Festung des Teufels - Band 1 - Elisabeth Vinera - E-Book

Festung des Teufels - Band 1 E-Book

Elisabeth Vinera

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Beschreibung

"Teufel", so nannten die Völker ein Wesen, das Grauen um sich scharte, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Er war zwar versiegelt, aber eine Legende berichtete von seinem Erwachen und die alten Schriften behielten Recht. Zudem besagten diese, dass die "Zukunft der Welt" in den Händen von jungen Menschen liegen würde. Es stand geschrieben: "Einem unbefleckten Mädchen und zwei ungleichen Jungen wird die Bürde auferlegt. Jeder hat sein eigenes Ziel vor Augen, das mit der Erfüllung ihrer Aufgabe nach und nach verblasst. Sie, die die Auserwählten sind, tragen das verhängnisvolle Zeichen des Teufels."

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Seitenzahl: 305

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Elf Clane, drei Auserwählte, ein Schicksal

Kapitel 1

Abtei des Mondes

Kapitel 2

Verschlungene Pfade 

Kapitel 3

Barbarische Retter

Kapitel 4

Geschändetes Dorf

Kapitel 5

Roskil

Kapitel 6

Drei Herrscher und sechs Giganten

Kapitel 7

Die Tänzerinnen von Andúl

Kapitel 8

Wege durch die Wüste

Kapitel 9

Die verfluchten Tempel der Scharame

Kapitel 10

Sarais Wandlung

Kapitel 11

Die Schlucht von Mongul

Kapitel 12

Vertrauter Feind

Kapitel 13

Stille

Glossar

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2014 novum publishing gmbh

ISBN Printausgabe:978-3-99038-443-5

ISBN e-book:978-3-99038-444-2

Lektorat:Susanne Schilp

Umschlagfoto:Ekaterina Yudina, Philcold | Dreamstime.com, Elisabeth Vinera

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen:Elisabeth Vinera(1)

www.novumverlag.com

Elf Clane, drei Auserwählte, ein Schicksal

In der unendlichen Weite des Weltalls gibt es noch so viele unentdeckte Planeten, die darauf warten, gefunden zu werden, um ihre Geschichten weitergeben zu können. Denn in den Geschichten leben Orte und Personen fort, solange sie erzählt werden.

Weitab von der Erde und fernöstlich von Faja befindet sich ein solcher Planet namens Ziron, der seine Geschichte in alle Gefilde tragen möchte. Denn all das, was sich auf Ziron ereignet und den Menschen dort zustößt, ist zu bedeutsam, als dass es einfach in Vergessenheit geraten dürfte.

Dreizehn Kontinente erstrecken sich über Ziron. Zeder ist einer von ihnen, der kleinste, aber ebenso der geheimnisvollste von allen.

Zeders Klima ist wie von einem Schnitt in zwei Hälften geteilt. Der blühende Norden ist reich an fruchtbarem Boden und üppigen Wiesen, während im kahlen Süden Dürre herrscht.

Aber nicht nur dies ist das Einzigartige an Zeder, sondern auch die Tatsache, dass sich die elf Hauptclane mit ihren Hauptsitzen auf diesem Kontinent angesiedelt haben. Gut und Böse an einem Ort …

Kapitel 1

Abtei des Mondes

Dreizehnter des Fairus im Jahre des Drachenblutes 56. 

Ein dunkler, nicht enden wollender Regen legte sich seit Tagen über die sanften Hügel Monshires, durchnässte die sattgrünen Wiesen und Wälder und ließ die kleinen Bäche zu reißenden Strömen anschwellen. 

Die Frühjahrsstürme kamen zeitiger und mit einer ungewohnten Gewalt. Teile der aufgeweichten Erde wälzten sich in dunkelbraunen, trägen Lachen in die Täler hinab und machten die wenigen Pfade unpassierbar. 

Der Orkan schlug tiefe Schneisen in die Wälder. Auf diesen Schneisen floss das Regenwasser so rasant ab, dass es weit verzweigte Rinnen in den Boden grub. Es schien, als wollte sich die Erde dem Unwetter ergeben. 

Seit den Abendstunden zog der Sturm ein weiteres Register seines Könnens: Unaufhörlich jagten sich Blitz und Donner in einem Tempo, welches die Menschen hierzulande zusammenrücken ließ. Ihre Sorge galt nicht mehr der weggeschwemmten Ackerkrume. Vielmehr hatte die rohe Naturgewalt die Bewohner überrascht. Irgendetwas war anders als bisher und dieses „Anders“ grub die Furcht mit jedem Donnerschlag tiefer in die Gesichter der Menschen.

Hoch oben, auf einem der größten Hügel Monshires, trotzte ein massives Gebäude wacker dem Sturm. Das Unwetter ließ das Anwesen anhand seiner Umrisse erahnen, die immer dann für einen Wimpernschlag aufleuchteten, wenn die Blitze am düsteren Himmel zuckten.

Es war die „Abtei des Mondes“, die von den „Priestern der alten Zeit“ bewirtschaftet wurde. Keiner außerhalb des Walls, der die Abtei umgab, wusste Genaues über das Kloster. Das Einzige, was bekannt war, war die Tatsache, dass die Priester der Mondgöttin Selene unterstanden.

Fröstelnd patrouillierte ein junger Mann auf dem drei Meter hohen Wall. Er sprang hin und wieder von einem Fuß auf den anderen, um sich ein wenig warmzuhalten. Rotz tropfte seit einer Ewigkeit aus seiner roten Nase. Die Gesichtsmuskeln waren dermaßen unterkühlt, dass er sie kaum noch bewegen, geschweige denn überhaupt großartig spüren konnte.

Das Einzige, was ihn einigermaßen vor dem unnachgiebigenDauerregenund dem kalten Wind, der ihm um die Ohren pfiff, behütete, war sein Priestergewand. Im Vergleich zu den Gewändern der meisten anderen war seines jedoch nicht blau und prunkvoll gestaltet, sondern grün und schlicht. 

Die Farbe der Kleidung gab Aufschluss über den Stand, welchen er innerhalb des Clans hatte. Der Bursche war mit neun Jahren von seinen Eltern hierher geschickt worden und lebte inzwischen sechs Jahre hier. Er befand sich inmitten der Ausbildung und hatte noch eine lange Lehrzeit vor sich, um so weise und besonnen zu werden wie die Meister in ihren blauen Gewändern.

Nur einer trug die Farbe des Abendrotes, das Oberhaupt des Clans, der Hohepriester Sa de Fra. 

Die linke Hand hatte der Jüngling namens Jin tief in dem langen Trompetenärmel seiner Kutte verborgen. Die vor Kälte tauben Finger der rechten Hand krallten sich verzweifelt in sein Hütchen, um es im Sturm nicht zu verlieren. 

Das gewaltige Grollen des Himmels ließ seinen Körper erzittern. Solch eine Naturmacht war ihm nicht geheuer.

Es fiel ihm schwer mit offenen Augen Ausschau zu halten. Regen und Wind peitschten ihm ununterbrochen ins Antlitz. Fast die gesamte Zeit blinzelte er durch die Augenschlitze und versuchte, bestmöglich die Umgebung zu überwachen. Und da seine Augen zu den schärfsten gehörten – immerhin war die Mehrheit der ansässigen Männer alt und ihre Sicht bereits getrübt –, war er der Erste, der eine Veränderung außerhalb der Mauer bemerkte.Da draußen ist wer …

Kraftlos näherte sich eine bis aufs Mark durchnässte Person dem Kloster. „Noch ein Stückchen …“, murmelte sie erschöpft. 

Jin beugte sich etwas über die steinige Brüstung, um festzustellen, ob seine Augen ihm am Ende nicht ein Schauspiel vorgaukelten. Eine Person bei diesem Wetter an diesem Ort?

Dennoch, tatsächlich. Da kam jemand.

Jins erste Worte glichen einem Piepsen. Er hörte sich selbst kaum, räusperte sich kräftig und schriediesmallauthals: „Öffnet die Pforten!“

Der Bursche erntete verwunderte Blicke seiner Kameraden. Nichts tat sich, weil Jin auf Grund seines Status als Grünschnabel galt, und sie in der Dunkelheit und dem Gewitter nichts erkannt hatten.

„Dort draußen ist ein Mädchen!!!“, drängte Jin verzweifelt, forderte beinahe, ihr unverzüglich Einlass zu gewähren. 

Er konzentrierte sich völlig auf die Näherkommende, deren Haare wild vom Sturm zerzaust wurden. 

Kurzzeitigverlorer seine Körperbeherrschung. Die Finger lockerten sich. Das Hütchen wurde ihm fortgerissen. Er wollte danach greifen, musste stattdessen Acht geben, dabei nicht über die Brüstung zu fallen.

Den Wachposten am großen Tor entging die Aufregung des Jungen nicht. Sie schienen sich recht sicher zu sein, dass es sich um keinen Scherz handelte.Deshalblockerten sie die Seile, um den waagerechten Balken abnehmen zu können, der das Tor verbarrikadierte. Er war so schwer, dass vier starke Männer Probleme hatten, ihn beiseitezuschaffen.

„Wartet!“, erhob sich eine entschiedene Stimme. Sie gehörte einem der Ältesten, dessen Worte dementsprechend mehr Beachtung fanden. „Vielleicht ist es ein Hinterhalt … Womöglich wieder dieses Dreckspack von Gaunern.“ Für seine misstrauische Haltung und abschätzigen Worte war der Greis wohl bekannt, weshalb ihn alle heimlich Grimm nannten. Er musste ständig seine grimmige Ader ausleben.

Der Alte war ein verbitterter Mann, seitdem er sein linkes Bein vor langer Zeit in einem sinnlosen Krieg verloren hatte. AusKummerzog er sich zurück und fand den Weg ins Kloster. Das fehlende Bein wurde durch ein einfaches Holzbein ersetzt. Das regelmäßige Aufschlagen des Stockes am Boden kündigte sein Kommen an, bevor er zu sehen war. 

Grimm war über achtzig Jahre alt und trug ein blaues Gewand. Er ließ von seiner Weisheit wenig erkennen, wenn überhaupt etwas davon vorhanden war, wie die Jünglinge ab und zu spotteten.

Grimm wartete auf den Tod, und bis dieser Tag kommen würde, ging er seinem einzigen Lebenstrieb nach, seiner selbstzugewiesenen Aufgabe: Kontrolle und Ordnung schaffen. Grimm war hart, gerade was die Verletzung von Regeln betraf. Würde man ihn so frei walten lassen, wie er wollte, wäre die Welt seines Erachtens nach ein bisschen besser.

„Sie benötigt Hilfe! Schaut doch, sie muss vollkommen unterkühlt sein! Wer weiß, wie lange sie unterwegs ist …“ Grimm blockte den Protest des in seinen Augen gänzlich unerfahrenen Jin mit einer strikten Handbewegung ab. Murrend verstummte dieser.

Aus der Richtung, in der das Abteigebäude lag, sah man die kleine Flamme eines Windlichtes. Wie ein Hoffnungsschimmer kämpfte sie tapfer gegen das Unwetter an. Ihr Licht war bis zu den Posten der Männer am Tor des Walls zu erkennen. 

Ein weiterer Priester kam zu der unruhigen Truppe, mit einer Laterne in der linken Hand. „Was ist hier los? Warum wurde das Tor entriegelt?“ 

Jins Augen erhellten sich vor Freude und Erleichterung, als er die Stimme seines Meisters vernahm. Wegen des spärlichen Lichts ließen sich die ernsten Gesichtszüge des großen Mannes nur erahnen. 

Jin hastete die glitschige, steinerne Treppe der Mauer hinab, rutschte auf den letzten Stufen aus und polterte hinunter, bis er letztlich im Matsch vor seinem Meister auf dem Boden lag. 

Er rappelte sich innerhalb weniger Sekunden wieder hoch, spuckte den Dreck aus, wischte sich nebenbei über das beschmutzte Gesicht und sprach abgehetzt: „Meister Olong, da draußen ist ein Mädchen. Sie braucht bestimmt Hilfe.“ 

Grimm stand immer noch oberhalb der Mauer und spitzte seine Ohren, um ja alles oder zumindest vieles zu belauschen. „Vielleicht wandert sie“, warf der Greis ermahnend ein. Wenn Grimm zur Wache eingeteilt war, sollten seine Anweisungen gefälligst befolgt werden. Hier lebten ausschließlich Männer. Frauen hatten seiner Meinung nach in dieser Örtlichkeit nichts zu suchen. 

Jins erwartungsvolle Augen starrten den Gläubigen mit dem Windlicht an. „Meister Olong, bitte helft ihr!“, beharrte der Junge flüsternd. Dieser nickte und verkündete laut: „Macht das Tor auf!“

Der verbitterte Grimm knirschte wütend mit den Zähnen. Was war aus der einstigen Disziplin geworden? Warum hatte nicht er die höchste Gewalt? Warum musste dieser Olong ihm so oft in die Quere kommen?

Grimm sah seit zig Jahren in dem weitaus jüngeren Olong seinen Rivalen. Der Alte weigerte sich beharrlich einzusehen, dass die Befehle eines jüngeren Lehrmeisters mehr Bedeutung hatten als seine. Dabei hatte dies seinen Grund.

Olong war mit vier Jahren vor dem Tor der Abtei gefunden worden. Der Clan nahm ihn auf,unterrichteteihn, machte einen hervorragenden Schüler und noch einen viel besseren Lehrer aus ihm. Denn Olong besaß, was viele Menschen verloren hatten: Herzlichkeit. Olong war gütig, weise und stark. Einige munkelten, dass er womöglich der zukünftige Hohepriester sei, auch wenn diese Stelle bereits einem anderen versprochen war.

Die beiden schweren Flügel des schwarzen Tores ächzten, als zwei Männer sie mühsam nach innen öffneten. 

Olong, dicht gefolgt von Jin, lief zügig aus dem Schutz der Abtei hinaus ins Freie. „Wo ist sie?“, rief er mit kräftiger Stimme, sodass sein Lehrling ihn recht gut verstehen konnte. 

Vier aufmerksame Augen durchsuchten ungeduldig die stürmische Umgebung. Olong schwang die Laterne von einer Richtung in die andere. 

Der Sturm wurde zunehmendstärker.

„Dort, Meister!“, Jin entdeckte die junge Frau. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. 

Die letzten Meter stolperte sie und landete in Olongs Armen, der einen großen Ausfallschritt eingelegt hatte, um sie überhaupt noch greifen zu können. Während sie in seine starken Arme sank, bedankte sich das Mädchen mit einem kraftlosen Lächeln. 

„Halt das, Jin!“, Olong drückte ihm die Laterne in die Hände. Das schwache Licht zeichnete sich auf dem Gesicht der Fremden ab. Sie war blass und mager. 

Während Olong das Mädchen auf seine Arme nahm, bemerkte Jin dunkelrote Flecken auf ihrer eingerissenen Kleidung. War das Blut?

Ermattet bewegten sich ihre Lippen, ohne dass ein Wort hervordrang. Der Meister sprach sanft: „Du bist in Sicherheit.“ 

Ihre Augenlider öffneten sich ein Stückchen mehr, als wollte, als müsste sie unbedingt etwas sagen. Ihre Finger versuchten, einen leichten Druck auf seinen Oberarm auszuüben.

Olong blieb stehen und hielt sein Ohr dicht an ihre Lippen. Flüsternd brachte sie hervor: „Ich muss zum Hohepriester.Erist erwacht.“

Olongs Augen weiteten sich erschrocken. Jin entging dieser Blick nicht.

Länger konnte das Mädchen nicht gegen die Erschöpfung ankämpfen. Die Umgebung verschwamm. Dunkelheit breitete sich aus. Sie verlor das Bewusstsein.

Das Knistern des Kamins war deutlich zu hören. Innerhalb des kalten, steinernen Gemäuers war er die einzige Wärmequelle.

Der Regen hatte aufgehört und die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Sonnenstrahlen und Vogelgezwitscher drangen durch das offene Fenster in den stillen Raum. Eine leichte Brise spielte mit den weißen Vorhängen. 

Das Mädchen befand sich in einem Burggemach. 

Sie öffnete schläfrig die Augen, nahm das kühlende Tuch von ihrer Stirn und richtete sich auf. Ihr Kopf schmerzte. Einen flüchtigen Moment lang schien sich alles um sie zu drehen. Nur allmählich nahm sie die Umrisse des Raumes wahr. 

Sie kannte dieses Zimmer nicht. Wo war sie? Was machte sie hier? Die Erinnerungen an Vergangenes waren vage.

Sie erhob sich von dem harten Bett, spürte deutlich, dass ihr Rücken schmerzte, und tapste wackelig zu einem Holzstuhl. Dort stützte sie sich auf, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Auf der Sitzfläche lagen ihre trockenen Sachen – gesäubert, geflickt und ordentlich zusammengelegt. Sie strich behutsam über das gelbe Oberteil, hob es hoch und stellte fest, dass die rötlichen Flecken selbst nach der Reinigung noch schwach sichtbar waren. Sie glaubte zumindest, solche erkennen zu können. Die verblassten Blutflecken waren die düsteren Schatten der Vergangenheit. 

Diese Flecken … Blutbesudelt. Stimmt. Sie erinnerte sich an einen Kampf. 

Gorlois, der Anführer ihres Clans, war es, der seine Hand auf ihre Schulter legte, als die Kunde über den Einfall der Feinde bereits in aller Munde war. „Sarai, du bist unsere Hoffnung. Du bist das Licht. Und heute ist nicht der Tag, an dem deine Lebenskerze erlöschen wird. Großes liegt vor dir. Wir alle vertrauen dir und stehen jederzeit hinter dir. Aber jetzt ist es an der Zeit für dich, die Prophezeiung zu erfüllen.“ Mit bedächtigem Ton richtete er diese Worte an die junge Frau, die erstmals Widerrede einlegte: „Ich lasse euch nicht im Stich! Ich möchte bei euch bleiben! Lass mich hier!“ Gorlois antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln und erklärte: „Wenn du nicht gehst, werden alle umsonst sterben.“ Dieser Satz fraß sich so in Sarais Herz, dass es schmerzte. 

Tränen liefen über ihre Wangen. Der Hauptsitz Clifftown war zu ihrer Heimat geworden. Diese Menschen waren jetzt ihre Familie, nachdem sie ihre eigene verloren hatte. Das alles sollte sie verlassen? Das alles sollte sie im Stich lassen?

Kämpfe. Immer nur Kämpfe. Macht. Ruhm. Absolute Herrschaft. Wozu das alles?

Gorlois hörte ein Bersten. Die Tür zu dem Haus wurde aufgebrochen. Lärmendes Kampfgeschrei. 

Gorlois wehrte die zwei hereinstürzenden Krieger ab. Ein letztes Mal blickte er zu Sarai zurück und erteilte ihr mit großer Ernsthaftigkeit den Rat: „Überlebe!“

Betroffen kniff Sarai die Augen zusammen. Was war wohl aus ihren Freunden geworden? Diese Frage könnte sie sich sicherlich beantworten aber sie traute es sich nicht. Die Wahrheit sollte so lange verborgen bleiben, bis diese sie eiskalt einholen würde. 

Sarai fühlte einen Stich in ihrem rechten Unterarm. Erst jetzt bemerkte sie, dass dieser bandagiert war. Zudem trug sie ein aschgraues, riesiges Hemd mit zwei baumelnden Schnüren am Halsansatz. Das Hemd war dermaßen groß, dass sie gut zwei- oder gar dreimal hineingepasst hätte. Es verdeckte fast komplett die tannengrüne, locker sitzende Baumwollhose, welche ihr bis zu den Knien reichte. 

Diese eigenwillige Kleidung brachte sie wieder zu der Frage, was eigentlich geschehen war. Wo war sie?

Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern. Verschwommenes wurde klarer.Ein Schatten hatte sie aufgefangen und sich über sie gebeugt. Diese Person … sie schien besorgt. Eswar ein Priester. Genau. 

Ruckartig bewegte sie sich zum Fenster. Unten war ein weiter Hof, in dessen Mitte sich die Statue einer nackten Frau befand. Einzelne Priester hielten vor dem Abbild inne und beteten. Ihre blauen Kutten mit den Trompetenärmeln waren am Rücken mit einem Halbmond geschmückt, das Symbol der Göttin Selene. Die kahlen Köpfe der Männer wurden von einem dreieckigen Hütchen bedeckt. Jede der Personen wirkte allein auf Grund der edlen Kleidung heilig.

In der Ferne erstreckten sich prächtige Hügel und Felder. 

Es war kein Traum gewesen. „Monshire …“, wisperte Sarai glücklich. Sie hatte die Abtei und somit das Gebiet der „Priester der alten Zeit“ erreicht. Voller Freude leuchteten ihre meerblauen Augen.

Monshire war heiliges Land. Der Glaube an Götter war weit verbreitet. Die Göttin Selene sollte einst diesen Fleck Erde geküsst und gesegnet haben. Seither wanderten viele Pilger durch das grüne Land.

Großen Wohlstand gab es in dieser Gegend nicht. Hier setzte man nicht auf materielle Kostbarkeiten, sondern lebte friedlich im Einklang mit der Natur.

Die drei Dutzend Menschen, die weit verstreut über die umliegenden Täler in schlichten Dörfern lebten, brachten Jahr um Jahr ihre Ernte ein. Über die Jahrhunderte hinweg hatten sie gelernt, den fruchtbaren Boden zu nutzen.

Die Priester trieben bescheidenen Handel zur Vorratshaltung der Abtei. Dieser Handel wurde fernab des Klosters getätigt. Es war immer derselbe Priester, dem diese Aufgabe zuteil wurde – ein Lehrmeister, der den Namen Olong van Ga trug. Er wickelte die Alltagsgeschäfte mit den Einheimischen einmal pro Woche ab. Er sprach dabei bloß das Notwendigste, kaufte mit Bedacht, aber zahlte zu fairen Konditionen.Angesichts dieser Tatsachen wirbelten Mutmaßungen, Legenden und Sagen wie ein beständiger Wirbelsturm über die Lande, ohne dass eine dieser Spekulationen das Wesen und den Zweck des Klosters erklären konnte.

Hastig entledigte Sarai sich ihrer notdürftigen Bekleidung und warf sie auf das Bett. 

Mit schnellen Schritten, wobei es sich fast um zwei große Sprünge handelte, eilte sie zu einem Waschtisch, um sich zurechtzumachen. Das Mädchen griff nach dem Krug, goss kaltes Wasser in die Schale, verschüttete ein paar Tropfen und tauchte ihr Gesicht in das kühle Nass. 

Als sie aufsah, blickte sie in einen vergilbten Wandspiegel. Ein kleiner Sprung zog sich über die rechte Hälfte des Glases. 

Erschrocken verharrte sie. Ihr zartes Gesicht war schmaler geworden, die Haut fahl. Sie schluckte.Belanglos … 

Mit den Fingern fuhr sich das Mädchen geschickt durch ihre schulterlangen, braunen Haare, um sie zu glätten. 

Umständlich zwängte sie sich in ihr gelbes Oberteil, das sich eng an ihren Körper schmiegte. Der weinrote Rock aus Kräuselkrepp umspielte ihre zerkratzten Knie. Ein braunes Beutelchen baumelte an seinem Gürtel. Um die Hüfte band sie ihre dunkelblaue Jacke. Die schwarzen Halbschuhe sahen alt und abgetragen aus, waren aber dennoch geputzt.

Zaghaft öffnete sie die Tür der Kammer und lugte vorsichtig hinaus. Keine Menschenseele befand sich auf dem langen Gang. Fackeln brannten an den bemalten Wänden. 

Sie lief den Flur entlang. Beeindruckt musterte sie die gewölbte Decke weit über ihr. 

Ungefähr alle zehn Meter kam Sarai an einem Gemälde mit dem Motiv der Selene vorbei. Auf jedem Bild war die Göttin in voller Schönheit dargestellt, mit goldschimmernden Haaren und schneeweißer Haut. Als Hüterin des Mondes besuchte sie der Legende nach zu jeder Vollmondnacht in ihrer silbernen Kutsche die Menschen. 

Auf vielen der Porträts wirkte die Göttin sehnsuchtsvoll. Kein Wunder, dort wo sie herrschte, war sie einsam. 

Der Korridor nahm allmählich ein Ende und mündete in einen Saal. Die linke Seite der Halle bestand aus einem riesigen Fenster. Unzählige, farbenfrohe Glasscheibchen formten einen riesigen Halbmond, der das Sonnenlicht in tausend Farben brach und das triste Mauerwerk leuchten ließ. 

Das unerwartete Farbenspiel raubte Sarai Atem und Sprache. Stumm taufte sie den lichtdurchfluteten Raum auf den Namen „Regenbogensaal“. 

Die Decke des Regenbogensaals lag weit, sehr weit über Sarai und gab den Blick auf höher gelegene Etagen frei. Die Stockwerke waren ebenfalls halbmondförmig angelegt.

Ein Springbrunnen plätscherte. Während Sarai einen Schluck von dem klaren Wasser nahm, spürte sie, wie ein warnendes Gefühl ihr Innerstes erfasste. Seit sie von Clifftown hatte fliehen müssen, um sich nach Monshire durchzuschlagen, hatten sich ihre Sinne geschärft, und wenn sie auf etwas vertrauen konnte, dann war das ihre Intuition. 

Ganz sicher, jemand war hier. Sie war nicht allein. Jemand beobachtete sie. 

Gänsehaut. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. 

Sie versuchte sich innerlich zu beruhigen und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Lippen. 

Dann wandte sie ihren Blick gezielt nach oben zu einem der Korridore. Dort, von der Dunkelheit beinahe gänzlich verborgen, stand eine Person und blickte auf sie nieder. Augen, die vor Stärke und Macht leuchteten, hatten Sarai im Visier. 

„Du bist wach?!“ 

Sarai zuckte erschrocken zusammen. Olong van Ga, der hochgewachsene Meister mit dem männlich markanten Gesicht, schritt fröhlich auf sie zu, begrüßte sie mit einem festen Händedruck und stellte sich vor. Das Mädchen erwiderte: „Ich bin Sarai.“ 

„Du hast drei Tage geschlafen. Wir versuchten, währenddessen deine Wunden zu heilen.“ Sein Mund bewegte sich zwar, doch Sarai nahm seine Stimme nicht mehr wahr. Drei Tage?! So viel Zeit hatte sie inzwischen verloren?

„Bleibe so lange du willst.“ 

„Ich muss den Hohepriester sprechen, sofort!“, unterbrach sie ihn mit fester Stimme. Olong sah sie schweigend an. Er ließ seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde an ihr vorbeischweifen, bevor er unerwartet beide Handflächen wie zum Gebet schloss, als wollte er die Göttin anrufen, und beugte sein Haupt. 

Sarai blickte über ihre Schulter und entdeckte einen zweiten Priester hinter ihrem Rücken. Er hatte soeben die Halle betreten. Seine Gesichtszüge waren von den fast sechzig Lebensjahren gekennzeichnet. Sein Dreitagebart betonte das schmal-kantige Antlitz zusätzlich. Die spitze Nase ragte zwischen den kleinen Schlitzaugen hervor, die Sarai unter buschig-dichten Brauen unverhohlen begutachteten. 

Im Gegensatz zum Großteil der ansässigen Männer hatte Rassu, der eben eingetretene Priester, rabenschwarze Haare und nicht wie die anderen einen kahlgeschorenen Kopf. War das ein Privileg? 

„Welchem Clan gehörst du an?“, fragte Rassu sie ernst und presste nach den Worten seine Lippen gleich wieder zusammen, um weder freundlich zu wirken noch ein Lächeln zuzulassen. 

„Schrei der Welt“, antwortete Sarai vorsichtig und wich seinem forschen Blick aus. Er kam ihr näher. „Zeige es mir!“, forderte Rassu strikt. Sarai schien nicht erstaunt. 

„Ich weiß, was Ihr sucht.“ Sie blinzelte kurz hinauf zum Korridor und stellte fest, dass die Person mit den ausdrucksstarken Augen verschwunden war.

Sarai streifte ihr Oberteil ein Stück herunter. Olong sah aus Anstand fort, während Rassu sie beharrlich fixierte. Sie wandte den zwei Mönchen ihren unbedeckten Rücken zu. 

„Olong, beginne!“, wies Rassu an.Möglicherweise ist sie das Weib, das uns das Orakel vorhersagte. 

Anfangs verdutzt über die plötzliche Anordnung, fasste Olong sich schnell und voller Konzentration flüsterte der jüngere Gelehrte Worte in einer geheimnisvollen Sprache, die den meisten Menschen unverständlich war.

Olongs Hände waren gefaltet, bis auf die gestreckten Zeigefinger. „… isim go varek arza …“ Sarai kannte die magische Beschwörungsformel. Früher diente sie dazu, den Teufel zu preisen. Seine Mitstreiter waren es, die ihn in höchstem Maße lobten und ihm treu ergeben waren. Irgendwann geriet die Sprache in Vergessenheit, und nur wenige beherrschten sie noch. „… akum se obal mi nu …“ Sarai war weder eine Freundin des Verhassten noch eine Verfluchte. Vielmehr gehörte sie unfreiwillig zu den Auserwählten, die gegen den Herrn der Finsternis in den Kampf ziehen sollten. Dabei wollte Sarai die Weltfriedlichbeschützen. Nun musste sie jedoch bereit sein zu töten.

Ihr Herzschlag wurdeumsoschneller, desto näher die Beschwörung ihrem Höhepunkt kam. Sie spürte Stiche in der Brust. Die Luft wurde stickiger, als schnüre man ihr den Brustkorb enger. Sie glaubte, nicht mehr atmen zu können. Diese körperliche Torturwar nötig, damit der Hinweis sichtbar wurde, der sie als wahre Auserkorene kennzeichnete. „… raschi dü mol TADUR!“ Kraftvoll betonte Olong das letzte Wort. 

Sarai hatte das Gefühl, dass ihr Puls stillstand. Ein Windstoß zerzauste die Haare des Mädchens, obwohl alle Fenster im Saal geschlossen waren. Sarais blaue Augen färbten sich plötzlich schwarz, jeglicher Funke an Wärme und Menschlichkeit erlosch. Ihr Rücken schien in grünen Flammen aufzugehen, die sich zu zwei gebogenen Hörnern formierten. Ein großes X und ein blitzförmiger Strahl verbanden die Hörner, aus ihnen ragte jeweils ein Pfeil empor, sodass kein Zweifel mehr bestand: das Symbol des Teufels. 

Sekunden später verblasste das Symbol. Sarais Seele kehrte in ihren Körper zurück. Außer Atem sank das Mädchen auf die Knie und rang nach Luft. Olong hastete zu ihr. Geschickte Handgriffe an ihrem Hals ließen sie zur Ruhe kommen. 

„Freut mich dich kennenzulernen, Sarai, Auserwählte. Mein Name ist Rassu le Pier. Ich werde in naher Zukunft der Hohepriester sein.“ 

Oh ja … Von seinem zukünftigen Posten erzählte er jedermann. Um Anerkennung oder Neid zu erhaschen? War er für dieses Amt wirklich der Richtige? Wie auch immer … Diese Entscheidung lag einzig und allein beim jetzigen Hohepriester Sa de Fra. Er würde wissen, was er tat, wen er einsetzte. 

„Ich muss zu …“, keuchte Sarai heiser. Rassu schaute mit strenger Miene auf sie herab und sprach: „Er erwartet dich bereits.“ 

Ein Flur folgte dem nächsten. Endlos wirkte der Pfad zum Geistlichen. Wie groß mochte diese Abtei wohl sein? 

Sarai lief hinter dem schweigenden Rassu le Pier. Olong wich nicht von ihrer Seite, wie ein Schutzengel. 

„Wie lange warst du unterwegs?“, fragte der große Priester sie neugierig. „Seit dem Sechsundzwanzigsten der Vil Cemie. Fast drei Wochen.“ 

Olong verbarg sein Staunen.So genau kann sie sich daran erinnern? Dann muss dieser Tag eine besondere Bedeutung für sie haben. 

Rassu wies sie zischend zurecht. Ab jetzt sollten sie leise sein. Sie näherten sich der heiligen Empfangshalle. 

Zwei Priester bewachten die drei Meter hohen, nach oben hin abgerundeten Türen. Die Männer huldigten Rassu auf dieselbe Weise, wie Olong es zuvor in der Halle getan hatte. Gemeinsam schoben die beiden Wachen die Türen nach innen hin auf und gaben den Weg zum Hohepriester Sa de Fra frei. 

Marmorsteine pflasterten den Boden. Ein schmaler, hellblauer Läufer wies den Weg vom Eingang des Saals bis zum Thron, dessen Lehne sich erhaben in die Höhe reckte. 

Die Decke wölbte sich zwanzig Meter über ihren Köpfen und glich einer Kuppel. Dunkelblaue Vorhänge schufen eine künstliche Nacht. Kerzen spendeten schwaches Licht. Bedächtige Gesänge von Mönchen hallten verzaubernd durch den Saal und verliehen dem Raum eine mystische Atmosphäre. 

Von Selene fand man hier kein Abbild. Aber ihre mentale Anwesenheit war spürbar. 

Mit einigem Abstand blieben die drei vor dem Oberhaupt Sa de Fra stehen, der mit einer roten Robe und einem gleichfarbigen Hütchen, unter dem vereinzelt weiße Haarsträhnen hervorlugten, bekleidet war. Rassu le Pier und Olong van Ga knieten vor dem Weisen nieder. Sarai tat es ihnen gleich. 

Sie senkte ihr Haupt und verharrte eine Weile in dieser Position. Nichts geschah. Etliche Sekunden verstrichen. 

Zaghaft lugte Sarai zu Olong hinüber, dessen Stirn den Boden berührte. Rassus Kopf hingegenschwebte, wie ihrer, ein paar Zentimeter über dem Läufer. 

Sie wollte nicht unhöflich sein, keineswegs, aber ihre Zeit war kostbar und nicht leichtfertig zu vergeuden. Zudem rannte sie ihr allmählich davon. Sie hob vorsichtig ihren Kopf. Der Hohepriester hielt seine Augen fest geschlossen. Schlief er?!

Gerade in dem Moment, als sie Atem holte, um mit dem Reden zu beginnen, kam er ihr zuvor: „Sprich, Mädchen!“ 

Sa de Fras Stimme war rau und dennoch sanft. Es kostete ihn viel Mühe zu sprechen. Er war einer der Ältesten in diesem Kloster. Seine Haut war faltig und weiß wie Schnee, den es schon seit Jahren nicht mehr auf Zeder gegeben hatte. 

Tiefe Tränensäcke und gerötete Auge erzählten von den zweiundachtzig Jahren seines Lebens. 

Die Wangen waren eingefallen. Sein grauer Bart reichte tief hinab. Dieser Mann würde bald sterben. 

Sa de Fra hatte vieles erlebt, vieles durchgemacht. Seine Kindheit war zu Ende, als er als Zweijähriger von seinen Eltern verkauft und wenige Monate später in der Abtei abgegeben wurde. Mit sechzehn wurde er zum Hohepriester ernannt. Ein so junges Oberhaupt hatte es in der Geschichte des Klosters noch nie gegeben, aber Hosch Ha Han, der damalige Hohepriester, erkannte in dem Jungen die Zukunft seines Clans. Hosch verstarb im Alter von sechsundneunzig Jahren, drei Tage nach der Ernennung Sa de Fras. 

Es gab viele Attacken auf den hiesigen Hauptsitz Monshire. Menschen wollten das Land erobern oder den Clan zerstören. Sa de Fra musste beinahe sein ganzes Leben lang kämpfen, nicht mit Waffen, sondern mit seinem Verstand. 

Sarai erhob sich und tat einen Schritt auf den Hohepriester zu. „Ich bringe Botschaft über die Auferstehung Tadurs.“ 

Stille. 

„Der Teufel regt sich und will seine Macht zurück. Mein Clan wurde von seinen Fechtern angegriffen. Sie wollen all jene auslöschen, die ihrem Herrscher schaden könnten. Das Heer wird alle Vereinigungen, Dörfer und Städte zugrunde richten, bis es uns, die Auserwählten, findet. Gorlois, der Anführer meines Clans ‚Schrei der Welt‘, schickte mich zu Euch.“ 

„Sa de Fra ist ein weiser Mann. Er hat die Gabe der Vorhersehung und gute Verbindungen zum Orakel. Er könnte dir Antworten geben. Wenn es einer kann, dann er. Also geh zu ihm! Nach Monshire, dem Gebiet der ‚Priester der alten Zeit‘!“,gab Gorlois Sarai mit auf den Weg. 

„Sa de Fra, Hohepriester, wo halten sich meine beiden Verbündeten auf?“ Eine mutige Frage, für die manche Kreaturen Sarai schonungslos getötet hätten, denn durch diese Erkundigung verriet sie ihr Geheimnis, das sie wohl hüten sollte.

Lispelnd besann sich der Greis: „Die alten Schriften behielten Recht.“ Sarais Gesichtsausdruck war angespannt. 

„Holt den Jungen!“, wies Sa de Fra mit mattem Ton und einer schwachen Handbewegung an. Olong erwachte unverzüglich aus seiner Starre, verbeugte sich noch einmal und verließ raschen Schrittes die Empfangshalle. 

Mit einem nahezu hilflosen Unterton erinnerte Sarai das Oberhaupt: „Mein Herr, jeden Moment gewinntEran Kraft.“ Ihre Äußerung schien einer Bitte gleichzukommen, einem Wunsch, der Hohepriester solle versuchen, die Minuten anzuhalten und ihr einen Vorsprung zu geben. 

„Was wirst du tun?“, flüsterte Sa de Fra. „Was die Aufgabe von mir verlangt.“ Der hartnäckige Klang ihrer Stimme ließ nach. Ja, Sarai würde alles geben, um den Planeten Ziron vor dem Bösen zu bewahren. Doch könnte sie wirklich morden?

Sa de Fra wandte sich seinem Nachfolger zu: „Rassu, mein Teurer, triff die Vorbereitungen! Gib ihr mit, was sie benötigt!“ 

„Wie Ihr wünscht“, reagierte der Angesprochene und ging hinaus. 

Sarai stand nun allein vor dem Hohepriester. Behutsam erzählte Sa de Fra: „Etliche sind der Dunkelheit verfallen. Offenbare deine Bestimmung nur, wenn es wahrlich wichtig ist. Wecke keine schlafenden Hunde! Du hast viele Feinde, die sich hinter einer freundlichen Maske verbergen. Vertraue lediglich deinen Begleitern! Was zusammengehört, wird sich finden.“ Sa de Fra wusste, dass sie tief in ihrem Inneren vor dem Unbekannten zitterte. Die Furcht wollte er ihr nicht nehmen, sondern bloß beschwichtigen, denn im Allgemeinen rettete gerade die Angst einem das Leben. 

Der Hohepriester fügte hinzu: „Würde man eine Armee in die Schlacht schicken, wäre sie einzig imstande, die Handlanger des Fürsten zu besiegen. Zutritt zum Inneren der Festung und zu Tadur könnte sie sich nie verschaffen. Kein Soldat käme bei dem Versuch, in die Burg einzudringen, wieder heil nach Hause. So steht es in den Schriftrollen geschrieben. Ich habe mich oft gefragt, warum gerade ausschließlich drei junge Menschen fähig sein sollen, den Teufel zu besiegen. Unsere Urväter verfügten über die Gabe der Voraussicht. Sie vererbten uns ihr Wissen durch Visionen oder das geschriebene Wort. Sie kannten die Straße zur Erlösung und glauben wir weiterhin an sie, haben wir eine gute Chance gegen das Böse.“ 

Vor einigen Wochen hätte Sarai nicht einmal daran gedacht, in Monshire sein zu können. Normalerweise befände sie sich weiterhin in Clifftown, dem Hauptsitz ihres Clans. Ein Ort, in dem Bedürftige Zuflucht und Hilfe fanden. Sie würde Nahrung verteilen, Kleidung flicken, sich um elternlose Kinder kümmern und Wunden behandeln. Sie würde den Menschen helfen, wo sie konnte. War nicht auch diese jetzige Aufgabe eine Art von Hilfe? 

„Schrei der Welt“, ihr Clan, entstand vor etwa vierzig Jahren. Die Gemeinschaft zählte zu den neuzeitlichen Clanen, da die ersten sich bereits vor vielen Jahrhunderten entwickelten. Wie die anderen Clane war „Schrei der Welt“ ebenfalls auf den übrigen Kontinenten zahlreich vertreten. 

Von ihrer Bestimmung als Auserwählte erfuhr Sarai erst unmittelbar vor der feindlichen Attacke auf Clifftown. Gorlois offenbarte Sarai ihr Schicksal. Woher wusste er darüber Bescheid, wenn es nicht einmal ihr selbst zuvor bekannt war? 

Sarai hatte die Mythen um den Teufel verinnerlicht. Als Kind kamen ihr viele Geschichten zu Ohren. Tadur, wie man den Lord einst nannte, führte eine Schreckensherrschaft. Er knechtete die einfachen Leute und brachte Düsternis über die Länder. Der Schutzgöttin dieses Planeten, Seraphin, gelang es, den grausamen Herrscher in seiner Festung zu versiegeln. Auf dass er in dieser gefangen wäre, zu niemandem mehr Kontakt haben könnte sowie elendig und einsam sterben würde. Er könnte keinen Schaden mehr anrichten. Er sei tot, hieß es. Falsch. Die jetzigen Erkenntnisse bewiesen, dass er nur geschlafen hatte. Wie lange war er schon wach?

Olong kam zurück und mit ihm ein junger Priester. Dessen Blick galt einzig Sa de Fra. Ritterlich kniete der Junge links neben Sarai vor dem Hohepriester nieder: „Ihr wolltet mich sehen.“ 

„Stehe auf!“, gestattete Sa de Fra mit einer erhebenden Handbewegung. 

Der leicht gebräunte Bursche war einen Kopf größer als Sarai. Interessiert musterte sie ihn von der Seite. Er trug die Tracht der Priester. Die Farbe seines Gewands war grün, denn er befand sich in der Ausbildung. 

Ein glitzernder Ohrring, dünn wie ein feiner Faden, berührte seine Schulter. 

Warum hatte Sa de Fra nach ihm schicken lassen? Sollte er sie womöglich als Schutzpatron begleiten, bis sie die anderen Auserwählten finden würde? 

Der Hohepriester versuchte, sich zu erheben, suchte Halt auf den massiven Armlehnen und sank schließlich erschöpft auf dem Thron nieder. Seine Kraft reichte nicht aus. Er winkte ab, als Olong gerade unterstützend zu ihm eilen wollte. 

Sa de Fra lehnte sich etwas nach vorn und verkündete: „Mädchen, sein Schicksal ist mit dem deinigen verbunden. Er wird fortan mit dir gehen.“ 

Verbunden? Wie war das gemeint? 

Der junge Priester, der etwa in ihrem Alter war, wandte seinen Blick von Sa de Fra ab. Seine ausdrucksstarken Augen richteten sich auf Sarai. Und sofort erkannte sie diese markanten, fast schon durch die Seele eines Menschen dringenden Augen wieder. Es waren dieselben, die sie hoch oben vom Korridor in der Regenbogenhalle beobachtet hatten. Diese Augen würde sie überall wiedererkennen, denn sie besaßen eine Ausstrahlung, die einen völlig bannte. 

Der Gleichaltrige nahm sein dreieckiges Hütchen ab. Sein kahler Kopf kam gänzlich zum Vorschein. 

Er schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich. 

Sarai spürte das verhasste Pochen in sich, ein wenig schwächer als zuvor, als würde die Beschwörungsformel in der Luft liegen, aber an ihr vorbeiziehen. 

Das Zeichen des Teufels leuchtete auf der Stirn des jungen Priesters auf. Er konnte es selbst hervorrufen?

„Ich bin Akira“, stellte er sich vor.

Sarai war für einige Sekunden sprachlos, schluckte und stotterte dann vor Verblüffung: „Du, du … bist …?“ 

Ein freudiges Lächeln, ein regelrechtes Strahlen, breitete sich auf ihrem Mund aus. Ein Auserwählter. Einer, der das gleiche Schicksal wie sie teilte. 

Die Tatsache, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, überwältigte Sarai, sodass sie gedankenlos und überglücklich beide Arme um Akira schlang und ihn vor Freude drückte. 

Die Küche befand sich im Erdgeschoss. Sie führte unmittelbar in einen der hellsten Räume der Abtei, in den Speisesaal. 

In dem stattlichen Saal speisten alle einhundertsechsundzwanzig Mönche miteventuellenGästen.

Von den vier Esstischen waren drei nebeneinander angeordnet, während der vierte Tisch eine Sonderposition einnahm. Mit seinen geschätzten zehn Metern war jeder der drei Esstische so lang wie ein Buckelwal. Der vierte Tisch, nicht ganz so lang wie die anderen, war waagerecht vor sie gestellt und den höherrangigen Priestern vorbehalten, damit diese das Geschehen und die Gläubigen überblicken konnten. 

Auf der rechten Tafel, die neben den Fenstern stand und das meiste Sonnenlicht abbekam, lagen drei braune Beutel. 

Rassu le Pier hatte sich um die Versorgung für Sarais und Akiras bevorstehende Reise gekümmert, so wie Sa de Fra es ihm aufgetragen hatte. 

„In diesen zwei Beuteln findet ihr eure Essensvorräte und in dem hier Verbände und Salben. Besitzt du Waffen?“ 

„Nein.“ 

Rassu stutzte. „Wie willst du kämpfen?“ 

Eine gute Frage, am liebsten gar nicht, hätte Sarai gern entgegnet. Sie blieb jedoch stumm.

„Ich gebe dir Pfeil und Bogen mit. Akira wird dich unterrichten.“ Ein Mönch wusste mit tödlichen Waffen umzugehen?

Ein Klappern ertönte. Ein junger Mönch ohne Hütchen kam in den Speisesaal. Er trug einen vollen Teller, in dem heiße Suppe schwappte und hatte den Löffel aus Versehen fallen lassen.

Den Burschen begleitete ein beständiges Klack-Klack-Klack. Grimm trottete hinter ihm her und schimpfte: „Jin de Gross, du Taugenichts! Zurück in die Küche mit dir und bring einen neuen Löffel!“

Jin stellte den Teller eiligst auf dem Tisch vor Sarai ab. Er schüttelte seine Hände und pustete die Fingerspitzen an. „Vorsicht, sehr heiß“, warnte er Sarai und spurtete an Grimm vorbei hinaus. 

„Na Grimm, spukst du wieder durch die Abtei?“, grinste Rassu und ging auf den Bruder zu. Während die beiden alten Männer sich unterhielten, kehrte Jin mit einem sauberen Löffel zurück. Diesen legte er neben den Teller, lächelte Sarai an und wünschte ihr einen guten Appetit. Sie bedankte sich herzlich und setzte sich. 

„Kennst du mich noch???“, fragte Jin sie neugierig und nahm ihr gegenüber Platz. Sarai blickte mit unsicherer Miene von ihrer duftenden Hühnersuppe auf. Umsichtig fragte sie: „Sind wir uns schon begegnet?“ Jin nickte eifrig. „Oh ja! Ich habe dich als Erster von meinem Posten aus gesichtet. Das war wirklich ein stürmischer Tag. Woher kommst du? Und vor allem, was hast du bei diesem Wetter draußen gemacht?“

Fragen, auf die Sarai gewiss keine Antworten mehr geben durfte. Wem kann man vertrauen und wem nicht? 

„Was geschieht in der Welt?“, flüsterte Sarai gedankenvoll vor sich hin. Eine Weile starrte sie in die Suppe und wartete darauf, dass diese ein bisschen auskühlte, damit sie sich nicht die Zunge verbrannte.