Funkensturm - Rosaria Munda - E-Book

Funkensturm E-Book

Rosaria Munda

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Beschreibung

Teil 3 der epischen Fantasy-Drachen-Trilogie, die mit ›Feuererwachen‹ ihren Auftakt nahm und mit ›Flammenfall ihre Fortsetzung fand: Annie und Lee kämpfen um ihr Leben, während das Drachenfeuer der Invasoren ihre Heimat dem Erdboden gleichzumachen droht. Eine neue Revolution kündigt sich an, und niemand wird unversehrt daraus hervorgehen. Indem das Schicksal von Callipolis sich verdunkelt, müssen Annie und Lee bereit sein, Opfer zu bringen, um einander zu retten, ihre Feinde zu besiegen und ihre Heimat zurückzuerobern.

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Seitenzahl: 674

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Rosaria Munda

Funkensturm

Der Aurelianische Zyklus • Band 3

Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Püschel

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Furysong im Verlag G. P. Putnam’s Sons, New York.

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten

© Text: 2022 by Rosaria Munda

Übersetzung: Nadine Püschel

Covergestaltung: Niklas Schütte

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-125-2

 

www.arctis-verlag.com

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Für meinen Mann, Robert

Prolog

Das Mädchen sah dem Vater beim Graben zu. Auf den Feldern ringsum war es still; Hettie und Lila waren mit den Frauen aus dem Dorf im Haus, um den Leichnam vorzubereiten; Garet streunte seit dem Morgen auf dem Berghang herum; Rory schaufelte am anderen Ende, um das Loch zu verbreitern, während ihr Vater in die Tiefe grub. Die langen Winter im Fernen Hochland waren kalt und windig und feucht.

»Kommt Mama da rein?«, fragte das Mädchen.

Ihr Vater hielt inne und wischte sich den Schweiß vom Nacken. »Aye.«

»Und das Baby auch, falls es stirbt?«

Diesmal hielt er länger inne. »Aye.«

»Geh ins Haus, Annie«, sagte ihr Bruder Rory heiser. »Geh zu den Frauen.«

»Hat das Baby Mama umgebracht?«

»Pa! Schick sie ins Haus!«

»Rory, mach eine Pause.«

Rory schmiss seine Schaufel weg und stapfte über das Feld davon. Das Mädchen beäugte die Schaufel. »Ich kann auch graben«, sagte sie.

Das Loch war bereits tief genug, um sie völlig zu verschlucken, aber sie fürchtete sich nicht. Ihr Vater, der immer merkte, wenn sie etwas zu begreifen versuchte, stemmte sich aus dem halb fertigen Grab und setzte sich neben sie auf die Kante. Er roch nach Erde und Schweiß; sein Bart kitzelte sie an der Wange, als er sie in die Arme zog. Die beiden Spaten lehnten an seinen Knien.

»Das Baby hat deine Mutter nicht umgebracht«, sagte er. »Der Hunger hat sie umgebracht. Die Herren haben deine Mutter umgebracht, weil sie uns das Essen weggenommen haben.«

Trotzdem könnte das Baby schuld sein, dachte das Mädchen. Die Schmerzen, das Blut, das war von dem Baby gekommen. Nicht von den Herren. Aber das wollte Pa bestimmt nicht hören.

»Bist du sehr traurig, Pa?«

Rory hätte ihr gesagt, sie solle aufhören zu fragen. Aber Rory stand am anderen Ende der Lichtung und starrte missmutig ins Tal hinunter. Und Pa antwortete immer auf ihre Fragen, selbst auf die, bei denen er zunächst lange schwieg und die Augen zumachte.

»Traurig«, sagte er schließlich. »Und wütend.«

»Und du behältst es für dich?«

»Ich behalte es für mich.«

So hatten sie es eingeübt, vor den Eintreibungen. Wenn unser Herr kommt, dann behältst du deine Gefühle für dich. Du behältst sie für dich, weil sie in dir drin am sichersten sind.

Ihr Vater nahm ihre Hand in seine und zeigte mit ihrem Finger nach unten auf die unberührte Erde. »Neben diesem Grab ist noch Platz. Für mich. Und daneben für deine Brüder und Schwestern.«

Sie weinte nicht. Sie behielt es für sich. »Nein«, sagte sie. »Noch nicht.«

»Noch nicht«, stimmte er zu.

Sie hörte, wie er es sagte, und besann sich. »Nie«, sagte sie.

Seine Überraschung kam tief aus dem Bauch heraus. »Meine kleine Himmelslerche, meine Hehre Königin des Himmels«, sagte er. »Du bist ganz schön jung, um Befehle zu erteilen.«

Das war dumm, weil sie keine Königin war und keine Befehle erteilen konnte, aber sie schmiegte sich an ihn und lachte nicht. Als er ihr übers Haar strich, bedeckte sein Handteller ihren ganzen Kopf.

»Hat deine Mutter dir je erzählt, dass du ihre Haare hast?«

Sie berührte ihre Stirnfransen. »Ich habe meine Haare«, sagte sie.

Ein Lächeln legte sein Gesicht in Falten und kräuselte seinen Bart. Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr lächeln sehen. »Du hast deine Haare, aber sie kamen von ihr«, sagte er. »Braun wie die Erde, rot wie Feuer. Du trägst deine Mutter immer bei dir.«

Sie zwirbelte eine Haarsträhne um ihren Finger und dachte: Ich habe einen Teil meiner Mutter bei mir. Einen geheimen Teil. Als er sie auf die Füße stellte und sagte, sie solle ins Haus gehen und helfen, den Leichnam herzurichten, ging sie.

Ihr Vater schaufelte das Grab allein zu Ende. Das Baby, das kurz darauf starb, wurde ebenfalls darin bestattet, neben seiner Mutter.

Der Frühling kam, und dann der Sommer, und ihre Schwester Lila übernahm die Aufgaben ihrer Mutter, während sie und ihre Schwester Hettie Lilas Aufgaben übernahmen. Lila flocht ihr Haar genau so, wie ihre Mutter es immer getan hatte. Heimlich, außer Hörweite von Rory und Lila und Pa, spielten sie und Hettie manchmal Mutter und Kind, wie früher, wenn auch mit einer Spur Verzweiflung dabei. Als könnte das Rollenspiel sie irgendwie zurückbringen.

»Nein, du musst es sagen, wie Mama es gesagt hat«, verlangte Hettie.

Aber es fiel ihr immer schwerer, sich zu erinnern, wie Mama es gesagt hatte.

»Ich habe Mamas Haare«, erzählte sie Hettie, die sie nicht hatte.

Hettie brach in Tränen aus. Sie sah ihr beim Weinen zu und behielt ihre Gefühle für sich, innen drin, wo sie am sichersten waren. Sie fragte Hettie, ob sie etwas anderes spielen wollte, und Hettie schniefte und wischte sich über die Augen und nickte. Also spielten sie Dörfer niederbrennen und sie ließ Hettie der Drachenherr sein.

Über die warmen Monate hatten sie genug zu essen – aber nicht genug für die Abgaben und den bevorstehenden Winter. Auch in diesem Jahr befiel Mehltau das Getreide. Im Spätsommer, als sich das Haar, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte, in der Sonne golden färbte, tauchten wieder Sturmpfeil-Drachen am Himmel auf. Die Drachenherren kehrten zur Erntezeit auf ihre Landsitze zurück und würden bald mit den Eintreibungen beginnen.

Im Haus Don Mackys, eines der Dorfältesten, warfen die Männer von Holbin das neueste vom Ausrufer verlesene Dekret zu den anderen Erlassen Leon Sturmpfeils, des Drakarchen des Fernen Hochlands. Das Mädchen, das unbemerkt mit in die Stube geschlüpft war, kniete auf der Bank der Mackys zwischen ihrem Vater und Rory und studierte das Schreiben, wie sie alle bisherigen studiert hatte. Die Männer redeten von Kellern und Verstecken und Geheimvorräten und wie viel man höchstens beiseiteschaffen sollte, doch sie hörte nicht zu.

»Zu riskant«, sagte Don Macky.

»Das ist der Winter nach dieser mageren Ernte auch«, sagte ihr Vater.

»Was bedeutet ›unbortmäßig‹?«, fragte das Mädchen.

»Unbotmäßig«, verbesserte ihr Vater. »Das ist, wenn man seinem Herrn den Gehorsam verweigert.«

»Silas«, sagte Don Macky und nickte in ihre Richtung. »Schau dir deine Tochter an.«

Die Unterhaltung verstummte, während alle zu dem Mädchen sahen. Sie fuhr mit dem Finger über die Zeilen und ihre Lippen sprachen die Wörter, die sie sich vom Ausrufer gemerkt hatte, lautlos mit. Seit Monaten machte sie das so: Sie stahl sich hinter ihrem Vater zu den Versammlungen der Männer und versuchte die Dekrete zu entziffern. Mittlerweile verstand sie genug, um die Zeichen auf dem Blatt voneinander zu unterscheiden und sie in Laute zurückzuverwandeln.

»Sie wird doch nicht etwa …«

»Ich glaube schon.«

Pa tippte oben auf das Blatt. »Was steht da, Antigone?«

Das Mädchen bewegte ihren Finger von der rechten Seite des Pergaments zur linken. »Hier fängt es an«, sagte sie.

Danach nahm ihr Vater sie von sich aus zu den Treffen mit. Die Männer von Holbin begrüßten sie freudig. Nicht um ihr neue Lektüre vorzusetzen, sondern weil sie in gewisser Hinsicht ihr Talisman geworden war. Dieses kleine Mädchen mit dem großen Namen, das so klug mit Buchstaben umgehen konnte wie ein Drachenherr. Manchmal ließen sie sie zur Begeisterung der versammelten Runde alte Dekrete vorlesen. Manchmal hob ihr Vater sie auf seine Schultern, um sie nach Hause zu tragen; dann fühlte sie sich hoch genug, nach den Sternen des Sommers zu greifen, und spielte, dass sie über das Dorf segelte wie die Drachen am Himmel.

»Du tust bloß so«, sagte Rory. »Pa glaubt nur, dass du lesen kannst, weil du sein Liebling bist.«

Die erste Behauptung kränkte sie am meisten, weil sie nicht stimmte, aber sie wusste, dass die zweite Behauptung vor allem Rory kränkte. »Bin ich nicht«, sagte sie.

Als sie Lila davon erzählte, meinte ihre Schwester, sie solle Rory einfach nicht beachten. Er sei verbittert, weil er Mamas Liebling gewesen war, und die war jetzt tot.

Etwas an Lilas Ton ließ sie aufmerken. »Wessen Liebling bist du?«, fragte sie Lila, die ihr gerade das Haar zu Zöpfen flocht.

»Ich bin niemandes Liebling«, sagte Lila nach kurzem Nachdenken.

»Dann bist du meiner. Und Hettie kann dein Liebling sein, und Garet Hetties, dann ist es gerecht.«

Sie freute sich, diese Lösung gefunden zu haben. Das war wie mit der Waage, die der Schatzmeister des Drachenherrn am Tag der Eintreibungen benutzte, nur dass sie sich nicht zwei Schalen vorstellte, sondern fünf. Lila, Rory, Hettie, Garet und sie. Und alle waren jemandes Liebling – schön ausgeglichen.

»Du Dummerchen«, sagte Lila mit einem Lächeln in der Stimme und band den Zopf am unteren Ende zu. »Du kannst nicht alles gerecht machen.«

Der Tag der Eintreibungen rückte näher. Keller wurden ausgehoben, mit Vorräten gefüllt und zugedeckt. Die Männer stritten weiter darum, wie viel man gefahrlos beiseiteschaffen konnte. Pa grub den größten Keller von allen und schwor beim Grab seiner Frau, dass in diesem Winter keins seiner Kinder noch einmal Hunger leiden würde. Die Jungen übten Verbeugungen, die Mädchen Knickse und Pa fragte sie die Fürbitten ab, für alle Fälle. Früher hatte Mama sie ihnen eingetrichtert und Pa hatte es verabscheut. Jetzt übernahm er diese Aufgabe und ging die Fürbitten so lange mit ihnen durch, bis sie jeden Satz auswendig konnten. Mama hatte ihnen immer versichert, sie würden sie niemals brauchen, aber Pa versprach nichts dergleichen. Stattdessen schärfte er ihnen noch etwas ein:

»Sie sehen uns niederknien, sie sehen uns die Stirn in den Staub drücken und sie glauben, wir würden uns fügen. Dabei wissen sie nicht, dass man auf Knien genauso gut denken kann wie im Stehen.«

Sie übten vor dem Haus. Drei Meter weiter lag die unter Schilfrohr versteckte Falltür zu ihrem geheimen Keller. Die Kinder knieten, der Vater stand vor ihnen und spielte ihren Herrn. Bis zu jenem Moment hatten sich Hettie und Garet noch kichernd in die Seite gepikst und versucht, ausdruckslose Gesichter zu machen. Doch bei diesen Worten hörten sie auf, herumzualbern. Plötzlich lastete der Ernst dessen, was sie taten, tonnenschwer auf ihnen.

»Rory«, fragte Pa seinen knienden Sohn, »woran denkst du gerade?«

»Ich denke an das sicher versteckte Getreide, von dem unser Herr nichts weiß«, sagte Rory mit gesenktem Kopf.

Pa stellte sich nacheinander vor jedes Kind und wiederholte seine Frage. Als Antigone an der Reihe war, sagte sie: »Ich behalte für mich, was ich fühle.«

Weil sie zu Boden sah, konnte sie die Miene ihres Vaters nicht sehen.

»Gut«, sagte er.

Am Tag der Eintreibungen zogen Pa und Rory den mit Getreide und anderen Abgaben beladenen Karren zum Marktplatz des Dorfes. Lila trug den Geschenkkorb mit Brot und die jüngeren Kinder folgten im Gänsemarsch hinterdrein. Vom Drachensitz fiel bereits der mächtige Schatten eines Sturmpfeils mit roten Flügelspitzen und rotem Kamm. Lila zischte ihnen zu, es bringe Unheil, hinzuschauen, doch als Lila nicht aufpasste, wagte sie einen Blick zu dem gewaltigen Drachen, der aus zu Schlitzen verengten Augen zurückstarrte. Angst flatterte in ihr auf, aber auch etwas anderes. Aufregung.

Die Krallen, die Flügel, die glänzenden Schuppen: Ein so wunderschönes Tier hatte sie noch nie gesehen.

Die Schlange der Dorfbewohner rückte langsam voran. Ihr Herr erkundigte sich mit liebenswürdigem Lächeln und nur leicht gefärbtem Callisch ausführlich nach jedem Haushalt. Als ihre Familie an die Reihe kam, wurde ihr Karren zur Begutachtung vorgeschoben, während sie die einstudierten Verbeugungen und Knickse ausführten. Das Mädchen hielt den Atem an, als ihrem Herrn Zahlen zugeflüstert wurden. Würde er bemerken, dass ihre Abgaben nur einem Bruchteil der Vorräte entsprachen, die sie im Keller versteckt hatten? Der Schatzmeister runzelte die Stirn und setzte schon zu einer Bemerkung an, da wurde der Drachenherr auf etwas anderes aufmerksam.

»Deine Frau«, sagte er. »Warum ist sie nicht hier?«

Silas verschränkte die Finger. »Sie ist im Kindbett gestorben, Herr.«

Ihr fiel auf, dass er nicht die Todesursachen nannte, die er ihr aufgezählt hatte. Von Hunger oder Leons Steuern hatte er nichts gesagt.

»Das tut mir leid zu hören, Silas«, sagte Leon.

Er wirkte aufrichtig bekümmert. Seine gütigen grauen Augen wanderten mitfühlend zu Silas’ Kindern, die im Halbkreis hinter ihm standen. Der Schatzmeister presste die Lippen aufeinander.

»Sie hinterlässt eine entzückende Familie«, sagte Leon.

»Danke, mein Herr.«

»Sind sie mir alle vorgestellt worden? Die jüngste …?«

»Verzeiht, ich vergaß, Herr. Das ist Antigone. Sie hat gerade erst das Alter der Vernunft erreicht.«

Lila gab ihr unnötigerweise einen Stups von hinten und sie knickste unter dem grauen Blick ihres Herrn ein zweites Mal.

»Antigone …«, sinnierte Leon. »Das ist ein drachischer Name.«

Er klang nachdenklich und mit seinem Interesse merkte auch der Drache über ihnen auf. Er reckte den Kopf und sein Rückenkamm stellte sich ein Stück auf, dann fuhr er zu seinem Reiter herum und nahm die Familie vor ihm in Augenschein. Die Aufmerksamkeit des Drachen verschaffte dem Mädchen einen leichten Schauer, doch aus seinen Nüstern stieg kein Rauch, kein Warnzeichen auf. Ein Zittern stahl sich in die Stimme ihres Vaters, als er antwortete. »Ich habe ihn in einem Lied gehört. Ich bitte um Vergebung, Herr, ich hoffe, Ihr seid darüber nicht erzürnt.«

»Ganz und gar nicht. Wenn meine Leibeigenen stolze Namen tragen, mehrt das nur den Stolz des Hauses Sturmpfeil.«

Silas verbeugte sich. Der Drache senkte den Kopf und schloss wieder die Augen. Leon sagte zu dem Mädchen: »Ich habe einen Sohn, der kaum älter ist als du.«

»Herr«, erwiderte sie, den Blick starr auf seine edlen Stiefel gerichtet.

Leon nickte seinem Schatzmeister zu. Der verdrehte missbilligend die Augen, nahm dann zwei Brotlaibe aus dem Geschenkkorb der Familie, legte sie Antigone in die Arme und verkündete in näselndem Hochcallisch: »Unser Beileid für eure Familie.«

Sie drückte die Brote an sich und behielt ihre Gefühle für sich, als sie knickste. Silas brummte: »Möge mein Herr die Dankbarkeit seines unwürdigen Dieners für seine Barmherzigkeit entgegennehmen.«

Sie spähte zu ihrem gebückt dastehenden Vater und sah, dass sein Nacken flammend rot war.

Leon wedelte mit der Hand und der Schatzmeister rief: »Der Nächste!«

An diesem Abend wurde im Dorf gefeiert. Die Getreideabgaben waren inspiziert und abgenommen worden und man hatte ihre Ausreden geglaubt; dank Leons guter Laune waren die Holbiner mit ihren Tricksereien durchgekommen. In Silas’ Haus rissen sie das Brot, das ihr Herr genommen und dann zurückgegeben hatte, in Stücke und tunkten es in Honig aus ihrem Geheimversteck – ein wahres Festmahl. Sie tranken auf ihren Herrn, der so barmherzig war, und so dumm. Sie tranken auf die Mutter, die er umgebracht hatte.

Am nächsten Morgen glitt ein Schatten über ihre Felder. Vor Silas’ Haus landete ein Sturmpfeil mit rotem Kamm. Aus Harfast, dem Sitz der Triarchie des Westens, kamen Soldaten durch das Dorf marschiert und umstellten Silas’ Garten.

Leon war so mild gestimmt wie tags zuvor. »Ich habe mit meinem Schatzmeister gesprochen. Offenbar liegt ein Irrtum vor.«

Silas verbeugte sich nicht von der Hüfte aus, wie am Vortag. Er ging auf die Knie und legte seine Hände auf die Erde. Hinter ihm taten seine Kinder es ihm gleich. So hatten sie es geübt, nur dass es diesmal kein Spiel war. Er begann die Fürbitten zu rezitieren, die er seinen Kindern beigebracht hatte, jene, die am Ende gesprochen werden. Zwischen ihm und seiner Familie standen Soldaten und weitere Männer suchten den Garten ab. Als der geheime Keller entdeckt wurde, hatte Silas keine Fürbitten mehr übrig.

»Dein Liebling«, sagte Leon. Es schien eine Frage zu sein, doch Silas bekam keine Antwort heraus.

Als ihr Vater zu weinen begann, dachte sie: Er muss seine Gefühle für sich behalten.

Sie war so gebannt von dem Anblick ihres Vaters vor seinem Herrn und dem gewaltigen Drachen, dass sie Rory erst bemerkte, als er sie vom Boden hochzog. Er rieb sich mit den Handballen über die Augen. »Geh zu unserem Herrn«, sagte er.

Auf keinen Fall wollte sie näher an den Herrn oder seinen Drachen herangehen. »Nein.«

»Annie, geh«, sagte er. Seine Stimme, die so oft brach und laut wurde, wenn er mit ihr sprach, klang auf einmal ganz ruhig. »Dir wird nichts passieren.«

Lila schubste sie leicht vorwärts und ihre Füße setzten sich in Bewegung.

Sie ging auf den Drachenherrn zu und ihr Vater wurde weggeführt. Später versuchte sie sich zu erinnern, wie sie auf der Freifläche aneinander vorbeigegangen waren. Hatte er sich niedergekniet, um ihr einen letzten Kuss auf die Stirn zu hauchen, bevor sie dem Leben und er dem Tod entgegenschritt? In Wahrheit konnte sie sich nicht erinnern, ihn überhaupt wahrgenommen zu haben. Nur den Drachen und den Herrn und ihre bleiernen Schritte auf diese furchterregend großen Gestalten zu. Wie sie sich umgedreht und ihren Vater von hinten gesehen hatte, während er zusammen mit ihren Geschwistern ins Haus gebracht wurde.

»Ah, hallo, Antigone«, sagte Leon freundlich, als er sah, wer auserwählt worden war. »Komm her.«

Er legte seine Hand auf ihren Nacken, wie ein Vater, der sein Kind beruhigen will, oder ein Reiter, dessen Drachen unruhig wird. Der Sturmpfeil neben ihm wirkte hellwach und aus den Nüstern rauchte es. Sie fand ihn nicht länger schön. Leon hob die Stimme und sprach sein Urteil auf Drachisch. Damals verstand sie es nicht, doch die Formel brannte sich ihr ins Gedächtnis und Jahre später würde sie die Wörter in einer fernen Bibliothek nachschlagen und wiedererkennen.

»Möge dem, der die Strafe des Drachen verdient, sein Haus zum Grab werden.«

Er gab seinem Drachen den Befehl und ihr Zuhause wurde zum Grab.

Als das Feuer aufflammte, versuchte sie ihre Gefühle für sich zu behalten. Doch sie wollten nicht in ihr bleiben. Sie sprudelten hervor, zusammen mit den Fürbitten, die man ihr eingebläut hatte. Leon ignorierte die Gefühle und die Fürbitten ignorierte er auch. Sein Griff war sanft, aber er ließ nicht zu, dass sie wegsah.

»Ja«, sagte er schließlich. »Es ist jammerschade.«

Er drehte sie zu sich um und wischte ihr mit seinen Lederhandschuhen über die Augen. Dann strich er ihr übers Haar, wie ihr Vater es am Grab ihrer Mutter getan hatte, und sie war so verzweifelt, dass sie sich an ihn klammerte. »Na, na, mein Kind. Jetzt hast du deine Lektion gelernt, nicht wahr? Wirst du es all den guten Freunden deines Vaters im Dorf sagen?«

Leon stellte sie auf die Füße und ging auf ein Knie, um ihr in die Augen zu sehen, als wäre er es gewohnt, sich einem Kind verständlich zu machen.

»Wenn ihr versucht, euch zu widersetzen, nehmen wir euch alles.«

TEIL 1Revolution

1

Die Abrechnung

Delo

Neu-Pythos

Es ist der Vorabend der lang erwarteten Heimkehr und ich stehe im Begriff, alles zu verlieren.

Alles. Das ist er für mich geworden, dieser Junge, der neben mir kniet, während ich meine Familie und meinen Hofstaat anstarre, als gehörte ich nicht zu ihnen. Gryff Gerssohn, der niedere Reiter, der Bauernjunge, den ich nie hätte lieben sollen. Ich schaue auf seine feuchten Locken, auf die Brandnarben über seinen Nackenmuskeln und wünsche mir, wir wären allein, damit ich sie ein letztes Mal küssen könnte. Bewundernswert, wie still er den Kopf hält.

Ist ihm nicht klar, was hier vor sich geht?

»Warum hast du ihm den Schlüssel gegeben?«, fragt Herrin Elektra.

Mein Vergehen: Ich habe Gryff Gerssohn den Schlüssel zur Kette seines angebundenen und geknebelten Drachen gegeben, sodass er sich mit Antigone, der Ersten Reiterin der callipolitanischen Flotte, treffen konnte und zu einem Spion wurde.

Heute Abend sind Gryffs Verbrechen aufgeflogen; die Umsetzung unseres Plans ist dadurch nicht gefährdet. Ixion ist unterwegs, um Callipolis mit der Hilfe einer ausländischen Prinzessin und der Verheißung von Brot in die Knie zu zwingen. In den langen zehn Jahren unseres Exils war ich einer Rückkehr in meine Heimat noch nie so nah wie jetzt. Eigentlich sollte ich im Glanz unseres Triumphes schwelgen.

Stattdessen kann ich nur eins denken: dass der, den ich liebe, abgeworfen werden wird.

Die exilierten Drachenblütigen im Saal schauen erst mich, dann ihn an und ziehen ihre Schlüsse. Sie sehen einen heillos verliebten Narren, der seinen Liebsten vor lauter Schwärmerei nicht gefragt hat, was er mit dem Schlüssel anstellen will.

Ich war heillos verliebt. Ich bin heillos verliebt. Aber ein Narr war ich nie. Ich habe nicht gefragt, was er mit dem Schlüssel anstellen würde, weil ich es wusste.

Und ich habe es nicht verhindert.

Warum? Das ist die Frage, die mir unaufhörlich im Kopf herumgeht, wie kleine Steine, die in der Brandung wirbeln. Warum habe ich diesen Verrat ermöglicht?

Auf die lang erwartete Heimkehr habe ich mich ebenso begierig vorbereitet wie die anderen. Ich sehne mich nach zu Hause. Das Heimweh nach der Sommerresidenz der Himmelsjäger schmerzt wie ein amputiertes Bein; auch nach zehn Jahren erwache ich noch aus Träumen, in denen ich in lichtdurchfluteten Marmorsälen über den Stränden des Tieflands die Brise der Medeis rieche und das geisterhafte Lachen einer Mutter höre, die mir von den Thronräubern genommen wurde.

»Es war eine Ehre, Euch allen zu dienen«, sagt Gryff mit einer tiefen Verbeugung, bevor er abgeführt wird.

Kaum ist er fort, spricht Vater das eine Urteil, das der Tragweite meines Versagens angemessen ist.

»Du wirst derjenige sein, der ihn abwirft.«

 

 

Stunden später, als ich in meinen Gemächern auf die Morgendämmerung warte, reißt mich ein Klopfen an der Tür aus meinem dumpfen Brüten. Auf meinem Schreibtisch liegen die Folianten mit den alten Heldengedichten verstreut; ich habe sie mit leerem Blick angestarrt, seit ich die Lampe entzündet habe und auf meinem Stuhl zusammengesunken bin. Heute Nacht waren mir die Werke meiner Kindheit kein Trost.

Vor der Tür steht eine junge Norierin mit einer handgeschriebenen Botschaft.

Mabalena, genannt Lena, war wie Gryff einst eine niedere Drachenreiterin. Ihr humpelnder Gang, ihre sonderbar steifen Glieder und ihr versehrtes Gesicht erinnern an die Strafe, die sie vor sechs Jahren erlitten hat. Sie wurde der Aufwiegelung schuldig befunden und vom Drachenrücken abgeworfen, wie Gryff nun auch – obwohl nur ein Idiot glauben würde, dass die sanftmütige, etwas schusselige Mabalena zu irgendetwas von dem, was man ihr vorwarf, imstande gewesen wäre. Seither gehört sie zum Gesinde der Zitadelle. Sie schläft im Kerker in einer freien Zelle; abschließen ist nicht nötig. Als Waise könnte sie nirgends sonst hin.

Für sie bedeutete der Abwurf lebenslangen Schmerz. Für Gryff wird es eine Hinrichtung sein.

»Eine Nachricht von Herrn Rhodus, mein Herr.«

Rhodus hat geschrieben: Kopf hoch, mein Bruder. Es gibt noch viele Bauern, die dir das Bett wärmen können.

In solchen Momenten fällt es mir schwer, mich an die Kindheit zu erinnern, in der Rhodus und ich befreundet waren.

Ich schaue über den Rand des Blatts zu Mabalena, die mit gesenktem Blick und stiller Miene wartet. Ihr verfilztes Haar wirkt, als wäre es vor nicht allzu langer Zeit mit einer groben Bürste bearbeitet worden. Wenn man dieses verkrüppelte Mädchen so ansieht, kann man kaum glauben, dass sie früher einmal einen Drachen geritten hat. Die Fragen, die ich nie zu stellen wagte, sind schon vor Jahren im Keim erstickt: Fassen sie dich an? Tun sie dir weh? Die gleichen Fragen, die ich Gryff lieber nicht stellte, als Julia ihn zum ersten Mal zu sich holte und danach darüber lachte. Was könnte ich tun, wenn ich die Antwort erführe? Nichts. Und wenn nichts getan werden kann, ist Diskretion das einzig Anständige.

Gelegentlich habe ich an mir gezweifelt: Was ist los mit mir, dass ich solches Mitgefühl empfinde? Es ist und bleibt Ansichtssache, wer hier pervers ist – ich oder meine Familie. Doch jetzt, wo Gryff abgeworfen werden wird, ist es wohl zu spät, mich zu bessern. Ich gehe zum Kamin und werfe den Brief ins Feuer. Mabalena sieht zu, wie das Pergament verbrennt, und die Flammen spiegeln sich in ihren Augen.

»Wie geht es dem callipolitanischen Gefangenen?«

Mabalenas Blick zuckt zu mir. Wenn sie dort Spuren von Tränen sieht, lässt sie es sich nicht anmerken. »Manchmal lähmt ihn noch die Trauer«, sagt sie. »Sein Himmelsjäger fehlt ihm. Aber er ist freundlich. Wir sprechen auf Drachisch ein bisschen miteinander. Es geht ihm von Tag zu Tag besser; seine Wunden verheilen.«

Mabalena kümmert sich um alle Gefangenen, aber als ich ihr vor zwei Monaten Duck Sutter anvertraute, den ich gegen alle Wahrscheinlichkeit lebend in den Trümmern eines ausgebrannten Saals gefunden hatte, fiel mir auf, dass sie sich ihm besonders widmete. Die Trauer des Callipolitaners über den Verlust seines Drachen ist etwas, was sie nachfühlen kann, genauso wie das Schicksal, einen tödlichen Abwurf zu überstehen und mit einem zerschmetterten Körper weiterleben zu müssen.

Ich hatte gehofft, dass sie einander eine Stütze wären. Dennoch bin ich nicht darauf gefasst, was Mabalena als Nächstes murmelt. »Der Callipolitaner war … ein Licht in meiner Dunkelheit, mein Herr.«

Es klingt, als wäre sie nicht sicher, ob das etwas Gutes ist. Einen Moment lang wirkt ihr Gesicht so verletzlich, dass es mir das Herz bricht.

Ach, Mabalena, du tief Gefallene. Weißt du denn nicht, dass Glück etwas ist, was uns nicht zugestanden wird?

Ich zeige auf den Sessel zwischen uns und Lena lässt sich wie ein ängstliches Vögelchen auf der Kante nieder. Ich setze mich ihr gegenüber. Der Ausdruck auf ihrem vernarbten Gesicht wird noch verstörter, als ich Wein in zwei Kelche schenke und ihr einen anbiete. Sie wartet mit dem ersten Schluck, bis ich auch trinke.

»Gryff ist des Hochverrats schuldig befunden worden.«

Sie presst die Lippen auf dem Rand des Kelches zusammen.

»Vater hat mir befohlen, die Strafe auszuführen.«

»Dann solltet Ihr das tun«, sagt sie.

Erst als sie es ausspricht und ich keine Überraschung verspüre, wird mir klar, dass ich das von ihr hören musste.

Weil ich dasselbe gedacht habe.

Lenas Augen sind eisgrau. Als wäre jede Farbe aus ihnen gewichen. »Ihr könnt dafür sorgen, dass es richtig gemacht wird, seiner Familie zuliebe. Ihr könnt dafür sorgen, dass seine Familie … verschont wird.«

Beim letzten Mal hat Rhodus die Strafe ausgeführt. Er war derjenige, der entschied, erst Lenas Familie abzuwerfen und zuletzt sie.

Ich habe die Augen geschlossen. Etwas berührt mich sanft und kühl an der Wange: Mabalena hat ihre Finger an mein Gesicht gelegt. »Bevor Rhodus mir seine Botschaft für Euch gab«, flüstert sie, »habe ich Euren Gryff in der Zelle aufgesucht, in die man ihn geworfen hat. Er hatte auch eine Botschaft für Euch.«

Ich sehe sie an und mein Herz beginnt zu rasen. »Was hat er gesagt?«

»Er bat mich, Euch auszurichten, dass Ihr Gephyra vor dem Abwerfen noch einmal ausreiten sollt. Ihr sollt eine lange Runde fliegen, all Euren Mut zusammennehmen, in Euch gehen und dann, wenn Ihr heimkehrt … Eure Pflicht tun.«

Annie

Sie planen, Gryff bei Tagesanbruch abzuwerfen, doch wir sind schon lange davor bereit.

Die Karstsäulen rund um Neu-Pythos ragen wie schwarze Finger in den grauen Himmel, als Aela und ich die Drachenhöhlen an der Zitadelle der Halb-Aurelianer verlassen. Auf dem Gipfel des Hagedorn-Felsens, in dem welken Brombeergestrüpp, das die Menhire des Clan-Schreins umwuchert, hält sich Gryffs Schwester Agga mit ihren zwei Kindern versteckt. Sie sind in der Nacht hierher in Sicherheit gebracht worden. Als Aela landet, kriechen die drei unter den Büschen hervor und der kleine Junge, Garet, winkt mich zu einer Stelle am Rand des Steilhangs, wo ich nach der aufgehenden Sonne Ausschau halten kann.

Garet. Der gleiche Name und fast dasselbe Alter wie mein Bruder, als er starb. Unsere Sprachen, Callisch und Norisch, ähneln einander, wie unsere feuchten Winter und langen Hungersnöte einander ähneln. Mit dieser Bauernfamilie jenseits des Meeres habe ich mehr gemeinsam als mit den callipolitanischen Eliten, mit denen ich in den letzten zehn Jahren die Schulbank gedrückt habe. Agga ist kaum älter als ich.

Ihre Tochter, Becca, beobachtet uns aus sicherer Entfernung und schaut langsam von mir zu meiner Drachin und wieder zu mir. Sie blinzelt fast gar nicht, als könnten wir uns in Luft auflösen, wenn sie die Augen nicht weit offen hält.

»Es ist vollbracht«, sage ich zu Agga.

Sie spricht fast tonlos. »Das Gift?«

In den Höhlen war es noch dunkel, als Aela und ich aufbrachen. Es roch dort genauso durchdringend nach Räucherfisch und verkohltem Leder wie in den Nestern in Callipolis. Mein halbes Jahr Sprachunterricht reichte nicht aus, um das geflüsterte Norisch von Gryffs Freunden, den Knappen, verstehen zu können. Ich kannte diese Drachen nicht, sie aber sehr wohl, und sie mussten es übernehmen, das Drachengift aus der Amphore aufzuteilen.

»Das haben die Knappen getan. Aela und ich haben uns um die Maulkörbe gekümmert.«

Eine Knappin namens Fionna führte Aela und mich durch den gewundenen, feuchten Gang der Drachenhöhlen und Aela nahm nacheinander jeden eisernen Maulkorb zwischen die Zähne und hauchte Feuer darauf, bis das Metall glühte und brach. Als wir Fionnas Drachen befreiten, einen rotbraunen Aurelian mit tiefen schwarzen Augen, sackten die Schultern der Frau vor Erleichterung herab und der Drache wimmerte.

Aggas Augen leuchten weiß im grauen Licht. »Sie können frei fliegen? Und Feuer speien?«

Ich nicke. »Der wachhabende Knappe wird sie auf unser Signal hin aus den Höhlen lassen.«

Ich bitte Agga, mir die Stelle auf der Hauptinsel zu zeigen, wo Gryff abgeworfen werden soll. Ihr zitternder Finger zeigt auf einen sanft ansteigenden Hügel inmitten der norischen Dörfer, gegenüber der Zitadelle der Halb-Aurelianer, auf dem die Statue eines drachenblütigen Eroberers steht. Dort werden die Norier sich versammeln müssen, um zuzusehen und ihre Lektion zu lernen.

Gryff Gerssohn, hingerichtet wegen Hochverrats.

Gryff Gerssohn, hingerichtet wegen seiner Kontakte zur callipolitanischen Ersten Reiterin.

Wegen seiner Kontakte zu mir.

Und wir werden diesen Anlass in den Moment verwandeln, in dem Gryffs Revolution beginnt. Aggas Großvater, Grady, rüttelt gerade die Dorfältesten wach und versetzt die vier vertrauenswürdigen Clans in Kriegsbereitschaft.

»Ich glaube nicht, dass ihr alle Drachen vergiftet habt«, sagt Agga.

Ich will sie schon fragen, woher sie das weiß. Einige der Boxen, in denen Drachen hätten sein sollen, waren leer, was uns alle unruhig machte. Ixions Sturmpfeil, Ignis, war nicht da, ebenso wenig wie die Drachin, die Freyda gehört, der bassilischen Prinzessin, der Ixion den Hof macht. Ihr Goliathan, eine Großdrachenart vom Festland, ist angeblich so riesig wie eine Gewitterwolke. Die Knappen füllten die Tröge der fehlenden Drachen trotzdem mit vergiftetem Futter und versicherten mir, sie seien auf Patrouille und kämen vor Tagesanbruch zurück.

Doch als ich nun Aggas Blick folge, wird mir klar, dass sie einen bestimmten Drachen meint.

In einiger Entfernung ist ein Himmelsjäger aus der Wolkendecke aufgetaucht, ein schlanker grauer Schemen vor den tief hängenden Schwaden des Morgennebels. Die schmalen Flügel der Drachin sind zum Gleitflug ausgebreitet und der Reiter auf ihrem Rücken wirkt wie ein winziger Spielzeugsoldat.

Ich strecke eine Hand in Aelas Richtung, damit sie stillhält. »Alle runter.«

Wir knien uns zwischen die Farnwedel, während der Himmelsjäger über uns hinwegrauscht.

Garet reckt den Hals, um der Drachin nachzusehen, und piepst: »Ist das nicht Gephyra? Das ist Delo auf Gephyra. Vor Delo brauchen wir keine Angst haben.«

Agga drückt Garets Kopf wieder nach unten und murmelt fast tonlos: »Heute schon.«

Ich spüre, wie sich eine kleine Hand in meine schiebt, und entdecke Becca neben mir. Sie schaut auf, nicht zum Drachen, sondern in mein Gesicht. Ihre winzigen Nägel bohren sich in meine Handfläche. Neben uns legt Aela ihre bernsteinfarbenen Flügel an und verdreht den Hals, um aus einem zusammengekniffenen Auge zu der fremden Drachin hinaufzustarren.

Gephyras Schwanz peitscht durch die Luft und sie verschwindet im Nebel über uns.

Beccas Finger lösen sich aus meinen. Garet schüttelt den Arm seiner Mutter ab. Wir kommen aus der Hocke hoch und Aggas Blick heftet sich auf die Wolken, die Delo auf Gephyra verschluckt haben.

»Der arme Junge«, murmelt sie. »Sie werden es ihn tun lassen.«

Ich erinnere mich an den Ton in Gryffs Stimme, als ich ihm beibrachte, die Namen seiner Angehörigen zu schreiben, und er darum bat, einen weiteren hinzuzufügen. Wie sorgfältig er Delo Himmelsjäger in sein Übungsheft schrieb. Ich bürste mir Zweige von den Knien. »Ich dachte, es ist bei den Drachenblütigen üblich, sich Bauern ins Bett zu holen.«

»In ihr Bett schon. Aber nicht in ihr Herz.«

Also weniger wie die Drachenherren von einst, mehr wie Lee und ich. Oder wie es zwischen uns gewesen wäre, wenn sein Vater noch gelebt und Lee noch loyal zu seinen Leuten gehalten hätte, als er mich lieben lernte.

Komm zurück zu mir, hat Lee gesagt.

Und das werde ich auch, sobald meine Arbeit hier getan ist.

»Wenigstens wird Gryff der Einzige sein, den er abwerfen muss.«

Die Knappen haben mir erzählt, dass schon einmal eine norische Reiterin zur Strafe abgeworfen worden war und sie mitansehen musste, wie ihre Familie vor ihr an die Reihe kam. Sie flüsterten ihren Namen: Mabalena. Die Geschichte, und die Erschütterung in ihren Stimmen, waren mir entsetzlich vertraut. Obwohl ein ganzes Meer zwischen uns liegt, bestrafen die Drachenherren arme Familien überall in derselben Manier, ob mit Drachenfeuer oder ohne. Ich war die Mabalena meines Dorfes.

Darum habe ich darauf bestanden, Agga und ihre Kinder hierherzubringen, damit sie in Sicherheit sind, bis unser Plan vollzogen ist.

Diese Sorge hat mich derart umgetrieben, dass mich Agga mit dem, was sie als Nächstes sagt, etwas überrumpelt.

»Ich danke dir, dass du uns heute hilfst.« Im heulenden Wind können ihre Kinder ihre leise Stimme nicht hören. »Aber du sollst wissen, dass ich geweint habe, als er mir erzählte, dass er mit dir in Verbindung steht.«

Während sie mir herausfordernd ins Gesicht sieht, eine Hand auf der Schulter ihres Sohnes, leuchtet in ihren Augen ein Feuer, das ich auch von Gryff kenne. Sie hat allen Mut zusammengenommen, um mir das zu sagen, das merke ich daran, wie ihr Blick zu Aela und wieder zu mir zuckt.

Als mein Vater damals überlegt hat, welche Vorräte er vergraben soll, muss es einen Moment gegeben haben, in dem er sich bewusst für das Risiko entschieden hat, uns Drachenfeuer auszusetzen.

Agga und ich wissen, dass Gryff alles riskiert hat. Wir wissen beide, was meine Anwesenheit bedeutet.

Ich bin der Rückgriff auf Gewalt. Ich bin der letzte Ausweg. Bestenfalls bin ich das geringere Übel.

Ich bin Drachenreiterin und ich bin hier, um zu tun, was ich zu tun habe.

»Du hast zu Recht geweint.«

Ich greife nach Aelas Satteltasche. Erst vor wenigen Stunden habe ich in den Dunklen Dünen meinen feuerfesten Anzug und die Rüstung abgelegt; Lees zitternde Finger haben die Schnallen gelöst. Ich spüre Aggas Blick auf mir, als ich nun das Kleid und das Kopftuch – beides hat Gryff von ihr geborgt – ausziehe. Vielleicht erkennt sie den Körper eines in Armut aufgewachsenen Kindes unter den Brandnarben. Oder sie sieht nur ein in Wohlstand groß gewordenes Stadtmädchen, das den Hunger seiner frühen Jahre durch jahrelange nahrhafte Mahlzeiten wettgemacht hat. Bibbernd steige ich in meinen Lederanzug und schließe die Schnallen, die Lee geöffnet hat. Brombeerranken kratzen über die Gänsehaut auf meinen nackten Gliedern.

Als ich Kühlmittel nachfüllen will, halten mir kleine Hände meine Satteltasche hin.

»Ich kann dir helfen.«

Agga reißt Becca fast zurück. »Becca, lass sie.«

Aber sie kommt trotzdem zu mir und ich höre mich sagen: »Das ist schon in Ordnung.«

Becca entpuppt sich als sehr umsichtige Helferin. Sie sieht mir zu, wie ich die Kühlschläuche im Anzug öffne, den Kanister ansetze und sie mit Flüssigkeit auffülle. Als die Rückenpartie an der Reihe ist, tritt sie hinter mich. »Ich kann das machen.«

Ich gehe auf ein Knie, damit ich auf ihrer Höhe bin. »Danke.«

Ich spüre sie an den Öffnungen im Bereich der Schulterblätter hantieren. »Wofür ist das?«

»Wenn ich Feuer abbekomme, lasse ich das in den Anzug laufen. Dann tut es weniger weh.«

Während sie uns beobachtet, rubbelt Agga sich so heftig übers Kinn, dass ich Angst habe, sie könnte es wund scheuern.

»Ich will Drachen reiten, wenn ich groß bin. Wie du. Ich werde Erste Reiterin sein.«

Als sie das sagt, fällt mir wieder ein, dass ich auch einmal von diesem Titel geträumt habe. Fast hätte ich es vergessen. »Das ist keine leichte Aufgabe.«

Becca zuckt mit den Achseln. »Ich hab keine Angst.« Sie stellt den Kanister ab. »Und jetzt die Rüstung?«

»Jetzt die Rüstung.«

Ich zeige ihr, wie die Platten übereinandergelegt werden, der Kürass, die Schulterstücke, die Arm- und Beinschienen. Danach kümmern wir uns um Aela, und ich zeige ihr, wie die Brustplatte über den weichen Bauch geschnallt wird, als zusätzlicher Schutz gegen Speere von unten. Aela hält still und verfolgt aus einem geschlitzten Auge Beccas Bewegungen. Ihre Schwanzspitze wandert in die Höhe.

»Sie mag dich.«

Becca starrt zu der Drachin hinauf und ich weiß nicht, ob ihre Frage an Aela oder mich geht. »Wirst du meinen Onkel retten?«

Aela schnaubt ein Dampfwölkchen aus. »Ja«, antworte ich.

»Wirst du Noria befreien?«

Agga macht ein betroffenes Gesicht. Aela senkt ihre Nase zu Beccas ausgestreckter Hand und zitternde Finger berühren die goldglänzenden Schuppen zwischen den Nüstern. »Hoffentlich.«

»Ich kann helfen«, sagt Becca.

Ich erinnere mich, wie ich am Grab nach der Schaufel greifen wollte und zu meinem Vater dasselbe sagte. Jetzt verstehe ich, warum er mich in den Arm genommen hat, statt zu antworten. Ich zeige ihr meine Armschienen.

»Schau, du hast mir schon geholfen.«

Am Horizont zeigt sich ein schmaler pinkfarbener Streifen unter den tiefen Wolken. Die Glocken der Zitadelle hallen von fern über das Meer. Das Fallgitter wird hochgezogen, die Prozession beginnt. Als ich nach meinem Helm greife, hält ihn mir diesmal Agga hin.

»Mögen die Schreine dich schützen«, sagt sie.

Lee

Callipolis

Am Morgen der ersten Bürgerversammlung erwache ich voller Angst um Annie und die Revolution, die sie in Neu-Pythos entfesseln will. Um das, was heute, zu Hause in Callipolis, geschehen wird, mache ich mir dagegen wenig Sorgen. Selbst dann nicht, als ein Mitglied der Regierung mich warnt, dass etwas im Gange ist – eine Verschwörung der Triarchie, um meine Familie wieder an die Macht zu bringen. Ich gebe nichts darauf.

Bis zu dem Moment, in dem Ixion Sturmpfeil, mein Cousin, bei der Eröffnung der Versammlung neben mir auf dem Drachenhorst der Arena landet.

Ixion hat sich genauso gründlich wie ich mit Revolutionsgeschichte befasst. Er weiß, wie Putschversuche gelingen oder scheitern. Er teilt mir rundheraus mit, dass die Tore zu den Drachennestern verschlossen, die wichtigsten Vertreter des Revolutionsregimes in der Palastloge umzingelt und die Wächter im Konvent eingesperrt sind.

Dann bietet er den Bürgern Freydas Brot an und erklärt, sie hätten die Schenkung mir zu verdanken.

Wir stehen Schulter an Schulter auf dem Drachenhorst und blicken auf die erste Bürgerversammlung seit einem Jahrzehnt hinab. Über uns kreist der Goliathan mit seiner königlichen Reiterin am strahlend blauen Himmel und wirft einen imperialen Schatten über den Stadtstaat Callipolis.

»Ihr habt erlebt, wie das Revolutionsregime euch im Stich gelassen hat«, wendet sich Ixion an die in der Arena versammelten Menschen. »Ihr habt gelitten, weil Atreus Athanatos als Regent unfähig ist. Ihr habt euch nach der Rückkehr der Herrscher gesehnt, die dazu geboren sind, euch zu dienen.«

Er hakt sich bei mir unter.

Ich könnte ihm meinen Arm entreißen und das Manöver enttarnen. Doch ich habe keine Ahnung, wie tief die Intrige reicht. Unmittelbar vor der Versammlung hat mich Miranda Hane vor einer Schattenorganisation gewarnt, einer triarchistischen Gruppe, die den Palast unterwandert und sich von innen mit Ixion verbündet hat – der Orden des Schwarzen Kleeblatts. Wenn ich davon ausgehe, dass Ixion mehr Verbündete hat, als mir klar war, sind die Wächter und ihre Drachen in Gefahr. Und wenn ich davon ausgehe, dass er mir die Wahrheit sagt und Duck tatsächlich noch am Leben ist und in Neu-Pythos gefangen gehalten wird, kann er Annies engsten Freund und Cors Bruder als Druckmittel benutzen.

Ich lasse zu, dass er meinen Arm mit seinem in die Höhe reißt.

»Kehren wir zu unseren Wurzeln zurück«, sagt Ixion. »Zu den richtigen, den natürlichen Verhältnissen. Beenden wir den Hunger, die Ungerechtigkeit, die Geißel der vergangenen zehn Jahre.«

Die Bürgerversammlung stimmt dafür, die Triarchen wieder als rechtmäßige Herrscher von Callipolis einzusetzen. Sie nimmt Freydas Angebot von Lebensmittellieferungen aus ihrem Königreich an.

So lange haben die Menschen gelitten und gehungert, dass sie vollkommen zu vergessen scheinen, wer die Versorgungskrise überhaupt erst ausgelöst hat: Ixion mit den Angriffen seiner Drachenflotte.

Vielleicht sind sie angesichts des gewaltigen Drachen am Himmel aber auch nicht scharf darauf, Einwände vorzubringen.

»Und all das dank meinem Vetter, Leo Sturmpfeil, dessen Einladung unsere Rückkehr erst ermöglicht hat!«, intoniert Ixion.

Es ist schlimm genug, miterleben zu müssen, wie die Reform, für die ich gekämpft habe, missbraucht wird. Es ist noch viel, viel schlimmer, hören zu müssen, wie die Leute mir zum Dank dafür zujubeln.

Der Beifall ist ohrenbetäubend.

»Du Idiot«, sage ich zu Ixion, weil ich mir selbst vorkomme wie der größte Narr.

»Für eine hilflose Marionette reißt du ganz schön das Maul auf.«

»Wer ist hier die Marionette?« Ich zeige mit dem Daumen nach oben, zu der bassilischen Prinzessin auf dem Goliathan, die ihr Reich gerade um eine weitere Provinz vergrößert hat.

»Sprichst du von meiner zukünftigen Frau?«

Ich starre ihn an. So dumm kann er doch nicht sein. Offenbar schon, denn er setzt ein breites Grinsen auf.

»Wie auch immer.« Er wedelt in Richtung der einfachen Leute auf den Rängen. »Ich denke, wir wissen beide, wer hier die wahren Idioten sind.«

»Sie haben Hunger.«

»Tja, nicht mehr lange. Freydas Kornlieferungen sollten binnen einer Woche eintreffen.«

»Zusammen mit ihren Soldaten?«

Ixion hebt die Schultern. Eine unverbindliche Bestätigung.

Also werden wir offiziell besetzt. Welche Abmachung auch immer er mit Freyda getroffen hat, die Unabhängigkeit von Callipolis ist damit dahin. Die Volksabstimmung eben war nur Augenwischerei; Freydas Truppen werden kommen, ob mit oder ohne Einladung. Die Bürger in der Arena, die das noch nicht begriffen haben, werden das schon allzu bald merken.

Freydas Goliathan geht in einen weit kreisenden Sinkflug, der sich über die gesamte Palastseite des Flusses erstreckt, und wir überqueren den Drachenhorst in seinem Schatten. Am Palasteingang zur Arena, außer Sichtweite der Öffentlichkeit, erwartet uns Lucian Orthos, Stabschef und Berater von General Holmes. An seinem Revers entdecke ich das Schwarze Kleeblatt der Exiltriarchie.

»Du?«

Er war schon immer ein Widerling – im Unterricht, und Annie gegenüber, wenn der Kriegsrat tagte –, aber das habe ich trotzdem nicht von ihm erwartet. Lucian würdigt mich kaum eines Blickes. »Holmes und der Hohe Rat sind zusammen mit Athanatos festgesetzt worden, mein Herr.«

Atreus’ Nachname wird selten benutzt. »Gut«, sagt Ixion.

Lucians Finger zittern, als er meine Wächteruniform abtastet, und er sieht mich dabei nicht an. Er zieht die kurzen Dolche aus meinen Drachenreiterstiefeln und zeigt den Griff einer der beiden Waffen Ixion.

Das Heidekraut des Hauses Sturmpfeil, verschlungen mit den Initialen meines Vaters, die auch meine sind: L.S. Das Stiefelmesser gehörte meinem Vater, doch Ixion ahnt vermutlich nicht, dass Annie diejenige war, die es gefunden und mir geschenkt hat. Er mustert das Wappen und blickt auf.

»Du«, sagt Ixion, »bist nicht das Stück Scheiße, das ich erwartet habe.«

»Witzig. Ich wollte gerade sagen, dass du genau das Stück Scheiße bist, das ich erwartet habe.«

Ixion lacht laut auf.

Er nickt Orthos zu. Eine Faust trifft mich in den Magen und ich krümme mich.

Es geht los.

2

Der Abwurf

Gryff

Neu-Pythos

Als ich kurz vor Sonnenaufgang aus der Zelle geholt und durch die Zitadelle zum Berg des Eroberers gebracht werde, quält mich nur eine einzige Frage: Was passiert mit meiner Familie, wenn ich abgeworfen werde? Mabalenas Angehörige sind damals mit verhaftet worden; es gibt also keinen Grund, warum meine verschont bleiben sollten. Die bohrende Frage, ob Antigone auf Aela es tatsächlich von Callipolis hierhergeschafft hat und das Drachengift wie geplant in den Futtertrögen gelandet ist, verdränge ich lieber. Meine ganze Sorge gilt meiner Schwester, ihren kleinen Kindern und Großvater, der immer noch auf die Rückkehr seines auf See verschollenen Sohnes – meines Vaters – wartet.

Ich habe Agga versprochen, sie zu beschützen.

Die Welt ist noch grau und farblos, die Gesichter der am Wegrand versammelten Norier sind nicht zu erkennen. Die Möwen sind zu schläfrig, um zu schreien, und keine Brise bewegt die feuchte, salzige Luft. Es fühlt sich an, als verharre die ganze Insel in lautloser Erwartung.

»Gryff, ich habe um Begnadigung gebeten!«

Ein helles Stimmchen durchbricht die Stille auf Drachisch, und als ich mich suchend umblicke, entdecke ich den jüngsten Spross der Halb-Aurelianer, Astyanax, der sich zu mir durchzwängt. In der Prozession kommt erst Zünder, der auf einen Wagen gebunden ist, dann folge ich, in Ketten gelegt; ich höre Shea, das Kindermädchen des Jungen, hinter uns warnend zischeln, aber er beachtet sie nicht. Er ist in Garets Alter.

»Für mich?«, frage ich überrascht.

Astyanax schüttelt freudestrahlend den Kopf. »Für Zünder!«

Er wirkt so stolz auf sich, dass mir warm ums Herz wird. Besser Zünder als ich.

»Das hast du fein gemacht, mein junger Herr«, sage ich zu ihm.

Er trottet zurück zu seiner grimmig dreinblickenden Familie und ich werde auf die Bergkuppe hinaufgeführt.

Alles erinnert mich lebhaft an den Tag, an dem Mabalena abgeworfen wurde: der auf dem Wagen festgezurrte Drache, dessen Schwanz bei dem Versuch, sich zu befreien, wild gegen die Ketten peitscht; der versammelte Hofstaat – alle Knappen, Halb-Aurelianer und die Mitglieder der Exiltriarchie –, der meinem Todessturz beiwohnen wird; und auf den Berghängen ringsherum ein graues Meer verkniffener Gesichter – die Norier, die zur Anwesenheit gezwungen werden. Neben Großfürst Rhadamanthus zappelt Astyanax nervös an der Hand seiner Mutter.

Ich starre zur Schar des Ross-Clans hinunter, kann Agga, Großvater und die Kinder aber nirgends erkennen.

Wo sind sie?

Panisch male ich mir mögliche Erklärungen aus. Sie sind verhaftet worden. Sie werden gefangen gehalten, um in Ketten hierhergeschleift und neben mir abgeworfen zu werden …

Delo tritt vor. Seine Drachin Gephyra wartet hinter ihm, im Ring der übrigen Drachen der Triarchie und ihrer Reiter: Phemi, Delos Schwester, deren Himmelsjäger mit seinem langen, silbrig blauen Schwanz eine Schneise durch die sich ängstlich wegduckenden Dorfbewohner schlägt; Urianus und Orion, rangniedere Vettern der Halb-Aurelianer, nebeneinander auf ihren Aurelianern mit den kurzen Hälsen, finster zu uns herabstarrend; und Roxana und Rhodus, die ältesten Kinder des Großfürsten, die ihre Eltern wie eine Ehrengarde auf ihren Drachen flankieren.

Rhodus zwinkert mir zu. Wahrscheinlich soll er übernehmen, falls Delo kneift.

Was durchaus sein könnte, wie es aussieht. Der sonst so warme Braunton von Delos Haut hat sich in Aschgrau verwandelt. Schweiß perlt von seinen Locken. Sein Blick zuckt zu mir und gleich wieder weg. Ich weiß nicht, ob er meine Botschaft erhalten hat, dass er seine Pflicht tun soll, aber er wirkt alles andere als im Reinen mit sich.

Egal, ich habe Wichtigeres zu tun, als mir über Delo Himmelsjäger Gedanken zu machen.

Kaum haben sie meine Ketten gelöst, werfe ich mich auf die Knie und spreche die Formel.

»Seid so barmherzig, Herr, meine gerechte Strafe nicht meiner Familie zuteilwerden zu lassen, die ohne Fehl und Tadel ist …«

In der Hoffnung, dass es die Drachenblütigen milde stimmt, wenn ich mich erniedrige, schreie ich die Fürbitte heraus. Zu meinem Erstaunen bricht mir die Stimme, doch ich versuche nicht, es wegzuräuspern. Ich höre Rhodus hämisch glucksen.

Delo antwortet matt. »Dein Herr nimmt deine Fürbitte an. Erhebe dich.«

Mir schwindelt vor Erleichterung, als ich aufstehe. Wir stehen einen Meter voneinander entfernt. Delos Blick springt von mir zu meinem Clan. »Gryff«, sagt er fast tonlos, »wo ist deine Familie?«

Das überrascht mich. »Ich dachte, ihr hättet sie.«

»Nein.«

Da sehe ich es.

Rhodus’ Drachin Ryla lässt den Kopf hängen. Als sie ihn zur Seite dreht, erkenne ich verkrusteten Schleim um ihre Augen.

Auch die anderen Drachen wirken kraftlos, ihre Schwänze liegen auf dem Boden, ihre Flügel sind schlaff. Wie kann das ihren Reitern entgangen sein? Doch dann bemerke ich, dass sie nicht viel gesünder aussehen. Die Haut der Halb-Aurelianer wirkt kränklich; Phemi knetet sich den Nacken, als fehle ihr etwas.

Diese Geste kenne ich von einem anderen Drachenblütigen. Nestor. Ihrem Vater, dem Himmelswitwer.

Ich schaue von den erschlaffenden Drachen zu ihren graugesichtigen Reitern, und bei den Schreinen: Am liebsten würde ich ein Triumphgeheul ausstoßen.

Also ist Antigone tatsächlich gekommen.

Meine Familie fehlt, weil sie in Sicherheit ist.

Und diese verfluchten Drachen sind zwar noch nicht tot, aber vergiftet, dafür würde ich meine Hand in Zündfeuer halten. Wenn ich mich nicht irre, wirkt das Drachthanasie-Mittel bereits. Diese armen Narren haben keine Ahnung, woran es liegt, dass sie sich so krank fühlen.

Der einzige Drache, der nicht kränkelt, ist Delos.

Ich denke an die Nachricht, die ich Mabalena mitgegeben habe, und muss mir ein Grinsen verkneifen.

Offensichtlich ist die Botschaft angekommen: Delo ist mit Gephyra noch eine Runde geflogen und hat das Frühstück ausgelassen.

Delo

Ich dachte, ich hätte es mir eingebildet, als ich heute Morgen mit Gephyra über Seemanns Wahnsinn geflogen bin. Ich dachte, ich hätte mir nur eingebildet, einen Schimmer bernsteinfarbener Drachenschuppen auf Fels Hagedorn gesehen zu haben.

Jetzt, auf dem Berg des Eroberers, kommen mir Zweifel. Wo steckt Gryffs Familie? Und warum wirken all unsere Drachen, als würden sie gleich tot umfallen?

Er bat mich, Euch auszurichten, dass Ihr Gephyra noch einmal ausreiten sollt.

Und wenn dieser Vorschlag nicht nur so dahingesagt war? Vor einigen Wochen gab es einmal diesen Moment, wo Gryff und ich uns in der Dunkelheit der Drachenhöhlen aneinanderklammerten und ich ihn wie ein Narr darum bat, meine Geschwister und meinen Drachen zu verschonen, was auch immer er plante.

Bernsteinfarbene Schuppen auf Fels Hagedorn. Ja, ich habe sie definitiv gesehen.

Ich bin sicher, dass Gryff absichtlich nicht meinem Blick begegnet. Aber ich weiß selbst kaum, was ich über ihn denken soll. Mit geballten Fäusten drehe ich mich um und gehe zu Großfürst Rhadamanthus. Er steht mit seiner Familie auf der Freifläche, wo er seines Amtes walten wird. Der kleine Astyanax hüpft neben Herrin Xanthe auf und ab; ihre erwachsenen Kinder, Rhodus und Roxana, flankieren sie auf ihren Drachen. Sie wirken so elend, als müssten sie sich gleich übergeben.

»Ich glaube, wir sollten es abblasen.«

»Ach, bekommt Delo kalte Füße? Na so was«, murmelt Roxana und wischt sich über die schweißnasse Stirn.

»Das ist es nicht. Irgendwas stimmt nicht. Seine Familie ist nicht da –«

»Dann werfen wir sie eben später ab«, knurrt Vater aus der Reihe der Himmelsjäger.

»Das meinte ich nicht.«

Es liegt mir auf der Zunge: der bernsteinfarbene Schimmer, die bleichen Drachenreiter. Sieht denn keiner von ihnen, wie schwach die Drachen sind? Doch dann kommt mir ein verräterischer Gedanke, und obwohl ich mir Sorgen machen sollte, was diese Intrige für mein Volk bedeuten könnte, denke ich stattdessen daran, was es für einen bestimmten Menschen hieße.

Denn abgesehen von allem anderen: Wenn ich wirklich bernsteinfarbene Schuppen gesehen habe, hat Gryff vielleicht noch eine Chance.

Vater tritt vor. »Entweder du wirfst ihn ab, wie vereinbart«, sagt er, »oder Rhodus übernimmt.«

Sein Ton macht unmissverständlich klar, was er von mir halten würde, wenn ich es nicht tue.

Der vertraute Klang seiner Enttäuschung ruft verlässlich meine perverse Ader wach. Was auch immer ich zur Begründung hatte anführen wollen – mein Vater wird darin nur einen weiteren Beweis dafür sehen, dass ich schwach bin. Ich presse die Kiefer aufeinander, mache auf den Absätzen kehrt, gehe zu Gephyra und setze einen Fuß in den Steigbügel.

Dann schaufeln wir uns eben unser eigenes Grab.

Sobald wir aufsteigen, lenke ich Gephyra wieder hinunter. Gryff, der verdammte Verschwörer, verschwindet unter unserem Flügel. Ich nehme Gephs instinktive Befriedigung wahr, als sie ihre Krallen in seine Schultern bohrt wie ein Falke, der sich seine Beute schnappt. Denn im Gegensatz zu den schwächelnden Drachen um uns herum ist meine Drachin im Vollbesitz ihrer Flugkräfte. Verschont, wie es scheint, durch einen Tipp des Verräters, den ich liebe.

Ich weiß nicht, auf wen ich in diesem Moment wütender bin: auf Gryff oder auf mich.

Ich höre, oder vielleicht bilde ich es mir ein, wie er vor Schmerz ächzt.

Wir fliegen los.

Und ich suche den Horizont ab. Die Dörfer, die den Hügel sprenkeln. Die Steilküste. Die Clanfelsen, die den inneren Ring von Seemanns Wahnsinn bilden. Jetzt, wo Geph Gryffs Leben in ihren Klauen hält, spüre ich die Hoffnung unter meinem Zorn wie einen Lichtstrahl, der eine trübe Wolkendecke durchbricht. Ich kann dich nicht retten. Aber vielleicht kann es jemand anders.

Und natürlich will ich das.

Wir steigen höher. Halten gebannt Ausschau.

Tu es.

Wir lassen die Höhe hinter uns, aus der ein Sturz noch zu überleben wäre. Weiter hinauf. Der Berg des Eroberers schrumpft unter uns zusammen. Die Brise wird stärker. Gephyra, die im Aufwind kreist, hat Mühe, die Position zu halten. Wenn wir abgeweht werden, verändert sich die Sturzbahn und der Abgeworfene landet an der falschen Stelle. Was die Aktion weniger spektakulär machen würde.

Aber ich werde eine andere spektakuläre Aktion erleben.

Tu es. Na los.

Tu es, solange dieses feige Herz noch die falsche Art von Mut hat.

Gryff brüllt von unten: »Ich glaube, wir sind hoch genug.«

Der Wind wirbelt um uns beide. »Noch nicht ganz.«

»Delo, bring es hinter dich!«

Seine Stimme bricht.

Endlich sehe ich es: Etwas Bernsteinfarbenes blitzt auf. Ich bohre meine Fersen unter dem Flügelansatz in Gephyras Flanken.

Jetzt.

Sie wirft Gryff ab.

Aus der Wolkendecke bricht Antigone auf Aela hervor und geht in den Sturzflug.

Gryff

Es ist Wahnsinn, dass es hier endet, in der Luft, die für mich immer der einzige Ausweg war. Wie anders sich Fliegen anfühlt, wenn zwischen dir und der Erde nichts weiter ist als deine eigenen baumelnden Beine.

Nie habe ich Delo auf Gephyra mehr geliebt und gehasst als in diesen endlosen Augenblicken.

Und dann spüre ich den Ruck, den Delos Hacken durch den Körper seiner Drachin jagen.

Gephyras Klauen lassen meine Schultern los.

Der Wind reißt den Schrei aus meinen Lungen. Mein Magen stülpt sich um. Die Erde kommt auf mich zu –

Der Tod rast mir entgegen, hart wie Stein und ebenso erbarmungslos –

Und etwas schleudert mich seitwärts. Ein anderes Klauenpaar hakt sich in mein Hemd und unter den Gürtel um meine Taille. Ich starre zu der bernsteinfarbenen Membran eines Aurelian-Flügels hoch.

»Halt dich fest!«, ruft Antigone.

Meine Lungen bersten fast und ich lache vor Schock laut auf. Wir tauchen in die Tiefe. Antigone schreit gegen den peitschenden Wind an. »Agga und die Kleinen sind in Sicherheit. Auf Fels Hagedorn. Dein Großvater hat im Dorf zu den Waffen gerufen. Wir haben den Rest erledigt.«

Sie meint das Drachengift und die Maulkörbe. Die Erleichterung macht mich kurz schwummerig, doch ich konzentriere mich auf das Einzige, worauf es jetzt ankommt. »Bring mich zu Zünder.«

»Schon unterwegs.«

Der Berg des Eroberers stürzt auf uns zu. Norier und Drachenblütige stieben auseinander und die hochgeborenen Drachenreiter versuchen vergeblich, ihre schlaffen, vom Gift geschwächten Drachen zum Losfliegen zu bewegen. Antigone steuert auf das gefesselte schwarze Ungetüm zu, meinen wunderschönen Zünder, den Stolz der Flotte. Ich kann spüren, wie er gegen seine Ketten ankämpft, und mir geht das Herz auf, als ich ihn innerlich anfeuere.

Kämpfe. Zerreiße sie. Komm zu mir.

Eisenbolzen springen in alle Richtungen, Metall kreischt. Brüllend schüttelt Zünder die geborstenen Ketten seines Halsbands und donnert seinen Maulkorb mit voller Wucht gegen die hölzerne Seitenwand des Wagens.

Der Maulkorb bricht. Die Erleichterung über unsere Freiheit durchfährt mich so stark, dass auch ich die Kiefer öffne.

Und dann fällt mir ein, was ich Antigone sagen muss. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht, aber mir bleiben nur zwei Sekunden, also wähle ich die gute.

Weil ich mich so gut fühle wie noch nie.

»Antigone, dein Freund – er lebt!«

»Was?«

»Duck ist am Leben.« Zünder ist direkt unter uns und ich brülle das Kommando. »Er ist im Verlies der Zitadelle. Achtung, JETZT!«

Aela lässt mich los. Ich stürze die letzten drei Meter in die Tiefe und krache auf Zünders bockenden Rücken.

Im ersten Moment liege ich wie gelähmt da und bekomme keine Luft. Dann animiert die Freude über meine Rückkehr Zünder zu einer letzten Kraftanstrengung. Mit einem Brüllen sprengt er die restlichen Ketten und ich klammere mich auf seinem bloßen Rücken fest, indem ich die Knie in die Ansätze seiner Flügel klemme. Endlich strömt wieder Luft in meine Lungen.

Mehr brauche ich nicht.

Zünder biegt den Rücken durch und speit Sturmpfeil-Feuer in den Himmel, eine prächtige, gleißende Flammensäule. Ich habe das Gefühl, ebenfalls Feuer spucken zu können. Das Publikum, das unseren Abwurf sehen sollte, umringt uns in fassungslosem Schweigen. Die Norier drängen sich unruhig zusammen. Die Drachenblütigen starren ungläubig. Niemand bringt einen Ton heraus.

»Und jetzt, Noria?«, rufe ich.

Leary Hagedorn, der Marionettenkönig der Norier, tritt vor. In einer Verhöhnung unserer Traditionen hat er sich das Gesicht mit der blauen Farbe der Clans bemalt. Neben ihm schwanken Rhodus und seine Drachin wie ein Schiff bei hohem Seegang; ihr trieft Schleim aus den Augen, während sie mich anknurrt. Viel Glück, wenn du mit der in die Luft willst, denke ich, doch sie braucht nicht zu fliegen, um ihr Maul in Brans Richtung zu drehen und ihn mit Feuer zu bedrohen. Die norischen Knappen sind ohne ihre Drachen auf der Bergkuppe zusammengepfercht worden und sie heben die leeren Hände.

Aber die Blicke der Knappen sind in den Himmel gerichtet. Und ich weiß, worauf sie warten.

»Wir werden uns an diesem Verrat nicht beteiligen«, keift Leary.

Jemand zeigt in die Höhe und schreit es heraus.

Drachen im Anflug!

Ich drehe mich um und nehme den schönsten Anblick meines Lebens in mich auf.

Aus den Drachenhöhlen der Zitadelle steigen die Drachen der Knappen auf. An der Unterseite ihrer Flügel – ich höre mich selbst laut lachen – leuchten die Sterne der norischen Clans in blauem Färberwaid, das in der Zeit vor der Eroberung Norias zur Kriegsbemalung verwendet wurde. Heute kommt die Farbe wieder zum Einsatz, auf ganz neue Art.

Auf unseren Drachen.

Die Angstschreie der Norier verwandeln sich in ein aufgeregtes Raunen. »Waid«, ruft jemand. »Sie sind mit Waid bemalt. Das sind unsere!«

Und sie speien Feuer, weil sie keine Maulkörbe mehr tragen.

Die norischen Knappen nutzen den Moment der Ablenkung, um sich auf die drachenblütigen Reiter zu stürzen. Bran hechtet zu Rhodus und zerrt ihn aus dem Sattel seiner wimmernden Drachin. Erst denke ich, er will ihm an die Gurgel, doch er reißt ihm nur eine Kette vom Hals: seine Lockpfeife, die Rhodus als sein Herr an sich genommen hat.

Bis jetzt. Bran setzt die Lockpfeife an die Lippen und bläst hinein, als hätte er dafür ein Leben lang die Luft angehalten. Er ist nicht der Einzige; Fionna ringt mit Roxana und Moira greift nach der Kette, die Phemi noch um den Hals trägt –

Und die herbeigerufenen Drachen rasen vom Himmel wie Hagelkörner. Alle, ob Norier oder Drachenblüter, versuchen kreischend, vor dem Inferno in Deckung zu gehen –

»Auf ihn!«, brüllt Rhodus, doch gerade als seine Drachin ihre triefenden Augen auf Bran heftet und zähnefletschend in seine Richtung schwenkt, landet Brans Aurelian, Beria, zwischen ihnen. Sie packt die andere Drachin am Hals, schlägt ihre Fangzähne in die weichen Schuppen und beißt knirschend zu.

Rhodus krümmt sich schreiend zusammen.

Bei seinem Schrei wird allen ringsum klar, was geschehen ist.

Rhodus, der Erstgeborene des Großfürsten und Thronerbe von Neu-Pythos, ist zum Witwer geworden.

Ein Drache ist erledigt, jetzt ist der Rest der Flotte dran.

Rhodus krabbelt auf allen vieren davon. Großfürst Rhadamanthus steht wie versteinert neben seiner Frau und seinem Jüngsten; es scheint ihm die Sprache verschlagen zu haben. Das Weiß um seine schwarzen Augen leuchtet. Als Roxana begreift, was vor sich geht, beginnt sie wie ihr Bruder zu schreien. Fionna hat sich ihre Lockpfeife geschnappt; Roxanas Drache schlägt um sich, schafft es aber nicht in die Luft, während die Norier ihren Kreis immer enger ziehen.

Unser Marionettenkönig versucht, sich im Chaos davonzustehlen, aber er ist nicht schnell genug. Zünder macht einen Satz nach vorn und seine Kiefer schnappen um Learys Kopf zu.

Als er fertig ist, haben die Norier keinen Marionettenkönig mehr.

Bran springt auf seinen ungesattelten Aurelian und reißt eine Faust in die Höhe. Ihnen zu Füßen liegt die tote Drachin des Herrn, dem er gedient hat.

»Noria!«, donnert Bran auf Beria. »Noria!«

Sein Clan, Thurn, greift den Schlachtruf auf; dann folgt meiner, der Ross-Clan; Fionna leitet den Sprechchor des Knorren-Clans an und Colleen vom Kraken-Clan fällt darin ein. Die Norier, die mich unten am Boden umringen, greifen in ihre Hemden und zücken Messer und Hackbeile, die heute nicht in der Küche zum Einsatz kommen werden.

Die Erde bebt unter dem Brüllen der norischen Drachen.

Und unsere Herren rennen um ihr Leben.

3

Die Vermissten

Lee

Callipolis

A