Finsterhaus - Johanna Mo - E-Book
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Finsterhaus E-Book

Johanna Mo

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Beschreibung

Eine Insel sucht einen Mörder und ein entführtes Kind

Hanna Duncker ist noch völlig vertieft in die Ermittlungsakte ihres Vaters, als sie der verzweifelte Anruf von Jenny Ahlström erreicht: Jennys Mann und ihr vierzehn Monate alter Sohn sind spurlos verschwunden. Ganz Öland beteiligt sich an einer groß angelegten Suchaktion, während Hanna und ihr Kollege Erik Lindgren nach einem Motiv im Leben des vermissten Vaters fahnden. Eine Spur führt schließlich in ein leer stehendes Haus. Liegt hier der Schlüssel zum Fall? Für Hanna beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Und es gibt noch ein Rätsel, das sie lösen muss: Warum versucht jemand mit aller Macht zu verhindern, dass sie endlich die Wahrheit über ihren eigenen Vater herausfindet?

Die »Hanna Duncker«-Reihe:

Band 1: Nachttod

Band 2: Finsterhaus

Band 3: Dunkelwald

Band 4: Nebelstunde

Band 5: Dämmersee

Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 497

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DASBUCH

Die Heimkehr nach Öland hat Polizistin Hanna Duncker auf schmerzhafte Weise wieder mit dem Verbrechen konfrontiert, wegen dem sie einst von hier floh. Ihr Vater soll vor sechzehn Jahren eine Frau getötet haben. Daran zweifelt Hanna jedoch inzwischen, denn sie hat eine neue Spur. Doch dann erreicht die Zentrale eine Vermisstenmeldung, die die ganze Insel in Alarmbereitschaft versetzt: Thomas Ahlström und sein kleiner Sohn Hugo sind verschwunden. Nichts deutet auf eine Flucht hin. Erst vor Kurzem ist Thomas’ erwachsene Tochter auf die Insel gezogen. Hat sie ihm etwas angetan, weil er sich nie um sie gekümmert hat? Oder gab es Streit mit seinem Arbeitgeber, einem Maklerbüro? Dann macht eine Kollegin von Thomas einen grausigen Fund, und Hanna und Erik begreifen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Ein Leben können sie noch retten, aber die Uhr tickt.

DIEAUTORIN

Johanna Mo wuchs in Kalmar, im Süden Schwedens, auf und lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Neben dem Schreiben arbeitet sie seit zwanzig Jahren als Redakteurin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Als Teenager musste Johanna Mo erleben, was es heißt, jemanden zu kennen, der zum Mörder wurde. Diese Erfahrung hat sie nie wieder losgelassen und zu der Geschichte von Hanna Duncker inspiriert. »Nachttod«, der Auftakt der Reihe, machte Johanna Mo über Nacht berühmt. Die Bücher erscheinen in achtzehn Ländern.

JOHANNA

MO

FINSTERHAUS

KRIMINALROMAN

AUS DEM SCHWEDISCHEN

VON ULRIKE BRAUNS

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Skuggliljan erschien erstmals 2021 bei Romanus & Selling, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 03/2022

Copyright © 2021 by Johanna Mo

Published in Agreement with Ahlander Agency

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sibylle Klöcker

Covergestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von © mauritius images/

KEEPILCHO/Alamy, www.buerosued.de

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27690-4V002

www.heyne.de

Der letzte Tag

Bevor er das Grundstück betritt, schaut er sich um. Ein Stück weiter die Straße hinauf wird eine Haustür geöffnet, also bleibt er stehen. Im lauen Spätsommerabend hallt noch ein fröhliches Lachen nach. Die hohen Hecken versperren die Sicht, aber durch eine Lücke sieht er eine Frau mit langen dunklen Haaren in einem geblümten Sommerkleid. Sie wirft eine zugeknotete Tüte in die Mülltonne. Der grüne Deckel schlägt zu, und sein Herzschlag beschleunigt sich, als sie sich umdreht, um zurückzugehen. Kurz glaubt er, sie hat ihn entdeckt, weil sie innehält und genau in seine Richtung schaut. Dann schüttelt sie den Kopf und verschwindet hinter der Hecke.

Erst als die Frau wieder im Haus ist, wagt er es, sich zu bewegen. Nach ein paar wenigen leisen Schritten steht er vor der Tür. Der Schlüssel hakelt, und sofort glaubt er, sie habe ihm bewusst den falschen mitgegeben. Ihm wird schlecht. Wie sehr er sich dafür hasst, dass er sich in diese Scheiße hat reinziehen lassen, nur weil er nicht Nein sagen kann. Weil er nett sein will.

So kann das nicht weitergehen. Er muss damit aufhören, Hugo zuliebe.

Endlich bekommt er das Schloss auf, kann die Tür öffnen. Er tastet nach dem Lichtschalter. Die Glühbirne im Flur geht an, flackert, geht wieder aus.

Verdammt.

Die Zeit sitzt ihm im Nacken, aber das hier sollte nicht länger als eine Viertelstunde dauern. Dann kann er das Haus verlassen, zu seinem Wagen zurückkehren und nach Hause fahren.

Ohne die Schuhe auszuziehen, geht er am Kamin vorbei in die Küche, drückt dort auf den Lichtschalter. Aber in der Küche gibt es offenbar nicht mal eine Lampe. Er wirft einen Blick auf die Uhr – 18.57 – und weiß nicht, was er mit der Zeit anfangen soll. Mit einem Seufzer setzt er sich auf den Boden und umklammert seine Beine. Vielleicht sollte er doch einfach sofort abhauen. Aber das traut er sich nicht.

Schon ein paar Minuten später öffnet sich die Haustür, und er steht so schnell auf, dass ihm schwindelig wird. Er muss sich an der Wand abstützen, dann geht er schwankend in den Flur.

»Wir müssen uns beeilen«, sagt er. »Ich muss weg.«

Verwundert bleibt er stehen und starrt den Menschen an, der vor ihm steht.

»Was machst du denn hier?«

Die Verwunderung weicht Panik, denn sein Hirn kann die vielen Informationen, die auf ihn einströmen, nicht verarbeiten. Die Wut auf dem Gesicht vor ihm. Die Entschlossenheit. Warum? Aus Angst schlägt ihm das Herz bis zum Hals, sein Gesichtsfeld schrumpft. Er hat nur einen einzigen glasklaren Gedanken: Bitte, hilf mir doch jemand.

SONNTAG, 18. AUGUST

1

Hanna Duncker setzte sich so, dass sie den Eingang im Blick hatte. Bei der Bedienung bestellte sie erst mal nur ein Glas Wasser, um die Zeit bis zum Eintreffen ihrer Verabredung zu überbrücken.

Genau wie ihr Vater Lars hatte dessen Freund Gunnar ein Alkoholproblem gehabt, auch wenn Letzterer eher zur Kategorie Quartalssäufer gehört hatte, und Hanna hatte keine Ahnung, wie es um seine Sucht gerade bestellt war. Anfangs war Gunnar nicht sicher gewesen, ob er sie wirklich treffen wollte. Zuletzt hatten sie sich bei Lars’ Beerdigung vergangenen Herbst gesehen, und da hatte sie es nicht über sich gebracht, richtig mit ihm zu sprechen. Sie hatte ihm angeboten, ihr Elternhaus zu kaufen. Schließlich hatte Gunnar in all den Jahren, die ihr Vater im Gefängnis gesessen hatte, dort gewohnt, er hatte es aber nicht haben wollen. Die beiden waren Freunde gewesen, seit Hanna denken konnte, kennengelernt hatten sie sich bei der Arbeit in Kalmar.

Drei Trauergäste, mehr waren nicht gekommen. Hanna, Gunnar und die Frau, die er mitgebracht hatte. Letztere war nur zur Unterstützung dabei gewesen. Weder Lars’ Eltern noch sein Sohn Kristoffer waren erschienen. Ihre Großeltern, zu denen sie keinen Kontakt hatte, wohnten mittlerweile in Norwegen und ihr Bruder Kristoffer in London.

Die Tür zum Ernestos ging auf, aber nicht Gunnar kam herein, sondern ein junges Paar. Die Frau drehte sich zu dem Mann und lachte so schrill, wie nur Frischverliebte es taten. Dabei fiel ihr das lockige rote Haar ins Gesicht, das sie schnell wieder zurückstrich. Hanna schluckte. Erst gestern hatte ihr Ex-Freund Fabian ein Ultraschallbild bei Facebook geteilt. Er und seine Partnerin erwarteten ein Kind. Die Erzieherin, mit der er, wenige Wochen nachdem er sich von Hanna getrennt hatte, zusammengekommen war. Mehrere Minuten lang hatte sie auf das Bild gestarrt, sich nicht losreißen können.

Das junge Paar hatte einen Tisch bestellt. Sie feierten ihr Einjähriges – und Hanna hatte geglaubt, sie hätten sich gerade erst kennengelernt. Sie schaute ihnen nach, bis sie im Obergeschoss verschwunden waren.

Wieder öffnete sich die Tür, aber auch diesmal war es nicht Gunnar, sondern ein Mann um die sechzig. Sein linker Arm hing schlaff herunter, das linke Bein war steif. Das sah nach Schlaganfall aus. Er ging zu einem Mann in seinem Alter, und dann folgte eine lange Umarmung.

Was, wenn Gunnar es sich anders überlegt hatte?

Hanna hatte sich den gesamten Sommer über mit dem Raubmord an Ester Jensen beschäftigt. Dem Mord, wegen dem ihr Vater 2003 verurteilt worden war. Wobei … eigentlich hatte sie nur eine Woche gebraucht, um die Ermittlungsunterlagen zu lesen, und den Rest der Zeit, um zu verdauen, was sie da erfahren hatte. Man hatte Lars’ DNA in Esters Haus gefunden. Außerdem waren seine Fingerabdrücke auf dem Benzinkanister gewesen, der vor dem brennenden Haus gelegen hatte.

Solche Spuren ließen sich nicht ignorieren. Wie hatte sie nur annehmen können, dass er unschuldig war?

Weil Hanna erst im Mai bei der Polizei in Kalmar angefangen hatte, war ihr Urlaub mangels Anspruch entsprechend kurz ausgefallen. Und das Brüten über die Taten ihres Vaters hatte den überwiegenden Teil davon vermiest. Um sich zu beschäftigen und die quälende Unruhe in Schach zu halten, hatte sie angefangen, ihr kleines Haus in Kleva zu renovieren. Hatte im Wohnzimmer tapeziert. Die Decke und die Fußbodenleisten weiß gestrichen. Eine Wand oben im Schlafzimmer hatte sie hellgrün tapeziert. Die Blümchentapete in der Küche hatte sie jedoch nicht anrühren wollen. Jetzt sah das Haus schon weniger verwohnt aus, aber das kleine Bad und die Duschkabine mussten unbedingt noch erneuert werden.

Hanna checkte die Uhr auf ihrem Handy. Gunnar war zehn Minuten zu spät. Ihre Sandkastenfreundin Rebecka hatte ihr ein Foto geschickt. Sie war mit ihrer Familie im Last-Minute-Urlaub auf den Kanaren. Im Frühjahr war Rebeckas Sohn Joel tot am Möckelmossen aufgefunden worden – Hannas erster Fall seit ihrer Rückkehr nach Öland. Sie und Rebecka waren zusammen aufgewachsen, und es war eigenartig gewesen, die Freundin nach so vielen Jahren wiederzusehen, besonders unter den gegebenen Umständen.

Hanna tippte auf das Bild, das Molly lachend am Strand zeigte, eine Eiswaffel in der Hand. Das weiße Softeis war an der Seite heruntergelaufen. Joels kleine Schwester schien seinen Verlust besser verkraftet zu haben als seine Mutter. Rebecka hatte Hanna mehrfach angerufen und bitterlich geweint.

Ich kann nicht mehr.

Aber irgendwie war es doch gegangen. Der Urlaub sollte nicht nur ein Tapetenwechsel sein, sondern auch der Versuch, ihre Ehe mit Petri zu retten.

Eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit war es endlich Gunnar, der die Tür öffnete. Er trug Jeans und ein rostbraunes T-Shirt und wirkte wesentlich agiler als bei der Beerdigung vor zehn Monaten. Ausgeruht und sonnengebräunt. Das grau gesprenkelte Haar war kurz geschnitten. Gunnar war ein paar Jahre jünger als Lars, sollte also noch unter sechzig sein. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Entschuldige die Verspätung«, sagte er.

»Kein Problem. Ich freu mich, dass du gekommen bist.«

Die Bedienung eilte herbei und nahm ihre Bestellung auf. Gunnar wollte Cola zu seiner Pizza, deshalb wählte Hanna auch eine, obwohl ihr eher nach einem Glas Rotwein gewesen wäre.

»Schicke Frisur«, sagte Gunnar.

»Danke.«

Bei der Beerdigung hatte Hanna noch halblange Haare gehabt, danach war sie zur Kurzhaarfrisur übergegangen. Vorn waren sie am längsten, der schräge Pony reichte ihr bis zum Wangenknochen. Vor ein paar Monaten war sie deshalb einmal Brienne of Tarth genannt worden. Damals hatte Hanna nicht gewusst, wer das war. Klar, es gab Ähnlichkeiten: Größe, Haarfarbe und Frisur, aber Hanna war nicht ganz so breit. Game of Thrones hatte sie seither trotzdem nicht angeschaut.

»Wie ich gesehen habe, arbeitest du jetzt für die Polizei in Kalmar«, fuhr Gunnar fort.

Hanna nickte. Sein Ton war nicht anklagend gewesen, nur neugierig, trotzdem wollte sie nicht über ihre Arbeit sprechen.

»Ich habe die Ermittlungsakten gelesen«, sagte sie.

»Soso«, machte Gunnar und schaute sie an. Mehr kam nicht, außer dass sich eine leichte Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete.

Eine Falte, die zeigte, dass er wusste, welche Ermittlungsakte sie meinte.

»Hast du je mit Lars über das gesprochen, was mit Ester passiert ist?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Gunnar. »Ich habe es versucht. Aber er wollte nicht.«

Hanna spülte ihre Enttäuschung mit einem Schluck Cola hinunter. Jetzt bereute sie, nicht doch einen Wein genommen zu haben.

»Was machst du so, heutzutage?«, fragte sie.

Damit hätte sie mal besser angefangen, mit Small Talk. Wie ein normaler Mensch, der sich für andere interessierte.

»Ich wohne in Norrliden, in einer Wohnung«, sagte Gunnar. »Ich musste weg von Öland.«

Sie selbst war damals nach Stockholm gezogen, aber nach sechzehn Jahren zurückgekehrt. Hanna schätzte, auch Gunnar hatte genug unter dem Gerede zu leiden gehabt. In gewisser Weise war es vielleicht sogar noch schlimmer für ihn gewesen, schließlich war er so lange auf Öland geblieben, hatte noch dazu in Lars’ Haus gewohnt. Mörderhaus war es genannt worden. Sie hatte seine neue Adresse nicht finden können, nur eine Telefonnummer.

»Arbeitest du?«

»Ja, in einem Altenheim. Und Leticia und ich haben uns einen Russkiy Toy geholt.«

»Was ist das?«

»Ein kleiner Hund.«

»Wäre das übersetzt nicht so was wie: russisches Spielzeug?«

»Genau.« Gunnar grinste.

Die Bedienung kam und brachte ihre Pizzen. Dann aßen sie erst mal schweigend. Gunnar mit deutlich mehr Appetit als sie.

»Leticia, war das die Frau, die dich zur Beerdigung begleitet hat?«, fragte Hanna, um das Gespräch wieder aufzunehmen.

Gunnar hatte sie ihr vorgestellt, sie hatte den Namen aber sofort wieder vergessen.

»Ja.«

»Freundin, Job und Hund. Nicht schlecht.«

Gunnar lächelte, und Hanna merkte überrascht, wie weh das tat. Wieso hatte ihr Vater denn sein Leben nicht in den Griff bekommen können? Mit dem Trinken aufhören und sich einen neuen Job und eine neue Frau suchen? Dann würde Ester heute noch leben. Da traf sie eine weitere Erkenntnis: Papas Tod musste eine Befreiung für Gunnar gewesen sein, selbst wenn er das nie so ausdrücken würde. Er war der Einzige gewesen, der Lars beigestanden und wirklich versucht hatte, ihm zu helfen.

Gunnar wurde schnell wieder ernst.

»Es tut mir leid, dass ich gezögert habe, als du angerufen und gefragt hast, ob wir uns treffen können, aber ich …«

Gunnars Blick wanderte nervös umher. Schlussendlich kam er ein Stück links von Hannas Kopf wieder zur Ruhe.

»Ich habe mein Leben im Griff und wollte da nicht wieder reingezogen werden.«

Der Satz hätte genauso gut von ihrem Bruder kommen können. Sie hatten seit dem Telefonat im Mai nicht mehr miteinander gesprochen, als Hanna ihn nach dem Treffen mit Kristoffers altem Schulfreund Axel Sandsten im Zuge der Ermittlungen um Joels Tod angerufen hatte. Axel war Joels Vater, und eine Zeit lang hatte er zu den Verdächtigen gehört. Vor ein paar Wochen hatte sie ihrem Bruder eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aber zurückgemeldet hatte er sich nicht. Sie hatte mit ihm über die Ermittlungen sprechen wollen, denn bisher hatte sie nur mit ihrer Nachbarin Ingrid darüber reden können.

»Bist du mit jemandem zusammen?«, fragte Gunnar.

»Nein«, sagte Hanna.

»Nicht, dass man das sein müsste«, fügte er schnell hinzu, als er ihre Reaktion sah.

Hanna schnitt ein Stück Pizza ab, ließ es aber auf dem Teller liegen.

»In Stockholm hatte ich eine Beziehung«, sagte sie. »Aber das hat nicht funktioniert.«

»Manchmal ist das halt so. Leticia und ich sind jetzt fast vier Jahre zusammen.«

»Schön.«

»Aber wir haben natürlich auch unsere Probleme.«

Hanna hatte den Eindruck, das sagte er nur ihretwegen. Dass sie eigentlich waren wie das Paar, das oben gerade seinen Jahrestag feierte. So hatten die beiden jedenfalls bei der Beerdigung gewirkt.

»Lars wäre stolz auf dich.«

Jetzt suchte Gunnar Blickkontakt, doch Hanna schnitt weiter Pizza. Alles, was mit ihrem Vater zu tun hatte, war ein einziger Konflikt. Schließlich war es nicht gerade erstrebenswert, dass ein Mörder stolz auf dich war. Gleichzeitig war Lars bis zu Hannas zwölftem Geburtstag ein fantastischer Vater gewesen. Erst nach dem Tod ihrer Mutter war ihm alles entglitten.

»Irgendwas muss er doch gesagt haben.« Es war eher eine Frage. Jetzt schaute Hanna ihn an.

»Über das, was passiert ist?«

Hanna nickte.

»Bitte«, sagte sie, als sie sein Zögern bemerkte. »Ich weiß, dass Papa das Haus angezündet hat. Und mit höchster Wahrscheinlichkeit hat er vorher Ester erschlagen. Ich will es nur verstehen. Was war denn der Grund? Diese unfassbare Gewalt …«

Hanna konnte nicht weitersprechen. Das Feuer hatte die meisten Spuren vernichtet, trotzdem hatte man bei Ester um die zwanzig Knochenbrüche feststellen können. Gunnar steckte das letzte Stück Pizza in den Mund und kaute langsam.

»Einmal im Suff hat er gesagt, er hätte nicht …«

Gunnar verstummte und schaute zum Fenster hinaus. Eine Gruppe Jugendlicher lief draußen vorbei. Sie lachten – eins der Mädchen so heftig, dass sie sich bei einem Kumpel festhalten musste.

»Bitte«, wiederholte Hanna. »Was hat er gesagt?«

»Dass er ihn nicht hätte schützen sollen.«

»Wie hat er das gemeint?«

»Ich bin nicht sicher, aber …«

Gunnar schaute sie fast flehend an, ihn nicht zum Weitersprechen zu drängen.

»Du musst es mir erzählen«, beharrte sie.

Wütender als beabsichtigt, aber sie konnte nicht zulassen, dass er jetzt das Schweigen anfing.

»Es gibt wohl nur einen Menschen, für den Lars ins Gefängnis gegangen wäre«, sagte Gunnar. »Abgesehen von dir, natürlich.«

2

Der Badeanzug war noch feucht, weshalb Lykke Henriksen erschauderte, als sie ihn anzog. Sie hatte vergessen, ihn aufzuhängen, nachdem sie ihn am Morgen ausgespült hatte. Jeden Morgen und Abend nahm sie ein kurzes Bad im Kalmarsund, dessen Ufer nur etwa hundert Meter entfernt lag. Das Bad war das Einzige, was gegen den Dunst in ihrem Kopf half. Sie war in ihr altes Muster verfallen, und das passte ihr gar nicht. Deshalb musste sie unbedingt wieder die Kontrolle zurückerlangen. Alles war ins Wanken geraten, noch mehr nach diesem Kacktag.

Lykke zog die Crocs an, ging durch die Küche hinaus und nahm ihr Handtuch von der Wäscheleine. Hängte es sich über die Schulter. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Ufer. Es war kurz nach acht, die Sonne küsste schon den Horizont, in etwa einer halben Stunde würde sie untergehen.

Wenn sie wollte, konnte das ihr Leben sein: Vielleicht sollte sie die Wohnung in Uppsala kündigen und richtig herziehen, schließlich hatte sie die Doktorandenstelle nicht bekommen. Aber was sollte sie hier machen? Der Arbeitsmarkt schien nicht gerade nach vierundzwanzigjährigen Biologinnen mit Spezialisierung auf Schmetterlinge zu warten.

Wie um sie zu ärgern, flatterte ein Rostfarbiger Dickkopffalter von einer Schattenlilie auf, die in den Beeten vor der niedrigen Steinmauer wuchsen, die an drei Seiten die Terrasse begrenzte. Der Schmetterling war männlich, das verriet der hohe Gelbanteil auf seinen braunen Flügeln. Er drehte ein paar Runden vor ihr, bevor er wegflog.

Lykke ging weiter. Obwohl es keine Mauer oder Hecke entlang der linken Gartenseite gab, konnte man leicht erkennen, wo ihr Grundstück endete und das Gemeindeland begann. Letzteres war frisch gemäht, bei ihr hatte das Gras ungestört wachsen können, seit sie angekommen war. Ihre Energie hatte einfach nicht gereicht, sich damit zu befassen.

Zur Abwechslung war es mal fast windstill, außerdem hatte die Sonne den ganzen Tag lang geschienen. Laut Wetterbericht war kälteres Wetter im Anmarsch. Eine ähnliche Prognose stellte sie auch für ihre Zukunft. Als würde sich eine Kaltfront nähern. Sie wusste nur nicht, ob der bevorstehende Sturm schlimmer ausfallen würde als der zurückliegende.

Nachdem Lykke den Weg überquert hatte, drehte sie sich um und schaute zum Haus zurück. Würde sie es verkaufen, musste sie vermutlich ein Jahr lang nicht arbeiten. Trotzdem brauchte sie einen Job. Etwas, das sie und ihren Kopf beschäftigte. Und sie war noch immer unsicher, ob sie sich überhaupt von dem Haus trennen konnte. Ihre Mutter war vor drei Jahren gestorben, und da hatte sie das Haus in Grönhögen geerbt. Ihre Mutter war hier aufgewachsen, genauso ihre Großmutter. Lykke vermietete das Haus die überwiegende Zeit via Airbnb, diesen Sommer hatte sie es aber ganz für sich geblockt, um hier eine Entscheidung zu finden, wie es für sie weitergehen sollte. Sie hatte für ein paar tausend Kronen einen alten Škoda gekauft, weil es zu umständlich war, hier ohne Auto auszukommen. Im Ort gab es zwar ein Lebensmittelgeschäft und ein Restaurant, außerdem eine Busverbindung ans Festland. Aber der Bus fuhr nicht gerade oft, man musste umsteigen, und sie hasste es, abhängig zu sein.

Lykke legte das Handtuch auf einen Stein, zog die Schuhe aus und watete vorsichtig ins Wasser. Beim Hafen gab es einen Steg, aber trotz der vielen Steine ging sie lieber hier baden. Hin und wieder verschlug es sie mal zum Kalkbruch. Während ihrer Kindheit war dort kaum jemand schwimmen gegangen, heute war es im Sommer meist brechend voll. Das türkisblaue Wasser war so tief, dass man von den Klippen springen konnte. Die Leute schienen eigentlich nur hinzufahren, um Fotos für Instagram zu machen. Den Badesee, zu dem sie früher immer gefahren waren, konnte man dagegen heute gar nicht mehr nutzen, den hatten die Golfer für sich erobert. Die standen dort am Strand und schlugen einen Ball nach dem anderen.

Obwohl die Sonne den ganzen Tag geschienen hatte, war das Wasser kalt. Es ging ihr gerade mal bis zu den Knien, trotzdem breitete sich die Kälte sofort in ihrem ganzen Körper aus, und Lykke verspannte sich. Das Ufer war sehr flach, und wegen all der Steine kam man nur langsam voran.

Die Erinnerung daran, wie sie das Messer in den Reifen gestoßen hatte, traf sie so unvermittelt, dass sie keuchen musste. Ein Loch zustande zu bringen, war schwieriger gewesen als gedacht, vermutlich, weil sie so sehr gezittert hatte. Aber sie war erst gegangen, als sie es leise hatte zischen hören.

Um der Erinnerung zu entkommen, eilte Lykke weiter. Sie rutschte aus und verlor fast das Gleichgewicht. Ihr Fuß landete auf einem spitzen Stein, und der Schmerz ließ sie kurz innehalten. Dann ließ sie sich einfach fallen. Nach ein paar zögerlichen Schwimmzügen tauchte sie unter.

Jetzt hieß sie die Kälte willkommen. Weil sie alles auslöschte.

MONTAG, 19. AUGUST

3

Kaum war Hanna Duncker in der Polizeiwache von Kalmar angekommen, holte sie sich erst mal einen Kaffee. Sie hatte schlecht geschlafen, weil ihr Gunnars Worte die ganze Nacht durch den Kopf gegangen waren.

Es gibt wohl nur einen Menschen, für den Lars ins Gefängnis gegangen wäre. Abgesehen von dir, natürlich.

Direkt danach war Hanna aus dem Restaurant gestürmt und hatte dabei ein Wasserglas umgestoßen. Er meinte Kristoffer – und dass Kristoffer den Mord an Ester begangen haben sollte, war sogar noch unvorstellbarer, als dass es Lars war. Wieso hatte Gunnar das gesagt? Die Beweise sprachen doch für sich. Lars war in Esters Haus gewesen, seine Fingerabdrücke prangten auf dem Benzinkanister. Konnte Gunnar etwa Lars’ Schuld noch weniger akzeptieren als Hanna? Oder ging es eigentlich um Kristoffer? Gunnar war richtig wütend darüber gewesen, dass er nicht zu Lars’ Beerdigung erschienen war.

Gunnar hatte gestern noch versucht anzurufen und ihr mehrere SMS geschickt, aber Hanna war zu aufgewühlt gewesen, um darauf zu reagieren. Ich habe nur wiederholt, was Lars gesagt hat, stand in seiner letzten Nachricht.

Der Becher war bis zum Rand gefüllt, und als Hanna die erste Stufe nahm, schwappte der Kaffee fast über. Sie blieb stehen und trank ein paar Schlucke ab. Verzog das Gesicht, weil er so heiß war und grauslich schmeckte.

Ich hätte ihn nicht schützen sollen.

Wieso sollte sie Gunnar glauben? Vielleicht log er. Vielleicht war er sogar selbst beteiligt gewesen.

Irgendwie musste Hanna ihren Bruder dazu bringen, mit ihr zu sprechen. Über das, was Gunnar da behauptet hatte, und über die Ermittlungen an sich. Gerade bereute sie, die Akte überhaupt gelesen zu haben, aber rückgängig machen ließ sich das nun auch nicht mehr. Die Vernehmungsprotokolle ihres Vaters zu lesen, war besonders schlimm gewesen. Er hatte ausgiebig von sich erzählt, war aber sehr einsilbig geworden, wenn Ester Jensen zur Sprache kam. Er hatte gestanden, sie getötet zu haben, aber betont, dass dies keine Absicht gewesen war. Auf die Frage nach dem Grund für die Tat hatte er die Antwort verweigert.

Vorsichtig trug Hanna den Kaffee ins Dienstzimmer. Zu ihrer Verwunderung war Erik Lindgren bereits da. Normalerweise war sie zu dieser Uhrzeit die Erste.

»Konntest du nicht schlafen?«, fragte sie.

»Genau«, sagte Erik. »Mir tut alles weh.«

Weil Erik so durchtrainiert und muskulös war, hatte sie ihn anfangs für einen Surfer gehalten. Seine dunkelblonden Locken hatten den Eindruck noch verstärkt. Vergangenen Samstag hatte Erik am Ironman teilgenommen. Es war bedeckt gewesen und vielleicht zwanzig Grad warm. Sie, Daniel und Amer hatten an der Strecke gestanden, um ihn anzufeuern. Amer war nach ein paar Stunden gegangen, weil er zu seiner Familie musste, sie und Daniel hingegen hatten bis zum Zieleinlauf durchgehalten. Erik hatte die Unterstützung gebraucht, schließlich waren seine Frau Supriya und ihre gemeinsame Tochter Nila seit sechs Wochen in Indien. Sie würden erst Freitag zurückkommen.

Hanna setzte sich an den Schreibtisch und ging ihre Mails durch. Eigentlich mochte sie diesen Moment des Tages. Die Ruhe. Den ersten Kaffee trinken und sich einen Überblick über das verschaffen, was passiert war, seit sie Feierabend gemacht hatte. Heute war das nicht viel. Gerade ermittelte sie in einem Fall schwerer Körperverletzung, aber der Zeuge, den sie suchte, hatte sich immer noch nicht gemeldet. Würde sich vielleicht nie melden. Das Opfer war ein Neunzehnjähriger, der wahrscheinlich jetzt auf einem Auge blind blieb.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu Gunnar. Wieso hatte er das gesagt? Wenn sie es verstehen wollte, konnte sie ihn nicht länger ignorieren. Ihr erster SMS-Entwurf klang zu anklagend, also löschte sie alles Geschriebene, fing von vorn an. Schloss die Augen, schickte die Nachricht:

Tut mir leid wegen gestern.

Die Antwort kam sofort:

Ja. Deshalb hab ich gezögert mit dem Treffen. Ich wusste, dass du fragen würdest.

Hanna starrte auf die Wörter. Hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Sie zuckte zusammen, als die nächste Nachricht von Gunnar kam.

Ich weiß, wie schwierig das ist.

Da wurde sie wütend. Nein, Gunnar wusste nichts, gar nichts. Niemand wusste das. Gunnar hatte damit abgeschlossen, hatte alles hinter sich gelassen, was mit Lars und dieser Zeit zu tun hatte. Scham traf sie wie ein Rückstoß. Gunnar hatte Lars mehr geholfen, als sie es je gekonnt hatte.

Amer stieß zu ihnen.

»Unsere Kanone«, sagte er. »Na, wie geht’s dir?«

Hanna wollte gerade etwas Dummes erwidern, als sie begriff, dass natürlich Erik gemeint war.

»Genau wie ich es verdiene.«

»Ganz deiner Meinung«, stimmte Amer zu. »Aber immerhin hast du’s ins Ziel geschafft.«

Bei Kilometer dreißig des abschließenden Marathons war Erik mit gequältem Gesichtsausdruck angehumpelt gekommen. Sie hatten gebrüllt, geschrien und gepfiffen, um ihn zum Durchhalten zu bewegen. Danach hatten sie in einem der Zelte mit einem Bier auf ihn angestoßen.

Kurz darauf tauchten auch Daniel und Carina im Büro auf und blieben kurz bei Erik stehen. Daniels Gesicht war leicht gerötet, so sah sie auch manchmal aus, wenn sie zu lange in der Sonne geblieben war. Was hatte er wohl gestern angestellt, um einen Sonnenbrand zu bekommen? Letztens hatte er bei einem Feierabendbierchen doch erst einen kleinen Vortrag darüber gehalten, wie schädlich zu viel UV-Strahlung sei. Carina sah man an, dass sie den Großteil des Sommers unter freiem Himmel verbracht hatte. Vermutlich in ihrem heiß geliebten Garten. Ihr Verhältnis zu Hanna war nach wie vor kühl. Carina hatte sofort klargemacht, wie wenig begeistert sie davon war, dass Lars Dunckers Tochter jetzt bei der Polizei in Kalmar arbeitete. Ester Jensens Tochter war ihre Cousine, allerdings nicht durch Ester, sondern ihre Väter, die Brüder waren. Ihr Vorgesetzter, Ove Hultmark, steckte den Kopf zur Tür herein.

»Tut mir leid, euch zu stören«, sagte er. »Aber wenn ihr schon alle da seid, können wir die Morgenbesprechung ja vorziehen.«

Die Morgenbesprechung hielten sie meist in einem dafür reservierten Besprechungsraum, alle weiteren fanden bei ihnen im Dienstzimmer statt. Hanna setzte sich schon mal an den Konferenztisch und studierte verstohlen Oves Miene. Vor etwa einer Woche hatte er beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören, aber Hanna bezweifelte, dass sein verkniffener Gesichtsausdruck damit zu tun hatte. Oder der Tatsache geschuldet war, dass sie ihn nicht gefragt hatten, ob er mitkommen wollte, um Erik anzufeuern. Vermutlich hatte die relative Ruhe der letzten Wochen ein Ende gefunden.

Ove projizierte zwei Bilder an die Wand. Das eine war das Passfoto eines Mannes Anfang vierzig, das andere eine Privataufnahme, die eine junge Frau zeigte, die mit einem etwa einjährigen Kind auf dem Boden saß und mit Bauklötzchen spielte. Die Frau trug ein hellblaues Sommerkleid, das Kind nur T-Shirt und Windel. Die Sonne schien durchs Fenster auf den Holzboden. Im Auslösemoment hatte das Kind sich zur Kamera gewandt und lachte, die Frau konzentrierte sich ganz auf das Kind. Ein wunderschönes Bild.

»Gestern wurden am späten Abend der dreiundvierzigjährige Thomas Ahlström und sein Sohn Hugo vermisst gemeldet«, sagte Ove.

»Wie alt ist das Kind?«, fragte Hanna.

»Vierzehn Monate. Die Ehefrau hat die Polizei verständigt. Sie kam mit dem Zug aus Göteborg, und ihr Mann sollte sie am Bahnhof abholen, ist aber nicht aufgetaucht. Als sie nach Hause kam, musste sie feststellen, dass Mann und Kind weg waren.«

»Wie sah es dort aus? Im Haus?«

»Keine Ahnung«, sagte Ove. »Ich weiß nur, dass vom Wagen ebenfalls jede Spur fehlt. Die Frau heißt Jenny Ahlström und wohnt in Hulterstad. Ich würde vorschlagen, ihr fahrt hin, Erik und du, und sprecht mit ihr.«

4

Laut Navi dauerte die Fahrt nach Hulterstad im Südosten Ölands vierzig Minuten. Erik schraubte die Lehne des Beifahrersitzes hinunter und schloss die Augen. Kopf und Körper waren erschöpft. Mehrmals hatte er während des Ironman am Samstag ans Aufgeben gedacht. Zum Ende hin waren die Anfeuerungsrufe von Hanna und Daniel das Einzige gewesen, was ihn weitergetrieben hatte.

Erik war stolz, dass er es bis ins Ziel geschafft hatte. Der Lauf war zweifellos mit das Schwerste, was er je gemacht hatte. Hinterher beim Bier in einem der Zelte hatte er sofort einen Videoanruf mit Supriya und Nila gestartet. Sie hatten einander kaum hören können, aber Nila zuliebe hatte er die Kamera einmal durch das Zelt geschwenkt. Supriya schien sich für ihn zu freuen, und sie hatte gestanden, nicht geglaubt zu haben, dass er es bis ins Ziel schaffen würde.

Die Müdigkeit übermannte ihn. Plötzlich rannte er über die schwer befahrene Kreuzung Teen Hath Naka in Mumbai. Dass er träumte, begriff er aber erst, als ein Traktor an ihm vorbeituckerte – mit Hanna und Daniel auf dem Hänger. Sie schrien ihm etwas zu, doch er verstand wegen des wilden Hupens keinen Ton. Schätzungsweise auch ganz gut so, die beiden sahen furchtbar wütend aus. Da drang eine weitaus sanftere Stimme zu ihm durch, holte ihn zurück. Er wischte sich mit der Hand über den Mund und schraubte die Lehne wieder hoch.

»Hab ich geschnarcht?«

»Ja«, sagte Hanna.

Erik betrachtete die Felder, die vorm Fenster vorbeiglitten. Ein Mähdrescher arbeitete sich durch eine Getreidesorte, die er nicht kannte. Auf dem angrenzenden Feld türmten sich helle Strohballen. In alle Richtungen breitete sich die flache, offene Landschaft aus.

»Wann sind wir da?«

»In ein paar Minuten.«

Seine Gedanken wanderten wieder zu Supriya, und vielleicht merkte Hanna das.

»Bald ist Freitag«, sagte sie.

»Ja.«

Das Wort lag ihm schwer auf der Brust, und er musste erst einmal tief Luft holen.

»So lange waren wir noch nie voneinander getrennt. Das längste war mal eine Woche«, sagte er, als er sich wieder gefasst hatte.

Mehr als einmal hatte Erik bereut, nicht mitgeflogen zu sein, aber so viel Urlaub hätte er unmöglich nehmen können. Im Frühjahr, als Supriyas Eltern zu Besuch in Schweden gewesen waren, hatte ihre Mutter einen Herzinfarkt erlitten. Um ihre Eltern zu unterstützen, hatte Supriya den gesamten Sommer in Indien verbracht. Ihrer Mutter ging es inzwischen glücklicherweise viel besser.

Hanna fuhr in das Reihendorf. Dass die Häuser und Höfe sich so entlang der Straße aufreihten, war ein mittelalterliches Phänomen, das hatte er in einer Radiodoku gehört. Manchmal bestanden solche Dörfer nur aus wenigen Gebäuden, Hulterstad aber hatte sogar eine Kirche und eine Übernachtungsmöglichkeit, wie ein handschriftliches Schild am Ortseingang verriet.

Nach wenigen hundert Metern bog Hanna ab, und schon hielten sie vor einem weißen Steinhaus. Am Ende der Schotterstraße konnte er eine Sportanlage erahnen. Eriks Sehnsucht nach einem Haus auf dem Land hatte nachgelassen. Zum Teil, weil er wusste, dass Supriya sich niemals darauf einlassen würde. Aber überwiegend, weil er begriffen hatte, dass er sich so isoliert niemals wohlfühlen würde. Die Wohnung in Varvsholmen war bequem gelegen, fußläufig von der Kalmarer Innenstadt zu erreichen. Und weil er sich nicht länger damit beschäftigte, wie man zum Selbstversorger wurde, hatte er viel mehr Zeit übrig. Vor ein paar Wochen hatte er sich eine Gitarre gekauft und folgte jetzt einem Kurs auf YouTube.

Eine Frau, bei der es sich vermutlich um Jenny Ahlström handelte, eilte die Verandastufen hinunter. Sie sah älter aus als auf dem Foto mit ihrem Sohn. Über Jeans und Pulli trug sie eine lange Strickjacke. Ja, es war windig heute, aber die Sonne schien, und er selbst kam mit einem T-Shirt aus. Hanna fasste sich an den linken Unterarm. Anfangs hatte Erik gedacht, sie hätte dort eine alte Verletzung, aber auf seine Nachfrage hatte sie ihm die Tätowierung einer Nachtigall gezeigt. In angespannten Situationen suchte ihre Hand häufig den Weg dorthin.

»Haben Sie sie gefunden?«, rief Jenny, kaum dass sie ausgestiegen waren.

Mit schnellen Schritten gingen sie zu ihr.

»Leider nicht«, sagte Erik.

Beim Näherkommen sah er, wie geweitet ihre Pupillen waren, außerdem war die Strickjacke auf links. Vermutlich hatte sie in der Nacht kein Auge zugetan.

»Wo stecken sie denn nur?«, fragte sie. »Und wenn sie …«

»Könnten wir reingehen und uns setzen?«, unterbrach Hanna sie.

Jenny schaute sie an, als wolle sie protestieren. Mit einem Seufzer drehte sie sich dann doch um und führte sie in ein großes Wohnzimmer mit offenem Kamin. Am Boden lagen Teile einer Spielzeugeisenbahn verstreut. Das Zimmer war spärlich eingerichtet, was Erik zu der Annahme verleitete, dass sie hier noch nicht lange wohnten. Jenny setzte sich auf das Sofa und schlang die Strickjacke enger um sich. Er und Hanna wählten je einen der Sessel.

»Ich begreife das nicht«, sagte Jenny.

Ihre Hände flogen rastlos umher. Zupften die Strickjacke zurecht, dann das Haar, dann wieder die Strickjacke.

»Wann hatten Sie zuletzt Kontakt?«, fragte Erik.

»Ich habe Thomas gegen halb drei angerufen. Dann haben wir gegen vier noch mal geschrieben, als ich in den Zug gestiegen bin. Als ich kurz vorm Hauptbahnhof Kalmar war, habe ich ihm noch mal geschrieben, aber darauf hat er schon nicht mehr geantwortet. Er wollte mich abholen, war aber nicht da. Anfangs war ich, ehrlich gesagt, richtig wütend, weil ich dachte, er hat verschlafen. Nach einer Viertelstunde habe ich mir deshalb ein Taxi genommen.«

»Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht, als Sie gegen halb drei telefonierten?«

»Er war so wie immer. Obwohl, schwer zu sagen, ich habe durch meinen Anruf nämlich Hugo geweckt. Da waren sie gerade auf dem Spielplatz in Skogsby.«

Erik wappnete sich vor der Frage, die er gezwungenermaßen als Nächste stellen musste:

»Deutet etwas darauf hin, dass Ihr Mann depressiv war?«

»Meinen Sie etwa, er könnte …?«

Jenny starrte sie mit aufgerissenen Augen an. Die Angst, die darin lag, berührte Erik tief, weshalb er sein Möglichstes tat, um sie zu beruhigen.

»Das ist eine Standardfrage«, erklärte er schnell. »Die stellen wir immer, wenn jemand vermisst gemeldet wird.«

Jenny schüttelte heftig den Kopf.

»Also, das glaube ich wirklich nicht. Und selbst wenn es ihm schlecht gehen sollte, würde er Hugo niemals etwas antun. Niemals!«

Ihre Stimme war umgeschlagen, klang eine Oktave höher, außerdem umklammerte Jenny die Strickjacke so fest, dass ihre Fingerknöchel ganz weiß waren. Natürlich hoffte Erik, dass stimmte, was sie sagte, aber der Wagen war fort, und am Vorabend hatte es auf der Insel keine größeren Unfälle gegeben. Selbstmord war eines der zwei wahrscheinlichsten Szenarien. Das zweite war, dass Thomas aus irgendeinem Grund abgehauen war. Vielleicht hatte er Zeit für sich gebraucht. Die Erklärung wirkte aber schon falsch, schließlich war seine Frau gerade erst verreist gewesen. Das Verschwinden an sich war kein Verbrechen, Kindesentzug jedoch schon, und da das Ehepaar Ahlström sich das Sorgerecht teilte, konnte sogar eine Gefängnisstrafe drohen.

»Wir ziehen keine voreiligen Schlüsse«, sagte Hanna. »Gerade sammeln wir einfach so viele Informationen wie möglich.«

»Sie sollten lieber nach ihnen suchen«, erwiderte Jenny.

»Ja«, sagte Hanna, »und unsere Suche beginnt genau hier. Gibt es einen besonderen Ort, an den Ihr Mann sich zurückzieht, wenn er nachdenken will?«

»Nein.«

Jenny schaute in den offenen Kamin. Ganz so, als könne sie die beiden gerade nicht ansehen. Erik erahnte Angst und Frust in der starren, aufrechten Haltung. In dem zitternden Mundwinkel.

»Hat Ihr Mann irgendwelche Probleme oder Konflikte?«, fragte er.

Drittes Szenario war, dass jemand ihm und Hugo Gewalt angetan hatte, aber rein statistisch gesehen war dies am unwahrscheinlichsten.

»Seine Elternzeit hat gerade angefangen«, sagte Jenny. »Und er hat sich sehr gefreut, endlich mehr Zeit mit Hugo zu haben. Ihm gefällt es nicht gerade gut auf der Arbeit.«

»Was macht er denn beruflich?«

»Er ist Maklerassistent in einem Büro in Färjestaden.«

Erik notierte sich den Namen der Agentur.

»Wieso gefällt es ihm dort nicht?«

»Er kommt da mit jemandem nicht gut klar.«

Jenny schaute noch immer in den Kamin, allerdings wirkte sie nicht mehr ganz so starr. Nach einer Weile wandte sie ihnen wieder das Gesicht zu, jetzt war sie völlig aufgelöst.

»Es tut mir sehr leid, mehr weiß ich leider nicht«, sagte sie. »Thomas will nicht zeigen, dass es ihm dort nicht gefällt.«

»Wieso?«, fragte Hanna.

»Weil ihm der Job zu wichtig ist. Das ist seine erste richtige Festanstellung.«

Jenny presste sich die Hand vor den Mund und schloss die Augen.

»Was ist los?«, fragte Erik.

Aber Jenny schüttelte nur den Kopf. Es vergingen einige Sekunden, bis sie in der Lage war, ihm zu antworten.

»Thomas hat noch ein Kind«, sagte sie. »Das habe ich gerade erst erfahren.«

»Wie haben Sie das erfahren?«

»Seine Tochter hat einen Brief geschickt.«

Der letzte Tag

Durch das Sitzen auf dem Holzbrett sind Thomas’ Beine eingeschlafen. Er steht auf und stampft ein paarmal auf den Boden. Es sticht unangenehm in den Muskeln, als sie langsam wieder aufwachen. Hugo buddelt fleißig mit einer roten Plastikschaufel und wirft ihm nur einen schnellen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er nicht abhauen will. Sie haben keinen Sandkasten zu Hause, deshalb ist er ein bisschen eher losgefahren, damit sie in Skogsby halten und der Sohn dort spielen kann. Hugo füllt Sand in den Eimer, aber das meiste geht daneben. Dann schaut er seinen Vater an, die hellblauen Augen erwartungsvoll aufgerissen. »Happa?«

»Oh, gern«, sagt Thomas freundlich und setzt sich wieder auf den Rand des Sandkastens.

Außer ihm ist noch eine Mutter mit ihrer Tochter da, die etwas älter ist als Hugo. Die Mutter lächelt ihm aufmunternd zu, er lächelt zurück.

Hugo rammt die Schippe in den Eimer und bekommt Sand darauf, den er in Thomas’ ausgestreckte Hand kippt. Thomas tut so, als würde er essen, und lässt den Sand dann neben sich zu einem Häufchen rieseln. Das Holzbrett ist voll von kleinen Häufchen dieser Art. Ein paar sind mit Blättern dekoriert, andere mit Steinchen oder Tannenzapfen. Jetzt wirft Hugo die kleine Schaufel weg und gräbt stattdessen mit den Händen.

»Bong«, sagt er und presst die kleine Faust an den Mund.

Da erstarrt er plötzlich mitten in der Bewegung, würgt dann. Es dauert einen Augenblick, bis Thomas versteht, was passiert ist. Er stürzt zu seinem Sohn, steckt ihm einen Finger in den Mund und tastet herum. Hugo wedelt mit den Armen. Die Mutter ist sofort bei ihnen, will helfen.

»Er hat sich was in den Mund gesteckt«, mehr bekommt Thomas nicht raus.

Die Angst ist schlimmer als alles, was er bisher erlebt hat. Davor, Hugo zu verlieren. Davor, Jenny erklären zu müssen, dass ihr Sohn seinetwegen gestorben ist. Die Sekunden gleiten ihm durch die Finger. Er weiß nicht, was er machen soll. Ihn umdrehen und fest auf den Rücken schlagen? Hugos Arme wedeln nicht mehr. Seine Augen, die gerade noch so erwartungsfroh geleuchtet hatten, starren ihn verzweifelt an. Sein Gesicht ist so blass. Er bekommt keine Luft. Seine Lider zucken, man sieht nur noch das Weiße seiner Augen. Dann wird der kleine Körper ganz schlapp und schwer.

Oh, guter Gott. Er stirbt!

Thomas muss sich fast übergeben. Und dann fällt ihm wieder ein, dass man nicht mit dem Finger im Mund stochern soll, weil man sonst das, was im Hals steckt, noch tiefer reindrücken könnte.

Nein, nein, nein. Ich habe ihn getötet.

Thomas legt Hugo mit dem Bauch auf sein Bein, schlägt dann fest zwischen die Schulterblätter. Die Frau streckt die Arme aus, vielleicht weiß sie ja, wie das Heimlich-Manöver bei Kindern geht? Aber genau in dem Moment klopft Thomas das aus seinem Sohn, was ihm im Hals steckt.

Er starrt den feuchten schwarzen Klumpen an, den sein Sohn für ein Bonbon gehalten hat. Es ist ein toter Käfer. Thomas dreht Hugo um und will nur noch schreien. Nichts passiert. Der kleine Körper bleibt schlapp, die Augen geschlossen.

Dann hustet Hugo. Auf das Husten folgt ohrenbetäubendes Schreien, schnell kehrt die Farbe in sein Gesicht zurück.

Thomas schließt seinen Sohn fest in die Arme, der nun weint. Und es ist das schönste Geräusch, das Thomas je gehört hat. Denn zum Weinen braucht man Luft.

Die Frau öffnet den Mund, und Thomas würde sie am liebsten anfauchen. Dass er nicht als lausiges Elternteil gesehen werden will, nur weil er das falsche Geschlecht hat. Dass er keine Standpauke braucht, weil er besser auf seinen Sohn aufpassen sollte. Das weiß er schließlich selbst.

»Himmel, so was ist so furchtbar«, sagt die Frau. »Meine Tochter ist letzte Woche fast an einer Münze erstickt. Sie kam zu mir ins Badezimmer gelaufen, da war sie schon ganz blau im Gesicht.«

Die Tochter hat den Sandkasten verlassen, ist unterwegs zu den Schaukeln. Die Frau eilt ihr nach. Thomas drückt Hugo fest gegen seine Brust, doch sein Sohn will nicht länger gehalten werden.

»Aua«, sagt er.

Also setzt Thomas ihn in den Sand, damit er weiterbuddeln kann. Aber jetzt lässt er die kleinen Hände keine Sekunde aus den Augen. Nichts und niemanden liebt er mehr als diesen kleinen Jungen. Natürlich liebt er auch Jenny, aber das kann man nicht vergleichen. Ein Lächeln breitet sich in seinem gesamten Körper aus, als er an den Moment zurückdenkt, in dem er Hugo zum ersten Mal sah. Verschrumpelt und verschmiert. Als er ihn schreien hörte.

Hugo hält ihm eine Schippe voller Sand hin, und Thomas streckt die Hand aus, führt sie dann zum Mund und tut so, als würde es ihm schmecken.

Wie hatte er das versäumen können, als er zum ersten Mal Vater wurde?

5

Der Brief, den Thomas von seiner Tochter Lykke bekommen hatte, war nicht länger als eine DIN-A4-Seite. Darin schrieb Lykke, dass sie im Haus ihrer Mutter in Grönhögen wohnte, das sie nach dem Tod der Mutter geerbt hatte. Dass sie sich gern mit ihm treffen würde, sollte Thomas Interesse haben. Die Worte an sich waren freundlich, aber die Buchstaben groß und zackig, an einer Stelle hatte der Stift ein Loch in das gelbe, linierte Papier gerissen.

»Wie haben Sie reagiert, als Ihr Mann Ihnen den Brief gezeigt hat?«, fragte Hanna, während sie das Blatt an Erik weiterreichte.

»Er hat ihn mir nicht gezeigt«, sagte Jenny. »Ich habe ihn vor ein paar Wochen gefunden.«

»Wo?«

»In dieser Kiste da.« Jenny nickte zu dem halbhohen Billy-Regal, aus dem sie den Brief geholt hatte. »Aber ich habe nicht geschnüffelt. Der Deckel ist beim Putzen runtergerutscht.«

»Gibt es einen Umschlag?«

»Nein«, sagte Jenny.

Der Brief war nicht datiert, daher konnten sie unmöglich wissen, wie lange Thomas ihn schon hatte.

»Haben Sie Ihren Mann darauf angesprochen?«, fragte Hanna.

Jenny drehte ihren Ehering. Es war ein glatter Goldring, und es war nicht zu übersehen, dass er zu eng war. Der Finger quoll zu beiden Seiten darunter hervor. Vermutlich hatte sie seit der Hochzeit zugenommen.

»Ich hatte es vor«, sagte sie. »Das war auch einer der Gründe, weshalb ich bei meiner Freundin in Göteborg war.«

»Einer?«

»Ja, ich musste einfach mal raus. Brauchte Zeit ohne Thomas und Hugo.«

Als Jenny bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte, verzog sie das Gesicht.

»Ich wollte einfach ein paar Tage für mich. Um wieder zu mir zu finden. Das war einfach alles ein bisschen viel seit Hugos Geburt.«

»Inwiefern?«

Jenny verstand die Nachfrage wohl wie eine Anklage.

»Ich habe seit einem Jahr fast keine Nacht durchgeschlafen. Als es am schlimmsten war, ist er fast jede Stunde aufgewacht. Sie haben wohl keine Kinder?«

»Nein«, sagte Hanna.

Sofort musste sie an Fabian denken. Wie er ihr übers Schlüsselbein gestreichelt hatte und dann näher zu ihr gerückt war, um sie zu fragen, ob sie Kinder wollte. Wenn sie anders reagiert hätte, wäre sie jetzt vielleicht mit ihm bei der Gynäkologin gewesen und hätte ein Ultraschallbild mitbekommen. Eriks Stimme vertrieb die Vorstellung.

»Dürfen wir den mitnehmen?«, fragte er und hielt den Brief hoch.

»Ja«, sagte Jenny nach kurzem Zögern.

Dann wandte sie sich an Hanna:

»Entschuldigen Sie, ich bin einfach gestresst. Ich will, dass sie zurückkommen.«

»Das werden sie auch«, sagte Hanna.

War Thomas freiwillig aufgebrochen oder nicht? Das war erst einmal die wichtigste Frage, die sie zu beantworten hatten.

»Sie sagen selbst, dass es seit Hugos Geburt anstrengend war. Wie hat dies Ihre Beziehung beeinflusst?«

Mit einem Seufzer ließ Jenny vom Ehering ab und massierte stattdessen ihre Nasenwurzel.

»Der Schlafmangel hat uns ordentlich zugesetzt«, sagte sie. »Wir haben beide keine Eltern in der Nähe, die uns unterstützen können. Und wir haben das wohl ein bisschen zu sehr aneinander ausgelassen. Trotzdem haben wir ein gutes Verhältnis. Es ist unmöglich, dass Thomas aus freien Stücken mit Hugo abgehauen ist. Oder …«

Jenny nahm die Hand vom Gesicht und ließ den unvollständigen Satz in der Luft hängen.

»Wo wohnen die Eltern Ihres Mannes?«, fragte Erik.

»In Växjö. Meine sind nach Malmö gezogen.«

»Mit wem hatte Ihr Mann Kontakt?«, fragte Hanna. »Abgesehen von Ihnen.«

»Mit Mille Bergman«, sagte Jenny. »Die kennen sich noch aus der Schule.«

»Ist Mille ein Spitzname?«

»Nein, so heißt er tatsächlich.«

Hanna bat um Namen und Adresse der Freundin, die Jenny in Göteborg besucht hatte, aber Jennys Hände zitterten so sehr, dass das Telefon auf den flauschigen grauen Teppich fiel. Hanna beugte sich vor und hob es auf.

»Wie heißt sie?«

»Valerija Leko. Wir haben zusammen studiert.«

Hanna schickte sich den Kontakt auf ihr Handy. Sie fragte, ob Jenny noch etwas über Thomas erzählen wolle, über ihr Verhältnis, doch Jenny schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht mehr. Das ist wie ein einziger langer Albtraum. Ich will nur noch aufwachen.«

Hanna setzte sich zu ihr aufs Sofa.

»Mir ist klar, dass das nicht leicht ist«, sagte sie. »Aber es ist wichtig, dass wir so viel wie möglich über Sie und Ihren Mann erfahren. Das kann alles maßgeblich dazu beitragen, ihn und Hugo zu finden.«

»Da gibt es nicht mehr«, sagte Jenny.

Dabei spürte Hanna deutlich, dass es die Frage nach dem Stand ihrer Beziehung war, über die Jenny innerlich zusammengebrochen war.

»Das mit der Tochter muss ein Schock gewesen sein«, sagte sie im Versuch, noch mehr herauszufinden.

»Was glauben Sie denn?«

Scharfer Ton.

»Dass es ein Schock gewesen sein muss«, sagte Hanna ruhig.

Jetzt drehte Jenny den Ehering wieder, noch schneller. Versuchte, ihn vom Finger zu schieben, aber er bewegte sich nicht. Dann ließ sie plötzlich davon ab und sackte nach vorn, verbarg das Gesicht in den Händen.

»Ich begreife nicht, dass er nichts gesagt hat«, schluchzte sie. »Hat er gedacht, ich komme damit nicht klar?«

Schweigend lauschten sie ihrem Weinen. Nach einer Weile stand Erik auf und ging in den Flur. Er kehrte mit einer Packung Taschentücher zurück, die dort in einer Schale gelegen hatten, und gab sie Jenny.

»Dürften wir uns mal im Haus umsehen?«, fragte er.

Vielleicht fand er, dass Hanna zu hart mit ihr gewesen war. Jennys einzige Reaktion war ein Nicken, dann zog sie ein Taschentuch aus der Packung. Erik steuerte das Bad an, also übernahm Hanna die Küche. Die Spüle war voll mit dreckigem Geschirr und Gläsern. Auf dem Herd standen ein Topf mit angetrockneten Makkaroni und eine Pfanne. Im Müll langen zuoberst ein paar angebrannte Wurstscheiben. Darunter ließ sich etwas Rostrotes erahnen. Hanna nahm einen Pfannenwender aus der Spüle und schob damit die Scheiben beiseite. Das Rote war ein blutgetränktes Stück Küchenpapier, daneben waren die weißen Papierstreifen eines Pflasters zu sehen. Hanna kehrte zu Jenny zurück.

»Wie haben Sie die Küche gestern vorgefunden?«

»Die Reste vom Mittagessen standen noch auf dem Tisch. Es sah aus, als wäre er einfach aufgestanden und gegangen. Ich habe angefangen, alles abzuräumen, konnte dann aber nicht mehr.«

»Haben Sie Blut aufgewischt?«

»Blut?«

Jenny sah sie erschrocken an.

»Nicht viel, nur ein kleines bisschen.«

»Nein.«

Jenny warf das zusammengeknüllte Taschentuch auf den Couchtisch und nahm sich ein neues. Presste es gegen die Augen. Erik stieß zu ihnen.

»Gibt es einen Dachboden oder Keller?«, fragte er.

»Einen Keller«, antwortete Jenny. »Aber da kommt man nur von draußen rein.«

Erik und Hanna wechselten einen Blick. Der Keller musste warten, bis sie hier fertig waren.

»Wissen Sie, was Ihr Mann oder Hugo bei ihrem Verschwinden anhatten?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Jenny. »Oder doch, vielleicht.«

Sie zeigte ihnen ein paar Aufnahmen am Handy. Beide von Hugo. Auf dem einen war er auf der Rutsche vorm Haus, auf dem anderen saß er in der Küche und hielt sein Wassereis in die Luft. Er trug ein grün-blau gestreiftes T-Shirt und eine Shorts. Ohne ein Wort verschwand Erik und kam kurz darauf mit ebendem grün-blau gestreiften T-Shirt und der Shorts zurück.

»Die lagen im Wäschekorb.«

Der Anblick war zu viel für Jenny, sie schien kurz davor zusammenzubrechen. Wieder schaute sie sich um, aber schien sich auf nichts konzentrieren zu können. Hanna gab ihr eine Aufgabe.

»Könnten Sie einen Blick in den Kleiderschrank werfen? Vielleicht können Sie ja rückschließen, was die beiden anhaben.«

Jenny schaute sie an, Hannas Worte waren ein Rettungsring, zu dem sie sich vorkämpfte.

»Ich kann es versuchen«, sagte sie vorsichtig.

»Hat Ihr Mann einen Computer?«, fragte Erik.

»Ja«, sagte Jenny und öffnete die Schublade des Couchtischs. Sie hielt Erik den Laptop hin.

»Dürfen wir den mitnehmen?«, fragte er.

Jenny nickte, dabei war unklar, ob sie die Frage tatsächlich gehört hatte. Vielleicht war Hanna wirklich zu heftig vorgegangen.

»Soll ich jemanden verständigen?«, fragte sie.

»Was meinen Sie?«

»Damit jemand herkommen kann und Sie nicht allein sein müssen?«

»Nein«, sagte Jenny. »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, damit ich den Kleiderschrank durchgucken kann.«

»Wir melden uns, versprochen«, sagte Hanna und stand auf.

»Bitte, Sie müssen sie finden!«

Jennys verzweifelter Appell begleitete sie bis zum Wagen. Erik steckte den Laptop in den Kofferraum, dann machten sie sich auf die Suche nach dem Kellereingang. Einmal war Hanna zu einer Frau in Danderyd gefahren, die ihren Mann vermisst gemeldet hatte. Den hatte Hanna dann in einem kleinen Verschlag im Garten gefunden. Die Obduktion hatte ergeben, dass er an einem Herzinfarkt verstorben war.

Es handelte sich um einen Sturmkeller, und sie hoben beide eine der liegenden Türen an. Erik ging voran und zog an der Schnur der nackten Glühbirne, die von der Decke hing. Der feuchte Raum war voller Umzugskartons, die sich in der Mitte stapelten. Entlang der einen Wand standen wacklige Metallregale mit Farbeimern und Pinseln. Eine Runde um die Umzugskartons reichte, um festzustellen, dass weder Thomas noch Hugo hier waren. Damit hatte Hanna auch nicht gerechnet, schließlich fehlte auch das Familienauto, aber versichern musste man sich dennoch.

»Nach Grönhögen, oder?«, fragte Erik, als sie den Keller verlassen und wieder ordentlich verschlossen hatten.

»Ja, es ist wohl klug, erst mit der Tochter zu sprechen und danach zum Maklerbüro in Färjestaden zu fahren.«

»Wie lange brauchen wir bis dahin?«

»Etwa zwanzig Minuten, wenn du fährst.«

Erik schnaubte und setzte sich ans Steuer.

»Ist dir im Haus was aufgefallen?«, fragte Hanna.

»Die Zahnbürsten sind noch da. Und die Schlafsachen auch, so wie’s scheint.«

Hanna erzählte, was sie in der Küche gesehen hatte. Wenn Thomas freiwillig mit Hugo aufgebrochen war, dann sehr spontan. Eriks Frage, ob sie das blutige Stück Küchenrolle hätten mitnehmen sollen, verneinte Hanna. Eine Verletzung, die nicht mehr als ein Pflaster verlangte, war nicht relevant für sie. Das Blut musste von Thomas oder Hugo stammen, so viel war klar. Sie rief sowohl bei Valerija Leko als auch Mille Bergman an, erreichte aber niemanden. Danach meldete sie sich bei Ove und erzählte ihm von Thomas Ahlströms unbekannter Tochter.

»Was haltet ihr von der Sache?«, fragte er.

Hanna seufzte und dachte an die angetrockneten Makkaroni und verbrannten Wurstscheiben.

»Es sah so aus, als hätten die zu Mittag gegessen und wären dann einfach aufgebrochen.«

»Und was schätzt du?«

»Soll ich jetzt wirklich raten?«

»Nein«, sagte Ove. »Eigentlich nicht, aber du weißt …«

»Ja.«

Mehr sagte Hanna nicht, denn irgendwelche Hirngespinste wollte ihr Chef nicht hören. Ermittlungen, in die so kleine Kinder verstrickt waren, wirbelten immer einige Gefühle auf. Die schlimmste Befürchtung war, dass Thomas seinen Sohn verletzt oder getötet haben könnte, nur um sich dann das Leben zu nehmen, aber bisher wussten sie schlichtweg zu wenig. Es könnte auch etwas ganz anderes passiert sein.

»Ich habe mit Växjö gesprochen«, sagte Ove. »Sie schicken einen Streifenwagen zu Thomas Ahlströms Eltern.«

Sie beendeten das Gespräch, und Hanna betrachtete das vorm Fenster vorbeiziehende Alvar. Nebelschwaden lagen über der flachen Heidelandschaft. Einer ihrer ersten Todesfälle war ein Vater gewesen, der sein kleines Kind ermordet und dann sich selbst das Leben genommen hatte. Erweiterter Suizid. Familientragödie. Die Zeitungen waren voll von solchen Schlagzeilen gewesen, dabei handelte es sich schlicht um Mord und nichts anderes.

6

Lykke wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie kniete vor dem Blumenbeet neben der Terrasse. Rücken und Bauch schmerzten, aber sie wollte nicht aufhören. Konnte nicht. Alles, was nicht mit dem verkackten Ampfer zu tun hatte, musste sie verdrängen.

Sie rammte die Schaufel in den Boden, konnte aber irgendwie nicht scharf sehen. Wütend rammte sie die Schaufel noch mal in den Boden. Lykke hatte sich nie als Gärtnerin gesehen. Klar, sie hatte schon eine Menge gepflanzt, aber so viel Zeit wie heute hatte sie noch nie investiert. Vielleicht war das ja eine Idee? Sich einen Job suchen, der sie körperlich beschäftigte.

»Du bist so dumm«, zischte sie. »Wem willst du eigentlich was vormachen?«

Als Lykke heute vom Morgenbad zurückgekehrt war, hatte sie nichts mit sich anzufangen gewusst. Den Kampf gegen den verwucherten Garten aufzunehmen, war das Einzige gewesen, was sie daran gehindert hatte, sich den Schokokuchen reinzustopfen, der im Kühlschrank wartete. Sie hatte ihn nur gekauft, um sich selbst zu beweisen, dass sie der Versuchung widerstehen konnte. Seit dem Frühjahr hatte sie sich ausschließlich von Hülsenfrüchten, anderem Gemüse und Obst ernährt. Und jetzt? Ihr war nicht klar, wie sie je wieder essen sollte. Die Zukunft war nicht länger eine sich nähernde Kaltfront. Sie war ein Sturm, der sie herumschleuderte wie Herbstlaub.

Die Schaufel traf auf einen Stein, und Lykke fluchte laut. Sofort war da die Erinnerung an das Messer im Reifen, aber sie schob sie beiseite. Doch ersetzt wurde sie nur von der Erinnerung an den Anblick, der das alles verursacht hatte: Wie sie da vor dem Haus gestanden und durchs Fenster geschaut hatte. Wie das Erste, was sie sah, die Frau mit dem Kind gewesen war.

Sie rammte noch einmal die Schaufel in die Erde, und diesmal glitt sie ohne Widerstand hinein. Lykke konnte sie unter den Ampfer schieben, ruckte herum. Erst als die Wurzel sich lockerte, verschwand die Erinnerung an die Frau und das Kind. Mit einem Lachen warf sie den Ampfer zum Unkraut.

Dies war ein Kampf, den sie gewinnen konnte.

Jenseits der Hecke näherten sich Motorengeräusche, und Lykke rechnete damit, dass der Wagen weiterfahren würde, aber er blieb vorm Haus stehen. Eine Tür wurde zugeschlagen, Schritte näherten sich auf dem Kiesweg. Sie klangen entschlossen. Was, wenn das Thomas’ durchgeknallte Frau war? Lykke bekam keine Luft mehr. Sie packte die Schaufel fester.

Zwei Personen kamen um die Hecke, ein Mann und eine Frau. Beide trugen Jeans, der Mann dazu ein T-Shirt, die Frau ein Hemd. Sie wirkten ein wenig wie Fitnesstrainer. Schon bevor sie sich auswiesen, ahnte Lykke, was sie beruflich machten.

»Wir sind von der Polizei«, sagte die Frau und stellte sich als Hanna Duncker vor.

Lykke bekam Angst und ließ die Schaufel fallen.

»Was ist passiert?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, weshalb sie hier waren.

»Könnten wir uns irgendwo hinsetzen und in Ruhe sprechen?«, fragte der männliche Polizist.

Er hatte auch einen Namen genannt, doch Lykke hatte ihn sofort wieder vergessen. Sein Gesicht war freundlich, obwohl er nicht lächelte, aber Lykke wusste, wie sehr man sich in Menschen täuschen konnte. Sie stand auf und taumelte kurz, weil ihr so schwindelig war. Der Polizist streckte den Arm aus, um sie zu stützen, und sie hatte keine Wahl, sie musste seine Hand nehmen, wenn sie nicht fallen wollte.

»Alles okay?«, fragte er.

»Ich habe niedrigen Blutdruck«, murmelte sie.

Sie ließ ihn wieder los und klopfte sich den Schmutz von der Jeans. Dann nickte sie zur Terrasse, die sie gerade in Ordnung gebracht hatte. Die Holzmöbel hatte sie vor ein paar Jahren über eine Kleinanzeige gefunden und weiß gestrichen.

»Was ist passiert?«, fragte sie erneut, kaum dass sie saßen.

»Es geht um Ihren Vater, Thomas Ahlström«, sagte der Mann.

»Entschuldigen Sie, wie war noch mal Ihr Name?«, fragte sie. »Der ist mir schon wieder entfallen.«

Es war so schwer, alles zu behalten.

»Ich bin Erik Lindgren, und das ist meine Kollegin Hanna Duncker«, sagte er. »Ihr Vater Thomas wurde letzte Nacht vermisst gemeldet. Genauso sein Sohn Hugo.«

»Ich weiß«, presste Lykke hervor.

»Woher wissen Sie das?«, fragte die Polizistin.

Ihr Blick war so durchdringend, dass Lykke sich abwenden musste.

»Seine Frau hat mich gestern Abend angerufen«, sagte sie. »Sie hat rumgebrüllt und mir eine Menge unschöner Dinge an den Kopf geworfen. Irgendwann hab ich aus ihr rausbekommen, wer sie war und wieso sie so wütend war. Sie war davon überzeugt, dass Thomas und Hugo bei mir sind.«

»Sind sie hier?«

»Nein.«

Lykke starrte zum Blumenbeet. Würden sie doch nur gehen, dann konnte sie sich wieder dem Ampfer widmen. Sie wollte nicht, dass der sich weiter im Beet der Schattenlilien ausbreitete. Mama hatte sie gepflanzt, und schon als kleines Kind hatte Lykke die lila gesprenkelten Blumen geliebt. Sie lockten die Schmetterlinge an.

Jenny hatte gegen zehn Uhr abends angerufen. Und es war sehr unangenehm gewesen, so angeschrien und beschimpft zu werden. Wie konnte ein Mensch, der Lykke nicht mal kannte, sie so sehr hassen?

7

»Wieso haben Sie keinen Kontakt zu Ihrem Vater?«, fragte Hanna.

Lykke Henriksen schaute sie an, schien sie aber trotzdem nicht zu sehen. Langsam zog sie das Gummiband aus dem hellbraunen Haar und formte dann noch mal den genau gleichen, schludrig gedrehten Dutt im Nacken. Jeans und Oberteil waren schmutzig, außerdem hatte sie einen Erdfleck an der Stirn. Laut Melderegister war sie vierundzwanzig, aber auf Hanna machte sie einen viel jüngeren Eindruck.

»Lykke«, sagte sie.

Erst nachdem darauf ein »Ja« folgte, wiederholte sie die Frage.

»Das sollten Sie mal besser ihn fragen, wieso wir keinen Kontakt haben!«

Wut blitzte kurz in Lykkes Augen auf. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, rieb die Erde ab.

»Entschuldigung«, flüsterte sie. »Mich macht das immer noch so wütend. Er hat meine Mutter und mich im Stich gelassen, als ich nur wenige Monate alt war.«

»Wann haben Sie ihm geschrieben?«, wollte Erik wissen.

»Vor ein paar Wochen«, sagte Lykke.

»Wissen Sie es noch etwas genauer?«

»Anfang Juli.«

»Warum haben Sie ihm geschrieben?«

Lykkes Blick wanderte zu Erik, dann zum Blumenbeet. Offenbar fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren.

»Weiß ich nicht genau«, sagte sie schließlich. »Dies ist der erste Sommer seit vielen Jahren, den ich auf Öland verbringe, und ich … Ich wohne sonst in Uppsala. Ich glaube, ich war einsam. Meine Mutter lebt nicht mehr. Und ich habe mich immer gefragt, warum er uns damals verlassen hat.«

Hanna hatte auch keine Eltern mehr. Ihre Mutter war an Krebs gestorben, als Hanna zwölf gewesen war. Nach ihrem Tod hatte Hannas Vater das Trinken angefangen. Kristoffer war immer häufiger abgehauen, wollte überall lieber sein als zu Hause. Vergangenen Herbst war ihr Vater dann gestorben.

»Wann haben Sie Ihre Mutter verloren?«, fragte sie.

»Vor bald drei Jahren«, antwortete Lykke. »Autounfall.«

Sie schaute noch immer zum Blumenbeet. Es irritierte Hanna, wie wenig greifbar Lykke war. Aber zumindest bekamen sie jetzt so etwas wie Antworten. Vielleicht hatte sie schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Vielleicht erinnerten sie Lykke an die Kollegen, die sie über den Tod der Mutter informiert hatten. Hanna folgte ihrem Blick. Das Beet war voller prächtiger, gesprenkelter Blumen. Weiß und Lila.

»Was für schöne Blumen«, sagte sie.

»Das sind Schattenlilien«, sagte Lykke.

»Hat Thomas auf Ihren Brief reagiert?«, fragte Erik.

»Ja, er hat angerufen.«

Ihr Mund wurde zu einem Strich. Der Vater war offenbar ein sensibles Thema, die Frage war bloß, warum. Lars hatte Hanna und Kristoffer auf alle möglichen Arten im Stich gelassen, außer im buchstäblichen Sinne. Aber es tat immer noch weh, dass er ihnen den Alkohol vorgezogen hatte. War Thomas die Ursache dafür, wie es Lykke jetzt ging?

»Und was hat er gesagt?«, fragte Erik.

»Dass er herkommen könnte. Aber da war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das wirklich noch wollte.«