Nebelstunde - Johanna Mo - E-Book

Nebelstunde E-Book

Johanna Mo

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Beschreibung

Eine Insel kann dir alles nehmen. Außer die Wahrheit

Der Prozess, auf den Hanna so lange warten musste, hat endlich begonnen. Bald wird sie nicht mehr die Tochter eines verurteilten Mörders sein. Denn die wahren Täter stehen nun dank ihr vor Gericht. Doch dann findet ihre Nachbarin Ingrid ihre Jugendliebe Vidar tot auf. Was zunächst nach einem Suizid aussieht, entpuppt sich schließlich als eiskalter Mord. Während Hanna und ihr Kollege Erik im Umfeld des Toten nach der entscheidenden Spur suchen, muss Hanna feststellen, dass ein Urteil noch lange keine Erlösung bedeutet. Und dass sie womöglich in noch viel größerer Gefahr schwebt als je zuvor …

Die »Hanna Duncker«-Reihe:

Band 1: Nachttod

Band 2: Finsterhaus

Band 3: Dunkelwald

Band 4: Nebelstunde

Band 5: Dämmersee

Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden

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Seitenzahl: 520

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ZUMBUCH

Nachdem Hanna Duncker und ihr ungeborenes Kind nur knapp ein Attentat überlebt haben, stehen die Männer, für die Hannas Vater einst ins Gefängnis ging, endlich vor Gericht. Während Hanna angespannt den Prozess verfolgt, macht sich ihre Nachbarin Ingrid große Sorgen um ihren Freund Vidar Johansson. Als sie ihn nicht zu ihrem wöchentlichen Telefonat erreicht, fährt sie zu seiner Wohnung, wo sie ihn tot in seinem Bett vorfindet. Allem Anschein nach hat Vidar sich selbst mit einer Überdosis Tabletten das Leben genommen. Hannas Kollege Erik Lindgren jedoch glaubt an Mord. Hanna ist sofort an Ingrids Seite. Doch der Mörder hat seine Spuren gut verwischt. Wer hatte ein Motiv, den alten Mann umzubringen? Und was weiß Ingrid? Dann nimmt der Prozess eine Wendung, mit der Hanna nicht gerechnet hätte. Und sie erhält ein Päckchen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt.

ZURAUTORIN

Johanna Mo wuchs in Kalmar, im Süden Schwedens, auf und lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Neben dem Schreiben arbeitet sie seit zwanzig Jahren als Redakteurin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Als Teenager musste Johanna Mo erleben, was es heißt, jemanden zu kennen, der zum Mörder wurde. Diese Erfahrung hat sie nie wieder losgelassen und zu der SPIEGEL-Bestseller-Reihe um Polizistin Hanna Duncker inspiriert.

JOHANNA

MO

NEBELSTUNDE

KRIMINALROMAN

AUS DEM SCHWEDISCHEN VON ULRIKE BRAUNS

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe Darrgräseterschien erstmals 2023 bei Romanus & Selling, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 02/2024

Copyright © 2023 by Johanna Mo

Published in Agreement with Ahlander Agency

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sibylle Klöcker

Covergestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von Plainpicture/Pierre Rosberg; www.buerosued.de

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31101-8V002

www.heyne.de

Der letzte Tag

Die Müdigkeit legt sich ihm wie eine nasse Decke um den Kopf. Wenn er als Kind Fieber hatte, versuchte seine Mutter, die Temperatur mit kalten Tüchern zu senken. Vielleicht hat er ja Fieber? Er legt sich die Handfläche an die Stirn, doch sie fühlt sich kühl an. Was hatte Mutter immer gesagt? Irgendwas mit Gras. Nein, das kann nicht sein. Sein Kopf ist so verdammt langsam, die Gedanken flüchtig. Er schaut zu dem leeren Platz auf dem Sofa neben sich. Gerade hat dort noch jemand gesessen, bloß wer?

Morgen muss er es unbedingt ruhiger angehen lassen. Nicht wieder rumrennen wie ein Idiot. Der Kopf kommt nicht mehr mit. Der Gedanke ans Mittagessen schmerzt ihn am meisten. Er hätte nichts sagen sollen. Nicht so. Aus ihnen beiden wird nichts mehr werden, aber er will auch nicht, dass sie wütend auf ihn ist. Das Einzige, was er gerade zuverlässig schafft: andere enttäuschen. Wobei das eigentlich auch nichts Neues ist.

Ihm sackt das Kinn auf die Brust. Ein Rumsen lässt ihn wieder hochschrecken. War das die Kühlschranktür? Er sollte in die Küche gehen und nachsehen, ob die Milch umgekippt ist, denn neulich hat er den Verschluss nicht richtig aufgeschraubt, aber er kann sich nicht aufraffen. Der leere Platz neben ihm zieht wieder seinen Blick an. Wie schön das wäre, sich jetzt einfach hinzulegen, den Schlaf willkommen zu heißen. Sich um nichts von alldem mehr kümmern zu müssen.

Ein Cognacglas wird vor ihm auf den Couchtisch gestellt. Sein Blick folgt der Hand den Arm hinauf zum Gesicht. Verzweiflung schnürt ihm die Luft ab. Er will allein sein, erinnert sich aber nicht an die Wörter, um das auszudrücken.

»Prost«, sagt die Stimme.

Wie ferngesteuert greift er nach dem Glas und führt es zum Mund, nippt am Cognac. Der sonderbare Beigeschmack veranlasst ihn, das Glas wieder auf den Tisch zu stellen.

»Ich möchte, dass du gehst«, bringt er hervor.

»Noch nicht«, sagt die Person und trinkt selbst einen großen Schluck Cognac.

Ohne dass er es wirklich will, ahmt sein Körper die Bewegung nach. Er verzieht das Gesicht, wieder der sonderbare Beigeschmack und dazu dieses Gefühl, das sich im Brustkorb ausbreitet. Er verträgt so Hochprozentiges nicht mehr. Mittlerweile hält er sich an Bier. Mit einem Seufzer steht er vom Sofa auf.

»Wohin willst du?«, fragt die Stimme.

»Zum Kühlschrank«, antwortet er.

»Setz dich.«

Die Stimme klingt plötzlich hart, also sinkt er zurück aufs Sofa, will heute nicht mehr streiten.

»Trink«, hört er. »Trink aus, dann gehe ich.«

Er glaubt nicht daran, trinkt trotzdem. Irgendwas an dieser Situation ist verdammt falsch. Er schaut zu dem aus Holz geschnitzten Kästchen im Regal. Braucht den Halt, den es ihm immer spendet. Doch es steht nicht da. Alle seine Erinnerungen sind fort.

MONTAG, 16. MÄRZ

1

Ihre Hand suchte ihren Bauch. Das Kind darin lebte, aber obwohl Hanna Duncker den Herzschlag gehört hatte, fiel es ihr schwer, das wirklich zu glauben. Nichts wünschte sie sich mehr, als endlich die ersten Tritte zu spüren. Sie war in der achtzehnten Woche und hatte gelesen, dass sie jetzt bald mit den ersten Kindsbewegungen rechnen konnte. Nächste Woche stand endlich der erste große Ultraschall an. Vielleicht war sie danach beruhigt.

Beweg dich, ermunterte sie das Baby, aber es gehorchte nicht. Beweg dich, du musst machen, was deine Mama dir sagt. Nach wie vor rührte sich nichts.

Sie hob den Blick und schaute durch die Glaswand, die den Zuschauerbereich vom übrigen Gerichtssaal trennte. Auf der anderen Seite hatte der Gerichtsvorsitzende damit begonnen, die Anwesenheit zu prüfen. Plexiglasscheiben waren zwischen dem Vorsitzenden, dem Protokollanten und den drei Schöffen aufgestellt worden, von denen einer außerdem einen Mundschutz trug. Jeder Tisch war mit einer Flasche Handdesinfektionsmittel ausgestattet. Spätwinterlicht fiel durch die hoch eingebauten Fenster in den weiß gestrichenen Gerichtssaal. Das einzige dunkle Element waren die schwarzen Stühle.

Sie ließ die Fingerspitzen über die beiden Narben gleiten, wusste genau, wo sie sich unter der gepunkteten Bluse befanden. Der erste Stich hatte sie in die Seite getroffen und alle wichtigen Organe verfehlt, doch der zweite hatte ihren Darm perforiert. Die daraus resultierende Infektion hatten sie und ihr Kind beinahe das Leben gekostet. Zweimal war sie operiert worden, und das erste Antibiotikum schlug nicht an. Drei Wochen lang hatte sie im Krankenhaus bleiben müssen. Aber sie und das Kind hatten tatsächlich überlebt.

Hanna zwang sich, die Hand von ihrem Bauch zu nehmen, und sah sich im Zuschauerraum um. Wenn man bedachte, wie viel in letzter Zeit über Ester Jensens Tod berichtet worden war, hatten wesentlich weniger Menschen den Weg hierher gefunden, als sie angenommen hatte. Gerade mal zehn, aber vermutlich hielten sich viele aus Angst vor Ansteckung fern. Auch durften sie weder ihr Bruder Kristoffer noch ihre Freundin Rebecka begleiten, weil sie beide als Zeugen im Prozess aussagten.

Beruflich hatte sie zwangsläufig schon an vielen Verhandlungen teilgenommen, hatte also geglaubt, gut vorbereitet zu sein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie wenig das zutraf. Ihr klebte die Zunge am Gaumen, und die Angst flatterte in ihrem Brustkorb wie ein eingesperrter Vogel. Sie wohnte hier einem neuen Prozess zum Mord an Ester Jensen bei. Einem Prozess, der hoffentlich ihren Vater rehabilitieren würde. Vom ersten Strafprozess hatte sie sich damals ferngehalten. Wie hätte Vater auf den neuen Prozess reagiert, wäre er noch am Leben?

Isak hatte angeboten, sie zu begleiten, doch Hanna hatte abgelehnt. Was sie jetzt bereute. Die Kinder in der Schule brauchten ihn, aber Hanna eben auch. Wie viel es ihr bedeutet hätte, ihn bei sich zu haben, einfach die Hand nach ihm ausstrecken zu können. Sie selbst hatte sich eine Woche freigenommen, damit sie die Gerichtsverhandlung verfolgen konnte.

Ihr Blick wanderte zu Henning Larsson, der den Prozess für die Lokalzeitung Barometern begleitete. Er war der einzige Anwesende, mit dem sie so etwas wie Freundschaft verband. Vielleicht spürte er ihren Blick, denn er schaute zu ihr und grüßte sie mit einem Nicken. Schräg vor Hanna saß ihre Kollegin Carina Hansson, die stark abgenommen hatte. Vermutlich eher aus Stress als wegen sportlicher Betätigung. Carina war die Cousine von Ester Jensens Tochter Maria, und die beiden standen einander sehr nah. Als Hanna bei der Polizei in Kalmar anfing, hatte Carina keinen Hehl aus ihrer Ablehnung gemacht. Für sie war Hanna die Tochter des Mörders gewesen, doch nun würde vielleicht ein anderer schuldig gesprochen werden. Ester Jensens Ex-Mann Sven-Otto – einer der Angeklagten – war Carinas Onkel.

Gibt Carina mir daran jetzt die Schuld? Hanna vertrieb den Gedanken. Allerdings wäre es ohne Hanna sicher nicht zu diesem Prozess gekommen. Schließlich hatte sie angefangen, in der Vergangenheit zu graben, um zutage zu fördern, wie Ester Jensen eigentlich gestorben war. Trotz allem kamen sie und Carina jetzt besser miteinander aus, obwohl sie noch immer nicht sonderlich viel miteinander sprachen.

Der Gerichtsvorsitzende übergab das Wort an den Staatsanwalt, dem Hanna sich nun ebenfalls zuwandte.

»Zur Einleitung will ich den Tathergang so beschreiben, wie wir von der Staatsanwaltschaft ihn rekonstruiert haben: Am Abend des 4. Juni 2003 brachen Axel Sandsten, Kristoffer Baxter – der damals noch den Nachnamen Duncker trug – und Robin Svensson gegen neunzehn Uhr bei Ester Jensen in Åby ein. Axel Sandsten verletzte Ester Jensen körperlich so schwer, dass sie starb. Ich fordere deshalb, dass er wegen Mordes zu einer Gefängnisstrafe von mindestens zwölf Jahren verurteilt wird.«

Der Staatsanwalt trug einen dunkelgrauen Anzug und eine ordentliche Kurzhaarfrisur. Er konnte nicht älter als dreißig sein, und Hanna hoffte, dass er so kompetent war, wie er klang. Neben dem Staatsanwalt saßen Maria Jensen und ihre Anwältin. Maria trug schwarz und hielt den Blick auf ihre Hände gerichtet. Sie hätte genauso gut bei einer Beerdigung sein können. Vielleicht fühlte es sich für sie ja so an. Ihre Mutter war ermordet worden, und höchstwahrscheinlich steckte ihr Vater dahinter.

Hanna schaute zu den Angeklagten. Sie saßen mit den Rücken zu den Zuschauern. Axel Sandsten war sehr aufrecht, sein Kopf fast reglos, als hätte er nicht den geringsten Grund, sich zu schämen. Der Mistkerl glaubte sicher, er würde ungeschoren davonkommen. Sven-Otto krümmte sich, seine Hände waren permanent in Bewegung.

»Des Weiteren geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass Sven-Otto Jensen den ebenfalls angeklagten Axel Sandsten für den Mord an seiner Ex-Frau bezahlt hat. Dies ist Anstiftung zum Mord, und dafür fordere ich eine lebenslange Haftstrafe.«

Als der Staatsanwalt verstummt war, wandte sich der Gerichtsvorsitzende an die Strafverteidiger. Hanna wusste schon, was Axel Sandstens Anwältin sagen würde, noch ehe sie den Mund aufgetan hatte. Und das, obwohl sie die Frau mit dem feinen Kostüm und dem strammen Dutt nur von hinten sah.

»Mein Mandant bestreitet, dass er überhaupt vor Ort war, somit trägt er keinerlei Verantwortung für das Geschehene.«

Auch Sven-Otto Jensen wies die Tat von sich. Sein Anwalt war etwa fünfzig Jahre alt und trug einen dunklen Nadelstreifenanzug, der ungefähr so locker saß, wie er sich gab. Die Staatsanwaltschaft hatte keine Anklage gegen Kristoffer erhoben, obwohl er darum gebeten und gebettelt hatte. Doch das einzige Vergehen, das man ihm vorwerfen konnte, war, einen Verbrecher zu schützen, und eine solche Tat verjährte nach zwei Jahren.

Hanna schloss bekümmert die Augen. Ihr Leben hatte sich an jenem Tag verändert, an dem ihr Vater von der Polizei abgeholt worden war. Kristoffer hatte nicht nur Axel Sandstens Tat verschwiegen, sondern außerdem ihren Vater an den Tatort gerufen und dazu gebracht, die Schuld auf sich zu nehmen, indem er behauptete, er selbst sei der Täter. Ihr Vater Lars hatte das Haus in Brand gesetzt, in dem die bereits tote Ester Jensen lag, und dann gestanden, sie ermordet zu haben. Dafür hatte er fast zehn Jahre im Gefängnis gesessen. Nach seiner Entlassung hatte er sich zu Tode gesoffen.

Und wenn Axel Sandsten nun nicht verurteilt wurde? Wie würde es dann mit ihr und Kristoffer weitergehen? Hanna war davon überzeugt, dass nur eine Verurteilung ihrer Beziehung ein neues Fundament geben konnte. Wenn möglich stand Kristoffer wegen der Verhandlung sogar noch mehr unter Stress als sie. Er war am Samstag in Schweden gelandet, und sie hatten ihn im Gästezimmer von Isaks Haus in Södra Näsby untergebracht. Sie nannte es noch immer Isaks Haus, obwohl sie nun schon drei Monate zusammen dort lebten. Erst morgen würde Kristoffer in den Zeugenstand gerufen.

Ein Urteil würde hoffentlich all den Drohungen und Angriffen ein Ende setzen. Der blonde Mann, der Hanna kurz vor Weihnachten niedergestochen hatte, war im darauffolgenden blutigen Chaos entkommen. Sie wusste nicht mal, wer er war, aber sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Axel Sandsten ihn geschickt hatte.

Der Staatsanwalt richtete seinen Schlips und begann damit, den Tathergang zu schildern. An dieser Stelle legte er auch die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung vor, doch da seit der Tat bereits viele Jahre verstrichen waren, war ihr Umfang eher gering. Überwiegend handelte es sich um Erkenntnisse der Ursprungsermittlungen, um die Untersuchung des abgebrannten Hauses und das Obduktionsprotokoll von Ester Jensens verkohltem Leichnam. Aber es gab auch neue: DNA-Spuren aus dem Haus waren Axel Sandsten zugeordnet worden, außerdem hatte Sven-Otto Jensen eine Woche nach dem Mord über fünfzigtausend Kronen auf ein Konto überwiesen, das Axel Sandsten gehörte. Ein entsprechender Kontoauszug war bei der Durchsuchung von Axels Haus gefunden worden. Wieso hatte er ihn wohl aufbewahrt? Vielleicht damit er etwas gegen Sven-Otto in der Hand hatte? Mehrere Jahre später waren weitere Überweisungen getätigt worden.

Weder Axel Sandstens noch Sven-Otto Jensens Verteidigung hatten viel hinzuzufügen. Hanna wand sich, während sie ihren Ausführungen lauschte. Laut ihrer Aussage handelte es sich bei diesem Prozess um nichts als eine Farce, angeleiert vom eigentlichen Täter, der die Nerven verloren hatte. Offenbar hatten sie sich abgesprochen, Kristoffer die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die DNA-Spuren wurden abgetan, angeblich hatte Axels Vater eine Kommode an Ester verkauft, und Axel hatte beim Tragen geholfen.

Hanna schaute zu den schmalen Fenstern unterhalb der Decke hinauf, brauchte eine Erinnerung daran, dass es die Welt draußen noch gab. Sehen konnte sie nur Bäume, deren Äste kahl waren. Sie standen zu weit entfernt, als dass Hanna hätte sehen können, ob schon erste Blätter austrieben.

»Wir machen eine Pause«, verkündete der Gerichtsvorsitzende.

Nach der Pause würde die Klägerin Maria Jensen gehört werden. Danach die Angeklagten. Hanna bekam Magenschmerzen bei der Vorstellung, Axel Sandsten dabei zuhören zu müssen, wie er ihren Bruder in den Dreck zog.

2

Ingrid Mattsson schlug das Barometern zu und legte die Zeitung auf den Küchentisch. Schob sie weit von sich weg. Zwei neue Coronafälle im Bezirk Kalmar bestätigt, verkündete die größte Schlag-

zeile. Sicher, die neue Krankheit, die sich verbreitete, war beunruhigend. Ingrid hatte keine einzige von Anders Tegnells Pressekonferenzen verpasst, gerade wog nur die Sorge um Vidar schwerer. Sie hatte ihn wie jeden Sonntag der vergangenen Monate angerufen, doch diesmal war er nicht wie sonst immer an den Apparat gegangen. Und zurückgerufen hatte er auch nicht.

»Guck mal, Oma«, sagte Olivia und hielt hoch, was sie gerade gezeichnet hatte.

Olivia war zwölf Jahre alt und ihr jüngstes Enkelkind.

»Wie schön«, sagte Ingrid und lächelte. »Ist das Rufus?«

Rufus war der Hund der Familie.

»Nein«, kicherte Olivia. »Das ist eine Kuh, du Dummerchen.«

Mit dem Zeigefinger schob sie die Brille hoch, die ihr permanent die Nase hinunterrutschte. Olivias ältere Geschwister waren dreiundzwanzig und einundzwanzig, und obwohl die eine gerade ihr Studium abgebrochen und die andere mit ständigen Beziehungsproblemen kämpfte, machte Ingrid sich weniger Sorgen um sie. Egal, was Ingrids Sohn auch sagte, die beiden waren gewieft und würden sicher gute Jobs und Lebenspartner finden. Für Olivia sah das etwas anders aus, denn sie hatte Trisomie 21. Nach ein paar anstrengenden Jahren, in denen sie immer wieder von zu Hause ausgebüxt war, schien sie nun etwas ruhiger geworden zu sein. Da die Schule heute geschlossen blieb, hatte Ingrid ihrem Sohn Jakob angeboten, auf Olivia aufzupassen, damit er arbeiten konnte. Jakob hatte den Hof übernommen, der einst Ingrids ganzes Leben bestimmt hatte. An der Zahl der Milchkühe hatte sich nicht viel geändert, es waren auch heute noch ungefähr hundert. Allerdings hatte Ingrids Schwiegertochter eine kleine Molkerei aufgebaut, wo sie eigenen Käse herstellte.

»Woran denkst du?«, fragte Olivia.

Was für ein fantastischer kleiner Mensch sie doch war.

»Wie froh ich bin, bei dir zu sein.«

Wieder kicherte Olivia und stand auf.

»Ich möchte nach draußen, ich will spielen.«

»Noch nicht«, sagte Ingrid und reichte ihr ein weißes Blatt. »Kannst du erst noch Rufus zeichnen?«

Olivia nahm den braunen Buntstift und fing an zu malen. Fast augenblicklich zeigte sich die Zunge im Mundwinkel, wie immer, wenn sie sich konzentrierte. Rufus war ein schwarz-weißer Border Collie, aber Ingrid kommentierte die Farbwahl nicht. Darauf kam es für Olivia nicht an. Sie griff lieber zu ihrem Handy und versuchte es noch einmal bei Vidar, doch der ging immer noch nicht ans Telefon, was Ingrid nur weiter in ihrer Befürchtung bestärkte, dass etwas vorgefallen war. Frustriert drückte sie auf den roten Hörer und suchte dann nach Hannas Nummer – ihre ehemalige Nachbarin war schließlich Polizistin. Doch dann fiel ihr der Prozess ein, Hanna war gerade sicher anderweitig beschäftigt, also legte Ingrid das Handy wieder beiseite. Vielleicht konnte sie ja jemanden in Borgholm bitten, einmal bei Vidar vorbeizugehen und nach dem Rechten zu sehen? Sie hatte dort noch ein paar alte Bekannte, sogar ein paar neue, aber es fühlte sich falsch an, darum zu bitten. Das würde die Gerüchteküche nur unnötig befeuern. Ingrids Wangen nahmen einen leichten Rotton an, als sie an ihr letztes Treffen dachte. Nein, sie konnte nicht länger hier rumsitzen und sich Gedanken machen. Sie berührte Olivia und wartete ab, bis das Mädchen ihre Aufmerksamkeit auf sie richtete.

»Hast du Lust auf einen Ausflug?«, fragte Ingrid.

»Ja!«

Olivia riss die Arme in die Luft. Rufus’ braune Augen schauten neugierig vom Blatt. Ohren hatte er auch welche bekommen, und eine sehr lange Nase. Man konnte den Hund tatsächlich erkennen.

Schnell packten sie einen Proviantkorb mit Käsebroten, Saft und einer Packung Zimtschnecken aus dem Tiefkühler. Von Kleva brauchte man etwa vierzig Minuten mit dem Auto nach Borgholm, und Olivia fuhr gern mit, solange man lustige Spiele spielte. Fünfzehn Minuten und einen obligatorischen Toilettenbesuch später saßen die beiden in Ingrids altem Volvo. Olivia öffnete sofort das Handschuhfach und holte ein Kartenspiel heraus.

»Sind wir bald da?«, sagte sie und zog die erste Karte.

Das war keine Frage, sondern der Name des Spiels. Die Karte zeigte eine Kuh.

»Ja!«, rief Olivia und schaute aufgeregt aus dem Fenster.

Die Sonne strahlte von einem überwiegend blauen Himmel, aber das Thermometer zeigte jetzt, Mitte März, noch nicht mehr als sieben Grad. Ingrid bezweifelte, dass schon jemand Kühe auf die Weide gelassen hatte. Nachdem sie mehrere Minuten lang vergeblich Ausschau gehalten hatte, zog Olivia eine neue Karte.

»Schild!«, jubelte sie.

Ingrid ignorierte geflissentlich das Geschwindigkeitsschild und überließ es Olivia, aufgeregt auf das Schild hinzuweisen, das sich ein Stück weiter auf ihrer Straßenseite befand und Auskunft darüber gab, wo der Runenstein von Karlevi zu finden war. Das Spiel lief problemlos bis Rälla, wo Olivia gern Rast machen wollte, doch Ingrid schaffte es, sie gerade noch rechtzeitig damit abzulenken, rote Autos zu zählen. Das Gefühl der Eile wuchs unaufhörlich in ihr. Was, wenn Vidar gestürzt war und nun mit gebrochenem Bein in seiner Wohnung lag? Dann war es natürlich nicht sonderlich klug, dass sie Olivia mitgenommen hatte. Sie bereute, dass sie nicht gleich gestern nach Borgholm gefahren war, aber das hätte vielleicht ein bisschen übertrieben gewirkt. Vielleicht stimmte ja nur irgendwas mit dem Telefon nicht, oder er hatte es schlicht verlegt. Oder aber er bereute, wie ihr letztes Treffen zu Ende gegangen war.

»Ich hab Hunger«, klagte Olivia.

»Wir sind fast da«, sagte Ingrid. »Guck mal, da ist die Schlossruine.«

Schloss Borgholm war sie getauft worden, aber Ingrid bezweifelte, sich an diesen Namen gewöhnen zu können.

»Essen wir hier?«, fragte Olivia.

»Nein, wir besuchen einen Freund von mir. Er freut sich bestimmt auch über eine Zimtschnecke.«

Bei der Tankstelle bog Ingrid in die Storgatan, und nach wenigen Metern parkte sie vor Vidars Wohnung. Ein Nachbar kam gerade zur Tür heraus, weshalb Ingrid hastig zu ihm eilte. Sie war nämlich nicht sicher, ob sie den Türcode noch richtig in Erinnerung hatte.

»Wir haben den Proviant vergessen«, sagte Olivia, als die Tür hinter ihnen zufiel.

»Oh, stimmt. Dann müssen wir den eben gleich noch holen.«

Diese Antwort fand Olivia nicht zufriedenstellend, trotzdem folgte sie Ingrid die Treppe hinauf. Vor knapp einer Woche hatte Vidar sie endlich zu sich zum Essen eingeladen. Die Lasagne war ihm ein bisschen angebrannt, aber er hatte das weggelacht und behauptet, er habe die Zeit vergessen, weil er so intensiv an sie gedacht habe. Er hatte über den Tisch hinweg ihre Hand genommen, und so hatten sie ein paar Minuten lang dagesessen und einander einfach nur angesehen. Als sie schlussendlich hatte aufbrechen müssen, hatte er sie an sich gezogen und geküsst. Sie hatte den Kuss nur zu gern erwidert. Wie groß das Verlangen gewesen war, das der Kuss in ihr geweckt hatte, überraschte sie noch immer. Natürlich hatte sie in den vergangenen Monaten oft über das nachgedacht, was zwischen ihnen gewesen war und was vielleicht noch werden konnte. Vergangenen Herbst waren sie sich zufällig in Färjestaden über den Weg gelaufen, und es war herrlich gewesen, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen. Ihre ersten Gedanken an ihn waren nur von ein paar Schmetterlingen begleitet gewesen. Aber seit dem Abendessen vor knapp einer Woche hatte sie kaum an etwas anderes denken können als an Vidar – und daran, wie sehr sie ihn wollte.

Vidar wohnte im zweiten Stock. Ingrid bat Olivia zu klingeln und legte selbst das Ohr an die Tür. In der Wohnung regte sich nichts. Hätte Vidar mit gebrochenem Bein am Boden gelegen, hätte er sich bemerkbar gemacht. Ingrid zückte ihr Handy und wählte seine Nummer. Es klingelte auf der anderen Seite der Tür. Trotzdem kam er nicht, um ihnen zu öffnen. Ingrid drückte auf die Klinke, und zu ihrer großen Verwunderung war nicht abgeschlossen. Sie traten in den Flur.

»Vidar!«, rief sie.

Keine Reaktion.

»Warte hier«, sagte sie zu Olivia und schloss sicherheitshalber die Haustür von innen ab.

Der nächstgelegene Raum war die Küche, die sie gar nicht erst betreten musste, um zu wissen, dass niemand darin war. Langsam näherte sie sich dem Wohnzimmer, aber auch dort war er nicht. Schon stand sie vor der Schlafzimmertür und öffnete sie. Vidar lag auf dem Rücken im Bett, das Gesicht zu ihr gedreht. Seine Augen waren aufgerissen und glasig. Mund und Kissen waren voll mit Erbrochenem. Sie konnte ein Keuchen nicht verhindern. Oh, Vidar.

»Ist er krank?«, fragte Olivia hinter ihr.

3

Handys waren im Gerichtssaal nicht erlaubt, weshalb Hanna ihres schnell in der Jackentasche verschwinden ließ, als der Wachmann sie ansah. Die Vernehmung von Maria Jensen dauerte nun schon fast eine halbe Stunde. Sie beantwortete die Fragen des Staatsanwalts einsilbig. Die Erinnerungen an den Tag von Esters Tod waren ihr am deutlichsten im Gedächtnis geblieben. Maria hatte geschlafen, als ein Nachbar bei ihr klingelte und sagte, dass es bei ihrer Mutter brannte. Der Nachbar hatte sie nach Åby gefahren, wo die Flammen bereits ihre gesamte Existenz verschlangen. Die folgenden Tage glichen eher Fragmenten: ein Polizist, der ihr mitteilte, dass ihre Mutter tot war, dass sie umgebracht worden war, dass Lars Duncker festgenommen worden war, dass er der Schuldige war. Es besteht kein Zweifel, hatte die Polizei gesagt. Vermutlich Ove Hultmark. Genau diesen Satz hatte Hanna auch von ihm zu hören bekommen. Damals hatte er nur die Ermittlungen geleitet, die zur Verurteilung ihres Vaters geführt hatten, jetzt war er außerdem ihr Chef. Ove hatte ihr geholfen, den Job bei der Kalmarer Polizei zu bekommen, als sie nach sechzehn Jahren in Stockholm beschlossen hatte, nach Öland zurückzukehren.

»Würden Sie uns etwas über das Verhältnis zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater erzählen?«, bat der Staatsanwalt.

»Sie haben einander gehasst«, sagte Maria eher zum Tisch als zum Staatsanwalt.

»Sie müssten etwas lauter sprechen«, bat der Gerichtsvorsitzende sanft.

»Sie haben einander gehasst«, wiederholte Maria etwas bestimmter.

»Wie äußerte sich das?«, fragte der Staatsanwalt.

»Ich war vielleicht acht, als ich es zum ersten Mal bewusst mitbekam«, sagte Maria. »Sie haben sich angeschrien und damit auch nicht aufgehört, als ich aus meinem Zimmer kam und sie anflehte, sich zu beruhigen. Mein Vater hatte das Sparkonto leer geräumt. Deshalb war meine Mutter so wütend. Sie haben sich wenige Jahre später scheiden lassen.«

»Wie verhielten sie sich nach der Scheidung?«

»Sie sind sich aus dem Weg gegangen«, sagte Maria. »Meine Mutter hat nie wieder von ihm gesprochen, mein Vater hingegen hat oft über den Verlust des Hauses geklagt.«

»Was genau hat Ihr Vater über das Haus gesagt?«, hakte der Staatsanwalt nach.

»Dass Mama es ihm gestohlen hat.«

»Hat sich ihr Verhältnis je wieder entspannt?«

»Ja, eine Weile lang ging es dann doch gut. Aber dann wurde meinem Vater gekündigt, und meine Mutter lernte einen neuen Mann kennen. Das hat mein Vater nicht verkraftet.«

»Wie äußerte sich das?«

»Er verhielt sich noch gemeiner. Er sagte, dass Mama sein Leben zerstört hat.«

Als der Staatsanwalt keine weiteren Fragen mehr hatte, übergab der Gerichtsvorsitzende das Wort an die Verteidigung.

»Ich habe nur eine Frage«, sagte Sven-Otto Jensens Anwalt. »Glauben Sie, dass Ihr Vater Axel Sandsten angeheuert hat, um Ihre Mutter zu töten?«

»Nein, ich weigere mich, das zu glauben«, sagte Maria so leise, dass der Gerichtsvorsitzende sie erneut bitten musste, lauter zu sprechen.

Nach einem Blick auf die Uhr entschied der Gerichtsvorsitzende, mit der nächsten Vernehmung fortzufahren. Der Staatsanwalt hatte erwirkt, dass Axel Sandsten vor Sven-Otto Jensen in den Zeugenstand kam.

»Würden Sie uns bitte erzählen, was Sie am 4. Juni 2003 gemacht haben?«, bat der Staatsanwalt.

»Das ist siebzehn Jahre her«, sagte Axel Sandsten. »Das weiß ich nicht mehr.«

Seine Stimme ließ Hanna erschaudern. Er klang so gelangweilt, fast höhnisch. Sie sah sich um. Merkte das sonst wirklich niemand?

»Wann haben Sie Ester Jensen zum ersten Mal getroffen?«, fuhr der Staatsanwalt fort.

»Zum ersten und einzigen Mal im April oder Mai 2003«, sagte Axel. »Mein Vater hatte ihr eine Kommode verkauft, und ich habe dabei geholfen, sie ins Haus zu tragen.«

»Ihre DNA befand sich auf dem Treppengeländer vorm Haus«, sagte der Staatsanwalt. »Können Sie erklären, wie sie dorthin gekommen ist, wenn Sie eine Kommode hineingetragen haben?«

»Vermutlich habe ich mich dort festgehalten, als ich weggegangen bin«, antwortete Axel. »Wie gesagt, das ist siebzehn Jahre her. Das weiß ich nicht mehr.«

Das weiß ich nicht mehr war Axels Standardreplik. Sven-Otto Jensen habe er erst nach dem Mord an Ester kennengelernt, Sven-Otto hatte ihm verschiedene Gelegenheitsjobs angeboten. Aber Hanna wusste, dass er log. Rebecka war bei Axel gewesen, als dieser Besuch von Sven-Otto bekommen hatte. So erst hatte sie ja begriffen, dass Esters Ex-Mann in den Mord verwickelt war. Als der Staatsanwalt anfing, Fragen zu Kristoffer zu stellen, wurden Axels Antworten plötzlich ausführlicher.

»Kristoffer war schon immer eifersüchtig auf mich«, sagte Axel Sandsten. »Auf meine Familie, auf mein Aussehen, auf mein Geld. Als wir noch zusammen aufs Gymnasium gingen, klebte er förmlich an mir, und ich habe ihn oft mitgenommen, aber es hat ihm doch nie gereicht. Die ganze Sache hier hat er nur angeleiert, um mich in den Knast zu bringen.«

Hanna schob sich die Hände unter die Oberschenkel. Eigentlich hätte sie sich viel lieber die Ohren zugehalten oder auf die Lehne vor sich eingetrommelt. Wie konnte Axel so schamlos lügen? In der Oberstufe hatte Kristoffer alles Mögliche für Axel erledigt, Alkohol besorgt und ihn überall hinkutschiert. Vermutlich hatte Kristoffer dafür Geld bekommen, anders konnte Hanna sich das gar nicht erklären.

»Wollen Sie damit sagen, dass Kristoffer Baxter Ester Jensen mit der klaren Absicht getötet hat, Sie ins Gefängnis zu bringen?«, fragte der Staatsanwalt.

»Nein, will ich nicht. Sein Motiv müssen Sie von ihm selbst erfragen, aber ich schätze mal, dass es um Geld ging. Ich wollte nur betonen, dass er lügt, wenn er behauptet, dass ich dort war, dass ich sie zu Tode misshandelt habe.«

Hanna starrte den Wirbel in Axels weißblonder Mähne an. Viele ihrer Mitschülerinnen hatten ihn attraktiv gefunden, sie hatte nie dazugezählt.

»Und das ist die einzig mögliche Erklärung, die Ihnen einfällt?«

»Wenn ich spekulieren müsste, was in seinem kranken Hirn sonst noch so vorgegangen sein könnte, würde ich vielleicht sagen, dass es um ein Mädchen ging.«

»Welches Mädchen?«, hakte der Staatsanwalt nach.

»In der Oberstufe war ich mit einem Mädchen zusammen, in das er verliebt war, und ich glaube, darüber ist er einfach nicht hinweggekommen. Wir waren über mehrere Jahre ein Paar und hatten sogar ein Kind zusammen.«

Hanna wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihn angeschrien. Das Mädchen, von dem er sprach, war Rebecka Forslund, eine langjährige Freundin von Hanna. Die einzige Freundin, die Hanna während ihrer Kindheit und Jugend in Gårdby gehabt hatte. Wie konnte Axel es wagen, Rebecka in diese Sache reinzuziehen? Rebecka hatte sich tatsächlich mal für Kristoffer interessiert, aber Hanna war ziemlich sicher, dass ihr Bruder diese Zuneigung nicht erwidert hatte. Vielleicht wollte Axel sie mit Kristoffers mutmaßlichem Motiv verflechten, ihre Zeugenaussage schon entkräften, bevor sie überhaupt getätigt wurde.

Der Staatsanwalt hatte keine weiteren Fragen mehr, und der Gerichtsvorsitzende übertrug das Wort an Axels Verteidigerin. Hanna fand, dass er zu schnell aufgegeben hatte. Er hätte Axel noch mehr unter Druck setzen müssen. Aber dazu würde es im weiteren Prozessverlauf ja noch eine Menge Gelegenheiten geben.

»Was ist mit Ihrem Kind passiert?«, fragte die Anwältin.

»Er wurde vor einem Jahr ermordet. Er wurde nur fünfzehn.«

Axel schluchzte, und Hanna war wieder kurz davor aufzuspringen. Die Nachfrage war doch nur ein billiger Versuch, Mitleidspunkte zu sammeln, und das hätte sie gern in den Saal gebrüllt. Und dass sie alle doch bitte Axels zahllosen Lügen nicht auf den Leim gehen sollten. Seiner unfassbaren Hinterhältigkeit.

»Das tut mir sehr leid«, sagte die Anwältin. »Das muss schrecklich gewesen sein. Ich habe keine weiteren Fragen. Vielen Dank.«

»Es ist fast halb zwölf«, sagte der Gerichtsvorsitzende. »Wir machen eine Mittagspause. Die Verhandlung wird um ein Uhr fortgesetzt, und zwar mit der Vernehmung Sven-Otto Jensens. Ich hoffe, wir können im Laufe des Tages auch noch Ove Hultmark und Per-Olof Hansson hören.«

Hanna verließ Saal vierzehn und eilte in die Toiletten direkt nebenan. Gerade konnte sie einfach mit niemandem sprechen. Axel Sandsten war ein unfassbarer Lügner, aber auch ein wahrer Meister darin, die Leute von sich zu überzeugen. Was, wenn sich die Richterin und die Schöffen von ihm einwickeln ließen und die Lügen glaubten, die er über ihren Bruder verbreitete?

Nachdem sie sich kurz erleichtert hatte, wusch Hanna sich sorgfältig die Hände und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann trocknete sie sich mit einem der Papiertücher ab. Auf dem Waschbecken stand eine Flasche mit Desinfektionsmittel, Hanna drückte sich etwas davon in die Handfläche und massierte es sorgfältig ein. Der Geruch biss ihr in die ohnehin überempfindliche Nase. Als sie in den Flur kam, entdeckte sie Kristoffer zwischen den wenigen Zuhörerinnen und Zuhörern.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

Niemandem konnte entgehen, dass sie Geschwister waren, wenn sie nebeneinanderstanden. Er war ein paar Zentimeter größer als sie mit ihren einsfünfundachtzig, aber ansonsten waren sie gleich gebaut und hatten die gleichen blonden Haare. Zwischen ihnen lag nur ein Jahr, und als sie jünger waren, wurden sie oft für Zwillinge gehalten. Gerade hatten sie beide kurze Haare, nur ihr Pony war länger.

»Ich habe das Warten einfach nicht mehr ausgehalten.«

Kristoffer schob die Hände in die Hosentaschen. Vermutlich hatte er gestern noch allein weitergetrunken, nachdem sie und Isak schlafen gegangen waren. Natürlich hatte sie Verständnis für ihn, sie wünschte nur, er fände einen anderen Weg, seine Angst zu beherrschen.

»Was hat Axel gesagt?«, fragte er.

»Du weißt, dass ich dir das nicht beantworten darf.«

Dabei wollte sie es ihm ehrlicherweise nicht sagen. Kristoffer würde es keinen Deut helfen, wenn er wüsste, dass Axel ihm die ganze Schuld gab, aber vermutlich ahnte er das sowieso schon. Ove hatte die Ergebnisse der Voruntersuchung vorschriftsmäßig für sich behalten, also wusste Hanna frustrierend wenig über das, was im Prozess passieren würde. Nur ein paar Namen der geladenen Zeuginnen und Zeugen waren ihr bekannt: Ove selbst, Kristoffer, Rebecka und Sven-Otto Jensens Bruder. Kristoffers Blick wanderte zu jemandem hinter ihr, also drehte sie sich um. Auf einer der Bänke saß ein Paar über sechzig. Der Mann war groß und hatte graues Haar. Die Frau war deutlich kleiner und rothaarig – aber das wirkte gefärbt.

»Sind das Axels Eltern?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Kristoffer. »Ich wünschte, das alles wäre schon vorbei.«

»Ich auch«, sagte sie, dabei war sie sich gar nicht so sicher.

Denn sofort meldete sich wieder dieser nagende Gedanke: Was würde passieren, wenn Axel Sandsten nicht verurteilt wurde? Aber nein, der Frage wollte sie gar keinen Raum geben.

»Hast du heute mit Beth gesprochen?«, fuhr sie fort.

Sie bereute die Frage schon, während sie sie stellte. Kristoffer schüttelte den Kopf. Seine Frau und seine Tochter Ella, die in ein paar Monaten vier werden würde, waren noch in London. Hanna ahnte, dass zwischen ihm und Beth nicht alles rosig war. Am Samstag hatte sie die beiden am Telefon streiten hören. Sie hatte versucht, später mit ihm darüber zu sprechen, doch es war nur deutlich geworden, dass er seine Probleme nicht mit ihr teilen wollte.

Henning Larsson gesellte sich zu ihnen. Der Journalist war im Winter eine große Hilfe gewesen. Die kritische Berichterstattung im Barometern über Axel Sandstens Bauvorhaben in Grönhögen war in gewisser Weise der Auslöser gewesen, der schlussendlich zu diesem Prozess geführt hatte. Die Ermittlungen waren zwar aus Mangel an Beweisen eingestellt worden, aber der Bau war dennoch bis auf Weiteres gestoppt. Beim Durchleuchten von Axels Finanzen waren jedenfalls mehrere Überweisungen von Sven-Otto Jensen entdeckt worden.

»Wie sieht es mit dem Interview aus?«

Die Frage war nicht ernst gemeint, deshalb lächelte sie ihn an.

»Gern, du kannst dich jederzeit melden, sobald ich im Altersheim bin.«

Dann entdeckte Henning jemanden, der etwas zu seinem Artikel über den Prozess beitragen konnte, und war schon wieder weg.

»Gut, den los zu sein«, sagte Kristoffer.

An den vergangenen Tagen hatten sie mehr Zeit miteinander verbracht als in all den Jahren, seit Kristoffer nach London gezogen war.

»Wieso sagst du das?«

»Ich mag den nicht«, sagte Kristoffer.

»Ja, das ist klar, ich verstehe nur den Grund nicht …«

Ihr Handy vibrierte, und sie zog es aus der Tasche. Oves Name leuchtete ihr entgegen. Er wusste, dass sie bei Gericht war, also musste es wichtig sein. Sie ging in dem Moment dran, als ein Zeuge in Saal zehn gebeten wurde.

»Tut mir leid, dich zu stören«, sagte Ove. »Aber in Borgholm wurde ein Toter aufgefunden.«

»Und wieso teilst du mir das mit?«, fragte Hanna.

»Die Frau, die uns verständigt hat, kennt dich. Ihr wart Nachbarn in Kleva.«

»Ingrid«, sagte Hanna. »Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Sie legte auf, doch Ove rief sofort wieder an.

»Jetzt hör bitte erst mal zu«, sagte er. »Ingrid hatte ihre Enkelin dabei. Das Mädchen ist zwar schon zwölf, hat aber das Downsyndrom, und jetzt ist sie verschwunden.«

»Verschwunden?«, wiederholte Hanna.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte Ove. »Ingrid sprach sehr unzusammenhängend, als sie anrief. Und du fährst nicht allein. Erik holt dich vom Gericht ab.«

Der letzte Tag

Der schweißnasse Schlafanzug klebt ihm am Körper, frustriert schlägt Vidar die Decke zurück. Kurz darauf bekommt er vor Kälte extreme Gänsehaut. Dass es so höllisch schwer sein konnte einzuschlafen. Er liegt schon seit Stunden wach. Wütend reißt er die Decke wieder an sich, zieht sie bis unters Kinn.

Seit Millas Besuch ist er sehr schlecht gelaunt. Anfangs war sie immer so nett gewesen, aber jetzt führte sie sich plötzlich auf wie eine streitsüchtige Rechthaberin. Er hat es gewagt, sie zu verbessern, woraufhin es nur so Flüche gehagelt hatte. Also hat er ihr geraten, sich einen Job zu suchen, bei dem sie es nicht mit Menschen zu tun hatte, so rotzfrech, wie sie ist. Außerdem geht sie immer ziemlich rabiat zur Sache. Trotzdem hätte er nicht schlecht über ihre neue Haarfarbe oder die laxen Regeln der Kommune reden sollen, die sich offenbar nicht darum scherten, wie ihre Angestellten aussahen. Ihm gefällt es schließlich, dass sie sich ständig die Haare färbt. Heute waren sie hellblau.

Als ihn erneut eine Schweißschicht überzieht, kapituliert Vidar. Mit einem Stöhnen setzt er sich auf und schwingt die Beine über die Bettkante. Steckt die Füße in die Lammfellschuhe. Er trägt zwar einen Schlafanzug, greift aber trotzdem zu dem bedeutend dickeren Morgenmantel. Sonst fängt er doch wieder nur an zu frieren. Aber er knotet ihn nicht zu. Vielleicht sollte er jemanden wegen der Heizung kommen lassen. Die Temperatur sollte nicht so extrem schwanken.

Vidar geht in die Küche und nimmt ein Glas aus dem Schrank über der Spüle. Mit dem Glas in der Hand verharrt er kurz, bevor er zum Kühlschrank tritt. Nach dem muss er auch mal sehen lassen, die Tür schließt nicht mehr gut, und mehr als einmal hat er sie versehentlich offen gelassen.

Er füllt Milch ins Glas, das er dann in die Mikrowelle stellt. Lässt sie vierzig Sekunden laufen. Sie schmeckt nicht wie sonst. Er riecht am Paket, aber sie scheint nicht sauer zu sein. Da fällt ihm auf, dass er den Honig vergessen hat. Einen Teelöffel voll rührt er hinein, und schon schmeckt die Milch, wie sie soll.

Der Ärger über Milla will sich einfach nicht legen. Er hat sie nicht wiedererkannt. Vielleicht hat sie ihn ja auch vorher einfach mit aufgesetzter Nettigkeit getäuscht?

Als Vidar ausgetrunken hat, geht er ins Wohnzimmer und schaut in das Holzkästchen. Für gewöhnlich beruhigt es ihn, die Uhr zu berühren, die zuoberst liegt. Die Uhr, die er von seinem ersten Lohn gekauft hat. Die ihm noch immer dabei hilft, die Zeit im Blick zu behalten.

Lange steht Vidar da, den Blick in das Kästchen gerichtet. Ingrids Foto liegt zuoberst. Langsam begreift er: Die Uhr ist weg. Milla musste sie ihm geklaut haben. Die Einsicht, dass sie eine Diebin ist, tut ihm in der Seele weh, trotzdem muss er zuerst mit ihr sprechen, bevor er zur Polizei geht.

Der Diebstahl seiner geliebten Uhr hat ihn so aufgeregt, dass an Schlaf gar nicht mehr zu denken ist. Nachdem er kurz auf der Toilette war, blättert Vidar in seiner Schallplattensammlung und wählt eins von Pugh Rogefeldts Alben aus. Seit fünfzig Jahren wird keine gute Musik mehr gemacht. Er setzt die Nadel sofort auf Titel vier. Die ersten Töne von »Små lätta moln« reichen, um ihm ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, das sich durch seinen gesamten Körper fortsetzt. Er dreht die Lautstärke weiter auf und wagt ein paar Tanzschritte, doch sofort meldet sich sein Knie. Aber nein, er wird sich von seinem Körper nicht unterkriegen lassen. Er dreht die Musik noch lauter – ein Freund hat ihm geholfen, einen Verstärker an den Plattenspieler anzuschließen – und setzt sich aufs Sofa.

Erinnerungen spülen über ihn hinweg. Die Platte ist 1969 erschienen, da war er gerade mal achtundzwanzig und von einer Südamerikareise zurückgekehrt. Er suchte etwas Schwedisches, nachdem er sich auf See fast ausschließlich mit Englisch hatte durchhangeln müssen. Der Mann im Plattenladen sprach in den höchsten Tönen von dem Debütanten, der schwedische Rockmusik machte. Eigentlich hatte Vidar nach dieser Reise an Land bleiben wollen, doch es dauerte nur wenige Monate, bis die Sehnsucht nach der See zu stark wurde.

Ein Klopfen an der Tür reißt ihn aus den Erinnerungen. Was ist denn nun schon wieder? Er steht auf und geht zur Tür.

4

Erik Lindgren bog in die Smålandsgatan ein, in der sich das Gerichtsgebäude befand. Ein paar Gymnasiasten kreuzten über die Straße, ohne mitzubekommen, dass er ihretwegen bremsen musste. Direkt gegenüber vom Gericht lag die Jenny-Nyström-Schule. Als die Jugendlichen den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite erreicht hatten, entdeckte er Hanna. Sie kam um den Wagen herum und riss die Beifahrertür auf.

»Hast du schon was Neues gehört?«, fragte sie und nahm das eingeschweißte Sandwich vom Sitz.

»Ich dachte mir, dass du sicher noch nicht zum Essen gekommen bist«, sagte er.

»Was? Ach, das ist für mich? Das rührt mich jetzt«, sagte Hanna und riss die Verpackung auf. »Gibt es denn was Neues?«

»Leider nicht.«

Erik wendete und gab Gas.

»Ich habe es schon mehrfach bei Ingrid versucht«, sagte Hanna, »aber es ist immer besetzt.«

Erik hatte Ingrid noch nicht persönlich getroffen, aber Hanna sprach viel von ihr – obwohl sie nun ja keine Nachbarinnen mehr waren. Ingrid wohnte in Kleva direkt neben Hannas letztes Jahr am Luciatag abgebranntem Haus.

»Sie spricht bestimmt noch mit den Kollegen«, vermutete er.

»Nein, laut Ove hat sie sofort aufgelegt, als ihr aufgefallen ist, dass Olivia fort ist.«

Vermisste Kinder machten ihn immer besonders betroffen. Unmöglich, dabei nicht sofort an seine Tochter Nila zu denken. Sich vorzustellen, wie er reagieren würde, wäre sie verschwunden. Im Herbst wurde Nila neun, und bisher war ihm dieser Horror erspart geblieben.

»Wer ist der Tote?«, fuhr Hanna fort.

»Vidar Johansson, neunundsiebzig Jahre. Weißt du, wer das ist?«

»Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass Ingrid ihn je erwähnt hätte. Hat er Familie?«

»Eigene Kinder jedenfalls keine. Der nächste Verwandte scheint ein Neffe zu sein.«

Erik verließ die Autobahn und bog in den Ölandsleden. Über ihnen spannte sich ein strahlend blauer Himmel, obwohl es nicht sonderlich warm war. Trotzdem bekam er richtig Lust, mal wieder etwas an der frischen Luft zu unternehmen.

»Ich hab am Samstag mal Discgolf ausprobiert«, sagte er. »Hast du Bock, mal mitzumachen?«

»Discgolf? Nein, ich glaube nicht.«

»Man spielt mit Frisbees, nicht mit Schlägern und Bällen. Der Platz in Skälby ist echt schön.«

Hanna schüttelte lachend den Kopf.

»Schon gut, aber war ja ’nen Versuch wert«, sagte Erik.

Einer seiner Nachbarn aus Varvsholmen hatte ihn mitgenommen. Sie hatten in letzter Zeit viel zusammen unternommen. Der Mann war frisch geschieden, seine Ex-Frau war mit den Kindern in eine andere Stadt gezogen. Er wollte ihnen folgen, aber musste dort erst mal einen neuen Job finden. Dieser Tage vermutlich nicht das einfachste Unterfangen.

»Hast du eigentlich Klopapier gehamstert?«, fragte Hanna. »Du hast ja schon so leichte Prepper-Tendenzen.«

Vergangenes Jahr hatte Erik das Buch The Knowledge – How to Rebuild Our World After an Apocalypse gelesen. Eine Weile lang hatte er nämlich vorgehabt, sich eine Kate auf Öland zu kaufen und dort selbst Gemüse anzubauen. Allerdings hatte er schon seit Monaten nicht mehr darüber nachgedacht.

»Nein, das nicht«, sagte er. »Aber Supriya hat einen Haufen angeschleppt.«

Sie unterhielten sich darüber, wie verrückt es war, die leeren Regale in den Supermärkten zu sehen. Es war fünf Tage her, seit die WHO Corona zur Pandemie erklärt hatte. Die Menschen waren in heller Aufregung und kauften, was sie konnten. Er selbst wusste nicht, was er denken sollte. Irgendwie herrschte eine sonderbare Untergangsstimmung, als würden manche damit rechnen, dass wirklich bald Zombies durch die Straßen zögen. Eigentlich hätte er lieber über Axel Sandstens Prozess gesprochen, aber mittlerweile kannte er Hanna gut genug, um zu wissen, dass sie das Thema selbst anschneiden würde, wenn ihr danach war.

Hannas Handy klingelte, und sie ging schnell dran.

»Ich bin nicht bei Gericht. Erik und ich sind unterwegs nach Borgholm.«

Mit anderen Worten: Das war nicht Ingrid. Dem Tonfall nach zu urteilen, schätzte er Isak.

»Ich weiß«, war ihre Antwort auf etwas, was Isak gesagt hatte. »Aber Ingrid hat einen Freund tot aufgefunden, und jetzt ist ihre Enkelin Olivia verschwunden. Ich muss noch mal versuchen, sie zu erreichen. Melde mich später.«

Stille, während Isak sprach. Erik versuchte, mitzuhören, aber es war unmöglich. Hanna schaute ihn irritiert an, woraufhin er ihr ein besonders breites Grinsen schenkte. Seine Neugierde war reflexartig und hatte nichts zu bedeuten.

»Mach ich«, sagte sie. »Ich dich auch.«

Kaum war das Gespräch beendet, versuchte sie es erneut bei Ingrid.

»Noch immer besetzt«, sagte sie.

Die restliche Fahrt über schwiegen sie.

»Wo müssen wir denn hin?«, fragte Hanna schließlich, als sie an der Schlossruine von Borgholm vorbeikamen.

»Storgatan«, antwortete Erik.

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er die Schlossruine noch nie besichtigt hatte. Vielleicht konnte er ja sogar Supriya und Nila dafür begeistern. Das Schloss in Kalmar hatten sie schließlich schon mehrfach besucht. Er musste die Gelegenheit nutzen, denn in wenigen Jahren würde Nila wahrscheinlich lieber etwas mit ihren Freundinnen unternehmen als mit ihren Eltern. Letzte Woche hatte sie alle Barbies aus ihrem Zimmer verbannt und plötzlich von einer Jeansjacke gesprochen, die sie in einem Video gesehen hatte. Dabei war es noch nicht mal Jeansjackenwetter.

»Da vorn musst du abbiegen.«

»Danke, das wusste ich sogar.«

In etwa hundert Metern Entfernung entdeckte er eine Frau, die Ingrid sein musste. Sie trug eine grüne Outdoorjacke von Fjällräven und marschierte zackigen Schritts auf dem Bürgersteig hin und her, das Handy ans Ohr gepresst. Erik nahm die nächstbeste Parklücke vor einem Elektrofachhandel, und noch ehe der Wagen wirklich zum Stehen gekommen war, hatte Hanna schon die Tür aufgerissen.

Ingrid eilte herbei. »Habt ihr Olivia gefunden?«

»Leider nicht«, sagte Hanna. »Aber das werden wir. Was ist passiert?«

»Ich bin rausgegangen, um die Polizei zu verständigen, und als ich mich umgedreht habe, war sie weg. Mein Gott! Ich hätte bei ihr in der Wohnung bleiben sollen. Oder im Treppenhaus. Aber ich habe es keine Sekunde länger ausgehalten, es war so entsetzlich …«

Hanna stieg aus und schloss Ingrid in die Arme.

»Wir werden sie finden«, versicherte sie ihr. »Erik und ich müssen schnell einen Blick in die Wohnung werfen, aber ich bin gleich wieder bei dir, okay?«

Ingrid nickte, wirkte aber, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Eine ältere Frau mit langem grauem Mantel bewegte sich mithilfe eines Rollators auf die Haustür zu, in ihrem Blick lag eine Mischung aus Besorgnis und Neugierde. Ihre Haare waren so schwarz, sie mussten gefärbt sein. Erik lächelte sie an und hielt ihr die Tür auf, nachdem sie aufgeschlossen hatte. Das Haus hatte drei Stockwerke, eine gelbe Fassade und war schätzungsweise in den Fünfzigern gebaut worden.

»Sind Sie von der Polizei?«, fragte die ältere Dame.

Erik nickte. Die Hausbewohnerin ließ den Rollator im Flur stehen und ging, aufs Geländer gestützt, die halbe Treppe hinauf.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Erik.

»Danke, ich komme zurecht. Ich wohne gleich hier im Parterre.«

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, gingen Erik und Hanna weiter hinauf. Da es keinen Aufzug gab, würde die Frau vermutlich nicht mehr lange hier wohnen können. Vidar Johanssons Wohnung lag im zweiten Stock, die Tür war angelehnt.

Allein auf dem Weg zum Schlafzimmer konnte Erik drei orientalische Teppiche ausmachen. Die Möbel waren zum Großteil aus dunklem Holz, aber trotzdem nicht klobig. Auch die Schlafzimmertür war angelehnt. Erik drückte sie mit dem Ellbogen auf. Vorsichtig trat er ein, Hanna direkt hinter ihm.

Vidar Johanssons Gesicht war ihnen zugewandt, er hatte erbrochen. Erik schaute sich um. Die blauen Samtvorhänge waren nicht zugezogen. Selbst hier lag ein Orientteppich. Abgesehen von Bett und Nachttisch gab es noch einen Wandschrank. Auf dem Nachttisch stand ein leeres Tablettenglas, darunter steckte ein Zettel. Erik ging näher und beugte sich vor, um die handgeschriebenen Wörter lesen zu können:

Ich kann nicht mehr

5

Selbstmord, dachte Hanna und betrachtete den im Bett liegenden Mann. Den Mann, über den sie verschwindend wenig wusste: nur seinen Namen, sein Alter und dass er ein Freund von Ingrid war, dem es gelungen war, sich ein auf den ersten Blick gemütliches Zuhause einzurichten. Wieso hatte er das alles zurücklassen wollen? Die offenen Augen lieferten keine Antwort. Die starren Gesichtszüge ließen Hanna darauf schließen, dass er einen oder zwei Tage lang tot war, denn danach ließ die Leichenstarre nach. Selbstmorde verursachten immer ein gewisses Unwohlsein bei ihr, aber immerhin war er nicht lange unentdeckt geblieben. Während ihrer Zeit als Polizistin in Stockholm hatten sie einmal einen älteren Mann gefunden, der mehrere Wochen lang in seiner Fünfzimmerwohnung gelegen hatte, bis er vermisst wurde. Sie seufzte beim Gedanken an das, was sie nun tun musste.

»Ich gehe runter und spreche mit Ingrid.«

»Mach das«, sagte Erik. »Ich sehe mich noch etwas um.«

Ingrid lief wieder vor dem Haus auf und ab. Mit der Hand hielt sie fest das Handy umschlossen.

»Hast du mit deinem Sohn gesprochen?«, fragte Hanna.

»Ja, ich hab ihn sofort angerufen, als ich bemerkt habe, dass Olivia weg ist«, sagte Ingrid. »Er hat sich direkt auf den Weg gemacht, eigentlich müsste er jeden Moment hier sein.«

Eine helle Kinderstimme ließ Ingrid herumfahren, aber es war nur eine vielleicht Vierjährige, die in Begleitung ihrer Mutter näherkam. Die Mutter war hochschwanger, und Hannas Herz setzte kurz aus. Fast hätte sie sich automatisch an den Bauch gefasst. Mutter und Tochter verschwanden im Nebenhaus.

»Ich bin schon durch die Straße gelaufen und habe nach ihr gerufen«, fuhr Ingrid fort. »Ich weiß nicht, wo sie sein könnte. Wir sollten bei allen Nachbarn klingeln. Einmal hat Olivia sich davongeschlichen und saß dann beim Nachbarn vorm Fernseher.«

»Wir werden sie finden«, sagte Hanna. »Gleich ist die erste Streife da, und noch eine weitere ist unterwegs. Es ist sicher so, wie du vermutest. Sie sitzt irgendwo und hat es nett. Was könnte sie denn hier in Borgholm machen?«

»Keine Ahnung!« Ingrid schrie fast. »Ich kann jetzt nicht denken.«

»Wir werden sie finden«, wiederholte Hanna.

Sie legte ihr eine Hand auf den Arm, bis Ingrid sich etwas beruhigt hatte.

»Woher kanntest du Vidar?«

Ingrid lächelte traurig.

»Vidar war meine erste große Liebe. Wir sind im Sommer 1959 zusammengekommen, und unsere Beziehung hielt fast vier Jahre. Aber er war drei Jahre jünger als ich und ziemlich wild. Als er mir einen Heiratsantrag machte, trennte ich mich.« Ingrid fing an zu schluchzen und fuhr dann mit zitternder Stimme fort: »Er ging zur See, weshalb wir den Kontakt verloren. Letzten Herbst sind wir uns zufällig in Färjestaden über den Weg gelaufen und haben uns seitdem regelmäßig getroffen. Ich rufe ihn immer sonntags an, und weil er gestern nicht ans Telefon ging, war ich beunruhigt. Deshalb bin ich hergefahren. Hätte ich bloß nicht …«

Wieder brach sie ab, als ein Passant sich näherte. Diesmal war es ein Mann, der mit seinem Jämthund sprach, als wäre er ein Kind. Aufgeregt erklärte er dem Hund, dass sie im Schlosspark spazieren gehen würden. Er lächelte sie an, als er an ihnen vorbeikam. Hanna erwiderte sein Lächeln, Ingrid wandte das Gesicht ab.

»Das konntest du ja nicht ahnen«, sagte Hanna.

»Nein, an und für sich nicht. Aber Olivia hat ihn gesehen. Ich hatte ihr gesagt, sie soll im Flur warten, aber sie …«

»Höchstwahrscheinlich gab es etwas, was sie abgelenkt hat, und sie ist einfach losgewandert«, unterbrach Hanna sie. »Das wäre ja nun auch nicht das erste Mal.«

Ingrid hatte ihr bereits häufiger erzählt, dass Olivia abgehauen war. Dass sie bei einem Nachbarn vorm Fernseher gesessen hatte, war Hanna zwar neu, aber sie wusste noch, dass Ingrid sie einmal unten am Strand in Kleva gefunden hatte. Olivia hatte auf dem Steg gestanden und ins Wasser springen wollen, obwohl schon Oktober war. Ein andermal war sie bis zur Landstraße gelaufen, weil sie die Pferde gesucht hatte – es gab einen Hof am Rand von Kleva.

»Hatte Vidar Depressionen?«, fragte Hanna.

»Wie kommst du darauf?«

»Was genau hast du in seinem Schlafzimmer gesehen?«, fragte Hanna zurück.

»Nur Vidar«, sagte Ingrid. »Als ich ihn gerade entdeckt hatte, kam Olivia ins Zimmer, und da wollte ich einfach nur noch weg. Wenn ihr meint, er hat sich das Leben genommen, dann irrt ihr euch.«

»Wieso bist du dir so sicher?«

Depressionen sah man niemandem an. Hanna hatte mit vielen Angehörigen gesprochen, die nicht mal gewusst hatten, wie schlecht es dem Verstorbenen gegangen war.

»Vidar ist der lebenslustigste Mensch, den ich kenne«, sagte Ingrid. »Ich habe seit dem Herbst oft und lange mit ihm telefoniert und nicht den Eindruck, dass sich an seinem Naturell irgendwas geändert hat.«

»Wie oft habt ihr euch gesehen?«, fragte Hanna.

»Ein paar Mal im Monat. Sowohl bei mir in Kleva als auch hier bei ihm in Borgholm.«

Hanna zögerte. Ingrid und sie hatten viel über Beziehungen gesprochen, aber fast ausschließlich über ihre und Isaks, niemals über Ingrids. Wieso eigentlich nicht? Die Menschen hörten ja nicht auf, sich nach Liebe zu sehnen, nur weil sie älter wurden.

»Wir waren nur befreundet«, sagte Ingrid. »Falls du dich das gerade fragst.«

»Danke, ja, das habe ich mich in der Tat gefragt«, sagte Hanna. »Was weißt du sonst über Vidars Alltag?«

Ingrid öffnete den Mund, aber da klingelte ihr Handy, und sie riss es sofort ans Ohr. Ihre Gesichtszüge entspannten sich sogleich, und sie schloss die Augen.

»Vielen Dank, ich komme sofort.« Sie legte auf. »Das war die Buchhandlung«, sagte sie zu Hanna. »Olivia ist hingelaufen, um den Hund zu streicheln.«

6

Die Hüfte meldete sich lautstark, doch Ingrid ignorierte den Schmerz. Bis zur Buchhandlung waren es nur wenige hundert Meter, und Ingrid ärgerte sich, dass sie nicht von selbst darauf gekommen war, dort nachzufragen. Schließlich wusste sie doch, wie vernarrt Olivia in deren Hund war. Stattdessen war sie wie ein kopfloses Huhn vor Vidars Haus rumgerannt. Die Frau vom Notruf hatte ihr gesagt, sie solle nicht weggehen, hätte sie nur nicht darauf gehört! Im Gehen wählte sie Jakobs Nummer.

Sie meldete sich nicht, sagte nur: »Olivia ist in der Buchhandlung.«

»Gut«, erwiderte ihr Sohn. »Ich bin gleich da.«

Ingrid wollte noch einmal wiederholen, wie schrecklich sie sich fühlte, weil sie dies hatte geschehen lassen, aber Jakob hatte schon aufgelegt. Hanna beendete gerade ebenfalls ein Telefonat. Vermutlich hatte sie mit ihren Kollegen gesprochen.

»Tut mir leid, dass du jetzt extra meinetwegen hergekommen bist«, sagte Ingrid. »Ich weiß ja, dass du eigentlich beim Prozess sein willst, aber es war einfach so furchtbar, Vidar so zu sehen, und dann Olivia …«

Hanna legte ihr schnell die Hand auf die Schulter, während sie weitereilten.

»Du musst dich absolut nicht entschuldigen«, beruhigte sie ihre Freundin. »Ehrlich gesagt ist es ganz schön, mal eine Pause von Axels Lügen zu bekommen.«

Ein paar junge Frauen, die Ingrid nicht kannte, verließen gerade die Buchhandlung. Sie sprachen mit starkem Kalmarer Akzent. Eine von ihnen betrachtete Ingrid irritiert, die sich an ihnen vorbeizwängte. Ingrid vermutete, dass es an Corona und ihrem Alter lag. Eine so alte Frau sollte doch bitteschön zu Hause bleiben. Insgesamt wurde viel darüber geredet, die Alten schützen zu müssen.

Olivia saß auf dem Boden, und der Buchhandlungshund ließ sich nur zu bereitwillig von ihren eifrigen Händen streicheln. Schnell riss Ingrid das Absperrgitter auf, das verhindern sollte, dass der Hund sich davonstahl. Gerade war es sowieso überflüssig, weil der Hund sich kein Stück für das interessierte, was vor der Tür vonstattenging. Ingrid wusste, dass sie das nicht tun sollte, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie beugte sich so tief runter, wie die Hüfte es zuließ, und schloss Olivia in die Arme. Ausschimpfen hatte ja doch keinen Zweck.

»Ich wollte Tolstoi streicheln«, erklärte Olivia.

»Das verstehe ich gut«, sagte Ingrid und wandte sich an die Buchhändlerin. »Vielen, vielen Dank, dass Sie angerufen haben.«

Ingrid war schon mehrmals mit Olivia hier gewesen. Es war nicht leicht, Bücher für sie zu finden, weshalb sie meist etwas zum Basteln kauften. Ingrid selbst kam so oft her, wie sie konnte. Eigentlich wäre die Buchhandlung in Kalmar näher, aber Ingrid fuhr nur über die Brücke, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

»Selbstverständlich«, sagte die Buchhändlerin. »Zuerst dachte ich, sie ist vielleicht nur vorgelaufen, aber als Sie nicht kamen, habe ich nach Ihnen gefragt. Da erzählte sie, dass Sie sich um den kranken Mann kümmern müssen.«

Beim Gedanken an Vidar, der im Bett lag, und Olivia, die ihr gefolgt war, verzog Ingrid das Gesicht.

»Vidar Johansson ist tot«, flüsterte sie.

»O nein, das ist ja schrecklich!«

Hanna, die sich schweigend im Hintergrund gehalten hatte, trat nun vor.

»Das klingt so, als hätten Sie ihn gekannt?«

»Ja, er kommt recht oft her. Nicht mehr ganz so häufig wie früher, aber immer noch oft. Er war Samstag noch hier.«

»Wie hat er sich da verhalten?«

»Ehrlich gesagt wirkte er ziemlich gestresst. Ich habe gefragt, ob er Hilfe braucht, aber er hat nur abgewunken.«

»Hat er etwas gekauft?«, wollte Hanna wissen.

»Nein, er ist sicher zehn Minuten hier rumgestreift, dann aber wieder gegangen.«

»Wissen Sie noch, wie spät es war?«

»Kurz nach elf. Das weiß ich, weil ich gerade Hunger bekommen habe.«

Eine Silhouette vorm Fenster erregte Ingrids Aufmerksamkeit. Jakob kam angelaufen. Er kletterte über das Türgitter, hob Olivia hoch und schloss sie fest in die Arme. Ein recht anstrengendes Unterfangen, schließlich war sie ziemlich groß geworden. Sie zappelte sich frei und widmete sich wieder dem Hund. Erst da wandte er sich an Ingrid.

»Wie zur Hölle konnte das passieren?«, zischte er.

Olivia schaute verwundert auf.

»Nicht fluchen«, sagte sie.

»Stimmt, mein Schatz. Ich habe mir bloß solche Sorgen gemacht, weil ich nicht wusste, wo du warst.«

»Ich war hier. Ich wollte zum Hund.«

Jakob streichelte seiner Tochter über den Kopf, und Ingrid spürte einen Moment lang nichts als Erleichterung, die sich in einem Schluchzer äußerte. Olivia ging es gut. Sie war nicht vor ein fahrendes Auto gelaufen oder von einem Verrückten entführt worden. Aber Vidar war tot. Erst jetzt sickerte die Erkenntnis durch, dass sie nie wieder seine Stimme hören, nie wieder das Funkeln in seinen Augen sehen würde, wenn er lächelte. Nie wieder seine Zunge an ihrer spüren, sie würden nie wieder ein Paar sein. Liebend gern hätte sie ihre Verzweiflung herausgebrüllt, doch wegen Olivia riss sie sich zusammen.

Hanna suchte ihren Blick. »Kann ich noch irgendwas für dich tun?«

»Nein.«

»Dann gehe ich zurück in die Wohnung, aber wahrscheinlich müssen wir nachher noch offiziell deine Aussage aufnehmen.«

Ingrid nickte, und als sie weg war, warf Jakob ihr einen finsteren Blick zu. Die Wut ihres Sohnes war nachvollziehbar, sie steigerte ihre Selbstverachtung noch. Trotzdem tat es weh, dass es ihn gar nicht zu kümmern schien, wie es ihr ging.

»Wir sprechen uns noch«, sagte Jakob. »Jetzt bringe ich Olivia erst mal nach Hause.«

»Nein, Papa. Oma und ich wollten doch Zimtschnecken essen.«

7

Erik zog Überschuhe und Einmalhandschuhe an, bevor er in die Wohnung zurückkehrte. Zwar deutete alles auf Selbstmord hin, aber bis sie dies mit Sicherheit wussten, musste er die Wohnung wie einen Tatort behandeln. Auf keinen Fall wollte er hier herumtrampeln wie ein blutiger Anfänger und eventuelle Spuren unbrauchbar machen.

Irgendwo im Treppenhaus klimperten Schlüssel in einem Schloss, weshalb er schnell die Tür hinter sich zuzog. Der Arzt, der den Tod feststellen sollte, war unterwegs, aber da er aus Kalmar kam, würde er sicher noch dreißig Minuten auf sich warten lassen.

Erik fing im Wohnzimmer an. Boden, Wände und Regale waren übersät mit Erinnerungsstücken an Vidars Reisen. Neben einem einfachen, aus Holz geschnitzten Vogel stand ein Elefant mit goldener Decke. Davon hatte er einige auf Märkten in Indien gesehen. An den Wänden hingen Gemälde von stilisierten Landschaften mit chinesischen und japanischen Schriftzeichen und hinter dem Sofa ein großes Bild, das eine schwedische Sommerwiese zeigte. Erik fragte sich, was Vidar wohl von Beruf gewesen war. Die vorhandenen Fotos gaben ihm keine Hinweise. Auf ihnen waren überwiegend Männer zu sehen, die an unterschiedlichen Orten der Welt posierten. Er trat vor eins der Regale. Was für eine wilde Mischung: Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer stand zwischen Jan Guillous Die Brückenbauer und einem Vogellexikon.

Im Regal daneben befand sich ein alter Plattenspieler und in den Fächern darunter eine Menge Schallplatten. Die Sammlung umfasste mehrere Jahrzehnte, die jüngste Platte, die er auf den ersten Blick entdeckte, war Mitte der Siebziger rausgekommen: Black and Blue von den Rolling Stones. Erik fuhr mit dem Schreibtisch am Fenster fort. Auf der kleinen Grasfläche direkt vorm Haus spielte ein Junge im Grundschulalter Fußball. Er trug ein sicher drei Nummern zu großes, blau-weiß gestreiftes Trikot, hinten prangte groß der Name Messi.

Erik zog die einzige Schublade auf und nahm den zuoberst liegenden Schnellhefter heraus. Darin befanden sich Zeitungsausschnitte, aber auch Kopien von Briefen, die Vidar geschrieben hatte. Die Ausschnitte stammten aus dem Ölandsbladet und dem Barometern und waren ausnahmslos Leserbriefe, in denen er sich über alles Mögliche beklagte – von Bauplänen bis hin zum Lärmpegel. Die Briefkopien richteten sich an die Kommune und hatten einen sehr ähnlichen Inhalt. Vidar schien nicht nur ein Weltenbummler, sondern auch ziemlich rechthaberisch gewesen zu sein. Für Erik passte das nicht zusammen.