Und mitten im Sommer die Liebe - Susanne Fletemeyer - E-Book

Und mitten im Sommer die Liebe E-Book

Susanne Fletemeyer

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Beschreibung

Von Liebe, Freundschaft, Abschied und neuen Anfängen. Mit fünf Männern ausgehen und sich bestenfalls in einen von ihnen verlieben? Für Luisa unvorstellbar! Doch ein Brief ihres verstorbenen besten Freundes fordert sie genau dazu auf – und liefert die Kandidatenliste gleich mit. Dabei weiß Luisa gar nicht mehr, wie das mit dem Verlieben geht. Sie nimmt die Herausforderung trotzdem an und stürzt sich in ein Abenteuer, das sie durch Hannover, auf einen Alpaka-Hof und bis ans Steinhuder Meer führt. Wird Luisa auf ihr Herz hören und den Richtigen erkennen?

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Seitenzahl: 414

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Susanne Fletemeyer, geboren 1967 in Bad-Pyrmont, erschafft sich mit dem Erfinden von Geschichten den perfekten Gegenpol zu ihrem Beruf als technische Redakteurin. Wenn sie nicht gerade Bedienungsanleitungen schreibt, erweckt sie leidenschaftlich gern skurrile Charaktere auf dem Papier zum Leben. Sie lebt mit ihrer Familie in der Region Hannover.

www.fletemeyer.net

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer unter der Verwendung der Motive von shutterstock.com/V. Schneider, shutterstock.com/Viktoriia Drobotova

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-173-7

Roman

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Ein weißer Riss

Ein neuer Morgen

Wir gingen mit der Welt

Nur manchmal

malt ein Traumtier mir

Dein Gesicht zurück

1

Pharrell Williams’ geschmeidige Stimme mit seinem Wohlfühl-Hit »Happy« drang aus den Kopfhörern. Luisa versuchte, ihren Lauftakt dem Song anzupassen. Aber sie hatte das Tempo unterschätzt, und die euphorisierende Wirkung ihrer Gute-Laune-Jogging-Playlist wollte nicht zünden. Wenigstens war in der Eilenriede um diese Zeit kaum etwas los. Nicht mehr lange, und die athletischen Läufer mit ihren Hannover-Marathon-Shirts würden den Stadtwald entern. So wie sie sich vorwärtsschleppte, wären ihr deren mitleidige Blicke sicher.

Anfangs hatte sich das Laufen ihrer alten Joggingrunde noch leicht angefühlt. Doch schon nach kurzer Zeit hatte sie vor Anstrengung zu schnaufen begonnen, und wie es sich anfühlte, leuchtete ihr Gesicht in der Farbe von gekochtem Hummer. Kein Wunder, dass ihre Kondition im Keller war. Schließlich hatte sie in den letzten Monaten kaum mehr das Haus verlassen. Aber damit musste endlich Schluss sein.

Sie hatte sich lange genug mit Arbeit betäubt, sich nach den anstrengenden Tagen in ihrer Kleintierpraxis erschöpft auf das Sofa verkrochen und oft nicht einmal mehr die Energie aufgebracht, sich etwas zu essen zu machen.

Die Jogginghose rutschte ihr wieder auf die Hüftknochen; Luisa zog das Band fester zusammen und verknotete es erneut. Sie musste sich unbedingt Laufsachen in kleinerer Größe besorgen. Mit dem Unterarm wischte sie sich den Schweiß aus den Augen, konzentrierte sich auf ihren Atem und Herzschlag, fand ihren Rhythmus. Der Druck, der auf ihr lastete, seit sie sich dazu entschlossen hatte, Eriks Wohnung auszuräumen, ließ nach.

Als der Waldrand jedoch näher rückte und der Lkw mit dem Logo des Antikhändlers zwischen den Bäumen auftauchte, machte sich wieder das wunde Gefühl bemerkbar, das sie heute zeitiger als sonst aus dem Bett getrieben hatte. Irritiert sah sie auf die Uhr. Sie waren beinahe eine Stunde zu früh da.

Eigentlich hatte sie nach der Laufrunde duschen, frühstücken und dann ruhig und gefasst dem Abtransport von Eriks Möbeln zusehen wollen. Aber jetzt parkte der Lkw bereits vor ihrem Haus in der Einfahrt.

Ihr Haus. Dass die zweistöckige Gründerzeitvilla mit der stuckverzierten Fassade und den hübschen Bogenfenstern nun tatsächlich ihr gehörte, fühlte sich noch immer surreal an. Luisa zog ihr Haargummi fester, strich sich eine Strähne aus der verschwitzten Stirn, überquerte den Radweg und dann die Straße.

Die Türen des Lastwagens standen offen. Im Außenspiegel sah sie, dass zwei Männer im Führerhaus saßen und frühstückten. Ein dritter lümmelte mit ausgestreckten Beinen auf der Bank im Vorgarten und blätterte in der Hannoverschen Allgemeinen. Anscheinend hatte er ihre Schritte auf dem Kies gehört, denn er ließ die Zeitung sinken und zog die Beine ein. Es war der Chef des Ladens. Der Mann, der Eriks Möbel bei dem Rundgang durchs Haus taxiert hatte wie ein Viehhändler. Er faltete die Zeitung zusammen, stand auf und eilte ihr entgegen.

»Frau Loewe, da sind Sie ja.« Mit seiner Pranke zerquetschte er beinahe ihre Hand. »Entschuldigen Sie, dass wir früher als ausgemacht aufkreuzen. Wir hatten in der Nähe eine Besichtigung, die kürzer dauerte als erwartet. Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir sofort loslegen.«

»Klar. Kein Problem.« Luisa quälte sich ein Lächeln ab.

Sie führte die Männer in den ersten Stock, in das lichtdurchflutete Wohnzimmer von Eriks Wohnung, dessen Mittelpunkt der runde Tisch bildete. Wie oft hatte sie hier den Abend mit ihm bei einem Glas Wein ausklingen lassen? Sie sah ihn förmlich dasitzen, wie er sich zurücklehnte und ihr ein letztes Mal zuprostete. Die schweren Kelche, aus denen sie getrunken hatten, waren nun in Kisten verstaut, die Vitrine an der Wand neben dem Fenster war leer.

»Die Lampe auch, oder?« Der Antikhändler deutete auf den opulenten Kronleuchter, der über dem Tisch hing.

Luisa nickte mechanisch, obwohl sie sich auf einmal nicht mehr sicher war. Dabei hatte sie Eriks Begeisterung für die üppig mit Glasornamenten bestückte Leuchte eigentlich nie geteilt. »Genau. So war es ausgemacht«, murmelte sie.

»Du holst die Leiter aus dem Wagen und baust den Kronleuchter ab – aber vorsichtig«, sagte der Händler zu einem seiner Helfer. Er wandte sich wieder an Luisa. »Dafür müssten wir kurz den Strom abschalten.«

Sie zeigte ihm, wo der Sicherungskasten war. »Brauchen Sie sonst noch was? Ich würde gerne rasch duschen und mich umziehen.«

»Machen Sie ruhig, wir kommen schon klar«, antwortete er.

Luisa nickte ihm noch einmal zu, dann lief sie die Treppe zu ihrer Dachwohnung hinauf. Als die Eingangstür hinter ihr zuschnappte, lehnte sie sich von innen dagegen und schloss für einen Moment die Augen. Atmete. Doch das Ziehen in ihrem Bauch ließ sich nicht vertreiben.

Unter der Dusche kamen ihr erneut Zweifel. War es richtig, Eriks Möbel, die er sorgsam ausgesucht und arrangiert hatte, wegzugeben? Dieses Haus und die Einrichtung spiegelten seine Persönlichkeit wider. Und zum Teil war das auch ihr Zuhause gewesen. Panik stieg in ihr auf.

Mit noch nassen Haaren stürmte Luisa in Eriks Wohnung und rannte beinahe in die zwei Helfer hinein, die gerade versuchten, den Kronleuchter, ohne anzuecken, durch die Tür zu bugsieren. Doch sie bekam auf einmal keinen Ton heraus. Stumm trat sie zur Seite, ließ die Männer durch und folgte ihnen die Treppe hinab nach draußen.

Der Chef stand auf der Ladefläche, breitete eine graue Decke über der Vitrine mit den floralen Schnitzereien aus und sicherte sie mit Gurten. Daneben erkannte Luisa die geschwungenen Beine der Esszimmerstühle mit den Klauenfüßen. Er nahm den Kronleuchter von den beiden Helfern entgegen und verstaute ihn weiter hinten im dunklen Inneren des Wagens.

Luisa atmete tief durch. Sie durfte nicht länger in der Vergangenheit festhängen. Ein Jahr, drei Monate und neun Tage lang lebte sie nun ohne ihren Lieblingsmenschen. Noch immer führte sie in Gedanken eine Strichliste, auf der sie die Tage zählte. Aber das half ihr auf Dauer nicht weiter. Und wie sollte sie Erik loslassen, umgeben von seinen Möbeln, die sie ständig an ihn erinnerten? Wenn sie schon aus der Dachwohnung nach unten zog, dann musste sie ihren eigenen Stil finden.

Der Antikhändler drückte auf einen Knopf und fuhr auf der Ladefläche stehend abwärts. »So, wir haben es bald.«

Luisa nickte nur.

Mit einem Mal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie hatte Rosie nicht kommen gehört. Jetzt sorgte die Nachbarin allein schon mit ihrer Erscheinung dafür, dass sich Luisas Stimmung hob. Wie üblich ragten Rosies Haare grauen Federn gleich aus einem gemusterten Tuch im Ethno-Stil, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte und das zu ihrer leuchtend bunten Schlabberhose passte. In der schweren Zeit, in der Eriks Zustand sich immer weiter verschlimmert hatte, und auch später im Hospiz, war die ältere Frau für Luisa eine Stütze gewesen. Mehr noch – sie war zu einer echten Freundin geworden.

Ein Blick in Luisas Gesicht reichte Rosie offenbar, um die Situation zu erfassen. Sie legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich. »Luisa, Darling. Du tust das Richtige.«

»Das ist das letzte Teil«, rief einer der Helfer. Er und sein Kollege trugen den zierlichen Sekretär mit den gedrechselten Beinen aus dem Haus.

»Halt, stopp!« Luisa eilte auf die beiden zu. »Der bleibt hier.«

Die Männer setzten das Möbel auf dem Treppenabsatz ab.

»Nicht den Schreibtisch, das hatte ich von Anfang an gesagt.« Ihre Stimme zitterte.

»Richtig. Den wollte ich auch gar nicht. Allein schon weil er nicht aus Nussbaum ist wie die anderen Stücke.« Der Händler sprang vom Lkw. »Tragt das Ding wieder hoch«, wies er seine Leute an, woraufhin die beiden leise murrend kehrtmachten.

»Hatte mich auch schon gewundert«, meinte einer der Männer. »Wie es sich anhört, ist noch irgendwas in den Schubladen.«

Der Sekretär stand wie vergessen mitten im leer geräumten Wohnzimmer. Die Möbelpacker schienen ihn mit Absicht dorthin gestellt zu haben, wo er von der Morgensonne beleuchtet wurde. In dem leeren Raum wirkte das zierliche Möbelstück nahezu verletzlich.

»Oh dear«, murmelte Rosie hinter ihr. »Wie leer das alles ist.«

»Erik hat immer gesagt, dass jedem seiner Möbel eine Seele innewohnt, weil sie alt sind und die Geschichten der Menschen in sich tragen, von denen sie benutzt wurden«, sagte Luisa. Sie ging über das knarrende Parkett zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Nun fiel das Licht nur noch gedämpft ins Zimmer, und sie hatte nicht mehr das Gefühl, alle Welt würde sie dabei beobachten, wie sie in Eriks Allerheiligstes eindrang. Sie wusste, dass dieser Gedanke Unsinn war. Trotzdem fühlte es sich schäbig an, in seiner Privatsphäre herumzuschnüffeln.

Mit den Fingerspitzen fuhr sie über das Holz des Sekretärs, das in einem warmen Braunton schimmerte und nun auch Eriks Geschichte in sich barg, sofern man seiner Theorie Glauben schenken wollte. Sie erinnerte sich noch genau, wie begeistert er gewesen war, als er den Schreibtisch vor Jahren in einem Antikladen gefunden hatte.

»Na, wenn das mal kein Schmuckstück ist«, hatte er geschwärmt, sich hingehockt und sanft über die gedrechselten Beine gestrichen. Vermutlich hätte er jeden noch so überteuerten Preis dafür bezahlt, wenn sie ihn damals nicht gebremst und den Verkäufer heruntergehandelt hätte. Selbst sie hatte bemerkt, dass der Sekretär zwar aussah wie aus Mahagoni, vermutlich aber aus dem weicheren Erlenholz war. »Er heißt Ernesto«, hatte Erik im Brustton der Überzeugung verkündet. »Und er ist ein Outlaw, aber ich mag ihn.«

Ernesto war das einzige Möbelstück, dem Erik einen Namen gegeben hatte. Das hatte er nur bei Gegenständen getan, zu denen er auf Anhieb eine besondere Verbindung spürte. Den Toyota Kombi, den sie sich geteilt hatten und den Luisa immer noch fuhr, hatte er La Toya getauft, und sein Fahrrad Gernot. Die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. Doch das Bild ihres vor Begeisterung und Vitalität strotzenden Freundes wurde abgelöst von dem hohlwangigen Erik, der matt im Hospiz in seinem Krankenbett lag und kaum noch den Kopf aus den Kissen heben konnte.

»Hör zu«, hatte er sie nur wenige Tage vor seinem Tod gebeten. »Wenn das hier vorbei ist …« Er hatte angestrengt geschluckt und eine Pause machen müssen. »In Ernestos rechter Schublade, da liegt ein Brief für dich.« Sie hatte nach seiner Hand gegriffen, die sich erschreckend zerbrechlich anfühlte, und sich zu ihm herabgebeugt, um ihn besser verstehen zu können. »Warte ein paar Monate, bis du bereit für neue Abenteuer bist. Dann lies ihn. Und versprich mir, dass du kein Feigling sein wirst«, hatte er geflüstert. Und nicht lockergelassen, bis sie es ihm versichert hatte.

Die rechte Schublade. Luisa zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck. Es war Zeit, endlich herauszufinden, was er ihr darin hinterlassen hatte.

Die Lade verkantete leicht, sie musste beim Öffnen etwas daran ruckeln, um sie ganz herauszuziehen. Als sie den Inhalt sah, lachte sie leise auf. Eriks Kritzelhefte. Wenn er nicht gerade ein Stethoskop oder eine Spritze in der Hand gehalten hatte, dann einen Stift, mit dem er in einem seiner Hefte Gedanken oder Gedichte notiert, vor allem aber gezeichnet hatte. In solchen Augenblicken war er vollkommen in sich versunken gewesen.

Luisa nahm das oberste Heft und blätterte darin. Sie hatte immer bewundert, wie schnell und sicher er seine Umgebung skizzieren konnte. Besonders die Tiere waren ihm gelungen. Dieser Berner-Sennen-Welpe zum Beispiel blickte sie so lebendig an, als wollte er ihr gleich freudig übers Gesicht lecken.

»Krittlhefta!« Rosies Ausruf riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Nachbarin fluchte über den Zungenbrecher und lachte. »Das werde ich wohl nie korrekt aussprechen können.« Sie trat näher. »Er war ein echter Künstler, unser Erik, und ein Wortakrobat.«

Luisa nahm weitere Hefte aus der Schublade und stapelte sie auf der Ablage.

»Suchst du was?«, fragte Rosie.

Ganz unten stieß Luisa auf ein mit ihrem Namen beschriftetes Kuvert. Ein dicker, gepolsterter Umschlag.

Rosie riss die Augen auf. »Hast du das gewusst?«

»Ja. Bislang hatte ich nur nicht den Mut …« Luisa versagte die Stimme. Während sie sich abwandte und die Tränen wegblinzelte, drückte sie Rosie den Umschlag in die Hand. »Ich hol mal ein Messer.«

»Nonsense, das geht auch ohne«, meinte Rosie, der die Neugierde ins Gesicht geschrieben stand. Sie schob ihren Daumen unter die Verschlussklappe. »Soll ich?«

»Okay«, flüsterte Luisa, woraufhin Rosie den Umschlag mit Schwung aufriss.

»Bitte schön.« Sie gab ihr das Kuvert zurück und sah ihr forschend in die Augen. »Willst du das lieber allein lesen?«

Luisa schüttelte den Kopf. »Lass uns in die Küche gehen.«

»Gute Idee«, meinte Rosie. »Da gibt es wenigstens noch Sitzmöbel.«

In der Küche zog Luisa den Brief aus dem Umschlag und sank damit auf einen Stuhl. Sie faltete die Seiten auseinander, legte sie auf den Tisch und strich sie glatt.

»Ich braue uns erst mal einen Tee«, hörte sie Rosie sagen. Man kann Bier brauen, aber keinen Tee, hätte Luisa sie normalerweise verbessert. Doch heute nickte sie nur abwesend.

Mit den Fingerspitzen ertastete sie die Abdrücke des Kugelschreibers im Papier, als bräuchte sie Beweise, um zu begreifen, dass der Brief wirklich echt war. Eriks vertraute Schrift brachte sie aus der Fassung. Sie hatte ihn immer damit aufgezogen, dass er sich endlich eine Arzt-Klaue angewöhnen sollte, anstatt verspielte Kringel über die Umlaute zu malen.

Hinter ihr klapperte Rosie mit Geschirr, ließ Wasser laufen, aber das nahm Luisa nur noch am Rande wahr. Während sie las, hörte sie Eriks Stimme in ihrem Kopf.

Liebe Luisa,

wenn du diesen Brief liest, sehe ich die Radieschen längst von unten. Die Zeit rennt mir davon, dabei gibt es vieles, was ich dir am liebsten noch zu Lebzeiten sagen möchte. Aber der passende Moment kommt vielleicht nie, und wenn doch, dann verstreicht er womöglich ungenutzt, während ich nach Worten ringe. Und wer weiß, wie lange ich überhaupt noch dazu fähig sein werde.

Die Buchstaben verschwammen. Luisa wischte sich über die Augen, blinzelte und las weiter.

Das Schicksal hat uns zusammengeführt, Luisa, daran glaube ich ganz fest. Ich erinnere mich noch genau, wie wir uns vor beinahe siebzehn Jahren in der Uni kennengelernt haben. Wie verloren du gewirkt hast und gleichzeitig so entschlossen. Ich habe sie sofort gespürt, diese besondere Verbindung zwischen uns, und obwohl wir nie darüber gesprochen haben, glaube ich, dass es dir ebenso ergangen ist. Du und ich, wir waren von Anfang an ein Team. Du und Hannah, ihr wart meine Familie. Zusammen bildeten wir ein Dreigestirn – da kam so schnell keiner dazwischen.

Aber eben dieser »Loewe-Hofmann’sche Kosmos«, wie Hannah es mal genannt hat, war vermutlich der Grund dafür, dass du all die Jahre allein geblieben bist. Ich weiß, was du jetzt denkst: Ich war nicht allein, ich hatte ja dich. Ja, auch Freundschaft kann Liebe im Herzen tragen. Aber zu einer erfüllenden Partnerschaft gehört doch nicht nur geistige Nähe, sondern auch körperliche Anziehung. Ich meine Sex, Luisa. Verdreh jetzt bitte nicht die Augen. (Und keine Sorge: Was das betrifft, bin ich im Gegensatz zu dir auf meine Kosten gekommen. Alles musstest du nun doch nicht von mir wissen. Davon abgesehen, bin auch ich ohne festen Partner geblieben, das ist wahr. Aber nur weil mir der Mann fürs Leben, bis kurz vor Schluss, verflixt noch mal nicht begegnen wollte.)

Jedenfalls hat unsere verschworene Gemeinschaft ganz bestimmt abschreckend auf jeden Mann gewirkt, der sich für dich interessiert hat. »Erik hat einen festen Platz in meinem Leben. Und das wird sich nie ändern«, hast du immer gleich klargestellt. Wahrlich nicht das, was die Kerle von dir hatten hören wollen. Und welcher Hetero-Mann kommt schon damit klar, dass die Tochter der Freundin deren schwulen Freund als Vaterersatz adoptiert hat? Noch dazu habe ja auch ich mich wie eine Glucke aufgeführt, der keiner gut genug für ihre Mädchen ist. Vielleicht weil ich trotz allem Schiss hatte, euch zu verlieren. Denk nur an diesen Chemielaboranten, der nach dem gemeinsamen Weihnachtsessen das Weite gesucht hat, oder an den Kerl, der sich am Ende als homophob entpuppt hat, und dessen Name mir entfallen ist. Ich gebe zu, ich war nicht unschuldig daran, dass er sich nie wieder gemeldet hat.

Jetzt, da ich am Ende meines Lebens angelangt bin und Bilanz ziehe, drückt mich mein Gewissen. Aber vielleicht kann ich es wiedergutmachen – sofern du mich lässt. Und damit nähere ich mich unweigerlich dem Kern meiner Botschaft. Stell dir einfach vor, ich würde dir gegenübersitzen und mich noch ein wenig räuspern und winden, ehe ich dir fest in die Augen sehe und ohne Umschweife zur Sache komme: »Luisa, ich habe in meinem Bekanntenkreis nach Singles gesucht, die zu dir passen könnten. Bitte bleib sitzen und hör mir zu.«

Ja, du hast richtig gelesen. Und auch wenn du gerade drauf und dran bist, diesen Brief zu zerknüllen und in die Ecke zu werfen: Lies ihn zu Ende. Bitte.

Luisas Hand krampfte sich um die Seiten. Aber sie las weiter.

Okay, Luft holen und langsam wieder ausatmen. Vielleicht hat dein Blick die Steckbriefe schon gestreift, die ich mit in den Umschlag getan habe, und du ahnst bereits, worauf das Ganze hinausläuft. Ich präsentiere dir eine Handvoll äußerst attraktiver Singlemänner, jeder für sich ein Unikat. Und ich möchte, dass du alle Vorbehalte über Bord wirfst und dich mit ihnen triffst. Natürlich kann ich dir keine Garantie für Sympathie oder gar Zuneigung geben. Das kann schließlich niemand vorhersehen, und es muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Vielleicht liege ich sogar komplett daneben, und du zeigst mir mal wieder charmant den Vogel. Aber sieh es einfach als eine letzte Herausforderung an, die ich dir hinterlasse. Ja, Luisa, hiermit fordere ich dich heraus. Ich möchte, dass du dich mit allen fünf Männern triffst und unvoreingenommen versuchst, sie kennenzulernen. Vergiss dabei nicht, dass der erste Eindruck durchaus täuschen kann. Du musst einfallsreich und findig vorgehen. Clever, wie Rosie sagen würde. Und das bist du. Schon immer gewesen. Zeig der Männerwelt, welch wundervolle, warmherzige und kluge Frau du bist. Wer weiß, vielleicht findest du unter den Kandidaten tatsächlich den Richtigen. Und wenn nicht, dann versuch wenigstens, Spaß zu haben. Ich wette mit dir, Luisa, dass am Ende etwas Gutes dabei herauskommen wird, wie auch immer das aussehen mag.

Ich wünsche dir, dass du den Mann findest, den du so sehr begehrst, dass es wehtut. Der dich respektiert, wie du bist. Der zu dir hält, egal was kommt, und dich mit allen Schwächen und Wunderlichkeiten liebt bis ins Mark. Und der dich zum Lachen bringt. Denn du weißt ja: Wer vor lauter Lachen versuchen muss, wieder Luft zu bekommen, tut das selten allein.

Versuche, jeden Tag etwas zu tun, was dich oder jemand anderen glücklich macht. Ich hoffe, dir gelingt beides. Schiebe nichts mehr auf, denn das Leben kann morgen schon vorbei sein.

Sei kein Feigling, Luisa. Stürz dich ins Leben!

In Liebe

Erik

»Das kann nicht dein Ernst sein«, flüsterte Luisa, nachdem sie sich einigermaßen wieder gefasst hatte. Wie Erik es vorausgesehen hatte, spürte sie den starken Impuls, den Brief zu zerknüllen und die fünf Steckbriefe gleich mit. Aber dann erklang sein leises Lachen in ihrem Kopf. Beinahe konnte sie ihn vor sich sehen, wie er den linken Mundwinkel zu seinem schiefen Erik-Grinsen verzog und ihr zuzwinkerte.

»Warum sind die tollsten Kerle eigentlich immer hetero?«, hatte er ihr oft zugeraunt, wenn ihm ein attraktiver Mann über den Weg gelaufen war.

»Warum sind die Besten eigentlich immer schwul?«, hatte sie jedes Mal geantwortet und ihn spielerisch in die Seite geboxt. Er hatte sie sanft zurückgestupst.

»Löwchen, wenn ich jemandem einen Ring an den Finger stecken würde, dann dir. Aber leider gibt’s in der Kiste nachher nicht mehr als kuscheln.«

Luisa gab sich einen Ruck und legte die fünf Blätter in einer Reihe vor sich hin. Unwillkürlich musste sie schmunzeln. Mindmaps. Natürlich. Schon in der Uni hatte Erik seine Notizen in bunten Kreisen und Verästelungen erfasst. Wann immer er etwas plante, wie etwa Ausflüge, die er im Urlaub unternehmen wollte, zeichnete er eine Mindmap. Einmal hatte er sogar den Einkaufszettel für seine Geburtstagsfeier auf diese Art erstellt. Das zentrale Thema stand in der Mitte des Blattes, während er die Schlüsselworte, die damit zu tun hatten, ringsum anordnete und durch bunte, schlangenförmige Linien damit verband. Bei den Steckbriefen bildete die Mitte jeweils ein handtellergroßes Foto des potenziellen Dating-Kandidaten, das Erik farbig umrahmt hatte. Strahlenförmig davon abgehende Verästelungen enthielten weitere Informationen, manchmal in Form kleiner Zeichnungen oder Symbole. Wie etwa ein schelmisch grinsendes Alpaka oder ein Windsurfer, der mit straff geblähtem Segel über Wellen raste.

»Was ist das?« Rosie stellte zwei dampfende Tassen ab und griff nach einer der Seiten. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Luisa. »Hat er dir seine Männersammlung vermacht?«

»So kann man es auch nennen«, grummelte Luisa.

»Typisch Erik.« Rosie schmunzelte. »Immer für eine Überraschung gut.« Sie tippte mit dem Finger auf eins der Fotos. »Schicke Jungs. Nur was soll das Ganze?«

Wortlos reichte Luisa ihr den Brief.

Rosie bewegte beim Lesen lautlos die Lippen. Wie immer zeichneten sich ihre Empfindungen eins zu eins auf ihrem Gesicht ab, weshalb sie vermutlich eine lausige Pokerspielerin abgegeben hätte. Schließlich ließ sie den Brief sinken und sah Luisa mit feucht schimmernden Augen an. »Komm her«, sagte sie mit erstickter Stimme, beugte sich vor und drückte Luisa gegen ihren ausladenden Busen.

»So ein Spinner«, brach es aus Luisa hervor, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

»Aber ein liebenswerter«, meinte Rosie. Sie löste sich von ihr und zog schniefend die Nase hoch. »Ich denke, wir sollten einen ordentlichen Schuss Rum in den Tee geben.« Mit diesen Worten schob sie den Stuhl zurück, erhob sich und öffnete schwungvoll einen der Hängeschränke, aus dem sie tatsächlich eine Flasche zutage förderte.

Luisa deutete auf die Teetassen und die Flasche mit der braunen Flüssigkeit. »Wo hast du das alles eigentlich hergezaubert? Hattest du die Küche damals nicht komplett ausgeräumt?«

Rosie kippte einen kräftigen Schluck Rum in jede Tasse. »Ich hatte so eine Ahnung«, sagte sie leichthin.

»Unglaublich.« Luisa starrte sie an. Rosie hatte sich nach Eriks Tod um die Entsorgung der Lebensmittel aus Vorratskammer und Kühlschrank gekümmert und die Dinge in ihrer praktischen Art mal wieder vorausgesehen.

»Was?« Rosie erwiderte ihren Blick. »Man weiß schließlich nie.« Sie schraubte die Flasche zu und stellte sie ab. »Außerdem verderben Tee und Rum nicht. Und jetzt lass mal sehen, die Männer.« Sie beugte sich über die Steckbriefe und fuhr mit dem Finger über einzelne Verästelungen, auf denen Erik nicht nur Alter, Beruf und Kontaktangaben notiert hatte, sondern auch Hobbys und Vorlieben, Charaktereigenschaften und was ihm sonst noch wichtig erschienen war. »Männerlandkarten«, murmelte sie. »Interessant.«

»Warum zum Teufel glaubt Erik, dass diese Typen zu mir passen könnten? Besonders gut kann er sie doch nicht gekannt haben. Sonst wäre ich dem einen oder anderen schon mal begegnet«, ereiferte sich Luisa.

»Er wird sich schon was dabei gedacht haben«, meinte Rosie bloß.

Luisa schnaubte abschätzig. »Es ist, als hätte er mich mit fünf Euro in einen Gemischtwarenladen geschickt, damit ich mir was Schönes kaufe.« Aufgebracht schob sie die Steckbriefe auf dem Tisch hin und her. »Ein Kunsthistoriker, ein Yogalehrer, ein Steuerberater, ein Banker, der sich als Surflehrer auslebt«, sie beugte sich über das Blatt mit dem Schmunzel-Alpaka, »und ein Landschaftsgärtner mit einer Alpaka-Zucht.«

»Der scheint immerhin schon mal tierlieb zu sein«, warf Rosie ein.

»Na, das ist ja wohl auch das Mindeste!« Luisa hob in einer hilflosen Geste die Arme und ließ sie kraftlos wieder fallen. »Soll ich die jetzt etwa abtelefonieren, so nach dem Motto: Hallo, mein verstorbener Freund meint, Sie könnten mein Traummann sein. Deshalb sollten wir uns kennenlernen?«

Rosie zog die Stirn kraus. »Well … vielleicht nicht ganz so direkt.«

Luisa sprang auf, raffte die Papiere zusammen und schob sie weit von sich. »Kommt überhaupt nicht in Frage!«

»Calm down, Luisa.« Rosie schob ihr eine der Tassen zu. »Trink erst mal …«

»… deinen Tee und atme«, beendete Luisa den Satz und ließ es zu, dass die Freundin sie sanft zurück auf den Stuhl drückte.

Sie pustete über die heiße Oberfläche und nippte vorsichtig. So wie es roch und schmeckte, war der Schuss Rum etwas kräftiger ausgefallen als gewöhnlich.

»Sieh mal, Darling«, gurrte Rosie in einem Tonfall, als würde sie einem trotzigen Kind gut zureden. »Klar ist das irgendwie spooky. Aber schau: Du hast dich die ganze Zeit um Erik gekümmert, ihn begleitet – bis zuletzt. Und seitdem arbeitest du wie besessen in der Praxis, ohne auch nur einmal Atem zu schöpfen. Jetzt bist du eben mal dran. Überleg mal: Wie lange warst du nicht mehr aus? Ich finde, ein kleines Abenteuer kann dir nicht schaden. Und wer weiß, vielleicht springt ja tatsächlich der Mann fürs Leben dabei raus. Erik wollte sicher nur …«

Luisa setzte hart die Tasse ab, was Rosie abrupt zum Schweigen brachte. »Ich kann das nicht. Und ich weiß auch gar nicht, ob ich überhaupt einen Mann will!«

Mitten in ihren Gefühlsausbruch hinein schrillte die Praxis-Klingel. Es hörte sich an, als wollte jemand den Klingelknopf in der Wand versenken. Anscheinend scherte sich der Tierbesitzer nicht darum, dass die Praxis heute geschlossen war. Luisa war jedoch froh über die Unterbrechung, die es ihr ermöglichte, dieser absurden Situation zu entrinnen.

»Sicher ein Notfall!« Eilig stand sie auf, schob sich an Rosie vorbei und rannte die Treppe hinab.

Vor der Tür stand Frau Drechsler. Die alte Dame war in Tränen aufgelöst und hielt ihren Dackel im Arm. Blutiger Schleim tropfte dem Hund aus dem Maul.

»Ich weiß, Sie haben heute eigentlich keine Sprechstunde, Frau Loewe, aber können Sie sich mein Minchen bitte trotzdem ansehen? Ich glaube, sie hat irgendwas im Maul oder vielleicht einen Giftköder gefressen.«

»Kommen Sie.« Luisa trat zur Seite und ließ die Frau herein. Rosie, die ihr gefolgt war, hatte schon den Schlüssel vom Haken genommen und sperrte die Verbindungstür zur Praxis auf.

»Wir sind die übliche Runde Gassi gegangen. Da war sie noch ganz munter und hat mit Stöckchen gespielt. Und ich meine, an dem Baum, wo sie immer ihr Häufchen macht, lag etwas im Gras«, erklärte die Hundebesitzerin. »Kann sein, dass sie das gefressen hat.«

»Wie lange ist das her?« Luisa führte Frau Drechsler in den Behandlungsraum, wo diese den Hund auf den Untersuchungstisch setzte.

»Eine Stunde vielleicht. Als wir zu Hause waren, wollte sie nichts von ihrem Lieblingsfutter. Und dann fing sie an zu würgen und zu sabbern und kaute auf irgendwas herum. Sie wollte sich partout nicht ins Maul gucken lassen. Da habe ich Angst gekriegt und bin sofort zu Ihnen.« Das Gesicht der alten Dame war vor lauter Aufregung gerötet und glänzte vor Schweiß. Kurzatmig streichelte sie ihren Hund.

Luisa zog sich Handschuhe an, öffnete vorsichtig den Fang des Hundes und zog die Lefzen zurück. »Ich glaube nicht, dass sie Gift gefressen hat. Eher hat sie sich einen Splitter eingefangen.«

Tatsächlich kam es relativ häufig vor, dass sich Hunde beim Spiel mit dem Stöckchen verletzten. Ein geworfener Ast konnte bei der Landung im Boden stecken bleiben und zur tödlichen Gefahr werden. Luisa kannte Fälle, bei denen sich der Hund beim Vorwärtsstürmen ein spitzes Ende in den Hals gerammt hatte.

»Gottogott.« Frau Drechsler atmete schwer und stützte sich auf dem Untersuchungstisch ab.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Luisa besorgt.

»Nur ein bisschen schwindelig. Es ist ja so schwül heute.« Frau Drechsler zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

Hilfesuchend sah Luisa Rosie an, die abwartend in der Tür lehnte.

Rosie verstand sofort. »Kommen Sie. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser, und dann setzen Sie sich ins Wartezimmer. Nicht dass Sie uns hier noch aus den Latschen kippen.« Sie hakte die alte Dame unter und führte sie behutsam aus dem Raum. »Keine Sorge. Ihr Minchen ist in besten Händen.«

»Danke dir.« Luisa wandte sich wieder ihrer Patientin zu. Der Verdacht mit dem Splitter bestätigte sich. Sie ertastete eine Verdickung, und als sie ins Maul leuchtete, konnte sie deutlich die Stelle ausmachen, wo der Splitter in die Schleimhaut eingedrungen war. Sie tätschelte der Dackeldame die Flanke. »Tja, Minchen. Sieht ganz so aus, als müsstest du ein Nickerchen machen.«

Luisa hatte das etwa zwei Zentimeter lange Holzstück problemlos im Ganzen herausholen können. Nun schlief die Hündin in einer der Tierboxen ihre Narkose aus. Mit der Pinzette nahm Luisa den Splitter und deponierte ihn in einem Plastikbeutel, holte ein Schmerzmittel aus dem Medikamentenschrank und ging damit über den kleinen Flur zum Empfangstresen, wo sie eines der Medikamententütchen mit der Dosierung beschriftete. Da die Tür zum angrenzenden Wartezimmer nur angelehnt war, konnte sie deutlich die Stimme von Frau Drechsler hören, die sich mit Rosie unterhielt. Offenbar ging es der alten Dame besser.

»Dass Dr. Hofmann so früh von uns gehen musste …«, hörte Luisa sie sagen. »So ein feiner Mensch. Ich bin viele Jahre mit meinen Hunden zu ihm gekommen. Als er damals meine Gigi einschläfern musste, da war er so nett und einfühlsam.«

»Ja, das war er«, stimmte Rosie zu.

»Ich habe es ihm so gegönnt, dass er und die Frau Doktor … also …« Sie senkte die Stimme. »Ich will ja nicht indiskret sein, aber stimmt es, dass sie und er … ich meine, ich habe gehört, die beiden hätten kurz vor seinem Tod noch geheiratet?«

Luisa, das Tütchen in der Hand und bereit, die Tür zu öffnen, erstarrte. Sie hatte geahnt, dass sich die Leute über ihre Heirat das Maul zerreißen würden. Angesichts der Situation hatten Erik und sie kein großes Aufheben darum gemacht. Daher war es ihr ein Rätsel, woher die Frau überhaupt davon wusste.

Rosie murmelte etwas, das Luisa nicht verstand.

»Oh«, machte die Drechsler. »Dabei dachte ich eigentlich, dass der Herr Doktor andersherum …« Sie räusperte sich bedeutungsvoll. »Na, Sie wissen schon.«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Rosie betont unschuldig.

Luisa beschloss, dem Verhör ein Ende zu setzen. Schwungvoll drückte sie die Tür auf. »So!«, rief sie aufgekratzt. Sie hielt das Plastiktütchen mit dem blutverschmierten Holzstück hoch. »Da haben wir den Übeltäter.«

Nachdem die Hündin aus der Sedierung aufgewacht und, noch leicht wackelig auf den Pfoten, ihrer Besitzerin übergeben worden war, erklärte Luisa der alten Dame, wie oft und in welcher Dosierung sie dem Tier das Schmerzmittel verabreichen sollte. »Und in nächster Zeit nur Weichfutter.«

Als sich endlich die Tür hinter Frau Drechsler und ihrem Dackel schloss, atmete Luisa auf. »Wenn das so weitergeht, komme ich zu nichts«, sagte sie zu Rosie.

»Ab morgen übernimmt doch deine neue Partnerin. Da kannst du dich ganz auf die Renovierung konzentrieren.« Ihre Nachbarin hob warnend den Finger. »Und lass dich bloß nicht davon abhalten, nur weil du meinst, unentbehrlich zu sein. Das Mädel kriegt das sehr gut allein hin!«

Luisa nickte. »Regine ist ein echter Glücksfall. Ich bin so froh, dass ich sie für die Praxis gewinnen konnte.«

»Auf Dauer hättest du das alles nicht allein stemmen können. Irgendwann bricht sie mir noch zusammen, hab ich im letzten Jahr oft gedacht.« Rosie nestelte an ihrer Frisur und zog das Tuch enger. »Ich geh dann mal rüber. Sag Bescheid, falls ich dir noch irgendwie helfen kann.«

»Mache ich.« Luisa umarmte die Freundin.

»Und überleg dir die Sache mit den Männern«, raunte Rosie ihr ins Ohr.

»Ganz sicher nicht«, gab Luisa zurück.

»Ein Abenteuer könnte dir aber nicht schaden, am besten ein erotisches.« Leise glucksend machte sie sich von ihr los und winkte ihr im Weggehen noch einmal zu. »Vorsicht, Löwchen. Den Wunsch eines Sterbenden unerfüllt zu lassen, bringt Unglück.«

Löwchen. Das war eindeutig unfair. Rosie verwendete Eriks Kosenamen doch nur, um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen und ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.

Ihr Handy erinnerte sie mit einem Piepsen an den Termin bei Dr. Grießbach. Während sie in aller Eile die Praxis aufräumte, hatte Luisa immer noch Rosies Stimme mit dem amerikanischen Akzent im Ohr. »Vorsicht, Löwchen.«

Eriks Raunen mischte sich darunter. »Versprich mir, dass du kein Feigling sein wirst.«

2

Luisa schwang sich auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Lister Meile, wo Gabriele Grießbach ihre Praxis hatte. In der Nachmittagshitze brachte der Fahrtwind kaum Kühlung, und so war sie dankbar, einen Großteil der Strecke im Schatten der Eilenriede zurücklegen zu können. Ein Kleinkind auf einem winzigen Fahrrad schlingerte ihr entgegen, dahinter fuhr die Mutter, allzeit bremsbereit und damit rechnend, dass ihr Nachwuchs sich langmachte. Luisa schmunzelte. Als ihre Tochter noch klein gewesen war, hatten sie vermutlich ein ähnliches Bild abgegeben. Doch nicht lange, und Hannah war so rasant davongeflitzt, dass sie Mühe gehabt hatte, sie einzuholen. Einmal war Erik der Kleinen hinterhergejagt und hatte sie nur noch kurz vor knapp daran hindern können, aus dem Stadtwald auf die verkehrsreiche Straße zu fahren. Beobachter hielten ihn damals sicher für ihren Vater. Und für Hannah war er das in vielerlei Hinsicht auch gewesen. Luisa lächelte bei der Erinnerung. Das Kleinkind war Geschichte, ihre Tochter längst flügge. Die Neunzehnjährige verbrachte gerade ein Auslandsstudienjahr in San Francisco.

Am Lister Platz stieg Luisa ab und schob ihr Rad durch die Fußgängerzone. Bis zu ihrem Termin hatte sie noch etwas Zeit. Sie war extra etwas früher losgefahren, um beim Bäcker für einen Snack Halt zu machen. Das Mittagessen hatte sie wegen der Dackeloperation verpasst, aber seit Hannah in Amerika und sie für sich allein war, hatte sie ohnehin wenig Ambitionen zu kochen. Sie sah auf die Uhr, die in der Bäckerei an der Wand hing, und rechnete nach. In San Francisco war es jetzt fünf Uhr morgens.

Sie kaufte sich einen Kaffee und ein belegtes Brötchen, setzte sich damit nach draußen und beobachtete das Treiben in der Fußgängerzone, als sie im Augenwinkel eine vertraute Bewegung wahrnahm. Ging das etwa schon wieder los? Genervt schloss sie die Augen, zählte bis zehn und hoffte inständig, dass er verschwinden würde. Aber als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Erik immer noch neben sich sitzen. Trotz der Hitze trug er Jeans und seinen Lieblingspullover, den dunkelblauen mit dem Rautenmuster, mit dem er immer wie aus der Zeit gefallen gewirkt hatte. Luisa wusste inzwischen, dass sie nicht verrückt war. Ihr Puls beschleunigte sich zwar, wenn sie diese Visionen von ihm hatte, aber sie verfiel nicht mehr in panische Schnappatmung. »Betrachten Sie diese Begegnungen als Geschenk«, hatte Dr. Grießbach ihr geraten. »Bleiben Sie gelassen. Werten Sie nicht.« Angesichts des Briefs, den sie am Morgen gefunden hatte, fiel Luisa das heute allerdings verdammt schwer.

Sie hielt die Luft an und kniff die Augen fest zusammen. »Lass mich in Ruhe«, befahl sie ihm in Gedanken. Als sie langsam ausatmete und die Lider hob, hatte sich Eriks jenseitiges Echo in Luft aufgelöst. »Na also. Geht doch.« Schnell leerte sie den lauwarmen Kaffee, stand auf und knallte das Tablett in die Geschirrabgabe. Dann schloss sie ihr Fahrrad auf und schob es weiter bis zur Praxis, wo sie es mit fliegenden Fingern ankettete. Aufgewühlt, wie sie war, kam ihr der Termin bei der Psychotherapeutin ganz gelegen.

Gabriele Grießbach hatte sich auf Depressionen, Angststörungen und Trauerbegleitung spezialisiert.

Ich bin ich, aber ich bin nicht, wie ich war.

Ich werde nicht sein, wie ich war, aber ich werde sein.

Der Spruch an der Wand im Wartezimmer begrüßte Luisa, vertraut wie ein alter Bekannter.

Mittlerweile war sie froh, dass sie Rosies Drängen nachgegeben hatte. »Ihr Deutschen meint immer, dass ihr alles selbst hinbekommt. In den Staaten zum Beispiel ist es völlig normal, dass man sich Hilfe bei einem Psychotherapeuten sucht«, hatte sie gesagt und Luisa so lange genervt, bis diese sich schließlich widerwillig auf dieses Psycho-Ding eingelassen hatte.

Sie setzte sich auf einen der Plastikstühle in frischem Therapie-Grün, das mit der pastelligen Wandfarbe harmonierte. Sicher hatte Gabriele Grießbach bei der Farbgestaltung ihrer Praxis eine stimmungsaufhellende Wirkung im Sinn gehabt. Luisa überlegte, ob sie bei der Therapeutin auch Tipps zur Raumgestaltung einholen konnte, als auch schon die Tür des Behandlungszimmers geöffnet wurde.

»Bis in zwei Wochen«, verabschiedete die Ärztin den Patienten, der vor ihr dran gewesen war. Ein hochgewachsener, hemdsärmeliger Typ, dem die braunen Haare lockig in die Stirn fielen. Luisa stutzte. War das nicht der Wirt des Lindener Bistros »Chez Oliver«? Sein Blick blieb ebenfalls kurz an ihr haften, und sie meinte, auch in seinen Augen Erkennen wahrzunehmen. Er nickte ihr knapp zu, dann verschwand er eilig im Treppenhaus. War ihm die Begegnung mit ihr peinlich gewesen? Ehe Luisa weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie in den Therapieraum gebeten.

Sie nahm in einem der Korbstühle Platz, die um einen runden Tisch angeordnet waren. In dem lichtdurchfluteten Raum mit den weißen Wänden und dem honigbraunen Parkettboden gab es neben der Sitzgruppe ein locker gefülltes Bücherregal und einen Schreibtisch aus hellem Holz, auf dem ein Laptop stand. In einer Ecke sprudelte ein Keramik-Zimmerbrunnen. Ein dezenter Duft nach Vanille lag in der Luft.

Gabriele Grießbach schenkte ihr unaufgefordert von dem Kräutertee ein, den sie immer vorrätig hatte, und schob ihr die Tasse zu. Sie gab einem stets das Gefühl, als wäre man bei einer Freundin zu Besuch, der man alles erzählen konnte. Eine Freundin allerdings, die kein Blatt vor den Mund nahm, die nachbohrte und Fragen stellte, die bisweilen wehtun konnten.

Die Therapeutin setzte sich ihr gegenüber und lehnte sich entspannt zurück. Graue Strähnen durchzogen ihre Haare, die sie zu einem Dutt aufgesteckt hatte. Ihre hagere Gestalt steckte in Capri-Jeans und Bluse, an den Füßen trug sie makellos weiße Gesundheits-Clogs. »Wie geht es Ihnen heute?«, fragte sie mit dem breiten rheinländischen Einschlag, der Luisa sofort für sie eingenommen hatte.

»Bis heute Morgen ging’s mir noch ganz gut«, antwortete sie. »Aber dann wurden Eriks Möbel abgeholt. Ich bin das jetzt nämlich angegangen, das mit der Renovierung. Die nächsten sechs Wochen habe ich frei.«

»Prima.« Gabriele Grießbach hob ihr Klemmbrett und notierte sich etwas. »Wie geht es Ihnen damit?«

Luisa zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Es fühlt sich irgendwie an, als würde ich ihn verraten. Ich meine: Eriks Einrichtungsstil war so sehr mit seiner Persönlichkeit verbunden. Das alles wegzugeben …« Sie knetete ihre Hände. »Das fällt mir doch schwerer, als ich gedacht habe.«

»Dass es schmerzt, von Dingen Abschied zu nehmen, die Sie mit Erik verbinden, ist ganz normal.«

»Ich weiß. Und er hätte es ja auch so gewollt. Das hat er mir erst neulich …« Sie verstummte.

Die Grießbach beugte sich vor. »Hatten Sie wieder diese … Begegnungen?«

Luisa senkte den Kopf und nickte. Es fiel ihr immer noch schwer, über Eriks Erscheinungen zu sprechen. »Ich dachte eigentlich, das hätte aufgehört.«

»Durch den Verkauf der Möbel haben Sie sich verstärkt mit ihm beschäftigen müssen. Daher taucht er vermutlich wieder auf«, meinte Gabriele Grießbach.

Luisa verzog das Gesicht. »Aufgetaucht ist heute Morgen noch etwas ganz anderes. Das hier hatte er in seinem Schreibtisch für mich deponiert.« Sie holte Eriks Brief aus ihrer Umhängetasche, legte die Steckbriefe der fünf Kandidaten nebeneinander auf den Tisch und erklärte in knappen Worten, was es damit auf sich hatte.

Gabriele Grießbach musterte Luisa über den Rand ihrer Brille hinweg. »Und das ist nicht einfach nur Kokolores?«

»Er hat das definitiv ernst gemeint.«

Die Psychotherapeutin zielte mit dem Kugelschreiber auf sie. »Was, glauben Sie, hat Erik dazu bewogen? Was wollte er damit bezwecken?«

Luisa klopfte auf den Brief. »Er schreibt, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Er hat geglaubt, dass ich seinetwegen auf eine erfüllende Partnerschaft verzichtet habe. Aber das ist Blödsinn. Es kam bloß nicht der Richtige, das ist alles.«

Gabriele Grießbach wiegte den Kopf hin und her. »Sie mögen das so sehen, doch er kann es anders empfunden haben. Jedenfalls lag ihm Ihr Glück am Herzen, denn sonst hätte er sich nicht so ins Zeug gelegt.« Sie schien zu überlegen. »Diese Männer, sind die … äh … gebrieft worden?«

»Inwiefern?« Luisa verstand nicht.

»Na, ob die Bescheid wissen. Oder haben die alle keine Ahnung von diesem, äh …«, sie machte eine ausladende Geste über die Steckbriefe, »… Contest?«

Darüber hatte Luisa noch gar nicht nachgedacht. Vor ihrem geistigen Auge lief ein Film ab, in dem Erik jeden der Männer ähnlich wie beim Geheimdienst anwarb. »Sie meinen, wie diese Schläfer-Agenten? Codewort Luisa Loewe, und die mutieren augenblicklich zum Charmebolzen?« Sie schüttelte sich.

Die Mundwinkel der Therapeutin zuckten. »Kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.«

»Ich auch nicht. Wobei ich Erik gerade so ziemlich alles zutraue.« Luisa ballte die Hände zu Fäusten. »Es sieht ihm ähnlich, sich posthum in mein Liebesleben einzumischen!«

»Sie sind wütend. Was nur verständlich ist. Aber …«

»Wütend ist nicht das richtige Wort«, unterbrach Luisa sie. »Einerseits bin ich gerührt, dass er mir einen solchen Brief hinterlassen hat, sich Sorgen gemacht hat, was aus mir wird. Andererseits scheint er mir nicht zuzutrauen, dass ich es selbst auf die Reihe kriege, einen Mann zu finden. Und er maßt sich außerdem an zu wissen, wer zu mir passt. Ich meine, was fällt ihm ein!«

»Verstehe«, sagte Gabriele Grießbach. »Aber davon mal abgesehen: Wünschen Sie sich denn einen Partner?«

»Ja, irgendwie schon«, antwortete Luisa, ohne nachzudenken. Wo kam das denn auf einmal her?

Die Grießbach schob die Papiere wieder zusammen und gab sie Luisa zurück. »Sie haben die Wahl. Sie können Eriks Vorschläge zerreißen, wegschließen oder meinetwegen verbrennen. Oder Sie lassen sich darauf ein und finden heraus, wohin Sie das führt.«

Das Handy der Grießbach gab Alarm. Sie warf einen Blick darauf. »Unsere Sitzungszeit ist um.«

»Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?«, hakte Luisa noch rasch nach.

Nachdenklich sah die Psychotherapeutin sie an. »Wissen Sie, Luisa, ich habe Patienten, die sich noch Jahre später damit herumquälen, eine Chance nicht ergriffen zu haben.«

»Sie meinen also …«

»Jetzt mal von Frau zu Frau«, sagte Gabriele Grießbach ernst und räusperte sich. »Mein Mann hat sich von mir getrennt. Nach dreiundzwanzig Jahren. Es hat eine Weile gedauert, das zu verarbeiten und wieder bereit für eine neue Partnerschaft zu sein. Und nun stelle ich fest, dass ich komplett aus der Übung bin. Heutzutage benutzt man Dating-Apps, über die man nach sogenannten Matches sucht. Ich war auf Ü-40-Singletreffs, auf After-Work-Partys und habe Urlaub in Singlehotels gemacht.« Sie lachte trocken. »Das Ergebnis all dieser Bemühungen war mehr als jämmerlich. Aus dem Meer der alleinstehenden Männer da draußen einmal keine Niete zu fischen, ist quasi ein Lottogewinn! Glauben Sie mir, ich wäre froh, wenn jemand für mich eine Vorauswahl treffen würde. Und zwar kein Computer-Algorithmus, sondern ein Freund, der es gut mit mir meint.« Sie deutete auf die Steckbriefe in Luisas Hand. »Sehen Sie die als Chance. Verabreden Sie sich mit denen. Ganz zwanglos natürlich. Alles kann, nichts muss. Und wenn der Mann fürs Leben nicht dabei ist, dann haben Sie wenigstens Spaß gehabt.« Sie schrieb etwas auf einen Notizzettel und reichte ihn ihr mit einem Augenzwinkern.

»Rezept«, las Luisa. »Fünf Dates im Abstand von mindestens einer Woche.«

Gabriele Grießbach lächelte. »Grübeln Sie nicht. Stürzen Sie sich ins Leben.« Sie begleitete sie zur Tür. »Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Wie betäubt nahm Luisa den Aufzug nach unten und trat aus dem Haus. Auf der Lister Meile herrschte geschäftiges Treiben. Der Umschlag mit Eriks Brief brannte in ihrer Tasche. Und jetzt gesellte sich auch noch das spontan ausgestellte Rezept ihrer beziehungsfrustrierten Therapeutin dazu. »Sehen Sie es als Chance. Verabreden Sie sich mit denen. Ganz zwanglos natürlich«, äffte Luisa sie leise nach.

Die hatte Nerven. Luisa hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, sich mit fünf ihr vollkommen fremden Männern zu treffen, die nichts ahnend als Luisas potenzielle Beziehungskandidaten eingestuft worden waren. Außerdem war die Grießbach beileibe nicht die Einzige, die verabredungstechnisch komplett aus der Übung war.

Ihr erster Termin bei der Psychotherapeutin kam ihr in den Sinn. Damals hatte sie erwartet, dass sie am Ende der Sitzung mit einem Rezept nach Hause gehen würde. Dass Dr. Gabriele Grießbach ihr sogleich den ultimativen Masterplan in die Hand drückte, der ihr die Trauer um Erik erleichtern würde. Stattdessen hatte sie unzählige Fragen gestellt bekommen und viele endlose Gespräche geführt. Nach und nach war es ihr besser gegangen. Weil die Zeit den Schmerz dämpfte, und weil sie gelernt hatte, in Worte zu fassen, was sie bewegte. Nur hatte sie dabei stets das Gefühl, sich im Schneckentempo vorwärtszubewegen. Heute Eriks Wohnung leer zu räumen, um Platz zu schaffen, war ein großer Schritt in die richtige Richtung gewesen. Jetzt brauchte sie all ihre Kraft, um die Räume mit neuem Leben zu füllen – mit ihrem Leben. Das war kompliziert genug. Sie musste das Haus renovieren und neu einrichten. Dafür hatte sie sich sechs Wochen freigenommen; um sich um die praktischen Dinge zu kümmern, wie etwa die Versicherungen und die Steuererklärung. Da konnte sie nicht auch noch romantische Verwicklungen gebrauchen. Und erst recht keinen besten Freund, der sie aus dem Jenseits heraus verkuppeln wollte.

3

»Machen wir eigentlich Hausbesuche? Komm doch nachher mal in die Praxis.« Regines Nachricht war schon zwei Stunden alt. Luisa ahnte bereits, um wen es dabei ging. Sie trank eilig ihren Frühstückskaffee aus und lief nach unten.

Der Wartebereich war voll besetzt. Luisa grüßte kurz in die Runde und ging dann weiter zum Empfangstresen, wo Manuela saß und gerade einen Termin vergab. Die Tierarzthelferin pustete sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während sie gleichzeitig tippte. Manuela war der Motor der Praxis, diejenige, die stets den Überblick behielt. Luisa wartete, bis sie auflegte.

»Na, du kannst es wohl doch nicht lassen«, sagte Manuela statt einer Begrüßung und blickte Luisa streng an. »Ich meine mich zu erinnern, dass du Urlaub hast.«

Luisa hob beide Hände. »Ich bin nur hier, weil Regine mit mir sprechen will. Sie fragt, ob wir Hausbesuche machen. Geht es um die Katzen-Lady?«

»Kann sein. Regine war heute Morgen als Erste da.« Sie verzog das Gesicht. »Eine echte Frühaufsteherin.«

»Noch vor Sprechstundenbeginn ans Telefon, also das geht nun wirklich nicht«, scherzte Luisa.

»Neuerdings macht hier sowieso jeder, was er will«, entgegnete Manuela spitz. »Zum Beispiel am Ruhetag Dackel operieren.«

»Ich konnte Frau Drechsler ja schlecht wieder wegschicken.«

»Aber die Rechnung hättest du wenigstens noch schreiben können.«

Luisa grinste. »Das kannst du doch viel besser als ich. Wahrscheinlich hätte ich irgendetwas falsch eingegeben.«

»Auch wieder wahr. Ich habe sie auch schon fertig, geht heute raus.«

»Du bist ein Schatz!«, lobte Luisa. »Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde.«

»Haben wir noch eine Halskrause in Größe L?« Regine bog um die Ecke. Ihre ehemalige Praktikantin in dem roten Arztkittel zu sehen, war für Luisa immer noch ungewohnt. Regine wühlte in einer Schublade. Erst als sie sich mit dem Plastiktrichter in der Hand umdrehte und sich die dunklen Locken hinters Ohr strich, bemerkte sie Luisa. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Oh, gut, dass du da bist.« Sie schnitt ein Stück Mullbinde ab und fädelte es geschickt durch die Öffnungen der Halskrause. »Heute früh hat eine ältere Dame angerufen, die behauptet, Erik hätte bei ihr Hausbesuche gemacht. Es ging um eine Katze, die wohl eine eingewachsene Kralle hat. Wir haben sie in der Patientenkartei mit sage und schreibe sechs Tieren. Von Hausbesuchen steht da allerdings nichts. Ich habe ihr gesagt, dass sie das Tier vorbeibringen soll, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie meinte, der Herr Doktor sei immer bei ihr zu Hause vorbeigekommen und dass die anderen Katzen bei der Gelegenheit auch gleich geimpft werden könnten. Die Frau machte einen leicht verwirrten Eindruck auf mich.«

Luisa nickte. »Ich weiß schon. Gitte Feldmann, die Katzen-Lady. Die alte Dame kann aus irgendeinem Grund das Haus nicht verlassen. Deshalb die Hausbesuche.«

»Okay.« Regine verharrte unschlüssig. »Ich weiß, du hast Urlaub, und wenn das Wartezimmer nicht voll wäre, würde ich dich nicht darum bitten. Aber kannst du vielleicht …?«

»Kein Problem.« Luisa wandte sich an Manuela. »Suchst du mir die Adresse raus? Dann schaue ich da vorbei.«

»Erik war einfach zu gut für diese Welt«, murmelte Manuela, während sie im Stakkato tippte und mit schmalen Augen auf den Bildschirm starrte. Sie nahm den Hörer vom Praxistelefon und hielt ihn fragend hoch. »Soll ich einen Termin ausmachen?«

»Ja, bitte. Ich könnte im Grunde gleich losfahren.«

Eine Minute später legte Manuela auf. »Du kannst sofort hin«, verkündete sie knapp, kritzelte die Adresse auf einen Haftzettel und reichte ihn Luisa. »Hast du heute schon was gefrühstückt?«

»Ich hatte einen Kaffee«, antwortete Luisa, während sie die Adresse in ihr Handy eingab. »Wieso?«

»Weil du vor lauter Action gerne mal das Essen vergisst.« Manuela zog eine Schublade auf und schob ihr einen Müsliriegel über den Empfangstresen. »Damit du mir nicht unterzuckerst.«

Luisa verdrehte die Augen, steckte den Riegel aber ein. »Du bist wie eine Mutter zu mir.«

Gitte Feldmann wohnte in Döhren, in einer ruhigen, von Kastanien gesäumten Nebenstraße mit Kopfsteinpflaster. Die Häuser hinter den Backsteinmauern und Jägerzäunen versprühten den maroden Charme der fünfziger und sechziger Jahre. Luisa parkte La Toya am Straßenrand, nahm ihren Tierarztkoffer vom Beifahrersitz und stieg aus.

Die Katzen-Lady hatte immer darauf bestanden, dass ihre Lieblinge von Erik behandelt wurden. Deshalb war Luisa noch nie hier gewesen. Von den Wänden des Einfamilienhauses, in dem die Frau mit ihren sechs Katzen lebte, bröckelte der Putz. Mehr als die Hälfte der Fassade war mit Efeu bewachsen, was das Gebäude noch düsterer erscheinen ließ als ohnehin schon. Der Vorgarten war von Gestrüpp zugewuchert, und zwischen den teils moosbedecken Pflastersteinen auf dem Weg zur Haustür spross Unkraut. Im Näherkommen sah Luisa, wie sich die Gardine hinter einem der Fenster bewegte. Kaum hatte sie geklingelt, wurde die Tür aufgerissen.