Feuererwachen (Bd. 1) - Rosaria Munda - E-Book

Feuererwachen (Bd. 1) E-Book

Rosaria Munda

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Beschreibung

Annie und Lee waren Kinder, als eine blutige Revolution ihre Welt radikal veränderte. Inzwischen Teenager, nehmen sie beide an einem Auswahlverfahren teil, um Drachenreiter zu werden, obwohl ihre Herkunft unterschiedlicher nicht sein könnte. Annie kommt aus einer Familie von Leibeigenen, die durch das Drachenfeuer des alten Regimes getötet wurde; Lee ist der hochgeborene Sohn eines Drachenherrn, der bei der Revolution einen grausamen Tod fand. In der neuen Ordnung, die auf Leistung anstelle von Herkunft setzt, müssen beide ihren Weg finden. Doch dann droht ein Krieg, denn die alten Drachenherren wollen sich ihre Herrschaft zurückholen – und Annie und Lee werden zu schwerwiegenden Entscheidungen gezwungen …

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Rosaria Munda

Feuererwachen

Der Aurelianische Zyklus • Band 1

Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Püschel

Für meine Mutter und Großmutter, Schriftstellerkolleginnen

Prolog

Später sollte man ihn den Ersten Protektor nennen, und die Stadt würde sich gemäß seiner Vision wandeln. Leibeigene würden in die Freiheit entlassen, Schulen gebaut und Drachen zum ersten Mal von einfachen Bürgern geritten.

Doch davor führte er die blutigste Revolution an, die sein Volk je erlebt hatte.

Er zweifelte nie daran, dass er eine gerechte Stadt hervorbringen würde. Ebenso wenig stand für ihn infrage, dass die Familien der alten Herrschaftsordnung den Tod verdienten. Nur die Art und Weise, wie es geschah, an jenem Tag, als der Palast schließlich gestürmt wurde, machte ihm bisweilen zu schaffen.

An eine der Herrscherfamilien erinnerte er sich besonders. Ihre Folterer waren noch am Werk, als er sie fand. Sie hatten den Drachenherrn am Leben gelassen, sodass er alles mitansehen musste; der jüngste Sohn war das einzige Kind, das noch übrig war. Ein Junge von sieben oder acht Jahren, mit leerem Blick in einem blutverkrusteten Gesicht. Um sie herum lagen die Leichen ihrer Familie verstreut.

»Hört sofort mit diesem Irrsinn auf«, sagte der Erste Protektor, als er mit seiner Leibwache den Raum betrat.

Die Revolutionäre ließen von dem Jungen ab, den sie zu quälen begonnen hatten, und protestierten lautstark – dieser Mann ist Leon Sturmpfeil, wissen Sie denn nicht, was er getan hat! Doch sie verstummten, als der auf dem blutgetränkten Teppich kniende Drachenherr das Wort ergriff.

»Mein Sohn«, sagte er in der Sprache, die er mit dem Ersten Protektor teilte. »Bitte, Atreus.«

Der Erste Protektor streifte das Kind mit seinem Blick. Er sagte: »Wir werden uns Leos annehmen.«

Er murmelte einem seiner Leibwächter einen Befehl zu. Der Soldat trat einen Schritt vor, stockte kurz und hob den Sohn des Drachenherrn dann auf seine Arme. Als der schlaffe, stumme Junge hinausgetragen worden war, ging der Revolutionsführer vor dem Drachenherrn auf die Knie.

»Diese – Tiere –«, keuchte der Drachenherr.

Der Erste Protektor widersprach nicht. Stattdessen legte er die Hand um das Messer an seinem Gürtel. Als er den Drachenherrn ansah, lag eine unausgesprochene Frage in seinem Blick. Der Drachenherr schloss die Augen und nickte.

Dann überraschte er den Ersten Protektor mit einer letzten Bemerkung.

»Deine Vision«, sagte er. »Glaubst du, dass sie all dies jemals wert sein wird, Atreus?«

Der Erste Protektor zog sein Messer.

»Ja«, sagte er.

In den darauffolgenden Jahren dachte er oft an die Frage des Drachenherrn zurück. Vieles, was sich während der Revolution zugetragen hatte, verblasste mit der Zeit in seiner Erinnerung, doch Leon Sturmpfeil vergaß er nie.

Leons Sohn Leo hingegen entfiel ihm völlig.

1

Mitteilungen des Ministeriums

Neun Jahre später

Lee

Morgens fliegen wir am liebsten. Selbst heute, wenige Stunden vor dem Turnier, über der leeren Arena, die uns daran erinnert, dass wir bald zum allerersten Mal Tausende Zuschauer haben werden, ist es das pure Glück, die Stadt unter den Flügeln eines Drachen ausgebreitet zu sehen. Als wir eine enge Kurve fliegen, merke ich, dass Pallor eines seiner schwarzen, unergründlichen Augen auf mich gerichtet hat. Auf einmal strafft sich das Band zwischen uns, über das wir unsere Gefühle und Gedanken sonst nur lose teilen, wenn ich im Sattel sitze. Ja. Heute gilt es. Heute werden wir zeigen, was in uns steckt.

Doch dafür brauche ich einen klaren Kopf. Sanft entziehe ich mich Pallors fiebriger Vorfreude und konzentriere mich auf die Arena. Zwei weitere Drachenreiter fliegen mit uns, jeder auf einer der anderen beiden Rassen: Crissa und ihr Himmelsjäger schweben über uns, Cor und sein Sturmpfeil gleiten unter uns dahin und speien Asche auf die Ränge der Arena. Bei dieser Generalprobe sind nur die Anführer der drei Geschwader dabei.

Ich rufe gegen den Wind an. »Du lenkst sie zu tief, Cor!«

Cor schnaubt frustriert und zieht seine Drachin ein Stück höher. Wir haben die Choreografie der Eröffnungszeremonie schon zigmal mit Beamten des Ministeriums geprobt und jedes Mal kam die heikle Frage auf, wie wir die Macht der Sturmpfeil-Rasse demonstrieren sollen. Vor der Revolution haben die Drachen des Hauses Sturmpfeil – meiner Familie – die Dörfer im Umland terrorisiert, aber urprünglich waren sie auch der wichtigste Schutz unserer Insel gegen Angriffe aus der Luft.

»Es hieß doch, wir sollten weit unten feuern«, sagt Cor.

»Aber das ist zu weit unten. Es gefährdet die Zuschauer.«

Unsere Drachen sind Jungtiere, kaum größer als ein Pferd, und können noch kein Feuer spucken. Aber der Rauch, den sie ausstoßen, kann trotzdem zu Verbrennungen führen.

Crissa und ihr Himmelsjäger, dessen langer, schlanker hellblauer Körper mit dem Morgenhimmel verschmilzt, kreisen über uns. »Du willst die Leute doch beeindrucken, nicht grillen«, ruft sie zu Cor runter.

Cor winkt ab. »Ja, ja, schon gut.«

Unsere Flotte ist noch in Ausbildung – sowohl die Drachen als auch die Reiter. Die Drachenreiter der neuen Herrschaftsordnung werden nun Wächter genannt und sie sind niedriger Herkunft, einfache Bürger oder sogar ehemalige Leibeigene. Nicht länger die Söhne von Drachenherren.

Bis auf mich, was aber außer mir niemand weiß.

Denn im Gefolge der Revolution kommt es einem Todesurteil gleich, von Drachengeblüt zu sein. Geboren wurde ich als Leo, Sohn von Leon, Drachenherr des Hauses Sturmpfeil und Drakarch des Fernen Hochlands – doch seit der Zeit im Waisenhaus heiße ich Lee. Nicht einmal der Erste Protektor, der mir das Leben gerettet und mich zwei Jahre später in das Wächterprogramm aufgenommen hat, ohne mich wiederzuerkennen, weiß Bescheid. Dass ein Spross des Hauses Sturmpfeil in das meritokratische Drachenreiter-Programm aufgenommen worden ist, welches doch alles ersetzen sollte, wofür seine Familie einst stand.

Ich weiß zwar, dass ich von Glück sagen kann, überhaupt noch lebendig und dem Waisenhaus entronnen zu sein, aber immer wieder kommen Erinnerungen an mein altes Leben in mir hoch. Vor allem jetzt, als Pallor und ich über der Palastarena kreisen, die zum allerersten Mal seit der Revolution für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Auch das alte Regime hat dort Turniere abgehalten. Turniere, bei denen ich meinem Vater zugejubelt und dabei von dem Tag geträumt habe, an dem ich seine Nachfolge antreten würde.

Ich beuge mich vor und stütze eine Hand auf Pallors silbergeschuppten Nacken, als er seine im Morgenlicht fast durchsichtig schimmernden Flügel zum Sturzflug anlegt. Pallor ist ein Aurelian, eine kleinere Rasse, die als umsichtig und gut steuerbar gilt, und die Formation der Aurelianer in der heutigen Zeremonie ist die einzige, die so komplex ist, dass sie von zwei Reitern angeführt werden muss. Ich kann zwar allein proben, aber eigentlich brauche ich dafür –

Annie. Da ist sie.

Aus der Höhlenöffnung am Fuß der Arena kommt ein weiterer Aurelian hervorgeschossen, eine bernsteinfarbene Drachin, auf der meine Sparringspartnerin reitet. Annie und ich haben während unserer gesamten Ausbildung miteinander trainiert, aber wir kennen uns sogar noch länger, aus dem Waisenhaus, in dem wir vor unserer Aufnahme in das Wächterprogramm gelebt haben.

Erinnerungen, die für ein ganzes Leben reichen – aber wir haben ziemlich viel Übung darin, nie darüber zu sprechen.

»Annie!«, ruft Crissa und winkt fröhlich. »Da bist du ja!«

»Ohne dich hat Lee hier draußen nichts auf die Reihe gekriegt«, sagt Cor.

Pallor und ich feuern einen Aschestrahl in seine Richtung. Cor weicht ihm prustend aus.

Annies Mundwinkel wandern in die Höhe, doch statt auf Cors Bemerkung zu antworten, fügt sie sich sofort nahtlos mir gegenüber in die Formation ein. Ihre Drachin, Aela, spiegelt jede von Pallors Bewegungen. Annies rotbrauner Zopf fällt ihr tief in den Rücken, ihr blasses, sommersprossiges Gesicht ist hoch konzentriert. Seit ich denken kann, finde ich Annie wunderschön, aber gesagt habe ich ihr das noch nie.

»Fangen wir von vorn an?«, schlage ich vor.

Die drei anderen sind einverstanden.

Wir richten uns gerade auf, als die Glocke zur vollen Stunde läutet. Die Arena unter uns, der Palast auf der einen und Pythos Feste auf ihrem Sockel aus Karstgestein auf der anderen Seite, die steilen Giebeldächer der Stadt, die Ebenen, die sich bis zur Küste erstrecken – einen Augenblick überwältigt mich der Wunsch, die Stadt und die gesamte Insel unter mir zu beschützen, ja zu besitzen. In meinem Kopf hallt der Eid wider, den wir abgelegt haben, als wir zu Wächtern ernannt wurden: Alles, was ich bin, gehört Callipolis. Ich gelobe bei den Flügeln meines Drachen, es zu bewahren …

Heute werden acht Wächter in der Viertelfinalrunde des Turniers antreten, durch das der Befehlshaber der Luftflotte bestimmt werden soll. Nach wochenlangen Qualifikationsrunden haben Annie, Cor, Crissa und ich es unter die letzten acht geschafft.

Es ist das erste Mal seit der Revolution, dass Callipolis einen Ersten Reiter ernennt, einen der wenigen Titel, die es vom alten Regime übernommen hat. Die Drachen der Revolutionsflotte sind nun endlich alt genug und ihre Reiter ausreichend ausgebildet, um das seit der Revolution unbesetzte Amt anzustreben. Für die anderen Wächter sind die Turniere eine Gelegenheit, sich zu beweisen; für mich bedeuten sie noch viel mehr.

Denn Erster Reiter ist ein Titel, auf den ich schon vor der Revolution versessen war. Damit könnte ich all die Anerkennung, Macht und Achtung, die meine Familie innerhalb eines einzigen blutigen Monats verloren hat, als ich acht Jahre alt war, auf einen Schlag zurückerobern.

Erster Reiter.

Von unten wehen die letzten Glockentöne vom Uhrturm des Palasts herauf und reißen mich aus meinen Gedanken. »Wir sollten frühstücken gehen. Goran meinte, bis dahin hätte er die Turnieraufstellung fertig.«

Wir landen auf dem Horst, dem flachen Felsvorsprung in der Mitte der Arena, wo wir absitzen, unseren Drachen die Sättel abnehmen und sie in ihre Nester in den Höhlen unter uns entlassen. Zurück im Palast mischen wir uns unter die übrigen Wächter des Drachenkorps, insgesamt zweiunddreißig Mädchen und Jungen, die aus den Schlafsälen in das Refektorium des Konvents mit seinen nackten Steinwänden und hohen, schmalen Fenstern strömen. Das Frühstück besteht wie gewöhnlich aus leicht angebranntem Haferbrei. Obwohl wir theoretisch im Palast wohnen, sind wir in den Quartieren untergebracht, die vor der Revolution den Bediensteten vorbehalten waren.

»Ihr seid aber früh auf.«

Duck, Cors jüngerer Bruder, ist auf seiner Sitzbank zur Seite gerutscht, damit wir uns zu ihm und seinen Freunden an den Tisch setzen können. Duck und Cor haben die gleiche olivfarbene Haut und das gleiche gewellte Haar, aber vom Temperament her sind sie völlig verschieden: Cor zieht meistens ein mürrisches Gesicht, Duck hingegen lächelt gern und oft. Annie macht es sich neben Duck bequem. Sie sind beide sechzehn, ein Jahr jünger als die meisten von uns. Ihr Alter war die erste Gemeinsamkeit, die sie zusammengebracht hat, aber Freunde sind sie vor allem deshalb geworden, weil Duck sich von ihrer ernsten Art offenbar angespornt fühlt. Es ist nicht leicht, Annie ein Lächeln zu entlocken, und Duck hat das ziemlich gut drauf.

Er zieht seinen Löffel aus dem Haferbrei und deutet damit auf Annie. »Na, bereit für deinen großen Tag?«

Annie schnaubt, aber trotzdem steigt ihr eine leichte Röte ins Gesicht. Es ist der einzige Hinweis auf ihren Ehrgeiz, den sie sonst eher versteckt. Sie sitzt schon wieder ganz zusammengesunken da, wie immer, wenn sie zurück auf der Erde ist, als wollte sie möglichst wenig Platz beanspruchen. Das glatte Gegenteil zu ihrem Selbstbewusstsein in der Luft.

Crissa antwortet Duck in dem bestärkenden Ton, den sie immer anschlägt, wenn sie die Reiter ihres Geschwaders ermutigen will: »Es ist auch dein großer Tag.«

Duck hebt die Schultern und grinst breit. »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«

Wie wir vier hat Duck es ins Viertelfinale geschafft. Er wird seine Sache großartig machen – wenn er denn die Nerven behält. Und das hängt davon ab, gegen wen er antreten muss.

»Nervös, Dorian?«

Ich hätte es nicht beschreien dürfen. Power, einer der Sturmpfeil-Reiter, die sich qualifiziert haben, schlendert auf dem Rückweg von der Essensausgabe an uns vorbei. Er legt Duck einen Arm um die Schulter, als wollte er ihm Mut zusprechen, und streicht sich mit der anderen Hand über sein kurz geschorenes schwarzes Haar, während er mir einen bohrenden Blick zuwirft. Power und ich sind etwa gleich groß und schwer, was ich jedes Mal abwäge – und ich sehe ihm an, dass er dasselbe tut –, wenn wir uns so taxieren.

Duck versteift sich. »Fass mich nicht an«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Mit einem dumpfen Klirren stellt Cor sein Glas auf den Hartholztisch. Ich lege meinen Löffel in der Schüssel ab.

Fast bin ich enttäuscht, dass Power seinen Arm zurückzieht. In den letzten Jahren ist er vorsichtiger geworden. »Na, warum so dünnhäutig?«

Er spaziert zurück zu seinem Platz zwischen Darius und Alexa, die die Szene besorgt beobachtet haben. Ducks Schultern entspannen sich und er äußert seine Abscheu mit einem kehligen Räuspern.

»Manchmal«, denkt Cor laut, »vermisse ich die Zeiten, in denen Patrizierkinder wie Power sich alles rausnehmen durften und es an uns war, sie von ihrem hohen Ross runterzuholen.«

»Ich nicht«, murmelt Duck.

Unter dem alten Regime gehörte meine Familie zu den herrschenden Drachengeschlechtern, und die wohlhabenden, aber drachenlosen Patrizier, zu denen auch Powers Familie zählte, standen eine Stufe darunter. Auf gemeine Bürger wie Cor und Crissa sieht Power immer noch mit der typischen Überheblichkeit vornehmer Leute herab, aber am meisten verachtet er Annie, die eine ehemalige Leibeigene ist.

»Ich wette, Goran trauert den guten alten Zeiten auch hinterher«, murmelt Crissa.

Sie späht zur Tür, durch die soeben ein einzelner Erwachsener den Saal betreten hat. Goran, unser patrizischer Drillmeister, ist ein rotgesichtiger älterer Herr. Früher war er ein schmucker Offizier, aber inzwischen ist er ziemlich aus dem Leim gegangen. Er spricht mit leichtem Drachisch-Akzent, den er absichtlich raushängen lässt, wenn er Reiter niederer Herkunft einschüchtern will. Sein Anblick war mir immer auf verstörende Weise vertraut. Wir müssen uns bereits in der alten Welt begegnet sein, aber er hat mich zum Glück nicht wiedererkannt. Goran ist Atreus treu ergeben, so viel ist klar, doch den Idealen der Revolution ist er weniger zugetan. Bevor Atreus ein Machtwort gesprochen hat, ließ Goran Power und den anderen patrizischen Wächtern fast alles durchgehen.

»Guten Morgen, Wächter«, grüßt Goran in die Runde. »Wollt ihr die Aufstellung für die heutigen Duelle hören?«

An den Tischen kehrt Stille ein. Goran beginnt seine Liste vorzulesen. »Wir haben Annie gegen Darius …«

Darius, einer von Powers Patrizierfreunden im Geschwader der Sturmpfeile, dreht sich zu Annie um und ich sehe mit Schadenfreude, dass das sonst so lässige Großmaul die Stirn runzelt. Annie verschränkt die Arme und funkelt zurück.

»Cor gegen Rock …«

Cor macht eine finstere Miene, obwohl er nicht das schlechteste Los gezogen hat. Wahrscheinlich hat er schon ausgerechnet, welche Kombinationen jetzt noch übrig bleiben. Vor allem, mit wem Duck es womöglich aufnehmen muss.

»Als Nächstes haben wir Lee und Crissa …«

Crissa stöhnt laut auf und schlägt theatralisch die Hände an die Stirn, bevor sie mich ansieht. Sie hat so ein Gesicht – immer von der Sonne gerötet und von dunkelgoldenen, blond durchwirkten Locken umrahmt –, das man bei jedem Blickkontakt einen Tick zu lange anstarrt. Neckisch hebt sie eine Augenbraue.

»Streng dich lieber nicht an, Lee.«

Meine Wangen beginnen zu brennen, was nichts mit dem Duell zu tun hat. Crissa lächelt schelmisch. Cor verdreht die Augen.

Jetzt ist allen klar, welche beiden Namen gleich fallen.

»Und als Letztes haben wir Power gegen Duck.«

Power stößt ein triumphierendes Trillern aus, aber er ist der Einzige, der sich zu freuen scheint. Duck ist auf seinem Platz ganz tief zusammengesackt und Cors Gesicht hat sich verkrampft. Annies Arm bewegt sich fast unmerklich, als drücke sie Duck unter dem Tisch tröstend die Hand. Duck ist einer der wenigen Menschen, die ich Annie je freiwillig habe berühren sehen, und sie berührt ihn oft. Diesmal schluckt er sichtlich, als sie seine Hand nimmt.

Cor zufolge sind sie kein Paar. Aber man sieht trotzdem deutlich, dass Duck rettungslos in sie verliebt ist. Und obwohl das schon jahrelang so geht, berührt Annie ihn andauernd beiläufig, als wären sie noch Kinder – vollkommen arglos offenbar. So hat sie es im Waisenhaus auch bei mir gemacht und erst damit aufgehört, als wir hierherkamen.

Duck fängt meinen Blick auf und wir schauen beide schnell wieder weg.

»Bis zur Eröffnungszeremonie ist es noch etwas mehr als eine Stunde«, sagt Goran, »ich würde euch also raten, euch bereit zu machen. Wie viele von euch erwarten heute Familienbesuch?«

Hände gehen in die Höhe. Fast alle melden sich; wie zu erwarten, sind Annie und ich die einzigen Ausnahmen. Doch dann sehe ich Annies Zeigefinger ein Stück nach oben wandern. Sie betrachtet ihn, als wäre sie selbst überrascht.

Das ist absurd. Wer sollte Annie besuchen kommen?

»Begrüßt sie besser erst nach dem Turnier«, sagt Goran. »Aber dann dürft ihr euch den Rest des Tages freinehmen. Rektorin Mortmane wird am Konventausgang stehen und euch austragen. Noch Fragen?«

Als niemand spricht, sieht er zu mir herüber. »Lee, Annie, auf ein Wort noch.«

Ich kann mich nicht erinnern, wann Goran zum letzten Mal mit Annie sprechen wollte. Wir bleiben sitzen, während die anderen nacheinander den Saal verlassen und Goran auf einem freien Stuhl am Kopfende unseres Tisches Platz nimmt. Ich kann geradezu spüren, wie Annies Körper sich in seiner Gegenwart anspannt. Es ist zwar schon Jahre her, dass er sie mit zusätzlichen Aufgaben, willkürlich schlechten Noten und Demütigungen auf dem Horst drangsaliert hat, aber er hat nie aufgehört, Annies Anwesenheit im Drachenkorps als eine Beleidigung zu behandeln – als wäre es zu viel verlangt, gleich zwei von Atreus’ Neuerungen in einer Person vereint aushalten zu müssen, ihre niedere Herkunft und ihr Geschlecht.

»Ich habe für jeden von euch eine Mitteilung des Ministeriums.«

Er überreicht erst mir, dann Annie einen verschlossenen Umschlag. Wie immer vermeidet er es, sie anzusehen, als wäre sie etwas Widernatürliches, das man besser nur mit dem Blick streift.

Meinen Brief schmückt das Siegel des Ersten Protektors, Atreus Athanatos.

»Lest sie später«, sagt Goran. »Ihr dürft gehen.«

Draußen im Flur bleiben wir beide gleichzeitig stehen, um unsere Briefe aufzureißen. Atreus hat einen einzigen kurzen Satz geschrieben. Als ich ihn lese, packt mich zum allerersten Mal an diesem Tag das Lampenfieber.

Viel Glück, Lee.

Ich schaue auf. Annie starrt immer noch wie versteinert auf ihre Mitteilung. Dann zieht sie die Schultern hoch und reißt den Blick von dem Schreiben.

»Wir sollten los ins Zeughaus«, sagt sie.

Als wir eintreffen, machen sich die ersten Reiter schon auf den Weg in die unterirdischen Drachennester. Um zu den Kabinen des Aurelianer-Geschwaders zu kommen, zwängen Annie und ich uns an Wächtern vorbei, die in ihre Feueranzüge steigen, die letzten Platten ihrer Rüstung anlegen und sich Sattel- und Zaumzeug über die Schulter werfen, um es in die Höhlen zu bringen. Es riecht nach Leder, Schweiß und Asche – die typische Drachenreiter-Mischung.

Da wird mir etwas in die Hand gedrückt; Annie hat mir ihren Brief gegeben und sich abgewandt. Ich soll ihn lesen, aber ohne dass sie mir dabei zuschaut.

Unsere Kabinen liegen nebeneinander und ich habe jahrelang geübt, mich zu beherrschen und unter keinen Umständen zu Annie rüberzusehen, wenn sie sich umzieht. Heute habe ich den Brief, auf den ich mich konzentrieren kann. Ihre Mitteilung trägt das Siegel des Informationsministeriums, nicht das des Ersten Protektors. Sie lautet:

DAS MINISTERIUM ERINNERT ANTIGONE AUF AELA DARAN, DASS DIE REITER DES VIERTEN RANGS EIN HÖCHST ÖFFENTLICHES AMT BEKLEIDEN. SIE MÖGE DAHER SORGFÄLTIG ABWÄGEN, OB SIE IN EINER SOLCHEN POSITION IHREM EID, DEM STAATSWOHL ZU DIENEN, AM BESTEN GERECHT WÜRDE.

Sie wollen, dass sie auf die Turnierteilnahme verzichtet.

Neben mir hat Annie gerade ihren Schutzanzug geschlossen. Vom Hals bis zu den Knöcheln ist ihr schlanker Körper in schwarzes, hitze- und feuerbeständiges Leder gehüllt, eine dunkle Silhouette, über der ihr roter Zopf umso auffälliger leuchtet. Solange wir noch nicht allein sind, geht sie mit keinem Wort auf den Brief ein, und so schnallen wir uns schweigend die aus abgeworfenen Drachenschuppen geschmiedeten Rüstungsplatten über den Feueranzug und ziehen sie nacheinander fest. Erst als die letzten Reiter das Zeughaus verlassen haben, nimmt sie die Mitteilung wieder an sich.

»Was stand in deiner?«, fragt sie.

Atreus’ Nachricht ist das Letzte, was ich ihr zeigen will. Ich zögere.

»Bitte«, sagt sie leise.

Ohne meine Antwort abzuwarten, angelt sie sich den Umschlag aus meiner Kabine. Nachdem sie einen Blick auf den Brief geworfen hat, lässt sie sich neben mir auf die Bank fallen.

»Gratuliere«, sagt sie.

Sie klingt nicht verbittert, nicht einmal neidisch – nur müde.

»Du bist der Bauer, den sie wollen«, fügt sie hinzu.

Bauer ist einer der Begriffe, die nach der Revolution verboten wurden. Das Wort darf nur noch im historischen Kontext verwendet werden. Ich glaube nicht, dass ich es Annie schon jemals habe sagen hören. Jedenfalls nicht in Bezug auf sich selbst.

Und auch nicht in Bezug auf mich, obwohl das offiziell meine Herkunft war, als sie mich kennengelernt hat. In unserer gesamten Zeit im Waisenhaus, als ich noch nicht so geschickt darin war, meine wahre Identität zu verbergen, hat sie kein einziges Mal davon gesprochen. Auch hier, unter den Wächtern, erwähnt sie sie nie.

Mir wird immer unbehaglicher zumute. »So ist das nicht … So würde Atreus das nie sehen …«

Annie legt den Kopf in den Nacken und starrt an die Decke. »Oh doch. Atreus braucht Reiter im Vierten Rang, die von den Eliten akzeptiert werden.«

Der Vierte Rang ist der Dienstgrad, der den vier Siegern des heutigen Turniers verliehen wird, um hervorzuheben, dass sie die fähigsten Wächter unter den zweiunddreißig Reitern des Drachenkorps sind. Es ist der zweithöchste Grad in der Flotte; darüber steht nur noch der Erste Reiter.

»Du redest von …«

»Ich rede von Atreus’ Nachfolge.«

Bei dem Wort erstarre ich; Annie bringt es nur gehaucht über die Lippen.

Bevor Atreus als Verwalter des neuen Staats abtritt, wird unter den besten und begabtesten Wächtern ein Nachfolger bestimmt. Der nächste Protektor. Inoffiziell ist klar, dass nur Mitglieder des Vierten Rangs in die engere Auswahl kommen.

»Er denkt an seine Nachfolge«, wiederholt Annie, »und er braucht Bauern, die sich nicht mehr … wie Bauern benehmen.«

Ich ziehe die Gurte des Armschutzes fester um meinen Unterarm und presse zwischen den Zähnen hervor: »Du benimmst dich nicht wie ein Bauer.«

Annie lacht matt auf. Sie weiß so gut wie ich, dass ich lüge. Wir können uns beide denken, was in den Akten des Ministeriums steht: dass Annie dafür bekannt ist, zu ehrerbietig und zu zurückhaltend zu sein und öffentliche Auftritte zu scheuen. Seit ich denken kann, ist sie zwar in allen Fächern eine der Besten, meldet sich aber fast nie zu Wort.

Das könnte sie sich abtrainieren. Wenn sie sich bemühen würde und die entsprechende Unterstützung bekäme, könnte sie viel selbstbewusster werden. Aber was soll ihr den Antrieb dazu liefern, was soll überhaupt den Wunsch danach wecken, wenn das Ministerium ihr solche Mitteilungen schickt?

Also muss der Anstoß von etwas anderem kommen. Von außen.

»Du kriegst heute Besuch von Verwandten?«

Ich wage mich nur vorsichtig mit der Frage heraus. Eigentlich geht es mich ja nichts an. Annie blinzelt und schüttelt dann den Kopf. »Nicht von Verwandten. Von Bekannten … aus meinem Dorf.«

Mein Dorf sind zwei weitere Wörter, die Annie für gewöhnlich nicht in den Mund nimmt. Sie spricht sie ganz langsam aus, als wären es Wörter einer fremden Sprache.

»Sie haben mir geschrieben«, fährt sie fort. »Einen Brief. Nicht die Eltern – die können nicht lesen.« Ich riskiere einen flüchtigen Blick zu ihr; beim Wort lesen läuft ihr Gesicht rot an. »Aber ihr Sohn geht seit der Revolution zur Schule und hat für sie geschrieben. Dass sie kommen wollen. Das waren die Leute, bei denen ich vor Albans eine Zeit lang gewohnt habe.«

Albans war unser Waisenhaus. Wie ihr Leben davor aussah, hat sie schon jahrelang nicht mehr erwähnt, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.

Sie spielt mit ihrem Haar, streicht sich ein paar Strähnen aus den Augen und hinters Ohr. »Ich hab sie nicht mehr gesehen, seit …« Sie schaut hoch und ich merke, dass ich sie angestarrt habe. Ich wende den Blick ab, sie greift zu ihren Stiefeln und schiebt die Füße nacheinander hinein.

»Es bedeutet ihnen bestimmt eine Menge, wenn du es in den Vierten Rang schaffst«, sage ich. »Wahrscheinlich würde es jedem Landbewohner, der zu dem Turnier angereist ist, eine Menge bedeuten. Du würdest …«

Über ihre Stiefel gebeugt, fragt Annie leise: »Ich würde was?«

Ich höre es mich sagen. Worte, die meinen Vater zutiefst beschämt hätten, ganz besonders aus meinem Mund.

»Du würdest Geschichte schreiben.«

Annie hat ihren Helm aufgehoben und stützt ihre andere behandschuhte Hand auf die Knie, um aufzustehen. Mit einem sonderbaren Lächeln sieht sie mich an. Als sie antwortet, weist sie nicht etwa darauf hin, dass gemäß der niederen Herkunft, die ich angenommen habe, auch ich Geschichte schreiben würde.

Als wüsste sie, dass das nicht stimmt. Als wüsste sie, dass ich insgeheim darauf hoffe – verzweifelt und begierig darauf hoffe –, die Geschichte zu wiederholen.

»Gehen wir, Lee.«

2

Der Vierte Rang

Bevor er das Mädchen kennenlernte, bewegte sich der Junge im Waisenhaus wie ein Schlafwandler. Fade Mahlzeiten, harte Betten in kalten Nächten, Hänseleien und Handgreiflichkeiten, all dies glitt an ihm ab, ohne dass er es wahrnahm. Sollten sie ihn doch hänseln. Sollten sie doch handgreiflich werden. Sie waren nichts. Sie sprachen die Sprache, die in seinen Ohren geklungen hatte, als er seine Familie sterben sah.

Statt zuzuhören, hing er Erinnerungen nach. In Gedanken war er im Kreis seiner Familie, hörte seine Schwester lachen, seinen Bruder Scherze treiben, seine Mutter sprechen. Eine Welt aus Licht und Wärme, großen, von Dienern geschürten Kaminfeuern, kunstvollen Glasfenstern, die auf den Feuerschlund blickten, und kristallenen Lüstern, die tief über mit Speisen beladenen Tafeln hingen. In Gedanken sah er seinen Vater bei der Audienz im prachtvollen Thronsaal seine Untertanen empfangen. In Gedanken schwang er sich in den Himmel auf, weit unter ihm die Stadt, um ihn der Arm seines Vaters, der ihn festhielt, während die Flügel seines Sturmpfeils durch die Luft rauschten. Der Name seiner Drachin war Aletheia und sein Vater erlaubte ihm manchmal, sie mit Essensresten von der Familientafel zu füttern.

»Eines Tages«, sagte sein Vater zu ihm, als sich das Hochland von Callipolis unter Aletheias Flügeln erstreckte, »wird all dies dir gehören, wenn ein Drache dich erwählt. Du wirst lernen zu herrschen, so wie ich.«

»Hast du es von deinem Vater gelernt?«

»Er lehrte mich, was er konnte. Doch vieles fiel mir von selbst zu, Leo. So wird es auch bei dir sein. Wir sind zum Herrschen geboren, so wie das Bauernvolk zum Dienen geboren ist.«

Der Junge merkte, dass er stundenlang in diesen Erinnerungen verweilen konnte. Und als sie versiegten, ersann er Zukünftiges: wie ein Drache ihn zu seinem Reiter erwählen würde, wie er über Drachenfeuer befähle und wie die Menschen, die ihm alles genommen hatten, hilflos ihrer Strafe harrten. Er malte sich aus, wie er sie büßen lassen würde.

Wenn er darin versank, blieben die echte Welt und die anderen Erinnerungen ausgesperrt. Nichts tat so weh, wie in die Gegenwart zurückkehren zu müssen.

Und genau das geschah, als er das Mädchen kennenlernte.

Durch den Türspalt konnte er sehen, wie ein Kind von zwei Größeren bedrängt wurde. Das Mädchen wehrte sich. Die Szene war nur allzu vertraut.

Doch dann ging er zum ersten Mal, seit er in das Waisenhaus gebracht worden war, der Gewalt nicht aus dem Weg, sondern begab sich mitten hinein.

Er zog ein Küchenmesser aus seiner Tasche, als er zu den Kindern trat. Die Worte in der anderen Sprache kamen langsam, aber sie kamen. »Geht weg.«

Beim Anblick seines Messers flohen sie.

Als er neben dem Mädchen niederkniete, erkannte er sie wieder: Sie saß in vielen Fächern mit ihm im Unterricht, obwohl sie mindestens ein Jahr jünger war als er und seine Mitschüler. Ihre Arme und Beine waren mager, das rotbraune Haar zottelig, und ihre Kleidung wirkte selbst hier im Waisenhaus stark abgetragen. Als er sie so betrachtete, erstaunte ihn, wie klein sie aussah.

Das war das erste Mal, dass er so etwas über einen anderen Menschen dachte; in seiner Familie war er der Kleinste gewesen.

»Du hättest nicht kämpfen sollen«, sagte er. »Sie machen es dir nur schwerer, wenn du dich wehrst. Dann tun sie dir noch mehr weh …«

Er biss sich auf die Zunge.

Das Mädchen sah achselzuckend zu ihm auf und in ihrem verweinten Gesicht erkannte er wilde Bitterkeit und Entschlossenheit, die ihm vertraut waren.

»Manchmal kann ich einfach nicht anders«, sagte sie.

Annie

Auf diesen Anblick kann kein Training der Welt vorbereiten: die voll besetzten Ränge der Arena, die im Wind flatternden Banner, die Trompeten, die zum Takt der Trommeln die Revolutionshymne erschallen lassen. Während wir die Eröffnungszeremonie absolvieren, genießen Aela und ich gemeinsam den gleißend blauen Horizont, die steife Brise des Spätfrühlings und den Jubel der Städter unter uns. In Momenten wie diesem trifft es mich wieder wie beim ersten Mal: Dieses Leben, sosehr es mir mittlerweile zur Routine geworden sein mag, ist in Wirklichkeit außergewöhnlich. Heute sehen die Menschen auf den Rängen einfachen Bürgern beim Drachenreiten zu. Bei solchen Dingen kann man gar nicht anders, als stolz auf sein Land zu sein.

Aber gerade als dieser Gedanke mich zu überwältigen droht, spüre ich Aelas warmen Leib unter dem Sattel, ein sanftes Stupsen in meinem Geist. Halt ein. Halt still. Nicht jetzt. Von Anfang an hat Aela die Gefühle, die ich nicht unter Kontrolle hatte, zu mäßigen vermocht. Schon in der allerersten Zeit, als ich noch ein Kind war, das in seinen Albträumen von Drachenfeuer heimgesucht wurde. Mit Aela war es damit vorbei. Der Trost eines Drachen für die Verbrechen eines Drachen. Was würden die Leute aus meinem Dorf denken? Was hätten meine Eltern und meine Geschwister darüber gedacht? Fragen, auf die ich nie eine Antwort bekommen habe – aber wenn ich mit Aela zusammen bin, werden sie bedeutungslos.

Lee auf Pallor und ich führen das Geschwader der Aurelianer über die Köpfe der Zuschauer, während weiter oben die glitzernden Himmelsjäger kreuz und quer durch die Arena sausen. Cor hält sich an das, was wir heute Morgen geprobt haben, und bleibt mit dem Geschwader der Sturmpfeile hoch genug, dass ihre Asche den Bürgern auf den Rängen nicht gefährlich werden kann.

Nachdem wir gelandet sind und unsere Drachen entlassen haben, hält Atreus eine Rede. Obwohl wir ein gutes Stück von der Palastloge entfernt sind, strahlt er mit seinem kurzen stahlgrauen Haar und der selbstbewussten Haltung, die seine nüchternen, schlichten Gewänder mehr als wettmacht, eine unübersehbare Präsenz aus. Das Einzige, was mit der Distanz verloren geht, ist die Wirkung seines Blicks, der einem das Gefühl gibt, Macht zu haben. Wichtig zu sein. Gebraucht zu werden. Als wir ihm als Kinder zum ersten Mal gegenübertraten, frisch erwählt von den Drachenjungen des neuen Regimes, lief mir ein Schauer über den Rücken, während er meinen Namen sagte. Zum ersten Mal in Verbindung mit Aelas Namen, als Drakonym, wie bei einem Drachenherrscher. Antigone auf Aela, sprich deinen Eid.

Wie es wohl gewesen wäre, frage ich mich unwillkürlich, heute Morgen statt einer Ermahnung vom Informationsministerium ein anspornendes Wort von ihm bekommen zu haben? Was hat Lee empfunden, als er die Nachricht gelesen hat? Und ist das der Grund, weshalb er jetzt neben mir stehen und mit so unverschämt selbstbewusster Miene die wartende Menge betrachten kann?

Aber an Selbstbewusstsein hat es Lee noch nie gemangelt, gute Wünsche von Atreus hin oder her. Das hat man ihm von Anfang an deutlich angemerkt.

Es gibt ziemlich vieles, was Lee von Anfang an deutlich anzumerken war.

»Männer und Frauen von Callipolis«, verkündet Atreus, »willkommen bei der Viertelfinalrunde des Turniers zur Kür unseres Ersten Reiters. Vor zehn Jahren habt ihr eine historische Entscheidung getroffen. Ihr habt euch dafür entschieden, jeden und jede gleichberechtigt zu prüfen, die Besten unter euch zu Drachenreitern auszuersehen und sie zu Anführern und Anführerinnen auszubilden. Ihr habt euch entschieden, eine Zeit neuer Größe einzuläuten und Callipolis zu einer Luftmacht im Dienste des Guten zu machen, gelenkt von tugendhaften und gerechten Staatsoberhäuptern. In den Jahren des Übergangs von der alten zur neuen Form der Drachenherrschaft habt ihr mir das Amt des Verwalters anvertraut. Werft nun einen Blick auf eure Zukunft. Auf eure Wächter und Wächterinnen. Vier von ihnen werden sich heute für die Halbfinals um den Titel des Ersten Reiters qualifizieren und in den Vierten Rang erhoben.

In einigen Jahren werde ich sagen: Möge der tugendhafteste Wächter herrschen. Heute aber sage ich: Mögen die besten Reiter gewinnen.«

Donnernder Jubel braust auf und jagt mir Feuer durch die Adern.

Ich setze mich neben Duck auf die Steinstufen, um mir das erste Duell anzusehen: Ducks Bruder Cor gegen Rock, der wie Cor einen Sturmpfeil reitet und wie ich aus einer Familie von Leibeigenen aus dem Hochland stammt. Rock hat stoppeliges aschblondes Haar und helle Haut und ist so kräftig gebaut, dass er schon seit Jahren nur noch bei seinem Spitznamen – Rock, Fels – gerufen wird. Als der Herold seinen richtigen Namen ausruft, tun die Reiter auf dem Horst ganz verdutzt.

»Viel Glück, Richard!«, rufen sie.

Rock grinst nur gutmütig und rempelt Lotus und Darius ein letztes Mal mit der Schulter an, bevor er neben Cor die steinerne Rampe zur Höhlenöffnung hinuntergeht.

Zum ersten Mal seit unserem Gespräch gerät meine Gewissheit, die Lee mit seiner ruhigen Art bestätigt hat, ins Wanken. Lee hatte recht – ich würde Geschichte schreiben, wenn ich es heute in den Vierten Rang schaffe. Aber für Rock gilt das genauso. Und wer kann Rock nicht gut leiden? Den lauten, unerschütterlichen, selbstbewussten Rock? Die Sorte Bauer, die sogar Patrizierkinder mögen …

Im Grunde hat meine Mitteilung nur auf Tatsachen hingewiesen. Ich stehe wirklich nicht gern in der Öffentlichkeit. Und bin auch nicht erpicht auf so viel Aufmerksamkeit. Ich mag es, wenn ich gewinne, und darin bin ich auch gut, aber hier geht es um mehr als einen Duellsieg. Als Mitglied des Vierten Rangs stehe ich auf dem Präsentierteller. Das fände ich schrecklich. Darin wäre ich schlecht. Oder?

Aber …

Neben mir wippt Duck nervös mit dem Bein; er fiebert sichtlich mit seinem Bruder mit. Unten in der Arena blasen Rock und Cor in die Lockpfeifen, die in ihre Armbänder integriert sind. Der Ton, den sie in die Höhle schicken, ist für menschliche Ohren nicht zu hören, aber ihre Drachen sind darauf trainiert worden, ihn zu erkennen. In der Frühzeit des Drachenreitens konnten Reiter ihre Drachen angeblich durch Gedankenkraft herbeirufen, doch das wird seit Jahrhunderten nicht mehr praktiziert.

Als die Drachen herauskommen, sitzen Cor und Rock auf und heben ab. Auf Höhe des äußeren Palastwalls, nur noch überragt vom Inneren Palast und dem Karstfelsen mit Pythos Feste, halten sie zehn Meter voneinander entfernt inne. Die Glocke läutet, Cor attackiert, Rock schert aus und die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.

Rock ist nicht gut genug, um Cor zu besiegen.

Für die Zuschauer ist es nicht gleich zu sehen, aber mir ist das Kräfteverhältnis auf Anhieb klar: Rock auf Bast bewegt sich zu langsam, Cor auf Maurana kommt zu oft in Reichweite. Cors erste Schüsse gehen zwar fehl, aber sobald er ernsthaft zielt, wird Rock nicht mehr rechtzeitig ausweichen können. Bei Turnierkämpfen werden Treffer mit ungezündetem Drachenfeuer gezählt, einem rauchigen Aschestrahl, der heiß genug ist, dem Gegner Verbrennungen zuzufügen und seine Rüstung zu verkohlen. Treffer auf den Rumpf gelten als Todesschuss, für Treffer auf Arme und Beine gibt es je einen Punkt; drei Punkte werden wie ein Todesschuss gewertet und bringen den Sieg.

»Bravo, Cor!«

Duck ist aufgesprungen, lehnt sich an das Geländer, mit dem der Horst gesichert ist, und blinzelt gegen die Sonne. Als Rock seinen ersten Punkt erzielt – einen Glückstreffer, der Cor einen Arm verkohlt –, zieht Duck die Luft durch die Zähne, als könne er die Verbrennung spüren.

»Sturmpfeil-Feuer. Das schmerzhafteste von allen, heißt es«, sagt Power, der links von Duck zu uns tritt. Auf der Erde bewegt er sich genau wie in der Luft: geschmeidig und bedrohlich wie eine schleichende Raubkatze. Er hat sich seinen Helm unter den Arm geklemmt und das Sonnenlicht glänzt auf seiner bronzefarbenen Haut und dem Flaum seiner kurz geschorenen Haare. Duck verkrampft sich, wendet ihm aber nicht den Kopf zu.

»Was meinst du denn dazu, Annie?«, legt Power nach.

Mich nach meinen Erfahrungen mit Sturmpfeil-Feuer zu fragen ist eine von Powers Lieblingsmethoden, mich zu verhöhnen. Er beobachtet mich jedes Mal genüsslich, während ich ausdruckslos zurückstarre. Nach so vielen Jahren ist das fast zum Ritual geworden.

Duck ballt die Fäuste. Als wir Kinder waren, haben Powers Anspielungen auf das Schicksal meiner Familie ihn ständig derart zur Weißglut gebracht, dass er sich mit ihm geprügelt hat. Und er unterlag immer. Powers Muskeln sind kompakt und seine Taktik im Faustkampf passt eher zu einer räudigen Ratte als zum Sohn eines Patriziers.

»Was willst du?«, knurrt Duck.

Power beugt sich dicht, zu dicht, an Ducks Ohr. Sein Flüstern ist kaum vernehmbar. »Ein langes, langsames Rösten.«

Duck versteift sich und ich lege ihm warnend eine Hand auf den Arm.

»Zisch ab«, sage ich zu Power.

Unsere Unterhaltung ist leise, aber die anderen Reiter auf den Steinstufen sind trotzdem aufmerksam geworden. Lee und Crissa sitzen uns am nächsten. Auf meinen mahnenden Blick hin bleibt Lee, wo er ist, doch er beobachtet uns ganz genau. Abwartend, sprungbereit.

Power lässt von Duck ab und dreht sich zu mir, wie ein Drache, der eine neue Fährte aufgenommen hat. Seine dunkelbraunen Augen bohren sich in meine und er fletscht die Zähne zu einem Lächeln. Dann neigt er in ironischem Gehorsam den Kopf, als wäre ich eine Drachenblütige aus dem alten Regime.

Ich spüre, wie mein Gesicht zu glühen beginnt. Als Power sich verzieht, schüttelt Duck mit einer leichten Armbewegung meine Hand ab. Seine Augen haben wieder dieselbe Farbe wie die seines Bruders über uns angenommen, aber er atmet noch ganz flach. »Du, Annie?«

»Ja?«

»Willst du in der Pause mitkommen, wenn ich zu meiner Familie gehe?«

»Ich dachte, wir sollten erst nach dem Turnier …«

»Ich glaube, ich besuche sie lieber noch vorher.«

Ich denke an Powers wutentbrannten Blick und verspüre den hilflosen Schmerz, den ich immer empfinde, wenn ich Duck leiden sehen muss. Power auf Devoro hat schon etliche Reiter auf die Krankenstation gebracht.

»Einverstanden.«

Duck reißt seinen Blick von dem Turnier los und wirft mir ein halbes Lächeln zu. Der Wind zupft an seinem lockigen Haar, als er in einer verlegen-trotzigen Geste die Schultern hochzieht. Seiner fröhlichen Art kann wirklich nichts und niemand etwas anhaben. Bei unserer ersten Begegnung hat er mich an der Hand genommen und auf das Dach des Konvents geführt, damit ich mir die Sterne ansehen kann. Zuerst war ich verwirrt: Bloß um Sterne zu gucken? Die können wir doch jederzeit sehen. Nicht so, sagte Duck zu mir. Wart’s ab. Sie sind wunderschön.

Und ich war wirklich nicht darauf gefasst, wie wunderschön sie waren, so still und so nah, als könne man sie von den Dachzinnen aus berühren. Wir wurden erwischt, aber das war es wert. Zum ersten Mal saß ich eine von Goran aufgebrummte Strafe mit einem Lächeln ab.

Die Menge bricht in Jubel aus. Cor ist mit einem Sturzflug zu Rock heruntergetaucht und hat ihm den dritten, entscheidenden Treffer versetzt. Duck stößt ein Triumphgeheul aus und reißt die Faust in die Luft.

Damit hat Cor auf Maurana das Duell gewonnen.

Und ich bin die einzige Hochländerin, die noch im Rennen ist.

Auf dem Horst angekommen sitzen Cor und Rock sichtlich steif ab – sie haben beide Verbrennungen davongetragen. Der Herold erklärt Cor auf Maurana zum ersten Mitglied des Vierten Rangs und Cor winkt. Er ist so aufgeputscht durch den Sieg, dass sein Grinsen etwas irre wirkt. Rock wird von seinem Freund Lotus in Empfang genommen, der ihm hilft, zum Geländer zu humpeln, während sein Sturmpfeil in die Höhlen zurückfliegt.

»Du hast dich wacker geschlagen«, sagt Lotus. Er ist der Sohn eines gefeierten patrizischen Dichters und mit seinem krausen Haar, der braunen Haut und der schlaksigen Gestalt auch körperlich das genaue Gegenteil des kräftig gebauten Rock.

Rock reibt sich die Hände. »Und, gilt unsere Wette auf Lee und Crissa noch?«

Als Wächter haben wir irdischen Freuden wie Geld, der Ehe und eigenen Nachkommen eigentlich abgeschworen, aber beim Glücksspiel machen manche – jedenfalls Rock und Lotus – heimlich eine Ausnahme.

»Na klar«, sagt Lotus. »Ich lege noch eine Drachisch-Übersetzung obendrauf, dass …«

»Ihr wisst schon, dass wir euch hören können?«, fällt Crissa ihnen ins Wort. »Und ich gehe davon aus, dass du auf mich setzt, Lotus. Wo ich doch dein Geschwader anführe?«

Lotus schluckt. Crissa grinst, fängt dann Lees Blick auf und schlägt sich mit der Faust in die flache Hand. »Bist du so weit, Lee?«

Mit seiner Drachenschuppen-Turnierrüstung, dem dunklen Haar und dem ernsten Gesicht, den grauen Augen und hohen Wangenknochen wirkt Lee eher wie ein aus einem Wandteppich entsprungener Feldherr der Bassilischen Kriege als jemand, mit dem man herumblödeln kann. Aber Crissa lässt sich davon nicht abschrecken. Und zu meinem Erstaunen hebt Lee eine Augenbraue. Eine klitzekleine Reaktion, die schon ausreicht, um Crissa erröten zu lassen.

Im Schlafsaal der Mädchen läuft noch eine weitere Wette: wie lange Crissa noch mit Lee flirten muss, bis er ihr – in Deirdres Worten – erliegt. Deirdre und Alexa haben damit angefangen und irgendwann hat sogar Orla mitgemacht. Crissa weiß, dass Geld eingesetzt worden ist, und findet es witzig. Ich vermeide das Thema lieber. Bislang ist noch kein Gewinn ausgezahlt worden.

Lee und Crissa gehen die Rampe hinunter, um ihre Drachen zu rufen, und Deirdres und Alexas Gekicher von einer höher gelegenen Stufe schrillt mir in den Ohren. Doch als die beiden sich in die Luft schwingen, wird es still auf dem Horst. Alle quälenden Gedanken über Crissa, ihr Geschäker und Lees unergründliche Reaktionen darauf verschwinden, als ich Lee fliegen sehe.

Ich trainiere so oft mit ihm, dass ich nur selten Gelegenheit habe, ihm zuzusehen. Lee und Pallor bewegen sich vollkommen fließend und zugleich höchst akkurat, ohne je übermütig zu werden oder ihre Kräfte zu stark zu zügeln. Der Anblick ist so schön, dass ich unwillkürlich den Atem anhalte und am liebsten selbst hinauffliegen würde. Zu gern wäre ich diejenige, die auf ihre Attacken und taktischen Rückzüge reagiert und den Rausch erlebt, sich mit jemandem zu messen, der dich zu deinen besten, kühnsten und schärfsten Flugmanövern herausfordert.

Crissa ist wahrscheinlich unsere stärkste Himmelsjäger-Reiterin. Sie weiß die angeborene Wendigkeit und Schnelligkeit ihres Drachen zu ihrem Vorteil zu nutzen, doch gegen Lees vollkommene Präzision bringt selbst das nicht viel.

»Warum lässt er lauter gute Gelegenheiten aus?«, murmelt Rock.

Er kennt Lees Stil eben nicht so gut wie ich. Lee lässt keine Gelegenheiten aus. Er wartet auf den perfekten Schuss.

Nach einer Weile verliert Crissa die Geduld, fliegt eine Schleife und greift an. Lee weicht nach links aus und fast gleichzeitig feuert Pallor. Mit seinem ersten Aschestrahl ist das Duell entschieden: Crissas Brustpanzer färbt sich schwarz. Lee hat mit einem einzigen Todesschuss gewonnen.

Als er landet und den Helm abnimmt, ist sein Gesicht – im Gegensatz zu Cors überwältigter Euphorie – vollkommen ungerührt. Er geht zu Crissa hinüber, die ihre Enttäuschung mit einem Lächeln überspielt, als sie sich die Hand geben. Selbst als der Jubel von den Rängen aufbrandet und der Herold ihn zum zweiten Mitglied des Vierten Rangs erklärt, verzieht er keine Miene. Es ist, als hätte er darauf gewartet.

Ich verspüre eine Mischung aus Bitterkeit und Bewunderung, die mir einen Stich versetzt: Für ihn ist das so selbstverständlich. Nicht nur der Sieg – auch der Gedanke, dass ihm der Sieg gebührt.

Und daran schließt sich gleich der nächste Gedanke an, ungewollt, aber unvermeidlich: Natürlich ist das so. Natürlich ist das selbstverständlich für ihn.

Für dich wäre es auch selbstverständlich, wenn du von Drachengeblüt wärst.

Das Wort kommt mir schmutzig vor. Verboten, wie Bauer, nur dass es nicht aus dem offiziellen Wortschatz, sondern aus meinen Gedanken in Bezug auf Lee verbannt ist. Und es schleicht sich jetzt auch nur ein, weil er so verflucht selbstsicher wirkt.

Klar, seine Herkunft wurde nie nachgewiesen –

Aber das war eigentlich auch nie nötig.

Und es war nie wichtig. Die Hauptsache ist: Lee fliegt gut. Er ist ein guter Anführer und er ist mein Freund. Er verdient den Sieg. Warum sollte ich ihm die Befriedigung darüber nicht gönnen?

Warum sollte ich ihm, dem vermeintlichen Waisenkind aus der Gosse, bei so viel überraschendem Selbstvertrauen und begnadetem Können die Gunst des Ersten Protektors neiden?

Vor den letzten beiden Duellen – Duck gegen Power und ich gegen Darius – wird eine zwanzigminütige Pause ausgerufen. Die Reiter, die ihren Kampf schon hinter sich haben, gehen die Treppe zum Palasteingang hinunter, um ihre Verbrennungen während der Pause ärztlich behandeln zu lassen. Duck berührt mich am Arm.

»Kommst du?«

Ducks Familie sitzt im Bronze-Bereich, der Handwerksmeistern und anderen gelernten Arbeitern vorbehalten ist; unter ihnen liegt der Eisen-Bereich für ungelernte Arbeiter; hoch über ihnen, rechts und links der Palastloge, befinden sich der Silber- und der Gold-Bereich für den muthaften – gemeint ist der militärische – und den philosophischen Stand. Vor der Revolution wurde man in einen Stand hineingeboren – das gemeine Bürgertum, die patrizische Oberschicht, die Drachenblütigen –, aber unter dem neuen Regime entscheidet eine Prüfung, welchem Stand man zugeordnet wird.

»Suchst du wen?«, fragt Duck.

Ich lasse den Blick über die Menge wandern und versuche, die Aufmerksamkeit zu ignorieren, die unsere Rüstung erregt, während ich Ausschau nach Gesichtern aus meinem Dorf halte. Wo stecken sie? Sind sie doch nicht hier? Sie gehören definitiv zum bronzenen Stand; Landwirtschaft zählt zu den gelernten Tätigkeiten. Dann müssten sie in diesem Bereich hier sitzen.

»Dorian! Da bist du ja! Und Annie!«

Die Sutters umringen uns. Ducks Mutter und seine zwei Schwestern fallen mir um den Hals, während sein jüngerer Bruder auf eine Bank steigt und in Ducks Arme springt. Wie Duck geben mir auch alle anderen Sutters das Gefühl, vorbehaltlos willkommen zu sein.

»Ist das mit Cor nicht aufregend? Glaubt ihr, er könnte Erster Reiter werden?«

Duck kneift die Augen zusammen und ich frage mich, ob wir beide über die Aussichten nachdenken, die Cor noch hat, nachdem auch Lee eine Runde weitergekommen ist. »Vielleicht. Aber in Friedenszeiten ist Erster Reiter sowieso eher ein Ehrentitel.«

»Aber es könnte Krieg geben«, wirft Ducks jüngere Schwester Merina ein. Ihre Zöpfe hüpfen, als sie auf ihren Fußballen auf und ab wippt. Wie alle Sutter-Sprösslinge hat sie den braunen Teint ihrer Mutter und die haselnussfarbenen Augen und das wellige Haar ihres Vaters.

Duck schüttelt lachend den Kopf. »Unwahrscheinlich.« Lässig zählt er auf: »Wir haben eine gute Beziehung zu Damos, die Drachen der Iscanischen Inseln haben sich zur Neutralität verpflichtet, das Bassilische Reich verliert seit Jahrhunderten an Macht …«

Duck hat nur das zusammengefasst, was wir im Unterricht über die geopolitischen Verhältnisse der Region gelernt haben, aber seine Familie starrt ihn geradezu fassungslos an. Die Sutters betreiben eine Bäckerei in Obermarkt. Auf Cors und Ducks Aufstieg haben sie immer schon mit Stolz, aber auch mit einem gewissen argwöhnischen Unverständnis reagiert.

Mit einem seltsam angespannten Unterton in seiner tiefen Stimme sagt Mr. Sutter: »Aber es gibt Neu-Pythos. Die haben es doch auf uns abgesehen, oder nicht?«

Der Versuch, mit eigenem Wissen zu glänzen, misslingt so kläglich, dass ich mich ein bisschen fremdschäme. Duck nimmt seinen kleinen Bruder Greg huckepack und überlegt stirnrunzelnd, wie er antworten soll. Mr. Sutter ahnt nicht, dass er gerade seinen niedrigen Bildungsstand verraten hat. Seit Jahren gibt es Gerüchte, dass Neu-Pythos Überlebende der Drei Familien aufgenommen hat, die den Massakern beim Sturm auf den Palast entronnen waren, aber seine militärische Schlagkraft ist bekanntermaßen gering. Die Insel hat keine Drachen, also auch keine Luftwaffe. Nicht einmal eine Marine, da sie von einem Ring aus Karstfelsen geschützt wird, der ihre Gewässer nahezu unpassierbar macht. Dennoch streut das Informationsministerium Gerüchte über ein erstarkendes Neu-Pythos in den niederen Ständen, um den Patriotismus zu fördern, wie die für Propaganda zuständigen Beamten uns Wächtern im Unterricht erklärt haben.

Ein Argument, das man viel leichter schluckt, bevor der eigene Vater es einem auftischt.

Duck nickt bedächtig. »Das stimmt. Es gibt Neu-Pythos.«

Mrs. Sutter stemmt ihre stets mehlbestäubten Arme in die Hüften, als wollte sie die Spannung abwehren, die sie zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn anwachsen spürt. »Krieg hin oder her, der Vierte Rang ist schon mal eine Ehre für sich.«

Merina meldet sich eifrig zu Wort. »In der Schule nehmen wir das gerade durch. Der Vierte Rang bedeutet, dass man zum nächsten Protektor gewählt werden könnte. Cor wird noch mehr Visiten machen und Reden halten und mit den Gold-Bürgern auf noble Feste gehen und sich sozusagen bewerben um …«

Die Kinder nehmen den Vierten Rang in der Schule durch? Wenn ich daran denke, dass man in Klassenzimmern überall im Land über uns spricht, wird mir angst und bange. Selbst dann, als ich mir vergegenwärtige, dass das natürlich ein wichtiges Thema für sie ist. Wir sind ein wichtiges Thema für sie.

Das Ministerium erinnert Antigone auf Aela daran, dass die Reiter des Vierten Rangs ein höchst öffentliches Amt bekleiden …

Ana, die ältere Sutter-Schwester, erschaudert. »Das klingt schrecklich. Ich würde nicht mit Cor tauschen wollen.«

Ana, das große, knochige Mädchen mit dem Durchschnittsgesicht, hat meine eigenen Gefühle auf den Punkt gebracht. Ich empfinde eine plötzliche Zuneigung zu ihr.

»Hast du deine Standesprüfung schon hinter dir?«, frage ich sie.

Ana ist ein Jahr jünger als wir und gerade im letzten Schuljahr, in dem man diese Prüfung üblicherweise ablegt. Sie nickt und zeigt uns ihr nacktes Handgelenk. »Die Ergebnisse sind noch nicht da. Aber ich habe bestimmt nicht so gut abgeschnitten wie Duck und Cor.«

Wenn die Ergebnisse vorliegen, wird Ana das entsprechende Armband tragen. Die bronzenen Armbänder ihrer Eltern, die sie als Handwerksmeister ausweisen, glitzern in der Sonne. Ducks und meines ist ein aus Gold und Silber geschmiedeter Reif, den diejenigen Kinder bekommen, deren Testergebnisse bei der Talentauswahl für das Wächterprogramm sowohl philosophisch als auch muthaft ergeben haben. Das sind die seltensten Armbänder in der Stadt.

Die Glocken läuten. Duck zieht die Schultern hoch, als ihn das Geräusch daran erinnert, was ihn erwartet. Power. »Wir müssen mal zurück.«

Mrs. Sutter drückt mich zum Abschied an sich, eine gedankenlose mütterliche Geste, die mich in Verlegenheit stürzt. »Viel Glück bei deinem Duell, Liebes. Kommst du dieses Jahr zur Sommersonnenwende? Diesmal will ich keine Ausreden hören!«

»Wenn es sein muss, schleifen wir Annie und Lee mit Gewalt aus dem Konvent«, versichert Duck ihr.

Als wir wieder zum Horst hinaufgehen, recke ich den Hals, um noch einmal die Bronze-Ränge abzusuchen. Aber ich kann niemanden aus meinem Dorf entdecken.

Vielleicht sind sie nicht gekommen.

Es bedeutet ihnen bestimmt eine Menge, wenn du es in den Vierten Rang schaffst, hat Lee heute Morgen gesagt.

Komisch, wie viel der Gedanke, dass es ihnen wichtig ist, mir bedeutet.

Ich halte so konzentriert Ausschau, dass ich fast in meinen Gegner Darius hineinrenne, der gerade von den oberen Gold-Rängen herunterkommt. Er ist blond, hochgewachsen und gut gebaut wie eine weiße Marmorstatue. Er hat Freunde dabei, alles Patrizier, deren Test eine Gold-Eignung ergeben hat. Die meisten kenne ich vom Sehen, da wir Wächter viele Kurse mit den Gold-Studenten zusammen haben – wir werden später eng mit ihnen zusammenarbeiten, auch wenn sie uns untergeordnet sind. Ihre Eltern gehören zu den Beamten und Beamtinnen, die mich auf Visiten im Inneren Palast und in anderen Regierungsabteilungen begleiten.

Und jeder von ihnen sähe Darius auf Myra gern im Vierten Rang.

Als er mich erkennt, bleibt Darius wie angewurzelt stehen und zeigt dann, ganz der noble Kavalier, auf den steinernen Bogendurchgang vor uns. »Nach dir, Annie.«

Bei allen Drachen. Ich verzichte. Ich muss verzichten. Schließlich habe ich mich mit meinem Eid verpflichtet, stets dem Willen des Staates zu gehorchen. Und der Staat will diesen Jungen. Es schmerzt, aber ich kann es ihnen nicht verdenken. Hat mich eben nicht schon die Vorstellung fertiggemacht, dass Schulkinder über mich reden? Darius wäre zwar nicht mein Favorit, aber er ist ein anständiger Kerl und würde seine Sache gut machen …

Zuerst sind Duck und Power dran; Darius und ich werden das Turnier abschließen.

Auf dem Horst lässt Duck, inzwischen das reinste Nervenbündel, die gemurmelten Ratschläge seines Bruders über sich ergehen, während der noch einmal seine Rüstung überprüft. Powers Sturmpfeil ist so groß, dass sein Feuer praktisch nie versiegt und der Reiter nicht mit Schüssen zu sparen braucht. Ducks beste Strategie ist, so lange hin und her zu fliegen, bis sie irgendwann erschöpft sind.

»Und bloß nicht überborden«, zischt Cor.

Unterbewusst besteht meistens eine schmale Grenze zwischen unseren Emotionen und denen unseres Drachen. Aber bei heftigen Gefühlsaufwallungen brechen die Dämme und man teilt alles. Dieses Überborden kann der größte Vorteil oder die größte Schwäche eines Reiters sein. Manche Reiter, wie Power, tun es absichtlich; Lee und ich verzichten darauf, obwohl ich vor der seelischen Verbindung mit meinem Drachen weniger zurückschrecke als Lee. Duck gehört zu dem Typ Reiter, der leicht überbordet und das lieber lassen sollte. In seinem und Certas Fall geht das nie gut, weil sie dann die Kontrolle über sich verlieren.

Als Duck und Power die Rampe hinuntergehen, stellt sich Lee zu Cor und Crissa, und obwohl ich mich normalerweise fernhalte, wenn er mit den Anführern der anderen Geschwader zusammen ist, steuere ich unwillkürlich, fast wie magnetisch angezogen, auf ihn zu. Eine Stressreaktion, das typische Verhalten eines Waisenkinds – noch während ich es geschehen lasse, diagnostiziere ich mich selbst. Als er mich kommen sieht, geht er ein Stück von den anderen weg, und wir lehnen uns nebeneinander an das Geländer, um das Duell zu verfolgen.

Duck und Power gehen über uns in Startposition. Wieder kehrt Stille auf dem Horst ein, wie vorhin bei Lee, aber diesmal ist es ein banges Schweigen. Nicht einmal Rock und Lotus steht der Sinn nach Wetten.

Dann geht es los. Power auf Devoro greift an, Duck auf Certa weicht zurück und düst, gefolgt von Power, schnell davon. Aber Power durchschaut die Masche ziemlich bald, denn wir hören ihn brüllen: »Na, läufst du vor mir weg? Wie in den guten alten Zeiten, Dorian!«

»Lass dich nicht provozieren, Duck«, murmelt Lee und umklammert mit beiden Händen den Lauf des Geländers, die grauen Augen starr auf Ducks perlmuttfarbenen Himmelsjäger geheftet.

Aber Duck konnte Powers Provokationen noch nie gut ignorieren. Ein verräterischer Schauer durchläuft seinen Drachen. Nichts, was den Zuschauern auffallen würde, aber wir erkennen die ersten Anzeichen des Überbordens sofort.

Auf einmal macht Duck scharf kehrt und feuert. Power duckt sich, die Asche schießt harmlos über seiner Schulter vorbei und er nutzt die Gelegenheit zu einem Konter. Der Hitzeschwall erwischt Duck mit voller Wucht am Bein.

Das Publikum schnappt bewundernd nach Luft, aber auf dem Horst wird aus ganz anderem Grund ein Raunen laut, als die Glocke einen Treffer signalisiert: Bei der Blöße, die Duck sich gegeben hat, hätte Power einen Todesschuss absetzen können. Stattdessen hat er ihn mit einem Hitzestoß ersten Grades am Bein verbrannt.

Ein langes, langsames Rösten. Power will es absichtlich hinziehen.

Beide Reiter weichen außer Schussweite zurück, während Duck die Ventile mit Kühlflüssigkeit im Beinteil seines Feueranzugs öffnet, um den Schmerz durch die Verbrennung vorübergehend zu lindern. Dann richten sie sich neu aus und rücken wieder vor. Jetzt ist sonnenklar, dass Duck überbordet hat: Certa zuckt in den unpassendsten Momenten, ihre Bewegungen werden immer unkoordinierter. Welche Emotionen auch immer Duck gerade beherrschen, sie strömen jetzt in Drachendimensionen durch beide hindurch. Keine Minute später landet Power seinen zweiten Treffer, diesmal auf Ducks Arm und Seite. Wieder hat er einen Todesschuss vermieden, obwohl der Weg frei war; wieder hat er mit voller Wucht gefeuert.

Übelkeit steigt in mir auf.

Sturmpfeil-Feuer. Das schmerzhafteste von allen.

Ich fühle Erinnerungen aufziehen wie ein nahendes Unwetter. Ich hätte es wissen müssen. Das Letzte, was mir an diesem schrecklichen Morgen noch gefehlt hat. Bitte nicht, nicht das, nicht ausgerechnet jetzt –

Aber wenn es einmal angefangen hat, lässt es sich nicht mehr aufhalten. Und so umklammere ich das Geländer und nehme alle Willenskraft zusammen, um mich nicht darin zu verlieren.

Ich spüre Lees Blick, der das Duell verfolgen sollte, stattdessen auf mir ruhen.

Hinter uns sagt Cor: »Meister Goran, werten Sie ein Foul.«

»Ein fehlgegangener Todesschuss ist kein Foul.«

Cor dreht sich zu unserem Drillmeister um. Seine Stimme bebt. »Power spielt mit seiner Beute, bevor er sie frisst.«

Die Spannung zwischen Goran und den Anführern der drei Geschwader war schon immer ein offenes Geheimnis, nur spricht keiner von ihnen es jemals aus. Es war Atreus, nicht Goran, der vor zwei Jahren drei Reiter niederer Herkunft, darunter ein Mädchen, an die Spitze gesetzt hat.

»Power hat nichts Verbotenes getan«, sagt Goran.

Cor gibt ein gurgelndes Geräusch von sich und kehrt Goran den Rücken zu. Crissa legt ihm eine Hand auf den Arm.

»Ich hole schon mal den Arzt«, sagt sie. »Komm doch mit.«

Er streift ihre Hand ab. »Nein.«

Ich bin ziemlich sicher, dass meine Miene ausdruckslos und mir nichts anzumerken ist, aber Lee rückt trotzdem näher an mich heran, bis unsere Schultern sich berühren, und legt seine Hand neben meine auf das Geländer. Eine wortlose Geste, die niemand außer mir sehen kann. Einen Augenblick lang kämpfe ich gegen den Drang an, sie zu nehmen. Doch die Welt gerät ins Wanken, die Erinnerungen branden auf und der Gedanke an Duck, der da oben verletzt weiterkämpfen muss, droht alles zu überwältigen. Ich gebe nach. Packe Lees Hand und konzentriere mich darauf, sie festzuhalten. Bestimmt bohren meine Fingernägel sich in seine Haut, aber er zieht sie nicht weg, sondern erwidert nur den Druck. Ich sehe ihn nicht an.

Über uns scheint Duck seine ursprüngliche Strategie, auf Abstand zu bleiben, aufgegeben oder vergessen zu haben. Er und Power umkreisen einander, und Certa erzittert unter Ducks Emotionen. Binnen Sekunden setzt Power seinen dritten, entscheidenden Schuss ab. Obwohl ihm für den Sieg ein Treffer auf die Gliedmaßen reichen würde, macht er einen Todesschuss daraus. Duck wird von dichtem Rauch verschluckt. Als die Wolke verweht, sieht man nur eine steife schwarze Gestalt auf dem Rücken des Drachen. Langsam sinken sie hinter Power auf Devoro zum Horst herunter. Power sitzt ab. Er lächelt.

»Hoffentlich ist ihm nichts passiert«, sagt er. »Der ist ein bisschen heftiger ausgefallen, als ich wollte …«

Mit einem wortlosen Brüllen stürzt Cor sich auf ihn. Lee entzieht mir seine Hand, um ihn mit ein paar anderen Reitern zurückzuhalten.

Goran und der Arzt durchtrennen die Riemen, die Ducks Stiefel an den Steigbügeln fixieren, und heben ihn vorsichtig von Certas Rücken. Certas Blick ist leer: der Ausdruck eines Drachen, dessen Reiter bewusstlos ist. Ich sehe Ducks schlaffen Körper, rieche Rauch und spüre die Panik in kalten Wellen über mich hinwegspülen.

Nichts brennt so sehr wie Sturmpfeil-Feuer.

Lee tritt vor, doch als er merkt, dass ich mich ebenfalls rühre, legt er mir den Arm um die Hüfte, um mich zurückzuhalten, dreht mich zu sich und sucht meinen Blick.

»Annie.«

»Ich muss …«

Stumm versuche ich, an ihm vorbeizukommen. Die Erinnerungen sind jetzt so übermächtig, dass ich Duck kaum noch wahrnehme. Die Bilder, wie Sturmpfeil-Feuer meine gesamte Welt verschlingt, während ich danebenstehe und nichts tun kann.

Dann bohrt sich Lees glühender Blick in meinen. Die Welt wird still. Alles fällt von mir ab.

»Ich kümmere mich um ihn. Du musst los.«

Ich begreife erst gar nicht, was er meint. Doch plötzlich überkommt es mich siedend heiß: mein Duell. Ich habe noch ein Duell vor mir.

Ein Duell, das ich nicht gewinnen soll. Ein Duell, für das niemand aus meinem Dorf angereist ist. Ein Duell, welches mir, falls ich gewinne, derart viel Aufmerksamkeit bescheren wird, dass schon beim Gedanken daran Übelkeit in mir aufkommt.

Das Ministerium erinnert Antigone auf Aela daran, dass die Reiter des Vierten Rangs …

Eid, dem Staatswohl zu dienen …

Ich schaue von Cor, den Crissa nur mühsam im Zaum halten kann, zum bewusstlosen Duck, den der Arzt soeben von der Rüstung befreit, und weiter zu dem genüsslich grinsenden Power. Dann sehe ich zur Höhlenöffnung hinunter, wo Darius unter den Blicken seiner Verwandten und Freunde auf den Gold-Rängen auf mich wartet, das Handgelenk schon am Mund, um seinen Sturmpfeil herbeizurufen.

Und auf einmal verschwindet das alles und weicht einem einzigen Gedanken: Ich, auf das Turnier verzichten? Zur Hölle mit euch!

Ich schaue zu Lee auf und nicke. Was auch immer er in meinem Blick gesucht hat, scheint er nun zu finden. Er nimmt die Hände fort, und ich wende mich ab und gehe zur Treppe.

»Annie«, sagt eine andere Stimme.

Ich bleibe noch einmal stehen. Auf meiner Schulter liegt jetzt Gorans Hand. Ich blicke zu ihm zurück.

»Denk daran, was das Ministerium dir geschrieben hat«, sagt Goran.

Mit seinen breiten Schultern in der militärischen Uniform ragt er vor mir auf, der Mensch, den ich jahrelang mit dem sauren Nachgeschmack meiner eigenen Unzulänglichkeit verbunden habe. Einen Augenblick lang verspüre ich eine Klarheit, so durchdringend und strahlend, wie ich sie sonst nur mit Aela erlebe. Doch diesmal ist es allein mein Gefühl. Und darin kristallisiert sich eine Wut, von der ich ganz vergessen hatte, dass ich sie habe.

Wortlos kehre ich ihm den Rücken.

Lee