn wir Selene anbeten, so ist meiner Meinung nach der Gott Vater überall – somit auch in unserer Göttin. Die Priester boten euch Hilfe?“

Lucrezias Miene verhärtete sich. „Diese Gottesmänner“, äußerte sie verächtlich, „haben uns den Einlass verwehrt. Micel hätte sich erst ihrem Glauben anschließen müssen, damit er die Schwelle übertreten dürfte. Ich hätte jeden Einzelnen von ihnen herausgeprügelt! Er bat mich, keinen Aufstand zu machen und wir stiefelten weiter.“

Olong zog sich einen Stuhl heran, setzte sich zu Micel, angelte ein Fläschchen aus dem Trompetenärmel seiner Kutte und träufelte den derb riechenden Inhalt in den Wasserbecher.

Der Meister legte seinen linken Arm stützend unter den Kopf des Kranken. Bevor Olong den Becher an Micels Mund führen konnte, stoppte Lucrezia ihn. „Ihr wollt doch wohl nicht dieses stinkende Hexengebräu meinem Bruder einflößen?“

„Das ist Nadar-Beritta. Möchtest du es ihm geben?“

„Wozu soll das nützlich sein?“

„Fieber ist gerechtfertigt, wenn der Körper in der Lage ist, es sinnvoll einzusetzen. Das Fieber, das deinen Bruder plagt, bringt ihn um, wenn die Temperatur nicht bald sinkt. Wir haben ihn gestern mit Schnee zugedeckt und ihm Tee sowie Suppe verabreicht. Viele Möglichkeiten bleiben uns nicht mehr. Wie lange hat er das Fieber schon? Von Herras zu uns ist es ein Fußmarsch von zwei Monaten. Wie hat er das überlebt?“

Lucrezia löste den Griff und ließ Olong unter ihrer skeptischen Aufsicht gewähren. „Nach Herras überzeugte mich Micel, dass es eine simple Erkältung war, bis er anfing, einen Großteil der Nahrung zu erbrechen. Selbst das Trinkwasser konnte er kaum in sich behalten. Die Heilkunst von euch Mönchen in Monshire kam uns zu Ohren und ich wollte dorthin. Zwischendurch ging es ihm an manchen Tagen richtig blendend, sodass er meinte, wir könnten abdrehen und unsere eigentliche Route nach Azurol, gen Heimat, einschlagen. Das liegt im Westen bei den Donnerklippen. Azurol kennt fast niemand, die Donnerklippen dagegen sind Euch gewiss bekannt. Dann stieß ich allerdings auf diese seltsamen Flecken an ihm und mein Gefühl riet mir, den Kurs auf die legendäre Abtei beizubehalten. Drei Tage vor unserer Ankunft begann er Blut zu spucken und wie aus dem Nichts übermannte ihn das Fieber. Mehr schlecht als recht habe ich ihn herschleppen können.“

„Ich verstehe“, erwiderte Olong knapp. „Hartnäckigkeit und Willensstärke, vor allem die Liebe zu deinem Bruder, haben dir unsere Tore geöffnet.“

Sie setzte sich Olong gegenüber, sodass Micel zwischen ihnen ruhte, und musterte den Anhänger derPriester der alten Zeit