Finn MacFool wird Finn MacCool - Gudrun Güth - E-Book

Finn MacFool wird Finn MacCool E-Book

Gudrun Güth

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Beschreibung

"Wenn du so weiter machst, Finn, bleibst du sitzen." Und Finn saß. Er saß von Freitag bis Samstag in seinem Klassenraum. Das Leben war schwer: Es ist schwer, wenn man für dumm, für Finn MacFool, gehalten wird. Wenn die Schulnoten grottenschlecht sind. Wenn man kolkrabenschwarz ist. Wenn der eigene Vater irgendwo, nur nicht bei seiner Familie ist. Wenn die Mutter einen neuen Freund und Gallensteine hat. Wenn Finn keinen Hund haben darf. Wenn Mehmet ihn Popelfresser nennt. Wenn sich Emily doch nicht in ihn verliebt. Aber dann wird plötzlich manches besser. Finn schreibt einen tollen Aufsatz und ein Gedicht. Er holt sich den Hund Bille aus dem Tierheim und wandert mit Bille am Kanal entlang, um seinen Vater in Sibirien zu suchen, kommt allerdings nicht ganz so weit. Dafür trifft er einen Tramp im Bauwagen und bekommt einen Brief von seinem Vater … aus Irland! Dahin reist Finn in den Sommerferien. Es gibt tatsächlich ein Wiedersehen und einige Abenteuer mit Siobhán, einer Art Schwester. Auch Finn verändert sich: Aus Finn MacFool wird Finn MacCool.

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Finn MacFool wird Finn MacCool

Gudrun Güth

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: papierfresserchen.de

© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2019.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Covergestaltung: Karel Studnar (Illustration) und Igor Divis (Grafik)

Herstellung: Cat creativ - cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-859-7 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-492-4 - E-Book

*

Inhalt

Sitzen bleiben

Schlado

Massenweise Rotbillen

Von Kopf bis Fuß

Auf nach Sibirien

Multiplikationsviertelstunden

Hotel Bauwagen

Teetrinken ohne Samowar

Emily

Deaid e

Galway Bay

Schi

Fishing

Pilgertour

Auf des toten Mannes Kiste

Schwesterntage

Abschied

Zu Hause

Anmerkung

Danksagung

Die Autorin

Unser Buchtipp

*

Sitzen bleiben

„Wenn du so weiter machst, Finn, bleibst du sitzen.“

Finn schreckte auf.

„Du hast dir das selbst zuzuschreiben. Ich werde das deinen Eltern per Brief mitteilen.“

Finn saß.

Und er saß noch, als seine Mitschüler schon längst die Klasse verlassen hatten. Es war Freitag.

Wieso sollte er sitzen bleiben? Alle anderen gingen nach Hause. Aber seine Mutter würde sowieso nicht auf ihn warten. Freitags arbeitete sie bis sieben. Wann wohl der Brief ankam? Wenn Frau Dörr ihn heute noch einwarf, würde es mindestens bis Montag, Dienstag dauern. Und was sollte er an sich selbst schreiben?

Lieber Finn ...

Er schaute sich im Klassenraum um. Die Sonne schien durch dreckige Scheiben. Er kniff die Augen zusammen. Die Tafel war auch dreckig. Vielleicht sollte er sie putzen. Aber er musste ja sitzen bleiben.

An der Wand hingen ihre Igelbilder. Er mochte seins. Frau Dörr gefiel es überhaupt nicht. Sie hatte seine Mutter zum Gespräch bestellt.

„Wieso?“, hatte Mama gesagt. „Diese dunklen, wirren Stacheln machen den Igel doch expressiv.“

Finn kannte das Wort nicht. Es klang gut. Ex war immer gut. Express, extrem, extra large, Excel. Auf allen anderen Bildern saß der Igel auf grüner Wiese. Bei ihm nicht. Die Straße war schwarz. Der Himmel war schwarz. So war das eben. Es gab schließlich Sommergewitter. Dann wurde der Himmel richtig dunkel. Bei Regen glänzte die Straße schwarz. Warum kapierte die Dörr das nicht?

Emily hatte ihr Etui auf dem Tisch vergessen. Finn griff sich das Mäppchen. Sie besaß einen blau-silbernen Füller. Er schraubte ihn auf.

Lieber Finn ...

Du must jezt bis mohntag hir sizen. Irgentwie stinklangweilich.

Er schrieb in seiner Sonntagsausgehschrift. Schließlich musste er seinen Brief auch lesen können.

Nuhr die Igel sint hir. Mein Igel leuft aus dem Bilt. Er komt zu mir auf den Schohs. Wenn er die Stacheln anlehcht streichel ich ihn. Er ist gantz weich. Er heist Igor.

Weil er aus Ruslant komt wo Papa jezt ahbaitet. Mein Ex-Papa.

Finn hatte Hunger. Sein Frühstücksbrot hatte er schon in der ersten Pause gegessen. Auch den Apfel. Freitags gab es genauso wie donnerstagmittags nichts. Höchstens eine Fünf-Minuten-Terrine oder was zum Aufwärmen.

„Aber das Wochenende gehört uns“, sagte Mama immer. Doch dann war sie meist müde und er war trotzdem allein.

Lieber Finn,

ich mus jezt schlus machen. Mir fellt nichts mer ein.

Dein Finn

Mit Emilys Buntstiften malte er den transsibirischen Express. Ex-Papa schaute aus dem Fenster. Er trug eine Fellmütze und sah gar nicht mehr böse aus.

Am besten blieb er brav sitzen, damit Ex-Papa nicht schimpfte. Wenn Ex-Papa schimpfte, flogen die Fetzen. Papa hatte schon einmal einen Teller geworfen. Vielleicht, weil Mama so schwarz war. Und Finn auch.

Finn legte die Arme und den Kopf auf den Tisch. Er schlief ein. Er angelte Omuls und Fettfische im Baikalsee, briet sie auf offenem Feuer. Er hatte Fellstiefel an. Igor saß neben ihm und grunzte. Ex-Papa preschte auf einem schwarzen Pferd vorbei, winkte ihm zu und verschwand dann in einer Staubwolke.

Finn reckte sich. Er hatte mehr als eine ganze Stunde geschlafen. Die Micky Maus-Uhr stand auf drei. Eins, zwei, drei, ich ess’ nicht gerne Brei. Vier, fünf, sechs, ich mache einen Klecks.

Er presste die Patrone leer. Der Tintenfleck sah wie ein Siegel aus. Jetzt brauchte er nur noch einen Umschlag und eine Briefmarke. Aber er könnte seinen Brief auch gleich liegen lassen. Er würde ihn später lesen und hätte die Marke gespart.

Finn holte seine Geldbörse aus der Hosentasche. Er hatte noch einen Euro und zwanzig Cent. Viel konnte man damit nicht anfangen. Der Schulkiosk war jetzt geschlossen. Er hörte die Putzfrauen rumoren.

„Wen haben wir denn da? Musst du etwa nachsitzen?“

Finn nickte und rückte mit seinem Stuhl etwas zur Seite. Die Putzfrau, die man so aber nicht nennen durfte, wischte um ihn herum. „Wahrscheinlich hast du dir das selbst zuzuschreiben“, sagte sie.

„Ja“, sagte Finn. Er hatte sich ja schon den Brief geschrieben.

„Na, dann sitz mal schön. Und vergiss nicht, die Tafel zu putzen.“

Die Putzfr... – auf einmal fiel ihm wieder ein, dass man vom Reinigungspersonal sprechen sollte – verließ lachend den Raum.

Mit dem Stuhl hoppelte er zum Waschbecken. Der dreckige Schwamm lag wie immer mittendrin. Er spülte den Schwamm fünfmal aus und hoppelte zur Tafel. Igor hoppelte mit. So schön blank war die Tafel sonst nie. Frau Dörr würde sich freuen. Was könnte er jetzt tun? Er machte zehn Rumpfbeugen und saß dabei im Schneidersitz. Sport war nicht sein Ding. Er hatte auf dem letzten Zeugnis nur eine Vier.

Er war nur in Englisch gut. Er konnte alle Lieder auswendig und schon bis hundert zählen.

Good afternoon, how are you? I’m fine.

Das stimmte zwar nicht, war aber astreines Englisch. Finn bewegte sich mit dem Stuhl zu seinem Platz zurück.

Dear Finn,

it is three thirty. I’m sitting in the classroom on my chair. My chair is brown. My table is brown, too. I’m all alone.

Yours Finn

Er kippelte. Das war strengstens verboten. Kevin war in der Musikstunde mit seinem Stuhl umgefallen. Er hatte sich ziemlich wehgetan. Finn kippelte weiter. Frau Dörr sah das ja nicht. Er trommelte einen schnellen Rhythmus auf den Tisch. Er spielte Tischklavier, blies die Posaune, griff in die Saiten seiner Luftgitarre. Was gab es noch für Instrumente? Er schlug die Triangel an. Ping. Er haute auf die Pauke. Das musste doch jemand hören. In ein paar Monaten hatte er Geburtstag. Er holte sein Deutschheft raus und schrieb einen Wunschzettel:

1. einen Hunt

2. Boxerhantschue

3. einen blausilbernen Füller

4. ein Smartfohn

5. eine Holtzkiste für Igor

6. eine reise zum Baikalsee oder das Papa zurükkomt

7. Gummibährchen

8. das ich jezt gen kann.

Wahrscheinlich kriegte er nur den Füller und die Gummibärchen. Mama würde nicht mit ihm zum Baikalsee wollen. Mama hatte einen neuen Freund. Der hieß Klaus. Klaus arbeitete in der Autowerkstatt am Markt. Er hatte Mamas Reifen gewechselt. Die Winterreifen lagerten für ein paar Monate im Regal. Finn mochte Klaus nicht. Klaus war ein Angeber. Blöd war, dass Mama sich einwickeln ließ. Von Blumen, einem Essen zu zweit, von Umarmungen.

Finn umarmte sich selbst. Er schniefte. Er hatte kein Taschentuch. Und nichts mehr zu essen. Am liebsten hätte er jetzt Pizza, aber sein Handy-Akku für das Pizza-Taxi war leer. Oder Rouladen mit Klößen. Oder Güneys Döner. Und hinterher Schokopudding. Was wohl Frau Dörr jetzt machte? Frau Dörr hielt ihn für dumm. Kohlrabenschwarzdumm.

Aber Franziska, Emily, Aranee, Nimet und Sophie-Marie, alles schlaue Mädchen. Die Jungs waren vielleicht dümmer. Und Finn, glaubte Frau Dörr, war der dümmste von allen, Finn MacFool eben. Deshalb musste er hier sitzen. Bis Montag.

Wenn er versuchte, schlauer zu werden, könnte er vielleicht früher gehen.

Mit seinem Stuhl bewegte er sich zur Leseecke. Er nahm den Duden aus dem Regal. Er schlug das Wort sitzen auf. S. Kasten stand da. Im blauen Kasten fand er den Satz:

Ich will jetzt hier sitzen bleiben.

Der Satz stimmte doch nicht.

Sie ist sitzen geblieben stand auch da. Sitzen geblieben in Gelb. Das sah schön aus. Finn nahm einen Stift aus der Stiftekiste und strich sie durch. Schließlich war er ein Junge.

Er ist sitzen geblieben verbesserte er. Ugs. für ist in der Schule nicht versetzt worden. Warum sollte Frau Dörr ihn versetzen? Er saß neben Mehmet und Nils. Dick, Doof & Doof.

„Dann fragen wir mal unser Trio Infernale“, sagte Frau Dörr oft und wartete ihre Antwort erst gar nicht ab. Dabei wusste Finn manchmal etwas. Aber Frau Dörr wollte nicht wissen, was.

Finn las weiter: Sitzfalte, Sitzfleisch, Sitzgruppe, sitzig. Finn stutzte. Dass der Duden Fehler machte, hatte er nicht gewusst. Er unterstrich das letzte Wort rot. So machte Frau Dörr das auch. Finn war sich sicher. Ich schrieb man mit ch und nicht mit ig. Also war Herr Duden auch dumm. Wahrscheinlich war Mr. Duden auch sitzen geblieben. Plötzlich mochte Finn ihn. Er las weiter: Sitzriese, Sitzstreik, Sixpack. Ex-Papa trank Pils. Finn mochte Kakao und Blutorangenfanta.

Was war bloß ein Sitzriese? Finn riss ein Blatt vom Flipchartpapier. Er zeichnete sich riesengroß auf klitzekleinem Stuhl. Oben rechts notierte Finn ordnungsgemäß das Datum. Links musste die Überschrift stehen. Der Sitzriese Finn ist sitzen geblieben und ist bis Mohntag im Sitzstreik. Er hängte das Sitzriesenplakat neben der Tafel auf. Da würden es alle sehen.

Was sollte er jetzt tun? Im Regal fand er eine alte Banane. Besser als nichts.

Für Deutsch hatte er genug gearbeitet. Für Englisch und Kunst auch. Ein kleines bisschen für Sport und Musik. Rechnen wollte er nicht. Er hasste Zahlen. Ex-Papa und Mama stritten sich wegen Zahlen. „Und wovon soll ich das bezahlen?“, fragte Mama.

In Erdkunde war Finn auch nicht gut. Er verreiste nicht gern. Nur zum Baikalsee. Er holte den Atlas aus dem Regal. Irgendwo musste der Baikalsee da doch sein. Es gab viele Seen. Manche waren auch Meere. Er schlug Seite um Seite um. Kein Baikalsee.

Irgendwann fand er seinen Heimatort. Hier war es auch schön, wenn man nicht gerade sitzen bleiben musste. Hier gab es das Solbad, den West- und den Osthafen, die Kirmes. Letztes Jahr hatte er den Hauptgewinn mit seinem Los gewonnen. Einen Plüschaffen. Weil es an dem Tag geregnet hatte, waren die roten Orang-Utan-Lippen ausgelaufen, aber das machte nichts. Der Affe sah komisch aus und saß auf seinem Bett. Auch so ein Sitzriese.

Finn gähnte. Es war schon längst Schlafenszeit. Er setzte sich auf den Teppich in der Leseecke. Er fuhr mit den Händen über den Teppich. Hin und her, her und hin.

Plötzlich stand Harry Potter am Fenster. Auf seiner Schulter saß Hedwig. Die weiße Eule flog ins Klassenzimmer und brachte Finn einen Becher Kakao, ein belegtes Brötchen und eine warme Decke. Gerade wollte Finn sich bedanken und noch ein paar Fragen stellen, da waren Harry Potter und Hedwig schon wieder verschwunden. Finn gähnte noch einmal und schlief ein. In der Ferne hörte er eine Polizeisirene. Er hatte sich die Zähne nicht geputzt. Heute Abend blieb er mal ungewaschen.

Finn wurde durch die Vögel geweckt. „Sitzen bleiben“, zwitscherte einer. Finn setzte sich aufrecht hin, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sein Magen knurrte. Der Sitzriese hing noch an der Wand. Igor schlief tief und fest. Sonst war niemand da. Heute war Samstag. Noch so lange bis Montag.

Finn robbte auf dem Hosenboden zum Waschbecken. Er zog sich Nimets Stuhl heran. Er klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er pinkelte in die leere Kreidedose. Sein Magen knurrte. Draußen vorm Fenster knurrte es auch. Ein Schäferhund bellte. Dann schaute ein Gesicht durch die Scheiben.

„Da ist er. Wir haben ihn“, rief das Gesicht. Der Schäferhund winselte. Dann tauchte Mamas Gesicht auf. Und eine Polizistin.

Das andere Gesicht entpuppte sich als Harry Weimer. Mama hatte den Hausmeister so lange zugequasselt, bis er sich bereit erklärte, mit seinem Hund Buddy die Schule nach Finn abzusuchen.

„Ich wusste, du musstest hier irgendwo sein.“ Mama umarmte Finn.

Finn trat gegen den Stuhl. Mama las seinen Brief, seinen Wunschzettel, schaute sich den Sitzriesen an. Dann umarmte sie ihn wieder. Sie konnte gar nicht genug kriegen.

„Ich musste sitzen bleiben“, sagte Finn.

„Und jetzt lass’ uns gehen. Die Polizei sucht dich schon überall.“

„Und Frau Dörr?“

„Frau Dörr kann mich mal.“

„Mama, das sagt man nicht. Das will ich nicht gehört haben.“

„Du bist ja ein ganz Schlauer“, sagte Harry Weimer.

Endlich einer, der es kapierte.

*

Schlado

Finn hatte keine Lust, aufzustehen, dabei hatte sein Wecker schon vor zehn Minuten geklingelt. Finn hatte auch keinen Bock, sich zu waschen. Sein Gesicht blieb ohnehin schwarz, so viel er auch rieb und schrubbte. Finn war nicht ganz so schwarz wie seine Mutter, die aus Ghana kam. In Ghana waren alle tiefschwarz.

„Kleiner Kolkrabe“, hatte Papa gesagt, wenn er gut gelaunt war. Er war selten gut gelaunt gewesen. Zum Schluss war seine Laune so schlecht, dass er nach Sibirien auswanderte. Sibirien war schön weiß, überall glitzerte es, und Papa, der auch schöne weiße Haut hatte, konnte die schwarze Farbe endgültig vergessen. Selbst die Fische leuchteten, bevor sie anbissen.

Zuerst, nachdem Papa weg war, hatte Finn sich jeden Morgen ordentlich gewaschen, die Zähne fünf Minuten mit der elektrischen Zahnbürste geputzt, die schwarzen Locken gebürstet, damit sie nicht mehr in alle Richtungen abstanden, aber Papa war nicht zurückgekommen.

„Iss dein Müsli und beeile dich. Vergiss die Hausaufgaben nicht. Ich bin gleich weg.“

Noch so eine, die weg war, auch wenn Mama nicht nach Ghana zurückging.

„Ich will kein Müsli“, sagte Finn seinem Spiegel-Finn. „Ich beeile mich nicht. Ich habe meine Hausaufgaben nicht. Für Frau Dörr bin ich auch mit Hausaufgaben blöd. Sie findet immer tausend Fehler.“ Finn streckte sich selbst die Zunge raus und rollte mit den Augen.

Mama riss die Badezimmertür auf. Sie hatte schon ihren Mantel an, um zur Arbeit in die Physiotherapiepraxis zu gehen. „Bist du immer noch nicht fertig, Finn? Ich bin weg. Essen für die Mikrowelle steht im Kühlschrank. Du weißt, ich habe heute Schlado.“

Scheiß-langer-Donnerstag. Finn wusste, wovon seine Mutter sprach. Am Schlado arbeitete sie manchmal bis neun. Finn hatte zwei lange Stunden bei der Dörr, eine Stunde Scheiß-Sport – sie sollten neue Tanzschritte in der Gruppe ausprobieren – , dann zwei Stunden Kunst und nur eine einzige Englischstunde bei Mr. McLeash. High five.

Finn kam zu spät zum Unterricht, ungewaschen, ungekämmt und ohne Hausaufgaben.

„Du stinkst“, sagte Emily, als er an ihr vorbeiging.

„Popelfresser“, sagte Mehmet und rückte von ihm weg. Popelfresser wurde seit Neuestem jeder genannt, der negativ auffiel. Und Finn fiel fast immer auf. Seitdem er das Wochenende als Sitzenbleiber in der Schule verbracht hatte, war er selbst bei Mehmet unten durch. Aber dass ausgerechnet Mehmet ihn am Schlado im Stich ließ! Nils war nicht da.

„Und?“, fragte Frau Dörr. „Was hast du diesmal für eine Entschuldigung?“

„Keine“, sagte Finn. „Oder ist das eine Entschuldigung, dass man überhaupt keine Lust hat?“

Frau Dörr trug ihn direkt ins Klassenbuch ein. Von da an ignorierte sie ihn. Mehmet kam dafür zweimal dran. Frau Dörr schimpfte nicht, obwohl er beide Male falsche Antworten gab. Sie setzte sich sogar zu ihm auf Nils’ Platz. Dass Finn nicht aufpasste, störte sie heute nicht. Sie nahm ihm noch nicht einmal den Zettel weg, auf den er seinen Wunschhund zeichnete. Der Hund knurrte und biss in Frau Dörrs Oberschenkel. Das Blut tropfte auf den Boden und ... Es schellte.

Finn machte seinem Hund ein Zeichen. Der verstand sofort und lief hinter Finn her auf den Pausenhof. Auf der Kinderseite der Tageszeitung hatte Finn neulich einen Artikel über einen Hundeflüsterer gelesen. „Der Hund ist der beste Freund des Menschen“, sagte der Hundeflüsterer – und einen besten Freund brauchte Finn jetzt. Was genau der Mann den Hunden ins Ohr flüsterte, stand allerdings nicht in der Zeitung.

„What’s up?“ Mr. McLeash stieß Finn an. „In a bad mood, laddie?“

Dann musste er zwei Kampfhähne auseinanderbringen. Mr. McLeash hatte Hofaufsicht. Finns Hund war wie vom Erdboden verschwunden.

In der Umkleide sprach Finn mit Mehmet kein Wort. Von wegen Popelfresser. Als Frau Klimt die Musik einschaltete und sie sich von jedem die Überlegungen zu neuen Tanzschritten einholte, tanzte Finn los, obwohl er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hatte. Er tanzte und tanzte, wedelte mit den Armen, steppte mit den Füßen, stampfte auf und wollte überhaupt nicht mehr aufhören. Die anderen standen mit offenem Mund da.

„Ja, genau so“, sagte Frau Klimt. „Und jetzt noch einmal in Zeitlupe für alle.“

Finn drehte sich um und setzte sich auf die Bank. „Ich habe meine Turnschuhe nicht dabei.“

„Das ist jetzt das dritte Mal.“ Frau Klimt zog die Augenbrauen hoch.

Der Schlado war eindeutig nicht Finns Tag.

„Was hast du denn?“, fragte Mehmet in Kunst.

„Selber Popelfresser“, sagte Finn und malte weiter.

„Vocab day. Wer will was heute wissen?“ Gut gelaunt holte Mr. McLeash die Flüssigkreide aus seiner Aktentasche. Wie immer fiel die Tasche plötzlich um, ohne dass einer an sie gestoßen wäre.

Finn glaubte, dass Mr. McLeash so ähnlich wie Braveheart aus dem schottischen Hochland außergewöhnliche Kräfte besaß. Er konnte mit bloßer Geisteskraft Dinge bewegen. So wollte Finn auch sein.

Er dachte an Papa und schwupps ließ dieser die Angel fallen und kam aus Sibirien zurück. Er stand schon in der Küche und briet Omuls, diese leckeren sibirischen Fische. Finn dachte an Klaus und schwupps verschwand Klaus für immer. Er stellte sich Mama vor, wie sie den nächsten Patienten zur Fangopackung aufrief. Schwupps lagen Papa und Mama sich in den Armen. Die Omuls verbrannten zwar in der Pfanne, aber Finn war das völlig egal. Er dachte an seinen Hund und schwupps spürte er die feuchte Schnauze an seiner Hand.

„What are you dreaming about, Finn?“ Mr. McLeash lächelte ihn an. „Which word do you need?“

„Hundeleine“, sagte Finn.

„Like me“, sagte Mr. McLeash. „Ich heiße Herr Hundeleine.“

Die Klasse lachte.

„Und was heißt Popel?“

„Popel? What’s that?“

„Mehmet can explain it to you.“ Rache war süß.

Mehmet stotterte herum. Mr. McLeash verstand kein Wort. Schließlich sprang Nimet ein. Nimet konnte immer alles erklären. Sie war das erklärte Erklärass der Klasse.

„I see“, sagte Mr. McLeash. „Snot! Bogey!“

Am Ende der Stunde holte Mehmet den Besen, dabei hatte Finn Ordnungsdienst. „Komm, ich mache das für dich. Ich habe das mit dem Popelfresser nicht so gemeint.“

Plötzlich ein kleiner Lichtblick am Schlado.

In der Küche standen weder Mama noch Papa. Kein Fisch brutzelte in der Pfanne. Dafür saß Klaus mit einer Tasse Kaffee am Tisch. Der machte sich immer breiter hier.

„Hier, du kannst ein Stück Thunfischpizza haben. Ist fast noch warm.“