Finde mich! - Susanne Fletemeyer - E-Book

Finde mich! E-Book

Susanne Fletemeyer

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Beschreibung

Auch mit fast dreißig hofft Jaromir noch immer auf seinen Durchbruch als Comiczeichner und dümpelt von einem schlecht bezahlten Grafikjob zum nächsten. Kein Wunder also, dass seine Freundin sich für eine männliche Alternative mit besseren Perspektiven entschieden und ihn mit seinem dreibeinigen Kater in der winzigen Dachwohnung zurückgelassen hat. Damit nicht genug, droht ihm sein Vermieter auch noch mit der Zwangsräumung. Zum Glück hat Jaromir Freunde, die ihn aufmuntern. Mit ihnen teilt er eine Leidenschaft, durch die er den Kopf wieder freibekommt: das Geocaching. Bei der GPS-gestützten Suche nach Caches in gut versteckten kleinen Dosen findet er weit mehr als erwartet. Sein Plan, den Frauen vorerst abzuschwören, gerät dabei gehörig ins Wanken ...

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Das Buch

Auch mit fast dreißig hofft Jaromir noch immer auf seinen Durchbruch als Comiczeichner und dümpelt von einem schlecht bezahlten Grafikjob zum nächsten. Kein Wunder also, dass seine Freundin sich für eine männliche Alternative mit besseren Perspektiven entschieden und ihn mit seinem dreibeinigen Kater in der winzigen Dachwohnung zurückgelassen hat. Damit nicht genug, droht ihm sein Vermieter auch noch mit der Zwangsräumung. Zum Glück hat Jaromir Freunde, die ihn aufmuntern. Mit ihnen teilt er eine Leidenschaft, durch die er den Kopf wieder freibekommt: das Geocaching. Bei der GPS-gestützten Suche nach Caches in gut versteckten kleinen Dosen findet er weit mehr als erwartet. Sein Plan, den Frauen vorerst abzuschwören, gerät dabei gehörig ins Wanken ...

Die Autorin

Susanne Fletemeyer, Jahrgang 1967, lebt mit ihrer Familie in der Region Hannover, nicht weit vom Steinhuder Meer. Sie arbeitete als technische Zeichnerin, Maschinenbau-Konstrukteurin und Werbetexterin. Inzwischen schreibt die technische Redakteurin seit vielen Jahren Bedienungsanleitungen. Mit dem Erfinden von Geschichten erschafft sie sich dazu den perfekten Gegenpol. Neben dem Schreiben geht sie gerne auch auf GPS-Schatzsuche und ist seit jeher eine leidenschaftliche Zeichnerin.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Tafelfarbe Freigeist, schwarz matt. Ich habe sie hauptsächlich wegen ihres Namens ausgesucht und weil es der dunkelste Farbton war, den es im Baumarkt zu kaufen gab. Blindwütig rolle ich die Farbe auf die Wand, dass es nur so spritzt, und arbeite mich zu der lebensgroßen Comic-Amazone vor, der ich vor vier Jahren – im ersten Liebestaumel – Sarahs Gesichtszüge verliehen habe.

»Jaromir Alves, warum zum Teufel hast du dir nicht einfach ein Foto auf den Nachtschrank gestellt?«, fahre ich mich selbst an. Es hätte so simpel sein können: Foto zerreißen und die Schnipsel im Klo herunterspülen. Oder besser noch: gleich mitsamt Rahmen zertrümmern und in die Tonne hauen. Aber ich musste ja so bescheuert sein, und sie auf meiner Küchenwand verewigen! Drei Monate ist es nun her, dass sie zu ihrem neuen Lover gezogen ist, und ich habe keine Lust mehr, jeden Tag quasi von ihr persönlich daran erinnert zu werden.

Ich rubble mir mit dem Unterarm die Augen frei und drücke ihr den Farbroller an die Kehle. »Was weißt du schon von meinen Träumen?«, presse ich zwischen den Zähnen hervor. Mit einem präzisen Streich trenne ich ihr Comic-Haupt vom Rumpf, übermale ihr falsches Lächeln mit einer extra dicken Farbschicht und dann den Rest ihres Körpers.

Nachdem ich die letzte Lücke geschlossen habe, trete ich zurück und betrachte das Ergebnis mit zusammengekniffenen Augen. Zwischen den pastellgelben Wänden wirkt die schwarze Fläche wie ein gähnendes Loch. Ein Tor zu einer anderen Welt. Ein unbeschriebenes Blatt!

Die Türklingel unterbricht meine philosophischen Betrachtungen. Ich hänge den Farbroller in den Eimer, wische mir im Gehen die Hände an den Jeans ab und drücke auf den Summer im Flur. Im selben Moment klopft jemand an meine Wohnungstür. Durch den Spion sehe ich meinen Nachbarn Said, der einen grünen Plastikkorb auf seinen Dreadlocks balanciert. Darin türmt sich meine Wäsche, die ich mal wieder in unserer Maschine im Keller vergessen habe. Wie er so dasteht und seine Zähne im schwarzen Gesicht aufblitzen, könnte man fast meinen, wir befänden uns in Afrika und nicht im vierten Stock eines Altbaus in Hannover Linden. Seufzend öffne ich die Tür.

Er nimmt den Korb herunter und drückt ihn mir gegen die Brust. »Du hast komische Nusse gewaschen, da guck!« Vorwurfsvoll zeigt er auf die zerbröselten Schalenteile, die überall in der nassen Wäsche verteilt sind.

»Waschnüsse«, stöhne ich. »Das Seifenwunder aus Indien. Klang eigentlich ganz vielversprechend.«

»De Inder freut sich uber dein Geld, damit er kann selber richtige Waschmittel kaufen«, meint Said und mustert mich von oben bis unten. »Hast du Explosion gehabt?«

Ich stelle den Korb im Flur ab und schiebe ihn mit dem Fuß an die Wand. »Nein, ich streiche meine Küche.«

»Lass gucken!« Said drängt sich an mir vorbei und schreit in der nächsten Sekunde auch schon auf: »Was hast du gemacht?«

»Wenn die Farbe trocken ist, kann ich mit Kreide darauf malen! Eine riesige Zeichenfläche, jederzeit verfügbar!«

Said sinkt auf einen der Hocker vor meiner Küchenzeile. »Farbe is teuer, oder? Ich hoff, du erst hast Miete bezahlt, ja?«

»Lass das mal meine Sorge sein«, murmle ich und werfe einen verstohlenen Blick auf den Kühlschrank. Unter der Anleitung für die Tafelfarbe, die von einem Magneten an der Tür gehalten wird, lugt nur noch ein Zipfel des Einschreibens hervor.

»Kaffee?« Schwungvoll angle ich Kanne und Filter aus dem Chaos auf der Spüle und werfe den Kaffeesatz in den Mülleimer. Er steht in der Lücke, die Sarahs Spülmaschine hinterlassen hat. Während ich einen neuen Filter in den Trichter stopfe und das letzte Kaffeepulver aus der Dose kippe, ringe ich mir ein Grinsen ab. »Keine Angst, so schnell wirst du mich als Nachbar nicht los!«

Said nickt, wenn auch nicht wirklich überzeugt, doch er kennt mich zu genau, um jetzt weiterzubohren. »Aber gut, dass die Bild is weg. Und Sarah sowieso, das falsch Schlange.«

»Naja, welche Frau will schon einen Loser wie mich?«

»Nonsens! Wann du hast Erfolg, alles gut fur Sarah! Wann Erfolg is weg, nur noch Gemecker! So viel, dass du hast kein Idee mehr. Aber wann kein Idee, kein Geld! Das is – wie sagt man - a vicious circle?«

»Ein Teufelskreis?«

Er bohrt seinen Zeigefinger in die Luft. »Exactly!«

Wahrscheinlich hat Said Recht. Nachdem mein Comic-Verlag pleitegegangen war, schlug Sarahs Begeisterung für meine Arbeit tatsächlich schnell ins Gegenteil um.

»Du könntest bei Onkel Bernhard als Taxifahrer arbeiten, aber nein: Du willst ja lieber dein Dasein als brotloser Künstler fristen«, höre ich sie sagen.

Mal ehrlich: Wer kann auch nur einen kreativen Gedanken fassen, wenn er sich ständig das Genörgel seiner Freundin anhören muss?

Ich spüle zwei Tassen aus und stelle die Zuckerdose vor Said ab. Das Brodeln des Wasserkochers verschluckt die afrikanischen Worte, die er vor sich hin murmelt. »Was hast du gesagt?«

»Aber is nicht gut fur Mann zu sein allein«, übersetzt er, schiebt einen Stapel schmutziger Teller beiseite und zieht die Tageszeitung zu sich. Eifrig blättert er im Anzeigenteil. »Guck! Wann du ein neues Frau willst – was wurdest du schreiben?«

»Vergiss es!« Ich reiße ihm die Zeitung weg und falte sie grob zusammen.

Ungerührt zieht Said ein Blatt aus meiner Zettelbox und greift sich einen der Fineliner, die überall bei mir herumliegen. Er kritzelt etwas auf das Papier und schiebt es zu mir herüber. »Jetzt du!«

Grosse Bruste, lese ich. Blond, rundes Popo.

»Alter Macho!« Lachend schiebe ich den Zettel wieder zu ihm.

Said schaut mich treuherzig an und zuckt mit den Schultern. »Guck, wann Frau nicht bleibt bei dir, kann ich auch was haben davon!«

»Blond wäre nicht schlecht, aber was ist mit den inneren Werten?«

»Was du meinst damit?«

»Na, den Charakter eben! Wie sie so ist!« Ich stelle Said seine Tasse hin und beobachte fasziniert, wie er fünf Löffel Zucker im Kaffee versenkt.

Er klopft mit dem Stift auf den Zettel. »Sag, wie se soll sein!«

Ich gebe auf, denn er wird sowieso nicht lockerlassen. »Unkompliziert, keine Styleziege, die Angst hat, sich die künstlichen Fingernägel abzubrechen. Intelligent, witzig, schlagfertig. Hübsch, aber auf die natürliche Art. Ich muss sie ansehen und wissen – die isses einfach, verstehst du?«

»Und diese Spiel machen mit dir. Dose suchen gehen.«

»Geocaching nennt sich das. Und wenn sie mitmacht, wäre das natürlich ideal. Aber so schnell kommt mir eh keine Frau mehr ins Haus.«

»Sawa, sawa, okay«, winkt Said ab. Er greift nach dem GPS-Gerät, das wie immer im sonst leeren Obstkorb liegt, und tippt auf dem Display herum. »Wo finde ich Versteck in Hannover? Hast du gespeichert?«

»Geocaches gibt es hier jede Menge. Wenn du willst, gehen wir mal zusammen suchen.« Als ich ihm das GPS abnehme, klingelt mein Handy. Kowalski ist dran – verdammt! Ich ziehe mich auf den Flur zurück und gehe ran.

»Haben Sie das Einschreiben erhalten?«, schnauzt mich mein Vermieter an.

»Hören Sie – im Moment bin ich etwas klamm, aber das ändert sich bald! Wenn Sie noch ein bisschen warten …«

»Bisher bin ich Ihnen immer entgegengekommen. Aber langsam ist der Bogen überspannt.«

»Sie kriegen ihr Geld – ehrlich!«

Er seufzt. »Bis Ende des Monats, sonst fliegen Sie. Schließlich bin ich kein Wohltätigkeitsverein!« Ehe ich etwas erwidern kann, hat er aufgelegt.

Resigniert schleppe ich mich in die Küche zurück.

»Is schlecht Luft hier«, ruft mir Said zu und drückt das Dachfenster über der Spüle auf. Ein Windstoß fährt unter die Papiere am Kühlschrank. Der Magnet poltert auf die Fliesen, die Anleitung und das Einschreiben segeln zu Boden und rutschen direkt vor Saids Füße. »Lass liegen!«, rufe ich noch, doch er bückt sich bereits, hebt den Umschlag auf und starrt auf den Absender.

»Was is das? Hast du nicht aufgemacht!«

»Ich weiß eh, was drinsteht.« Seufzend nehme ich ihm den Brief ab und reiße ihn auf. Als ich das Schreiben lese, schiebt sich Said neben mich.

»Miete fur drei Monaten?«, kreischt er.

»Ich biege das schon wieder hin, wenn das Honorar von Up2Gross erst kommt …«

»Dann hast du das Job? Kann ich Bilder gucken?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und weiche Saids bohrendem Blick aus. Die Wahrheit ist, dass ich vor lauter Liebeskummer noch immer keinen Entwurf für den neuen Kunden der Werbeagentur zustande gebracht habe. Wenn mir nicht schleunigst ein »spaßhaft-ironischer Comic mit Niveau« zum Thema nahtlose Unterwäsche einfällt, kann ich nicht nur diesen Auftrag vergessen, sondern habe auf ewig die Chance verspielt, bei Up2Gross einen Fuß in die Tür zu bekommen. »Den Zeichnungen fehlt noch der Feinschliff. Ich zeig sie dir morgen, ja?«

Said steht entschlossen auf. »Wir jetzt gehen in dein Office, und du zeigst Bilder!« Als ich keine Anstalten mache, ihm zur Tür zu folgen, sieht er mich mit schmalen Augen an. Said konnte ich noch nie etwas vormachen.

»Okay, ich habe noch nichts! Was glaubst du, warum ich Sarahs Bild überstrichen habe? Damit ich endlich wieder arbeiten kann!«

»Du meinst, es wird helfen?«

Betont lässig zucke ich mit den Achseln, nehme einen Schluck Kaffee und kippe die bittere Brühe in den Abfluss. »Hab ja noch bis Montag Zeit.«

»Aber is schon Samstag heute!«

»Wenn ich ein paar Nachtschichten einlege, schaffe ich das locker.« Ich setze mich und verschränke die Arme vor der Brust. Als wüsste ich nicht selbst, dass es knapp wird. Typisch Jaro! Immer auf den letzten Drücker, meldet sich Sarah prompt aus dem Off.

Said hockt sich neben mich und spricht aus, was ich denke. »Jaro, my friend, du steckst in Scheiße tief!«

Schweigend starren wir eine Weile auf die schwarze Wand. »Dies Wand is wie der Leben«, murmelt Said plötzlich. »Du kannst bedecken das Vergangheit, aber dein Sehnsucht is da.« Er tippt mir auf die Brust. »In Herz, ganz unten. Kannst du Wand uberstreichen mit schwarz Farbe, so viel du willst!«

Er trinkt seinen Kaffee aus und lässt sich vom Hocker gleiten. »Ich geh dann.« An der Küchentür dreht er sich noch einmal um. »In Deutschland, Schwarz is Farbe fur Trauer. Aber in Afrika sagen die Leute, dass es is Farbe fur fruchtbares Erde. Es reinigt … the soul, you know?«

Eine ganz neue Interpretation einer schwarzen Seele, denke ich und ringe mir ein gequältes Lächeln ab.

»Wann nicht hilft«, sagt er im Rausgehen, »kannst du wohne bei mir – aber is eng.«

Ich schlucke schwer. Noch vierzig Stunden bis zur Abgabe. Wo zum Teufel bleibt meine Inspiration?

S 54° 48.444‘ W 068° 18.134‘ ARGENTINIEN, FEUERLAND, USHUAIA.

Der Geocacher lehnt sich gegen den Polarwind. Sein Gesicht unter der Kapuze wird schon taub. Er streift seine Handschuhe ab und klemmt sie sich zwischen die Beine, dann zieht er das kleine Stofftier mit der Erkennungsmarke aus der Tasche. Nur mit Mühe gelingt es ihm, den Travelbug so vor sein Handy zu halten, dass sowohl das Schild mit der Aufschrift »fin del mundo« als auch ein Stück Meer im Hintergrund zu sehen sind. Mit steifen Fingern schießt er mehrere Fotos. Dann macht er sich auf die Suche.

Als er die Dose findet, ist sie zu eng, um dem Travelbug Quartier zu bieten. Aber der Owner will ihn ohnehin zurück. Bis nach Buenos Aires wird er ihn noch mitnehmen, beschließt der Geocacher, und steckt den Travelbug wieder ein.

Nur noch Grundrauschen und Schneegestöber. Mein Hirn fühlt sich an wie ein alter Röhrenfernseher. Mühsam hebe ich den Kopf von der Schreibtischplatte, streife mir ein Blatt Papier von der verschwitzten Wange. Ein Blick auf die Uhr: schon Sonntagmorgen! Ich reibe mir die pochenden Schläfen und sehe mich um. Schreibtisch und Fußboden sind übersät mit Papierbällen, als hätte es geschneit. Das Gekritzel vor meiner Nase zeigt das gesamte Ausmaß meiner Ideenlosigkeit. Es ist hoffnungslos.

Ein Katzenkopf schiebt sich durch den Türspalt. Schorse bahnt sich den Weg zu mir. Sein rotweiß-getigertes Fell wirkt im Papierschnee noch leuchtender. Er rammt seinen Kopf gegen mein Schienbein und sieht mich auffordernd an. Ich beuge mich nach unten und kraule ihm die Ohren. »Wenn das nicht bald was wird, sind wir echt am Arsch, mein Freund.« Seufzend stehe ich auf und folge ihm in die Küche.

Ein eckiger Spot fällt durch das Fenster auf das Spiderman-Poster über dem Küchensofa. Ich puste den Dampf von meinem Instant-Kaffee, fixiere den Spinnenmann, unter dessen Hülle doch nur der unscheinbare Peter Parker steckt. »Wäre der Typ nicht von dieser Spinne gebissen worden, wäre er wahrscheinlich Taxifahrer geworden«, höre ich Miro sagen. Das wunde Bauchgefühl wächst. Wenn mein Bruder hier wäre, würden wir uns so lange mit Stichworten bombardieren, bis die Puzzlestücke ein Bild ergeben. Brainstorming. Mein Vater hat uns dafür immer ausgelacht. »Tempestade Celebral. Lass dir lieber den Kopf von einer ordentlichen Meeresbrise freiblasen!« Hat er ja auch gründlich getan, da unten an der portugiesischen Atlanik-Küste. Und sich dann entschieden, in seiner alten Heimat zu bleiben.

Während ich in meinem Müsli herumstochere, sehe ich ihn am Küchentisch sitzen: dunkler Blick, Dreitagebart, schiefes Grinsen. Ich zeige mit dem Löffel auf ihn. »Abgehauen bist du! Genauso wie Sarah und, naja, auch Miro – irgendwie«, klage ich ihn an, worauf er beleidigt zerplatzt. Allerdings – an der Meeresbrise, da ist was dran. Mein Blick fällt auf mein GPS-Gerät, es macht klick in meinem Kopf. Ich schiebe die Müslischüssel von mir und springe auf. Brainstorming nach Jaros Art ist angesagt: frischer Wind plus Geocaching, bevorzugt am Steinhuder Meer!

Das einstmals beschauliche Fischerdorf Steinhude wimmelt von Touristen. Schwitzend sitze ich in meinem von der Sonne aufgeheizten Alfa und drehe eine Runde nach der anderen durch verwinkelte Nebenstraßen. Weit und breit kein freier Parkplatz in Sicht. Im Rückspiegel sehe ich einen Transporter, der gerade ausparkt. Doch kaum habe ich ihn passieren lassen und den Rückwärtsgang eingelegt, rauscht ein schwarzer Audi heran und schießt in die Lücke. Die Türen klappen auf, ein Pärchen steigt aus.

»He! Das war mein Parkplatz!«, brülle ich, doch der angegraute Typ legt bloß den Arm um seine zierliche Begleiterin und schlendert mit ihr los.

Langsam rolle ich hinter den beiden her, beuge mich über das Lenkrad, um besonders die Frau besser sehen zu können. Sie ist höchstens halb so alt wie er und bewegt sich in ihrem hautengen Minirock unglaublich natürlich. Vor einem Souvenirladen zeigt sie auf eine Reihe Flipflop-Sandalen, bückt sich und zieht sich die roten Absatzschuhe von den Füßen. Lachend richtet sie sich wieder auf und streicht sich die flachsblonde Mähne aus dem Gesicht.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich mit laufendem Motor mitten auf der Straße stehe und sie angaffe. Was zum Teufel ist in mich gefahren? Hektisch reiße ich am Schaltknüppel, das Getriebe hakelt und kracht, dann gebe ich Gas.

Nachdem ich endlich geparkt habe, überquere ich den Platz vor den Strandterrassen. Der Geruch nach Räucheraal und Backfisch aus den Verkaufsbuden wird am Uferweg von der frischen Brise verdrängt, die mir vom Steinhuder Meer entgegenweht. Brainstorming. Ich atme tief ein. Während ich meinen Organismus mit Sauerstoff flute, ziehe ich das GPS-Gerät aus dem Rucksack und rufe die Übersichtskarte auf. Sie zeigt lauter gelbe Smilies, denn rund um den See habe ich nahezu jeden Cache gehoben. Doch eine ungeöffnete Schatzkiste ist noch da: auf der Insel Wilhelmstein, mitten auf dem See.

Sogenannte Auswanderer-Boote pendeln täglich zwischen Steinhude und dem Wilhelmstein, lese ich in der Cache-Beschreibung. Neugierig scrolle ich weiter.

Der Name »Auswanderer-Boot« geht auf die Anfangszeit des Tourismus am Steinhuder Meer zurück. In den 20er Jahren gehörte Steinhude am Südufer noch zu Schaumburg-Lippe, während das Nordufer des Steinhuder Meeres unter preußisch-hannoverscher Verwaltung stand. Fuhr man damals mit dem Boot vom Südufer zum Nordufer, wanderte man somit in ein anderes Land aus.

Wenn das Auswandern heutzutage so einfach wäre, würde ich es ohne zu zögern tun. Spontan kaufe ich ein Ticket für die Überfahrt zur Insel.

Als ich die Anlegestelle erreiche, macht die Besatzung einer der offenen Segeljollen gerade die Leinen los. Ich spurte über den Steg und wedle mit meiner Fahrkarte. »Nehmen Sie mich noch mit?«

»Na immer rein!«, brummt der Skipper. Etwas atemlos klettere ich an Bord.

Das Boot ist voll mit Ausflüglern, die nebeneinander aufgereiht an den Bordwänden sitzen. Ich dränge mich zwischen der niedrigen Mittelkonsole und den Knien der Leute zu dem einzigen freien Platz am anderen Ende durch. Eine Bootsladung Muggel, denke ich und muss grinsen. Dieser Ausdruck, der aus den Harry-Potter-Romanen stammt, hat sich auch in Cacherkreisen für die Bezeichnung aller Nicht-Eingeweihten eingebürgert. Einen Cache so unauffällig aufzuspüren, dass kein »Muggel« es mitbekommt, verleiht dem Ganzen einen zusätzlichen Reiz.

Ich quetsche mich neben einen Dreikäsehoch und seine korpulente Mutter, als mein Blick auf die gegenüberliegende Bankreihe fällt. Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Sie hat die roten Schuhe tatsächlich gegen Flipflops eingetauscht und lehnt mit übereinander geschlagenen Beinen an ihrem väterlichen Freund. Nur die Mittelkonsole, auf der das Segel als verschnürtes Paket liegt, trennt mich von ihr.

Der Dieselmotor springt an und lässt den Bootsrumpf erzittern. Ich reiße mich von ihrem Anblick los und konzentriere mich auf den Skipper am Heck, der das Achtmeter-Schiff mit schlafwandlerischer Sicherheit aus der Anlegestelle manövriert. Er wendet das Boot, wir nehmen Fahrt auf. Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack, nehme die kleine Insel in der Mitte des Sees ins Visier und zoome näher heran. Gerade als ich abdrücke, hüpft das Boot über eine Welle, und statt der Insel erscheint auf dem Fotodisplay ein braungebrannter Fuß, an dem eine Flipflop-Sandale wippt. Selbst meine Kamera scheint von ihr magisch angezogen zu werden! Ich schwenke die Linse nach oben, doch ich habe so nah herangezoomt, dass ich sie verliere. Blaugrüne Wogen, auf denen gleißendes Sonnenlicht funkelt, tauchen auf, dann fängt das Display ein markantes Gesicht mit verspiegelter Sonnenbrille ein. Sein stoppeliges Kinn ruht auf ihrem Scheitel, um seine Mundwinkel spielt ein blasiertes Lächeln. Ich stelle die Kamera so ein, dass ich nur ihr Gesicht im Visier habe. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sofort wieder zurückgeweht wird und sich an ihre Wange schmiegt.

Plötzlich spüre ich leichte Schläge an meinem linken Unterschenkel und lasse die Kamera sinken. Der Junge neben mir baumelt mit den Beinen und tritt mir immer wieder gegen die Wade.

»Lass das!« Seine Mutter stoppt mit der Hand die Pendelbewegung der Beine und lächelt mich entschuldigend an. Ich rutsche ein paar Zentimeter zur Seite, bis ich gegen die Bordwand stoße. Der Kleine dreht seiner Mutter den Rücken zu, stellt seine Füße vor sich auf die Bank und mustert mich interessiert. »Carlo hat Haare wie du! Besonders am Popo.«

»Unser Meerschweinchen«, erklärt die Mutter. Mit hochrotem Gesicht taucht sie aus den Tiefen einer Taschenexpedition auf.

Ich fahre mit der Hand über die Wirbel auf meinem Kopf. »Vermutlich haben wir denselben Frisör.«

Der Knirps reißt die Augen auf. »Echt?«

Von Gegenüber ertönt ein helles Lachen. Die Flipflop-Blondine hebt ihre Sonnenbrille. Grünblaue Augen funkeln mich spöttisch an. Dann klappt die Brille wieder herunter. Mir fällt das winzige Grübchen auf ihrer Wange auf, und als ich merke, dass auch sie mich hinter ihren dunklen Gläsern taxiert, fühle ich mich ertappt. Zudem habe ich das starke Bedürfnis, den Stoppelbart-Träger über die Reling zu kippen.

Nach zwanzig Minuten legen wir am Wilhelmstein an. Kaum hat der Skipper die Taue festgezurrt und ein Brett über die Bordwand auf den Steg geschoben, drängen die Passagiere zum Ausstieg. Schnell reihe ich mich hinter der blonden Schönheit ein. Ihr Haar duftet nach Vanille, und ich bin für einen Augenblick versucht, ihre sonnengebräunten Schultern zu berühren, da, wo die Träger ihres BHs unter dem Top hervorblitzen.

Stoppelbart gibt sich jugendlich, springt von der Planke und landet federnd auf dem Steg. Dann dreht er sich um, ergreift ihre Hand und hilft ihr von Bord.

Schleimer! Ich bleibe mit dem Fuß an einem Tau hängen, knalle mit dem Knie auf die Reling und beiße mir vor Schmerz auf die Lippen.

»Alles in Ordnung?«, fragt die Meerschweinchen-Mutter hinter mir.

»Nichts passiert!« Eilig humple ich an Land.

Auf dem Steg schiebe ich mich durch eine Seniorengruppe und spähe nach allen Seiten, aber Miss Flipflop ist nirgends mehr zu entdecken. Moment mal! Bin ich etwa im Begriff, ihr hinterherzulaufen? Was soll das, Jaro!, pfeife ich mich zurück. Erstens hast du von Frauen ein für alle Mal genug, und sie ist sowieso vergeben, zweitens ist Brainstorming angesagt, und drittens bist du hier, um den Cache zu finden! Entschlossen ziehe ich das GPS-Gerät aus dem Rucksack, rufe den Cache auf und mache mich auf die Suche.

Laut Info ist die Insel nur 1,25 Hektar groß. Sie beherbergt eine Burganlage, die von einem sternförmigen Wall umgeben ist, sowie einige flache Nebengebäude. Kurz hinter dem Hafen durchquere ich einen Biergarten und bleibe im Schatten einer Kastanie stehen. Ich lasse den Blick über die Tische und Stühle schweifen und ertappe mich dabei, dass ich nach flachsblonden Haaren Ausschau halte. Verärgert zwinge ich mich, wieder auf das GPS zu blicken. Es zeigt an, dass der Cache nur noch dreiundachtzig Meter entfernt ist. Ich folge dem Pfeil auf dem Display, bis das Gerät leise piepst und anzeigt, dass ich angekommen bin. Irgendwo im Umkreis von viereinhalb Metern muss das Versteck sein. Ich befinde mich direkt an der Wallmauer, in einer Ecke, wo nur wenig Publikumsverkehr ist. Einige Schritte entfernt steht eine alte Kanone, neben der faustgroße Eisenkugeln zur Pyramide aufgestapelt sind. Wo würde ich hier etwas verstecken? Als ich mich langsam um meine Achse drehe, bleibt mein Blick an einer Gestalt hängen, die vor einer Maueröffnung hockt.

Ein Träger ihres Tops ist heruntergerutscht, in der Hand hält sie ein Gerät, das meinem zum Verwechseln ähnlich sieht. Miss Flipflop tastet mit konzentriertem Gesichtsausdruck in einer Mauerspalte herum. Und von Stoppelbart keine Spur!

Gebückt schleiche ich mich an sie heran und raune ihr »Achtung! Muggel-Alarm!« ins Ohr. Sie schnappt hörbar nach Luft, ihr Kopf fährt herum, mit schreckgeweiteten Augen starrt sie mich über ihre Schulter an. Grinsend halte ich mein GPS-Gerät hoch. »Offenbar haben wir dasselbe Anliegen!«

»Und das ist ein Grund, mich zu Tode zu erschrecken?« Leise lachend richtet sie sich auf, zieht ihren Rock wieder nach unten und schiebt den Träger an Ort und Stelle. »Oder muss ich das etwa als Annäherungsversuch werten?«

»Nein, äh, ja – ich meine, natürlich nicht!« So dicht vor ihr, fühle ich mich, als würde mein Gehirn in zähem Sirup schwimmen.

Sie legt ihre Hand auf meinen Arm und schiebt mich sanft rückwärts. »Dürfte ich bitte mal vorbei?«

Himmel! Ich habe sie tatsächlich an dieser Mauer eingekeilt!

»Sorry«, murmle ich und trete zurück.

Da biegt auch schon ihr grauhaariger Don Juan um die Ecke. Er schiebt sich seine Sonnenbrille in die Haare und hält mit gerunzelter Stirn auf uns zu. »Wie sieht’s aus?«, fragt er sie. »Hast du deine Dose?«

Sie wirft mir einen nervösen Blick zu und hat es eilig, Abstand zwischen uns zu bringen. »Hab leider noch keinen Schimmer.«

»Ist das auch so einer?« Er zeigt mit seinem Kinn in meine Richtung.

Sie bückt sich und lugt in die Mündungsöffnung der Kanone. »Scheint so.«

Ich gebe vor, mit meinem GPS beschäftigt zu sein und beobachte aus dem Augenwinkel, wie er sich auf einen Mauervorsprung setzt und die Arme vor der Brust verschränkt.

»Komm schon, Walter. Sei kein Frosch! Hilf mir suchen!«

Halbherzig dreht Walter mit der Fußspitze einen dicken Kiesel um, macht aber keine Anstalten aufzustehen.

»Ne kleine Gefrierdose würde da kaum drunter passen«, klugscheiße ich und deute auf den Stein.

Er zuckt mit den Schultern, dreht mir den Rücken zu und schlendert zu seiner Freundin hinüber. »Da hinten ist ein Biergarten. Ich könnte eine Erfrischung gebrauchen.«

Sie starrt auf ihr GPS-Gerät.

»Hallo – Erde an Mimi!«, ruft er.

»Hier steht es ja auch«, murmelt sie. »Cachegröße: small. Und ich hab die ganze Zeit nach einem Micro gesucht.«

»Jetzt reicht’s!« Er macht einen Schritt auf sie zu und zieht ihr das GPS aus der Hand. »Mir ist es gerade ziemlich schnuppe, wie groß deine Dose ist – ich will jetzt was trinken. Du kannst ja später weitersuchen!« Damit dreht er sich um und marschiert samt GPS-Gerät davon.

»Walter!« Empört spurtet sie los, doch nach wenigen Schritten bleibt sie stehen, dreht sich abrupt um und stapft mit trotzigem Gesichtsausdruck zu mir zurück.

Ich wende mich schnell der Wallmauer zu, damit sie mein Grinsen nicht sieht. »Mein Gott, Walter …«, die Melodie entweicht kaum hörbar meinen zusammengepressten Lippen, während ich die Steine in Augenschein nehme. Und dann sehe ich es. Knapp zwei Meter über mir sitzt ein unregelmäßig geformter Stein in der Mauer, eine Nuance heller als die anderen, mit glatter Oberfläche und nicht bemoost. »Ich hab ihn«, raune ich.

»Wo?«, höre ich sie direkt hinter mir fragen.

»Da oben.« Ich steige auf einen Mauervorsprung und stemme mich hoch. Mit gestreckten Armen reiche ich gerade an den Stein heran, aber ich bekomme meine Finger nicht zwischen die Fugen, um ihn herauszuziehen. Schnaufend lasse ich mich wieder herunter. »Mist! Meine Finger sind zu dick!«

»Lass mich mal!« Mimi steigt auf den Vorsprung, wobei ich einen verführerischen Blick auf ihre Beine erhasche. Sie streckt sich so hoch sie kann, und ich bin versucht, nach Zettel und Stift zu greifen und sie in dieser Pose festzuhalten.

»Ich bin zu klein.« Sie dreht sich um und geht leicht in die Hocke. »Jetzt bleibt nur noch eins!« Sie sieht mich auffordernd an. »Räuberleiter!«

Mimi zieht ihre Flipflops aus, stellt ihren Fuß auf meine verschränkten Handflächen und legt ihre Hände auf meine Schultern. »Auf drei«, kommandiert sie. »Eins, zwei, drei!«

Ich hebe sie an, spüre ihre Hand auf meinem Kopf und finde mich mit dem Gesicht vor ihrer Hüfte wieder. Mir bricht der Schweiß aus. Ich atme ihren Duft nach Vanille und sonnengebräunter Haut ein und fühle mich benommen. Ob sie wohl nahtlose Unterwäsche trägt? »Hab ihn!«, höre ich sie sagen.

Mimi stützt sich auf meinen Schultern ab und ich lasse sie herunter. Ihre Hände kommen auf meiner Brust zu liegen, und für einen kurzen Moment sind wir uns ganz nah, bis sie loslässt und einen Schritt rückwärts macht.

Triumphierend hält sie mir den vermeintlichen Stein hin und klopft mit dem Fingerknöchel dagegen. »Epoxidharz«, verkündet sie. Auf der Rückseite ist ein rechteckiger Hohlraum eingelassen, in dem eine Plastikdose steckt. Mimi zieht den Deckel ab, holt ein gebundenes kleines Buch heraus und reicht es mir. »Du zuerst. Schließlich hast du ihn gefunden.«

»Wenigstens mal ein ordentliches Logbuch und nicht bloß ein zusammengerollter Zettel.« Ich trage Datum, Uhrzeit und meinen Cachernamen ein. Dann zeichne ich mit schnellen Strichen eine Comicfrau mit Minirock und Flipflops unter meinen Log. Grinsend gebe ich ihr das Buch zurück.

Als sie die Zeichnung sieht, strahlt sie mich überrascht an. »Hey! Gar nicht schlecht getroffen!« Sie kritzelt ihre Daten unter meine, streckt mir das Buch entgegen und zeigt auf einen Smiley. »Meine Zeichenkünste reichen gerade mal für das hier.«

»Mimikry83«, lese ich ihren Cachernamen. »Mimikry bedeutet Täuschung durch Nachahmung, oder?«

Sie grinst. »Ja, genauso wie die Caches, die jeder sehen kann, aber für etwas anderes hält.« Dann wirft sie einen Blick auf meinen Log. »Und dein Nickname? Muss ich darin auch nach einem tieferen Sinn suchen?«

»Jaromiro, das ist …«, ich schlucke, » … einfach mein Name. Denk dir das O am Ende weg.« Ihr zu erklären, warum hinter dem Cachernamen eigentlich zwei Personen stecken, würde jetzt den Rahmen sprengen.

»Du heißt echt Jaromir?«

Ich zucke mit den Schultern. »Daran ist meine polnische Mutter schuld. Und beim Finden von Cachernamen bin ich, zugegeben, nicht besonders kreativ.«

»Sonst scheinst du aber eher zu den Kreativen zu gehören«, sagt sie und schaut mich unverwandt an. Als ich schon ganz kribbelig werde, senkt sie lächelnd den Blick und verstaut das Logbuch in der Dose. »Jetzt müssen wir den Cache nur wieder da oben reinkriegen. Bereit für die Räuberleiter?«

Ich nicke brav, bücke mich und halte ihr wieder die verschränkten Hände hin. Doch sie tippt mir nur auf die Schulter, und ich sehe, wie sie schnell in ihre Sandalen schlüpft. Verdutzt richte ich mich auf und folge ihrem Blick. Walter kommt mit zerknirschtem Gesichtsausdruck auf uns zu. Verdammt!

»Schaffst du es vielleicht auch alleine?« Unmerklich deutet sie mit dem Kinn auf ihren Freund, der mit großer Geste zwei Flaschen Bier hinter seinem Rücken hervorzaubert und sie angrinst wie ein Schuljunge.

Ich merke, wie sich alles in mir verkrampft. Tu was, Jaro! Doch mir fällt nichts ein, womit ich sie zurückhalten könnte, und nicke bloß.

»Na dann …« Sie drückt mir den Cache in die Hand, schenkt mir ein letztes Lächeln und weg ist sie.

Hilflos muss ich dabei zusehen, wie er sie an sich drückt und sie Arm in Arm davonschlendern. Wäre ich Spiderman, dann würde ich sie von ihm wegreißen und mich mit ihr auf die Burgzinnen schwingen. Aber mein momentanes Peter-Parker-Ich umklammert den Cache nur fester und wendet sich ab. Wieder die Mauer vor Augen, an der sich mein flüchtiger blonder Traum noch eben nach oben gereckt hat, blitzt plötzlich ein Bild vor mir auf. Mimi, die sich nach dem Cache streckt, in einem hautengen Catwoman-Anzug …

Wie elektrisiert zerre ich meinen Zeichenblock aus dem Rucksack und lasse mich zu Boden sinken. Was tragen Superhelden darunter?, kritzle ich auf das oberste Blatt. Meine Hand wird eins mit dem Stift und gleitet wie von selbst über das Papier. Das ist es!

Die Montagmorgen-Sonne heizt mein winziges Schlafzimmer auf, mein Bewusstsein fährt lahm wie ein alter Prozessor hoch. Ich habe in Klamotten geschlafen und finde meinen Laptop neben mir auf dem Kissen. Nach und nach lasse ich die Bilder der letzten Nacht, in der ich wie ein Besessener gearbeitet habe, Revue passieren. Irgendwann im Morgengrauen habe ich die Entwürfe eingescannt und erinnere mich vage daran, sie auf den Server der Agentur gelegt zu haben. Im Bett habe ich noch den Wilhelmstein-Cache geloggt und muss darüber eingeschlafen sein. Plötzlich hellwach, richte ich mich auf und erwecke den Rechner zum Leben. Mimi! Ob sie meinen Logeintrag schon gelesen und den Cache ihrerseits geloggt hat? Aber auf Geocaching.com finde ich immer noch keinen Eintrag von Mimikry83.

Ein paar Klicks und ich habe ihr Profil vor mir. Wohnort-Info und E-Mail-Adresse sind nicht freigeschaltet. Doch sie hat ausschließlich Caches in und um Hannover geloggt, was darauf schließen lässt, dass sie in meiner Nähe zu Hause ist. Aber da ich nicht einmal ihren vollen Namen weiß, kann ich das nur vermuten. Verflixt! Warum habe ich sie nicht wenigstens nach ihrer Nummer gefragt? Denn eins wird mir langsam immer klarer: Ich muss sie wiedersehen!

Spontan öffne ich das Kontaktformular und starre auf den blinkenden Cursor. Was hat sie noch über ihr Pseudonym gesagt? »Genauso wie die Caches, die jeder sehen kann, aber für etwas anderes hält.« Ich ziehe den Laptop näher zu mir und tippe drauflos:

Mimikry83 – wer verbirgt sich wirklich hinter diesem Namen? Ein Geheimnis, das ich gerne ergründen würde. Vielleicht bei einem gemeinsamen Cacher-Ausflug? Ich muss dich wiedersehen! (Natürlich ohne den Spielverderber!)

Jaro (der kreative Cacher mit der Meerschweinchenfrisur)

Mit klopfendem Herzen schicke ich die E-Mail ab. Minutenlang stiere ich auf den Monitor, als müsste ihre Antwort quasi postwendend darauf erscheinen. Doch natürlich tut sich nichts.

Schließlich klappe ich den Laptop zu, schleppe mich unter die Dusche und lasse das Wasser auf meine Schultern prasseln. Wer hätte gedacht, dass die Begegnung mit Mimi mich dermaßen beflügeln würde?

Nach einem späten Frühstück rufe ich bei Up2Gross an.

»Keine Sorge, deine Zeichnungen sind angekommen. Ruprecht präsentiert sie gerade dem Kunden«, meint Greta, die ewige Praktikantin der Werbeagentur, auf meine Nachfrage.

»Was? Jetzt schon? Ich dachte, der Termin sei erst nächste Woche!«

»Der Kunde, dieser Herr Gruber, hat sich heute Morgen kurzfristig angemeldet. Meinte, er sei sowieso in der Gegend und wolle sich nach dem Stand der Dinge erkundigen.«

»Und, was ist das für ein Typ?«

Greta überlegt nicht lange. »Grauer Wolf um die fünfzig, Anzug und Krawatte in gedeckten Farben, brauner Aktenkoffer – so einer halt. War früher wahrscheinlich nicht unattraktiv.«

Ich stelle mir einen Vertretertyp vor, der in seinem Koffer fleischfarbene Damenunterwäsche in Übergrößen herumträgt, und eine dunkle Ahnung überkommt mich. Was, wenn ich das Briefing missverstanden habe und mit meinen Vorschlägen komplett daneben liege?

»Richte Ruprecht bitte aus, dass er mich nach der Präsentation anrufen soll«, würge ich hervor und lege auf. Ich hab’s verkackt – garantiert!

Unruhig tigere ich hin und her, werfe immer wieder einen Blick auf das Telefon und rufe alle paar Minuten meine Mails ab. Doch weder Ruprecht noch Mimi melden sich.

Schließlich zerre ich meine Jogging-Hose aus dem Schrank und schnappe mir meine Laufschuhe.

Während ich meine Runde jogge, versuche ich mich zu entspannen, aber es gelingt mir einfach nicht, Kowalskis Brief und das Bild fleischfarbener Mieder in Grubers Aktenkoffer aus meinem Kopf zu verbannen. Also beschwöre ich Bilder von Mimi herauf: Ihr Blick auf dem Boot, ihr Lachen, meine Wange an ihrer Hüfte, wie sie mich über das Logbuch anstrahlt … Räuberleiter im Minirock, das war doch Anmache pur! Und bevor Macho-Walter dazwischengefunkt hat, hat es ganz schön geknistert. Was sie an dem nur findet! Klar, er hat vermutlich ein dickes Konto. Und vielleicht steht sie auf graue Schläfen oder hat den berüchtigten Vaterkomplex. Aber hätte sie dermaßen mit mir geflirtet, wenn die Beziehung intakt wäre? Andererseits: wenn ich mir Mimi in meinem Alfa vorstelle, an dem die Fahrertür klemmt, oder auf meinem abgewetzten Küchensofa …

Ich erhöhe meinen Lauf-Takt bis an meine Grenzen und noch ein wenig darüber hinaus.

Auf dem Rückweg kaufe ich gerade eine Zeitung, als mein Handy klingelt.

Es ist Alex. »Wo bist du?«

»Limmerstraße, Kiosk«, antworte ich knapp.

»Lass mich raten: Du trägst deine alte graue Jogginghose und ein zerknittertes, schwarzes Shirt.«

»Bingo!«

»Dann bist du der Typ mit den zerzausten Haaren, der mit irrem Blick die Gegend absucht.«

»Sehr witzig!«, brülle ich, um den Müllwagen zu übertönen, der gerade neben mir hält. Gleichzeitig schiebt sich eine Stadtbahn in mein Blickfeld, aber ich sehe gerade noch, wie Alex’ silbergrauer BMW mit der Aufschrift »Mertens EDV-Dienstleistungen« auf der anderen Straßenseite hält.

Amüsiert beobachtet Alex, wie ich auf ihn zulaufe. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und begrüße ihn mit Handschlag. »Was hat dich hierher verschlagen?«

»Kundenbesuch, ganz in der Nähe.« Er lockert seine Krawatte und öffnet den obersten Knopf an seinem makellos gebügelten Business-Hemd. »Und da dachte ich mir, ich schau mal was der alte Jaro macht. Außerdem brauche ich dringend Koffein.« Er biegt in die nächste Querstraße ein und manövriert den BMW in eine Parklücke. »Warum bist du gestern nicht ans Handy gegangen? Ich hab dich zwei Mal angerufen.«

»Hab’s wohl nicht gehört. Ich war am Steinhuder Meer. Wusstest du, dass es direkt auf dem Wilhelmstein einen Cache gibt?«

»Lohnt sich das, oder ist da bloß ne langweilige Filmdose versteckt? – Oder hast du ihn gar nicht gefunden?«

»Gefunden und geloggt, obwohl es ein harter Brocken war. Aber das ist längst noch nicht alles …«

Alex sieht mich forschend an. »Heilige Scheiße, den Blick kenne ich doch! Hat Sarah sich wieder an dich rangemacht? Wenn ich dir einen Rat geben soll, Jaro, dann …«

»Wer ist Sarah?«, unterbreche ich ihn und kann nicht verhindern, dass sich ein albernes Grinsen auf meinem Gesicht breit macht.

»Okay, ich lade dich auf einen Kaffee ein!« Alex öffnet die Autotür. »Dafür will ich Fakten hören, komplett und schön der Reihe nach, besonders die delikaten Details!«

»Und ich Idiot weiß nichts über sie als ihren Vornamen und das Cacher-Pseudonym!«, beende ich meinen Bericht. Wir sitzen in meiner Lieblingsbäckerei, trinken Kaffee und lassen uns die besten Schinken-Croissants der Gegend schmecken.

Alex sieht mich mit offenem Mund an. »Na, das ist ja eine Story!«

»Was soll ich bloß machen? Ständig geistert sie mir im Kopf herum. Ich muss sie wiederfinden …«

Er hebt die Hand und stoppt meinen Redefluss. »Moment! Erstens bist du gerade mal über Sarah weg, und zweitens hast du mir eben selbst erzählt, dass diese Mimi einen Freund hat.«

»Drei Mal ist sie mir kurz nacheinander über den Weg gelaufen – das kann kein Zufall sein!

Seufzend hebt Alex den Blick zur Decke. »Fang jetzt bloß nicht wieder von Schicksal oder so was an. Das musste ich mir schon bei Sarah anhören. Und wir wissen ja, was daraus geworden ist.«

»Diesmal ist es anders. Da war was ganz Besonderes zwischen uns, das habe ich deutlich gespürt.«

»Ach komm, was die Frau mit der Aktion am Cache bezwecken wollte, liegt doch auf der Hand!«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Okay, dann klär mich auf, Mister Frauenversteher.«

Alex verdreht die Augen. »Den Namen werde ich wohl nie los.«

»Immerhin warst du damals an der Uni eine Institution, wenn es um Frauenfragen ging.«

Er winkt ab. »Was diese Mimi betrifft: Sie hat sich über ihren Freund geärgert und wollte ihm eins auswischen. So simpel ist das!«

»Und wenn schon! Für diesen angegrauten Macho ist sie sowieso zu schade!«

Alex sieht mich nachdenklich an. »Dich hat es voll erwischt, oder?«

Ich zucke mit den Schultern. »Jedenfalls hab ich in meinem Log geschrieben, dass ich sie wiedersehen will und ihr eine Nachricht geschickt.«

»Was hast du gemacht? Mensch Jaro, das Cacherportal ist doch keine verdammte Single-Börse!«

»Was soll ich denn sonst tun?«

»Keine Ahnung. Aber die Logeinträge kann schließlich jeder lesen. Was um Himmels willen hast du denn geschrieben?«

»Nur, dass ich die Suche mit ihr nett fand und das gerne wiederholen würde, so was in der Art.« Dass ich eine Zeichnung an meinen Log gehängt habe – eine reizvolle Perspektive von Mimi, wie sie sich nach dem Cache streckt – erzähle ich ihm lieber nicht.

Er seufzt. »Na, wenigstens hat sie dich wieder ans Arbeiten gekriegt. Apropos: Hast du denn jetzt diesen Unterwäsche-Job?«

»So gut wie. Wenn die Entwürfe genommen werden, bin ich erst Mal aus dem Schneider. Dann kriegst du auch dein Geld zurück – versprochen!«

Alex zieht die Augenbrauen hoch. »Darum geht es mir nicht, und das weißt du auch!«

Er legt mir die Hand auf den Arm. »Du musst dich besser verkaufen. Deine Website zum Beispiel braucht dringend ein Update. Komm demnächst in mein Büro, dann sprechen wir da mal drüber.«

»Aber ich kann dir nichts dafür zahlen.«

Er grinst. »Ich dachte eher an ein richtig geiles Firmenlogo für meinen Laden.«

»Kriegst du! Sobald alles bei mir wieder normal läuft.«

»Wird schon.« Er runzelt die Stirn. »Da fällt mir ein – hat deine Traumfrau einen eigenen Cache?«

»Nein, leider nicht.«

»Schade. Dann könntest du …« Sein Handy gibt Alarm. Er wirft einen Blick auf die Anzeige und leert seine Tasse. »Ich muss los. Wir sollten übrigens auch mal wieder Cachen gehen. Ich hab da so eine Idee, wie das Ganze noch ein bisschen abenteuerlicher werden könnte …«

Ich höre das Telefon schon im Treppenhaus läuten, nehme zwei Stufen auf einmal, schließe die Wohnungstür auf und stolpere in den Flur. Auf dem Display kann ich sehen, dass es nicht Ruprecht Gross von der Werbeagentur ist. Verdammt! Ich nehme den Hörer ab.

»Marion hier«, meldet sich die Kunst-Ressortleiterin von HannoKult, der Hannoverschen Kulturzeitschrift, für die ich seit zwei Jahren einen kleinen Cartoon liefere. Wie immer kommt sie ohne Umschweife zur Sache: »Hör zu, wir hatten heute Redaktionssitzung, und da war auch dein Scripped Cartoon ein Thema. Die Sache ist die …«

Ich höre, wie sie an ihrer Zigarette zieht.

»Wir haben einen neuen Chefredakteur, und der will einiges ändern.«

»Okay«, krächze ich, während mir siedend heiß einfällt, dass ich schon eine neue Folge für die nächste Monats-Ausgabe in petto haben sollte.

»Kurz und gut: Ich konnte ihn gerade so überreden, dass Scripped in der nächsten Ausgabe noch einen Platz bekommt. Danach kann ich für nichts garantieren. Also, überzeug ihn! Das muss diesmal ein echter Knaller werden!«

»Kein Problem – ich hab da schon was in der Pipeline.«

»Das hoffe ich. Und Jaro – du lieferst pünktlich!«

»Redaktionsschluss: Samstag vierzehn Uhr. Geht klar!«

»Ich verlasse mich auf dich«, sagt sie und legt auf.

Mein Magen krampft sich zusammen. Wie konnte ich mich von Sarah dermaßen aus der Bahn werfen lassen, dass ich sogar die Deadline für Scripped vergesse? Wenn das Honorar von HannoKult auch noch wegfällt, kann ich mich demnächst von Haferflocken ernähren!

Wenn ich wenigstens den Unterwäsche-Auftrag unter Dach und Fach hätte, wäre mir ein bisschen wohler. Mit klopfendem Herzen prüfe ich erneut meinen Posteingang, und tatsächlich stoße ich auf eine E-Mail von Ruprecht Gross.

Betreff: Kundenpräsentation gelaufen.

Panik überflutet mich. »Gelaufen? Was soll das denn heißen?«, murmle ich und öffne die Nachricht.

TEUFEL NOCHMAL – woher hast du das gewusst?

Ruf mich zwecks Terminabsprache an.

Gruß, Ruprecht

Typisch! Kann er sich nicht ein Mal klar ausdrücken? Habe ich den Job denn nun, oder nicht? Und was soll ich gewusst haben? Ich greife nach dem Telefon.

»Er ist auf einer Dienstreise und kommt erst nächste Woche zurück«, klärt mich Greta auf. Linda, die Art-Direktorin, ist obendrein krank, erfahre ich noch, und dass am kommenden Donnerstag ein Besprechungstermin für mich reserviert ist. Wie gnädig!

»Wahrscheinlich will Ruprecht dich zappeln lassen«, meint Greta und senkt die Stimme. »Die Kollegen vermuten übrigens, dass er und Linda …« Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. »Ich meine: Er ist auf Dienstreise und sie ist krank. Das kommt jetzt schon das dritte Mal vor. Und dann haben beide permanent ihr Handy ausgeschaltet. Nicht mal die Mailbox ist aktiviert. Merkwürdig – oder?«

»Keine Ahnung«, erwidere ich. Was interessiert mich der Agenturtratsch, wenn mir die Zeit wegläuft! »Hör mal: Kannst du dafür sorgen, dass die Teilrechnung, die ich mit den Entwürfen geschickt habe, möglichst rasch überwiesen wird?«

»Tut mir leid: Solange Linda und Ruprecht nicht da sind, wird damit nichts passieren. Aber ich spreche sie darauf an, wenn sie sich melden«, sagt sie bedauernd.

Seufzend lege ich auf.

Während ich darüber nachgrüble, wie ich meinen Vermieter überzeugen kann, mir noch einen weiteren Aufschub zu gewähren, ertönt ein leises Klingeln aus meinem PC. Neue Post.

Absender: Geocaching

Betreff: Mimikry83 contacting Jaromiro from Geocaching.com

Sehr geehrter Herr Jaromiro,