Vereint als Rabenbrüder - Elisabeth Vinera - E-Book

Vereint als Rabenbrüder E-Book

Elisabeth Vinera

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Beschreibung

Fin ist vierzehn Jahre jung, als er sowie zwei seiner Brüder sterben und sie sich vor Gevatter Tod wiederfinden. Um zusammenbleiben zu können, lassen sich die Geschwister auf ein Spiel mit dramatischen Folgen ein. Fortan müssen sie dem Tod als Rabenbrüder dienen. Sie sind Geistwesen in der Welt der Lebenden, welche über die Existenz ausgewählter Menschen entscheiden. Während Fin an der Seite seiner Brüder aufblüht, lernt Thaisen die Liebe zu einer Sterblichen kennen und Raise begreift immer deutlicher die erschütternde Wahrheit hinter der ungewollten Verantwortung, die ihnen in die Hände gelegt wurde.

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Seitenzahl: 270

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-010-6

ISBN e-book: 978-3-99048-011-3

Lektorat: Katja Kulin

Umschlagfotos: Michal Bednare, Christian Draghicik, Robsonphoto2011Bizoon | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Elisabeth Vinera (1)

www.novumverlag.com

Widmung

Für Raise, Thaisen und Rupert

Prolog

Ich war der jüngste von vier Brüdern. Wir wohnten am Rande der Handelsstadt Estropus, die berühmt war für ihre üppigen Märkte, auf denen unzählige Waren aus fernen Kontinenten verkauft oder für hohe Preise versteigert wurden.

Meine Mutter wäre gerne in eines der neu gebauten, kunstvollen Häuser der Stadtmitte eingezogen, aber das konnten wir uns nie leisten − dafür hätten wir vermutlich drei Leben lang arbeiten müssen. Somit hausten wir in einem verwahrlosten Hüttchen, welches wir bei Kräften versuchten, instand zu halten. Jeder gab sein Bestes, um wenigstens ein wenig Geld nach Hause zu bringen. Na ja, fast jeder. Mein Bruder Rupert, der drei Jahre älter war als ich, liebte das Spiel mit dem Feuer. Oft setzte er die Tegs im Glücksspiel ein, die er selten selbst erwirtschaftete oder Mutter aus ihrem Depot für den Notgroschen stahl. Er verlor viele, viele Male und verstand einfach nicht, wie sehr er damit seiner Familie schadete. Rupert war jähzornig, verbissen und wütend. Fast täglich begann er den Tag mit schlechter Laune. Häufig wussten wir nicht, wogegen sich sein Zorn richtete. Nein, das ist falsch. Wir wussten es. Ich wusste es. Der Groll galt dem Zweitgeborenen, Raise. Rupert gab Raise für alles die Schuld − dass wir arm waren, in solch einemLochlebten und dass Vater uns verlassen hatte.

Rupert begriff nicht, dass er im Unrecht war. Was konnte Raise dafür, dass er gezeugt wurde − und dasnichtvon unserem Vater? Doch als dieser von der schändlichen Tat durch Zufall erfuhr, entschloss er sich kurzerhand, uns den Rücken zu kehren. Dies geschah unmittelbar nach meinem fünften Geburtstag. Raise hat seinen leiblichen Vater nie kennengelernt und das ist wohl schlimmer, als nicht zu wissen, wohin mein Vater entschwunden war.

Raise hatte ich lieb gewonnen, von Anfang an. Und auch wenn ernurmein Halbbruder war, änderte das nichts. Für Rupert allerdings hatte diese Offenbarung schwerwiegende Folgen. In dieser Stunde entwickelte er seinen Hass auf Raise, der Jahr um Jahr mehr geschürt wurde.

Dann gab es noch Thaisen. Er war der Älteste von uns vieren, fünfundzwanzig, um genau zu sein. Ich glaube, er bemühte sich, eine Art Vaterersatz für Rupert und vor allem für mich zu sein. Rupert war leider unbelehrbar.

Raise war stark genug, dass er ohne ein Vorbild fähig war, seinen Weg zu gehen. Wenn ich ehrlich bin, war er mir sogar der Liebste von allen. Das ist jetzt auch noch so. Denn Raises Zuwendung ist kostbar. Er ist aufrichtig, zielstrebig und wie ein Fels in der Brandung, dem die schneidenden Wellen nichts anhaben können. Es gab Augenblicke, da waren seine Worte sanft wie eine Feder, als wüsste er genau, wie er die Seele eines anderen besänftigen könnte, und im nächsten Moment prügelte er sich mit den Nachbarsjungen, um einen streunenden Hund zu schützen, den diese aus Lust und Laune erschlagen wollten.

Es gab so viele Menschen in der Ortschaft, die Raise ablehnten und nicht akzeptierten, weil er einBastardwar − spätestens seitdem Rupert es im hiesigen Pub bewusst ausplauderte, wussten nahezu alle um unser Familiengeheimnis.

Ich bin übrigens Fin. Eigentlich heiße ich Fini. Mutter hängte dasian meinen Namen, weil sie fest davon überzeugt war, ich würde ein Mädchen werden. Wann immer ich mich mit Fini vorstellte, wurde ich ausgelacht. Demzufolge unterließ ich es, dassizu betonen und verschluckte es. Mittlerweile nannten mich bloß noch meine Mutter und Rupert Fini, wenn er sauer auf mich war und mich kränken wollte.

Wozu erzähle ich euch dies überhaupt? Vielleicht weil es meine letzte Chance ist … Als ich vierzehn war, bin ich gestorben. Ich wagte zusammen mit meinen Brüdern einen heiklen Wettstreit um unser Schicksal. Wir hofften, dadurch einen friedlichen, gemeinsamen Neubeginn zu erfahren, aber wir wurden verdammt. Wir wurden bestraft − zur Durchführung eines bei Weitem grausameren Spiels. Und im Grunde istdasunsere Geschichte.

Seht ihr einen Raben, dann seid gewahr, dass es in Wirklichkeit ein Todbringer sein könnte.

Kapitel 1

Feuerschwall

Dreizehnter der Wikim im Jahre des Jägers 54.

Das Klima des Kontinents Zeder teilte sich in zwei Zonen. Der Norden gedieh bei angenehmen Temperaturen und der kahle Süden trocknete stetig aus.

Es war der vermutlich wärmste Tag, den die nördlichen Länder seit etwa zwanzig Jahren erlebt hatten. Wie eine erdrückende Last weilte die Hitze über Cark Ta Mon. Die Menschen stöhnten über die unerträglich erscheinende Welle.

Die Jahre des Jägers waren seit jeher mit Argwohn zu genießen. Diese mit Vorsicht zu betrachtenden Monate kehrten im zwölfjährigen Rhythmus wieder. Sie brachten meistens plötzlichen Umschwung mit sich. Häufig geschah es, dass die Könige der Länder in dieser Zeit gestürzt wurden oder verstarben. Vor allem schürten die Jahre des Jägers die Angst vor der prophezeiten Rückkehr des größten Feindes der Welt. Sein Name lautete Tadur. Aus der alten Sprache übersetzt bedeutete erTeufel.

Fin saß mit seinen Mitschülern in der kleinen Kapelle von Estropus. Die Kinder der armen Familien durften hier unterrichtet werden, fernab der opulenten Stadtmitte und der prunkvollen Kirche. Niemand würde hier an ihrem Aussehen, der verschmutzten Kleidung oder gar an ihrem Geruch, da das Geld in Brot und nicht in Seife investiert wurde, Anstoß nehmen. Der Pfarrer hatte sich für sie eingesetzt, und dank ihm war die Kapelle für zwei Stunden täglich eine Schule.

Fin hatte sich bewusst einen Platz am Fenster ausgesucht. Während sein elf Jahre älterer Bruder Thaisen ihn und die anderen in den verschiedensten Themen unterwies, zog es die Aufmerksamkeit des ruhigen, blassen Jungen in die Ferne. Des Öfteren schweifte sein Blick gedankenversunken zu den Schmetterlingen, die ihre Bahnen behutsam zwischen den Gräsern und den blühenden Blumen zogen. Hin und wieder entdeckte er einen Hasen, der den Löwenzahn hungrig verputzte.

„Fin?“

Der blonde Fin stellte sich vor, wie er dort draußen sein könnte − wie er über die Wiese rennen und sich an der Natur erfreuen würde. Er versuchte das Rauschen der Blätter im Wind einzufangen. Er fühlte die Grashalme unter seinen nackten Füßen. Er atmete die frische Luft, angereichert von einem Meer aus Düften, tief in seine Lungen ein.

„Fin!“

Er zuckte zusammen. Das war Thaisens Stimme. Sein Bruder stand neben ihm. Ein schweres Buch lag in seinen Händen. Er starrte Fin erwartungsvoll an. Seine Mitschüler begannen zu kichern.

Fin sah beschämt in die Runde. Es war ihm sehr unangenehm, wenn jemand über ihn lachte, erst recht, wenn es mehrere waren.

„Bruder, was, was ist denn?“, wisperte Fin stockend.

Thaisen schnaufte genervt und flüsterte ihm mit hartem Unterton zu: „Wie willst du etwas lernen, wenn du stets in Träume versunken bist?!“

Thaisen lief zwei Bänke weiter und fragte ein Mädchen nach der richtigen Antwort auf seine Frage. Fin hätte es gewusst, wenn er aufgepasst hätte. Doch er verspürte, aus welchem Grund auch immer, seltsamerweise überhaupt keinen eigenen Antrieb, unendlich viel Wissen in sich aufzusaugen. Fin galt als seltsam. Deshalb hatte er nicht viele Freunde – bei näherer Betrachtung gar keine, außer seinen drei Brüdern.

Thaisen hatte recht. Fin war ein Tagträumer. Aber einzig in diesenWeltenfühlte er sich wirklich wohl. Raise war es, der ihn fortdauernd in die Realität zurückholte. Mutter meinte einmal, dass, wenn Raise ihn nicht zum Weiterleben angespornt hätte, Fin bereits aufgrund einer schlimmen Krankheit und seiner dazu ohnehin beständigen Bereitschaft, sich in fremde Gefilde, gleich dem Elysium, zu begeben, längst im Reich der Toten wandeln würde.

Er nahm seine Schreibfeder, tunkte die Spitze in ein Tintenfass und folgte dem Vortrag seines ältesten Bruders. Ein paar Zeilen schrieb Fin sich zur Geschichte ihres Heimatkontinents Zeder auf. Die Überlieferung von dem Teufel Tadur war nun wirklich nicht neu. Es gab höchstwahrscheinlich niemanden, der sienichtkannte. Die wahrheitsgetreue Sage berichtete von Tadur, dem größten Herrscher Zeders, der das Volk einst knechtete, die Weltherrschaft anstrebte und letztlich von einer Göttin versiegelt wurde. Laut einer Legende würde er irgendwann erwachen, um sein Ziel zu vollenden. Drei Auserwählte gäbe es, dies zu verhindern. Drei junge Menschen, die den Teufel vernichten könnten und damit in der Lage wären, das zu tun, was, laut der Prophezeiung, einer gewaltigen Armee nicht gelingen würde.

Während Thaisen aus der Chronik vorlas, fuhr er sich mit den Fingerspitzen durch sein aschblondes Haar, das ihm geschmeidig bis auf die Schultern fiel. Das hereinfallende Sonnenlicht ließ seine Haarpracht fast golden schimmern. Durch Thaisens Anwesenheit verlor der spärlich ausgeschmückte Altar hinter ihm an Glanz und Präsenz.

Dabei war Thaisen ebenso bedürftig wie seine Schüler. Selbstverständlich war es ihm wichtig, ihnen ein Vorbild zu sein, und somit achtete er darauf, dass der schlichte, abgetragene Anzug seines Vaters sauber und einigermaßen ausgebessert war. Er hätte jedoch vermutlich sogar einen Sack um seinen Leib tragen können, ohne etwas von seiner faszinierenden Anziehungskraft einbüßen zu müssen.

Die Mädchen, die sich in die vordersten Bankreihen gedrängt hatten, um Thaisen besonders nah zu sein, schmachteten ihn von Satz zu Satz, den seine geschwungenen Lippen preisgaben, mit mehr Intensität an. Bei der derzeitigen Hitze brodelte das eine oder andere Gemüt auf. Einige der jungen Damen fächerten sich übertrieben Luft zu, um im gleichen Atemzug, natürlich fast unbeabsichtigt, stolz ihre Oberweiten zu präsentieren, in der Hoffnung, sie würden Thaisen gefallen.

Fin besaß die gleichen eisblauen Augen wie Thaisen, welche sein bezauberndes Antlitz betonten, das durch eine schwarze Lesebrille abgerundet wurde. Die Ausstrahlung gleich einem Märchenprinzen öffnete ihm die Türen zu den reicheren Familien. Die verwöhnten Töchter bettelten ihre vermögenden Eltern an, bis diese Thaisen als Lehrer einstellten. Trotzdem sie im Überfluss lebten, waren sie geizig und zahlten ihm einen Hungerlohn. Er konnte gerade seine eigene Familie von Monat zu Monat durchbringen. Thaisen war seit Vaters Verschwinden der Mann im Hause, der sich dessen pflichtbewusst annahm. Der neunzehnjährige Raise unterstützte das Vorhaben, indem er sich zig Nebentätigkeiten auflud. An manchen Abenden schaffte er es nicht einmal heimzukommen, weil die nächste Arbeit schon nach ihm rief.

Obwohl Raise als Bastard verschrien war, wusste man, dass er sein Handwerk hervorragend verstand, weshalb er diesbezüglich wiederum gern gesehen war und rücksichtslos ausgenutzt wurde. Man zahlte ihm weniger Geld als einem angesehenennormalenBürger. Raise verabscheute diese Ansicht, aber für seine Familie erduldete er die abscheuliche Geringschätzung seiner Person.

Rupert, mit seinen siebzehn Jahren, war flatterhaft. Er fing etwas an, ohne es zu beenden. Er hatte kein Interesse an harter Arbeit − auch nicht an einfacher. Rupert war faul und plante, auf schnellem Pfade ein Vermögen zu ergattern. Sei es auf eine unbescholtene Art und Weise wie mit dem großen Gewinn bei einem der Spiele oder auf unehrlicher Basis, wenn er einen Betrunkenen um seine Geldbörse erleichterte.

Die Glocke der kostbaren Kirche im Mittelpunkt von Estropus schlug fünf Uhr am Nachmittag. Thaisen klappte das Buch zu und beendete die Lehrstunde. „Morgen sind bitte alle pünktlich! Ich möchte mit euch in die Wälder gehen“, entließ er seine Schüler. Mit einem sauberen Tuch tupfte er die Schweißperlen von seiner Stirn. An solch eine starke Hitze konnte er sich kaum erinnern. Die Jungs trotteten heute träge aus dem kirchlichen Gebäude statt, wie sonst, überstürzt und vergnügt, den Kopf voll mit Schabernack sowie Unfug.

„Ich will an einem See wohnen und mich hineinwerfen“, ächzte einer der Jungs. „Ich hab zu gar nichts Lust. So schlimm ging es mir nie!“

„Hitze ist keine Krankheit“, erwiderte sein Kumpel. „Trink einfach was und du wirst dich rasch erholen. Danach besuchen wir Onkel Levin und erschrecken seine Hühner.“

Fin beschäftigte sich nachdenklich mit der Feder seines Gänsekiels. Die Buben liefen an seinem Fenster vorbei und schauten zu ihm.

„Was macht der eigentlich die ganze Zeit?“, fragte der eine verwundert.

„Meine Mutter sagt, der hat zu viele Schwämme in seinem Schädel.“

„Hä? Wie meint sie das?“

„Na, dass er ungewöhnlich ist. Hast du ihn jemals mit irgendwem spielen sehen? Der ist immer allein unterwegs, und außerdem spricht er kaum. Man könnte denken, er wäre stumm, wenn sein Bruder ihn nicht hin und wieder zum Reden ermutigen würde.“

„Warum starrt der uns an?“

Der eine zog Fin eine Grimasse. Fins Blick blieb unverändert.

Der andere Junge sprach beunruhigt: „Ich habe den Eindruck, dass er gar nichtunsanschaut. Er sieht durch uns hindurch, als wären wir Luft. Ich kriege eine Gänsehaut. Lass uns gehen. Der ist gruselig!“

Die Jungs schritten hurtig davon. Fin sah ihnen schweigend nach, packte seine Sachen und ging nach draußen.

Währenddessen hatten sich die jungen Damen um Thaisen gesammelt. Sie wetteiferten um seine hoch geschätzte Beachtung.

„Der Unterricht war sehr interessant. Ihr seid ein Gott, Herr Cautlet“, schmachtete das Mädchen, welches sich mit dem stärksten Ellenbogeneinsatz zu ihm durchgekämpft hatte und dadurch direkt vor ihm stand.

„Danke, Emma“, entgegnete Thaisen knapp und sortierte seine Materialien am Pult.

„Ich wünsche euch einen schönen Tag. Kühlt euch ab! Die Hitze steigt einem leicht zu Kopf.“

So flott ließen sich die Mädchen nicht abschütteln. Emma ergriff das Wort: „Würdet ihr mich nach Hause begleiten, Herr Cautlet? Am Ende kriege ich vielleicht einen Hitzschlag und dann liege ich irgendwo einsam herum.“ Sie benutzte ihren umwerfenden, klimpernden Augenaufschlag. Mit ihrem Wunsch brachte sie eine Euphorie in Gang. Zig Stimmchen ertönten: „Nein! Bringt bitte mich nach Hause!“

„Mich bitte!“

„Ich will auch eskortiert werden.“

Emma konterte schroff zu ihrer Nachbarin: „Du olle Zicke wohnst bloß ein paar Häuser weiter. Scher dich zum Kuckuck!“

„Ruhig Blut, Mädchen“, versuchte Thaisen zu schlichten. „Ich fühle mich geehrt, aber meine Familie erwartet mich. Emma, Betty hat dieselbe Strecke wie du zu bewältigen. Leistet euch einander Gesellschaft!“

Thaisen verstaute seine Bücher trotz Eile mit einer gewissen Vorsicht in einer braunen Ledertasche. Die Mädchen waren ihm zu aufdringlich, weshalb die Ungeduld, mehr ein Drang zur Flucht, an ihm nagte.

Er stülpte den Henkel über den Arm. An seiner Ellenbeuge baumelte die schwere Tasche. Die übrigen Bücher, die keinen Platz mehr in der Aufbewahrung gefunden hatten, stapelte er zwischen seinen Händen und hielt den Bücherberg dicht an den Brustkorb gepresst, um einigermaßen Herr über diesen zu werden.

Emma warf ihr üppiges schwarzes Lockenhaar zurück. Breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt, ermahnte sie ihn beleidigt: „Und wenn mir wegen der Hitze etwas passiert? Wer soll mich dann erretten? Betty ist viel zu hilflos!“

Thaisen schlängelte sich zwischen der weiblichen Meute Richtung Tür durch und scherzte: „Du hast letzte Woche Willy umgehauen. Ich glaube, dass wir mehr um das Wohlbefinden der anderen bangen müssen.“

Die Mädchen quietschten amüsiert und Emma stampfte zornig mit ihrem Fuß auf. Willy hatte es zu dem erwähnten Zeitpunkt riskiert, sie als Schnepfe zu bezeichnen. Er war etwa zwei Köpfe größer als sie und recht rundlich. Dennoch setzte sie ihn mit einem einzigen gezielten Tritt in seine Weichteile außer Gefecht.

Fin wartete ein gutes Stück entfernt auf seinen Bruder. Im Schneidersitz hatte er sich auf der prachtvollen Wiese abseits der kleinen Kirche niedergelassen. Er lauschte dem sanften Säuseln des Windes und glaubte des Öfteren, das zarte Stimmchen einer Elfe darin zu hören. Die Bö liebkoste sein Gesicht, indem sie voller Sanftheit über seine Wange strich oder sein Haar mit der Liebe einer Mutter kämmte.

Fin konnte sehen, was andere Menschen verlernt hatten wahrzunehmen. Kleine Blumenfeen hüpften über die Blüten und bewarfen sich kichernd mit deren Staub. Gelegentlich sprang eine daumengroße Fee auf Fins Schulter und kitzelte ihn mit einem Grashalm am Hals. Normalerweise waren diese Wesen scheu, jedoch nicht bei Fin, dessen Herz rein war.

Ein Marienkäfer krabbelte an seinem Zeigefinger hinauf. „Du bist wunderschön“, wisperte Fin ihm zu und genoss es, die winzigen Füßlein auf seiner Haut zu spüren.

Ein Geräusch brach diese Idylle allmählich auf. Die Feen verschwanden wie von Geisterhand und der Wind wurde stärker.

Thaisen näherte sich mit zügigen, lauten Schritten. „Zack, zack!“, trieb er Fin zur Hast an, bevor die Mädchen die Verfolgung aufnehmen würden. Müsste Thaisen nicht die Bücher balancieren, hätte er Fin längst hochgezogen.

Stattdessen setzte Fin den Käfer in Seelenruhe im Gras ab. „Du bist behütet. Gehe deinen Weg, kleiner Freund.“

„Fin, los jetzt!“

„Sein Name ist Pantheon“, betrachtete Fin den Marienkäfer zufrieden. „Wir haben Freundschaft geschlossen.“

„So wird das nichts …!“, brabbelte Thaisen verstimmt und klemmte sich den Stapel unter das Kinn, um den einen Arm freizubekommen. Nun schnappte er Fin mit einem unwirschen Griff am Kragen und zog ihn mit sich.

Erst als die Kapelle weit außer Sichtweite lag, verminderte sich Thaisens Schrittgeschwindigkeit. Fin schlenderte ohnehin bereits seit ein paar Minuten gemütlich hinterher. Thaisen war es leid, ihn kontinuierlich zu ziehen und gab ihm gegenwärtig die Möglichkeit, zum ältesten Bruder in Ruhe aufzuschließen.

„Die anderen haben über mich gelacht, Bruder.“

Thaisen entnahm dem Satz, dass diese Tatsache Fin verletzt hatte.

„Sie kennen dich nicht. Sie erleben dich nur in der Kapelle und schlussfolgern.“

„Sind Menschen so? Dass sie sich von kurzen Momenten ein Urteil erlauben?“

„EinMoment genügt und das Urteil ist gefällt.“

Fin lief mit Thaisen durch eine wundervolle, prächtige Birkenallee.

„Dann will ich kein Mensch sein“, entschied Fin.

„Sondern?“

„Ich möchte ein Vogel sein. Mich in die Unendlichkeiten hinaufbegeben und sehen, welche Wunder diese Welt bereithält. Oder ein Marienkäfer. Ich glaube, das gefällt mir besser. Selbst der kleinste Grashalm besitzt für ihn größten Wert. Auf solch einem Halm würde ich wippen, bis ich mich vom Wind weitertragen lasse.“

Thaisen entdeckte auf Fins Antlitz einen Gesichtsausdruck, den er einzig dann preisgab, wenn er vollends glücklich war.

Mit einem Mal riss Fin die Augen auf und sah Thaisen aufgeregt an. „Aber das wäre alles bedeutungslos“, sprach er kurzatmig, „wenn ihr nicht bei mir wäret. Ein Leben ohne euch will ich nicht, Bruder.“

Thaisen stierte ihn wortlos an.Ach lieber Fin, was soll ich dir dazu sagen? Jeder wird erwachsen. Jeder tritt eines Tages seinen eigenen Weg an. Bei dir bin ich mir nicht sicher, ob du dafür geschaffen bist. Denn du hast zu Recht erkannt, dass du allein zugrunde gehen würdest und das vor allem seelisch. Aber, lieber Bruder, du bist der Jüngste. Du wirst uns überleben. Was ist dann?

„Bruder?“

Thaisen bemerkte, dass er in Gedanken versunken war. Er suchte nach geeigneten Antworten und teilte, um die Zeit zu überbrücken, seinen Bücherstapel in zwei Hälften. Den einen davon gab er Fin zum Tragen.

„Nicht jeder Mensch urteilt sofort. Du gehörst zu der seltenen Sorte, die sich Zeit nimmt, Hintergründe zu erkennen und zu verstehen. Du schaust nicht oberflächlich, sondern in die Tiefe der Herzen.“

Thaisen stupste Fin sanft mit dem Zeigefinger auf Herzhöhe an. Fin lächelte.

Sie überquerten eine Brücke, unter der ein rauschendes Bächlein floss. Thaisen berichtete pflichtbewusst: „Ich muss heute zur Familie Grass. Ich darf der Tochter Nachhilfe in Geschichte geben. Die Grass’ sind eine reiche Familie in Estropus. Wir werden also voraussichtlich diesen Monat genug zu essen haben. Heute Abend wird es bei mir spät werden. Hörst du? Fin?!“ Er drehte sich nach Fin um, erwartete ihn maximal ein paar Schritte hinter sich, stellte allerdings fest, dass Fin in etwa dreißig Metern Abstand wieder einmal zum Stehen gekommen war und der Schönheit des Bächleins erlag.

„Fin, trödel nicht! Komm!“

Fin seufzte schwermütig. Er beobachtete, wie ein Birkenblatt auf dem klaren Wasser segelte und sich bemühte, seine Balance zu wahren. Dann tauchte es gezwungenermaßen an einer Stelle unter, kam nass an die Oberfläche zurück und es schien, als wollte etwas dieses Blatt wieder nach unten ziehen, gleich einem Sog, doch es hielt sich eisern über Wasser − eine Kämpfernatur wie sein Bruder Raise. Raise.

„Fin, leg mal einen Zahn zu!“

Unerwartet rief dieser mit energischer Stimme: „Bruder, ich möchte bei Raise vorbeischauen. Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen.“ Prompt legte Fin die literarischen Werke, die ihm vorhin übergeben worden waren, an Ort und Stelle nieder. Thaisen holte Atem, um zu protestieren, da rannte Fin schon davon.

Raise schuftete zu dieser Zeit in der Schmiede von Herrn Broka. Sie lag in einem der drei verdreckten Viertel von Estropus. Der vierte Bereich repräsentierte den Stadtkern und hob sich mit seinem Reichtum von den anderen gravierend ab. Eine separate Straße führte in Estropus’ begehrten Stadtteil, damit die Anreisenden und vermögenden Bürger den angrenzendenAbschaummeiden konnten.

Vor dem Schlachthof, an dem Fin vorbeispurtete, wälzten sich pralle Schweine in einer Suhle. Er übersprang eine gelbliche Pfütze, die eines der quiekenden Tiere soeben hinterlassen hatte.

Das Hämmern des Plattners vernahm er bereits aus einiger Entfernung. Fin war kurz davor die Schmiede zu erreichen und verlangsamte sein Tempo. Herr Broka mochte es nicht, er wurde regelrecht garstig, wenn seine Gesellen, Lehrlinge oder eben Raise, der nur als Tagelöhner anerkannt wurde, Besuch bekamen. Schließlich hielt sie dies von der Arbeit ab und einzig dafür bezahlte sie Herr Broka.

Die immense Wärme von drinnen strömte durch das offene Tor nach draußen. Da es ohnehin ein stickig warmer Tag war, musste im Hause, welches früher ein Steinschuppen gewesen war, womöglich das Feuer der Unterwelt herrschen. Die Luft stank nach Rauch und Schwefel.

Fin spähte durch eine der Glasscheiben und konnte sich nicht vorstellen, wie man diese noch bei Weitem größere Hitze innerhalb der Schmiede überhaupt ertragen konnte. Ihm war hier draußen schon warm genug. Eines Abends hatte er geträumt, dass Raise bei lebendigem Leibe Feuer fing und qualvoll verbrannte, seine Haut dahinschmolz wie ein Stück Butter in der Pfanne. Fin war schreiend erwacht und mit wenigen Sprüngen war Raise sofort an seiner Seite.

Ein Lehrling kehrte mit einem Besen den Boden. Ein weiterer polierte die fertiggestellten Rüstungen.

Drei Gesellen hämmerten Eisenstangen platt, um sie als Bleche verwenden zu können. Der Waffenschmied Herr Broka hatte auf einer Stahlfolie die Umrisse für die neuen Rüstungen, die entstehen sollten, markiert. Nach dieser Zeichnung schnitten die Gesellen mit großen Scherenzangen die entsprechenden Formen aus dem Blech heraus. Ein Lehrling sammelte die Teile ein und brachte sie zu Raise, der am Holzkohle-Schmelzofen stand. Raise erledigte Tätigkeiten, die streng genommen dem Meister oblagen und das sogar, empörenderweise, auf ausdrücklichen Befehl Herrn Brokas, wenn dieser mal wieder ein längeres Päuschen machen wollte und dabei nicht selten im Bett einer Dirne landete.

Die Gesellen verachteten Raise dafür, dass dieserTaugenichtshöherwertigere Arbeiten als sie selbst ausüben durfte. Ihm war es im Grunde egal, welche Aufgabe ihm zuteilwurde, solange er das bisschen Lohn am Ende des Tages erhielt.

Raise legte eines der ausgeschnittenen Blechstücke mittels einer Zange in den Ofen. Die Hitze erweichte den Stahl und machte ihn dadurch formbar. Um die hohe Temperatur zu halten, nutzte Raise den großen Blasebalg, der das Feuer anfachte.

Der Schweiß rann ihm unentwegt den Oberkörper herunter und tropfte ihm regelmäßig vom Kinn.

Eine abgetragene Lederschürze bewahrte ihn halbwegs vor Verbrennungen, die sonst besonders durch den Funkenflug entstehen konnten. Dennoch fand Fin in unterschiedlichen Abständen neue Wunden und Narben an Raises muskelbepackten Armen.

Sobald der Stahl heiß genug war, holte Raise ihn mit der Zange aus dem Feuer, um ihn auf dem Amboss zu bearbeiten. Er holte mit dem Hammer in seiner rechten Hand aus und klopfte das Blech gekonnt zurecht.

Raises Muskeln tanzten bei seinen kraftvollen Bewegungen. Sein Bruder Rupert, der eher schmächtig war, beneidete ihn häufig insgeheim um seine Stärke.

Fin, der immer noch durch die Scheibe lugte, hörte ein Pfeifen und entschwand schleunigst um die Ecke des Gebäudes. Der Schmied kam gemächlich angeschlendert. Die fast unbenutzte Schürze führte er, im wahrsten Sinne des Wortes, wie bei einem Kirchgang als frommes Gewand aus. Ein Bierbauch zierte seine füllige Statur. Normalerweise hätte er mindestens genauso körperlich trainiert sein müssen wie Raise. Aber wenn der Meister stets nur seine emsigen Gesellen und vor allem Raise agieren ließ, konnte er selbstverständlich seiner Freizeit frönen und sich einen Wanst anfressen. Er kam vorbei, um zu überprüfen, ob alles nach seinem Sinne lief.

Herr Broka spazierte in die Schmiede. Er pulte sich mit den wulstigen Fingern eine Fleischfaser aus den vergilbten Zähnen und schmierte den Überrest seiner Zwischenmahlzeit an dem Handtuch eines Lehrlings ab.

Wie ein Aufseher stolzierte Herr Broka durch die Reihen seiner Arbeiter und hatte fast an jedem Platz etwas zu bemängeln. Bloß bei Raise fand er keine Angriffsfläche, um zu nörgeln. Dieser hatte seine Aufgabe bestmöglich erfüllt. Herr Broka würdigte ihn nicht eines Blickes, sondern starrte bewertend auf den beschlagenen Stahl, welchen Raise in einen Eimer kalten Wassers tauchte, um ihn abzukühlen. Der Schmied rang innerlich mit sich nach Worten der Anerkennung, die er niemals aussprechen würde. Einen Gesellen hätte er loben dürfen, nicht den Bastard. Er entschied sich, wie gewohnt, durch seine aufgeblähten Nasenlöcher betont schwer zu schnaufen, als würde die Last des Volkes auf ihm liegen. Dieser Laut, oder gar diese Geste, galt als einzige Aufmerksamkeit für die Tat des jungen Mannes, die er ihm zukommen ließ − sollte Raise sich gesegnet schätzen, überhaupt einer Beachtung würdig zu sein, wenn auch einer erbärmlichen.

„Geh dich abkühlen!“, forderte Herr Broka ihn auf und übernahm das Handwerk. Raise nickte und trat vom Amboss zurück. Er entledigte sich der Schürze und hängte sie an den Haken. Sein schweißgetränktes schwarzes Muskelshirt kam ebenso zum Vorschein wie seine nass geschwitzte, knielange Bundhose. Das Shirt zog er aus und gab seinen muskulösen Brustkorb preis. Er legte es in ein Regal und schnappte sich ein Leinentuch, um sein Antlitz vom Schweiß zu befreien.

Barbrüstig lief Raise an die frische Luft, welche er tatsächlich als angenehm empfand, da sie nicht annähernd so heiß war wie im Inneren des Gebäudes, und steuerte direkt den Brunnen nahe der Schmiede an. Er griff sich gleich den gefüllten Eimer und übergoss sich mit der lauwarmen Flüssigkeit.

Raise atmete tief ein und strich sich durch die triefnassen haselnussbraunen Haare, die ihm stets ein wildes, unbezähmbares Äußeres verliehen.

„Bruder“, vernahm er plötzlich hinter sich und wandte sich halb erschrocken zu Fin um. „Was machst du denn hier?“, sah Raise ihn erstaunt an.

„Ich weiß, dass ich nicht hierher kommen soll …“, stammelte Fin.

Raise erwiderte ehrlich: „Wenn Broka uns erwischt, bezahlt er mich für heute nicht.“

Fin stierte schuldbewusst auf seine verstaubten Schuhe. Diese Gegebenheit war ihm bekannt. „Ich habe große Sehnsucht nach dir, Bruder. Du warst nächtelang nicht daheim, von Tagen ganz zu schweigen. Ich weiß, du hast viel zu tun und tust alles nur für uns. Ich bin dir dankbar, Raise. Aber ich vermisse dich. Ich vermisse dich von Herzen. Wenn du nicht zu Hause bist, ist es leer. Ich bin leer. So fühle ich mich. Habe ich dich enttäuscht?“

„Nein. Keine Sorge, ich bin auch nicht wütend auf dich, kleiner Bruder. Ich habe dich mindestens genauso sehr vermisst.“

Fins betrübte Miene hellte sich augenblicklich auf. Raise lächelte ihn liebevoll an. „Du erleuchtest mein Leben, kleiner Fin.Ichdankedir. Eine größere Freude, als dass du mich besuchst, kann man mir nicht bescheren. Oh, duck dich!“, zischte Raise und schaute unauffällig zur Schmiede, wo es geklappert hatte. Ob Herr Broka die beiden entdeckt hatte und wetternd herausstürmen würde? Es blieb ruhig. Fin kauerte sich im Schatten des Brunnens zusammen. „Wann kommst du wieder nach Hause, Raise?“

„Momentan gibt es viel zu tun. Das muss ich ausnutzen. Ich will Geld für uns verdienen.“

Das war nicht die Antwort, die sich Fin erhofft hatte. Er winkelte die Beine an und schloss die Arme darum. „Mutter macht sich Sorgen, dass du dich übernimmst.“

Raise grinste, zeigte auf seine Oberarmmuskeln und feixte: „Ich bin ein zweiter Herkules, kleiner Bruder. Ich schaffe das. Mir geht es gut. Richte ihr das aus!“ Fin schmunzelte. Raise wusste, wie er ihn aufheitern konnte.

Herr Broka brüllte vom Tor aus: „Schlag keine Wurzeln, Raise! Hurtig!“ Raise hob seine Hand, um ihm zu verdeutlichen, dass er ihn verstanden hatte und der Anweisung unverzüglich folgen würde.

Mit seinen schokoladenfarbenen Augen blickte er auf Fin hinab, der ihm wie ein Welpe auf der Suche nach seinem geliebten Rudel erschien, welches ihm Schutz und Liebe gewähren würde. Raise überdachte schleunigst seine Planung und versprach spontan: „Ich bin heute Abend da.“ Raise wusste, wie wichtig es war, Prioritäten zu setzen. Und Fin war solch eine.

„Wirklich?“, versicherte sich der Jüngste glückselig.

Raise zwinkerte ihm zu und entgegnete: „So wahr, wie ich wie ein Löwe um dein Leben kämpfen würde.“

Auf dem Heimweg kam Fin an der Spelunke Teutos vorbei. Dutzendfach hatte sein drei Jahre älterer Bruder Rupert das mühselig erwirtschaftete Geld seiner Familie hier verzockt. Das Spiel sei sein Leben, hatte er einmal gesagt. Leider gewann er recht selten. In diesen wenigen Fällen betrog er, um überhaupt einen Sieg zu erringen. Rupert führte seine Familie Stück für Stück in den Ruin, was er selbst als solches nicht wahrhaben wollte. Er hatte keinerlei Geschick oder Glück im Spiel, aber war dieser Sache einfach verfallen. Er war süchtig danach.

Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Rupert, endlich, vor zwei Wochen Mutter schwor, der Spielerei zu entsagen. Für Fin stand außer Frage, dass er sein Wort halten würde, denn ein Versprechen war ein Versprechen und ein Schwur sogar gewichtiger, jedoch wurde er eines Besseren belehrt.

Fin schritt am Teutos entlang und warf einen flüchtigen Blick in die Kneipe − vermutlich aus einem Instinkt heraus. Dieser Moment genügte, um Rupert zu sichten, der tüchtig beim Würfeln war. Seine rote Mähne stach förmlich hervor. Diese markante Haarfarbe hatte er vom Vater vererbt bekommen. Fin wandte sich bestürzt ab, holte Luft und wollte klare Gedanken fassen. Sein Herzschlag pochte ungestüm. Rupert hatte es Mutter versprochen. Er hatte esgeschworen. Er durfte sie nicht täuschen!

Fin nahm all seinen Mut zusammen und marschierte aufgewühlt in das Bierhaus, vorbei an den fast doppelt so großen und zwielichtigen Männern, vor denen er sich fürchtete. Geschickt bahnte er sich einen Weg zum Rotschopf, dessen besessene giftgrüne Augen vom Würfelspiel gefesselt waren. Fin stellte Rupert zur Rede: „Was soll das? Du hast Mutter einen Eid geleistet, dich von dem Elend fernzuhalten! Sie verlässt sich auf dich. Ich habe dir vertraut. Komm mit mir, dann können wir das Schlimmste verhindern.“

Rupert guckte ihn nicht einmal an, sondern blaffte: „Hau ab! Ich hab keine Zeit. Ich bin am Gewinnen.“ Er fühlte sich in keinster Weise ertappt. Rupert schüttelte den Becher übertrieben kräftig und donnerte ihn auf den Tisch. Langsam, nahezu lauernd, hob er ihn hoch und johlte: „Ja! Zwei Sechsen!“ Seine Mitspieler verzogen angewidert ihre Mienen. Rupert schien heute seine erste Glückssträhne zu haben.

Strahlend drückte er Fin an sich und zerwuselte dessen blondes glattes Haar: „Ich habe gewonnen! Gewonnen! Gewonnen!!!“ Fin konnte Ruperts Euphorie nicht teilen, befreite sich aus seinem Griff und erahnte, dass enormes Unglück bevorstand.

„Lass es! Das bringt nur Unmut! Lass uns nach Hause gehen!“, versuchte Fin Rupert ernsthaft abzubringen und zog richtungsweisend an seinem Arm. Rupert schüttelte ihn derb ab und triumphierte, dass man meinen könnte, er hätte den Sieg in einer Arena errungen. Fin wollte ein Zeichen setzen und schubste daraufhin den Becher samt den Würfeln lieblos um. Ein Würfel kullerte vom Tisch.

Die angetrunkenen Mitspieler waren nicht im Geringsten über die derartige Unterbrechung des Spiels entzückt. Sie erhoben sich, um sich Fin vorzuknöpfen. Da kam Rupert ihnen zuvor. Er stieß Fin gewaltsam zurück und brüllte ihn zornig an, seine Sommersprossen wurden von den aufgeplusterten roten Wangen überdeckt: „Mach dich davon, FINI! Hörst du?! Verschwinde! Memme! FINI!“

Fin bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, es misslang ihm. Es tat weh, mit welcher Heftigkeit Rupert ihn nach draußen drängte, und ebenso schmerzte es, dass er diesen Namen verlauten ließ. Fini.

Wie sollte er jetzt rechtschaffen nach Hause gehen? Wie sollte er seinen Brüdern und der Mutter ins Antlitz schauen − mit dem Wissen, über welches er nun ungewollt verfügte? Sie alle hatten sich auf Rupert verlassen. Sein geleisteter Eid, er würde sich endlich von dem verruchten Pack fernhalten, hatte ernst gemeinte Hoffnung gegeben. Besonders Mutter würde es unendlich Kummer und Leiden bereiten, wenn sie hören würde, dass Rupert sein Versprechen gebrochen hatte. Nein, Fin würde sich unter keinen Umständen etwas anmerken lassen. Sie war zu schwach, zu krank, als dass sie die Nachricht über Ruperts Vergehen einfach wegstecken könnte.

Er müsste dafür sorgen, dass das Geld wieder aufgefüllt werden würde, bevor sie feststellen konnte, dass es fehlte. Doch woher sollte er es nehmen? Er selbst verdiente keines. Sollte er Thaisen und Raise einweihen? Sie würden es gewiss nicht gutheißen. Welche Möglichkeit blieb sonst? Es ging schließlich nicht um Rupert, sondern um Mutter!