Finsterwelt 1. Das verbotene Buch - Katharina Herzog - E-Book

Finsterwelt 1. Das verbotene Buch E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

In ein Internat für Kinder aus Märchenfamilien zu gehen, ist nicht so wunderbar wie es klingt, wenn man vom Froschkönig abstammt. Es ist schon schwierig genug, 12 zu sein, aber sich unkontrolliert in einen Frosch zu verwandeln, ist noch viel, viel schlimmer! Und das passiert Leonie ausgerechnet vor Tristan, dem neuen, gut aussehenden Jungen, von dem keiner so richtig weiß, aus welcher Familie er eigentlich kommt. Als Leonie die alte Märchenkammer im Dornröschenturm entstauben muss, öffnet sie ein Buch, das ihr dort in die Hände fällt. Das hätte sie besser nicht getan! Am nächsten Tag hat es ihre beste Freundin Marle scheinbar nie gegeben. Einzig Tristan erinnert sich an sie – können Leonie und er das Geheimnis dahinter lüften und ihre Freundin retten? Es war einmal, im Märcheninternat - Ende gut, alles gut? Noch nicht. Denn Grimms Märchen gehen weiter. - Ein mysteriöses Buch, ein großes Geheimnis: Was ist wohl mit Rotkäppchens Märchen passiert? - Tauche ein in die magischen Welten der Gebrüder Grimm und erlebe ein Schulabenteuer über Mut und Freundschaft. - Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – auf einer Schule voller Magie und Fantasie. - Das Kinderbuchdebüt von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Katharina Herzog: eine Geschichte, die verzaubert.

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Über dieses Buch

Es ist nicht so wunderbar wie es klingt, auf ein Internat für Kinder aus Märchenfamilien zu gehen, wenn man vom Froschkönig abstammt. Schließlich ist es schon schwierig genug, 12 zu sein, aber sich unkontrolliert in einen Frosch zu verwandeln, ist noch viel, viel schlimmer! Und das passiert Leonie ausgerechnet vor Tristan, dem neuen, gutaussehenden Jungen, von dem keiner so richtig weiß, aus welcher Familie er eigentlich kommt.

 

Als Leonie ausgerechnet mit ihm die alte Märchenkammer im Dornröschenturm entstauben muss, öffnet sie ein Buch, das ihr dort in die Hände fällt. Das hätte sie besser nicht getan! Am nächsten Tag hat es ihre beste Freundin Marle scheinbar nie gegeben. Einzig Tristan erinnert sich an sie – können Leonie und er das Geheimnis dahinter lüften und ihre Freundin retten?

 

 

 

Für Mama und Papa

 

Ihr habt mir eine Kindheit

voller Liebe und Wunder geschenkt.

 

 

»Aber sie halten es für eine Legende!«

»Weil sie es dafür halten wollen. Vielleicht würden sich manche Märchen und Mythen als wahr herausstellen, wenn jemand den Mut aufbrächte, in einem Brunnen nach einer goldenen Kugel zu suchen oder die Dornenhecke vor einem Schloss zu zerschneiden.«

aus: Kai Meyer: Die Fließende Königin

Prolog

Der Mond schien hell, als Otto durch den Geheimgang, von dem nur er wusste, das Schloss verließ. Kreisrund wie ein Teller stand der Mond am tintenschwarzen Himmel und beleuchtete den abschüssigen Pfad vor ihm. Obwohl der dunkle Wald Otto keine Angst machte – das taten andere Dinge –, war der Zwerg froh, dass der Mond für ein wenig Licht sorgte. Blöderweise war er ohne Taschenlampe aufgebrochen.

»Danke, alter Freund!« Otto hielt sein faltiges Gesicht in den perlmuttfarbenen Schein.

Der Zwerg hatte das warme, kuschelige Bett in seiner Hütte nicht aus Aufregung darüber verlassen, dass morgen die Schüler aus den Weihnachtsferien kamen, Otto war mitten in der Nacht aufgestanden, weil er nicht schlafen konnte. Das kam in der letzten Zeit häufiger vor. Eine düstere Vorahnung hielt ihn wach. Und seine Vorahnungen trogen ihn leider nur selten. Außerdem gab es deutliche Anzeichen!

Erst waren es nur Kleinigkeiten gewesen: An der Bohnenranke in seinem Gewächshaus waren auf einmal Erbsen gewachsen. Ein paar Tage später hatten sich die Kürbisse zu Miniaturkutschen verwandelt, die wie Matchbox-Autos darin herumgesaust waren. Das alles war irgendwie noch ganz lustig gewesen, und Otto hatte es für einen harmlosen Scherz gehalten. Sicher war einem der Lehrer, die in den Ferien in der Schule geblieben waren, langweilig gewesen! Gestern jedoch waren auf einmal alle Mäuse und Ratten so hektisch aus dem Schloss geströmt, dass einige von ihnen dabei in den Wassergraben gefallen waren. Man hätte meinen können, dass der Rattenfänger von Hameln sie gerufen hätte. Oder dass sie vor etwas geflohen wären … Aber vor was? Oder … vor wem?

Vor Giacomo und Giselle, den beiden Schlosskatzen, sicherlich nicht. Giacomo, der eitle, faule Kerl, hielt es für unter seiner Würde, sie zu jagen, obwohl er genau dafür angestellt worden war. Auch Giselle wirkte auf Otto so mordlustig wie sonst auch.

Was war also passiert?

Inzwischen hatte er den rutschigen Pfad verlassen und stapfte querfeldein in den verschneiten Wald hinein. Schon bald würde er die versteckte Lichtung erreichen, auf der die Einhörner nachts weideten.

Immer wenn Otto nicht schlafen konnte, ging er sie besuchen. Er liebte alle Tiere. Aber diese edlen Geschöpfe hatten es ihm besonders angetan.

Tagsüber streiften sie in der Gestalt von grauen, zottigen Ponys frei herum und bettelten Spaziergänger um einen Kanten Brot oder eine Möhre an. Sobald die Nacht hereingebrochen war, zogen sie sich tiefer in den Wald zurück, wo sie – geschützt vor neugierigen Blicken – zu Einhörnern wurden.

Wie der Zwerg vermutet hatte, war die Herde bereits da. Sein Herz ging auf, als er die eleganten Wesen mit den wallenden Mähnen und Schweifen und den funkelnden Hörnern sah. Er blieb im Schutz einer mächtigen Eiche stehen und schaute zu, wie sie an einer Quelle standen und tranken. Sie streiften gemeinsam durch die Wälder, ganz so wie eine gewöhnliche Pferdeherde. Otto hatte ihnen Namen gegeben: Esmeralda, Saphira, Rubina, Opal … und Manfred. Der mürrische Manfred.

Er war ein Nachfahre des Einhorns, das im Märchen Das tapfere Schneiderlein zu einer bescheidenen Berühmtheit gekommen war, und darauf bildete er sich ganz schön was ein.

Es musste sein Selbstbewusstsein sein, das Manfred zum Anführer der Herde gemacht hatte. An seinem Aussehen konnte es auf jeden Fall nicht liegen, denn er war der Unansehnlichste der Truppe. Manfreds Fell war weniger glänzend als das der anderen, seine Mähne und sein Schweif waren weniger lang und seidig. Das einzig Spektakuläre an ihm war sein Horn. Es war lang und spitz, sicher fast fünfzig Zentimeter, und er hatte keinerlei Skrupel, es zu gebrauchen, wenn es darum ging, seinen Willen durchzusetzen. Otto hatte schon schmerzhaften Kontakt mit dem Horn machen müssen. Er griff sich unwillkürlich mit der Hand an die Hüfte, wo es ihn vor einigen Jahren mal getroffen hatte.

Dieses Horn richtete Manfred gerade auf Rubina, die sich zu nah an seine Wasserstelle herangewagt hatte. Aber die Stute hatte nicht vor, sich vertreiben zu lassen, sie war nach Manfred die Nächste in der Rangfolge der Herde. Unbeeindruckt fing sie an, zu trinken. Das ließ Manfred sich natürlich nicht bieten. Er wölbte seinen Hals, schlug mit dem Huf auf das Wasser und senkte den Kopf zum Angriff.

Auf einmal hörte Otto ein Zischen. Nicht so wie das einer Schlange, dazu war es viel zu laut und zu durchdringend. Alle Einhörner hoben die Köpfe. Auch Manfred. Das helle Funkeln seines Horns war einem blutroten Glühen gewichen. Einem Glühen, das sich unruhig flackernd auf das ganze Horn ausbreitete. Nun merkte es auch Manfred, denn verzweifelt erhob er sich auf seine Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen um sich.

Otto musste ihm helfen. Vielleicht konnte er das glühende Horn irgendwie mit Wasser zum Erlöschen bringen. Doch ein ohrenbetäubender Knall brachte ihn dazu, stehen zu bleiben. Die Einhörner wirbelten herum und verschwanden im Finsterwald. Nur Manfred blieb zurück. Er befand sich wieder auf all seinen Beinen, und dort, wo gerade noch, glühend wie ein ins Feuer gefallener Speer, sein Horn gewesen war … war nur noch ein glimmender Rand.

Otto schlug eine Hand vor den Mund, um seinen Schrei zu ersticken. Das Horn eines Einhorns war das Zentrum seiner Magie. Ohne diese Magie würde sich Manfred nicht einmal mehr in ein Pony verwandeln können, und bis es nachgewachsen war, musste er sich tagsüber im Wald verstecken.

Einen Moment lang wirkte das Einhorn orientierungslos, und es schaute sich um, als ob es gerade erst aus einem Traum erwacht wäre und als würde es sich fragen, wo denn auf einmal seine Herde hin war. Doch dabei fiel sein Blick auch auf die spiegelnde Oberfläche der Quelle. Manfred stutzte und trat mit dem Huf auf das Wasser, einmal, zweimal, dreimal, und seine Bewegungen wurden immer hektischer. Und dann fing er an, zu schreien. Es war entsetzlich! Otto hatte noch nie ein Einhorn schreien hören.

Er hielt es nicht mehr aus und rannte zu Manfred, um ihn zu beruhigen.

Doch es war zu spät! Das Einhorn bäumte sich auf und galoppierte wie seine Herde wenige Sekunden zuvor in den Wald.

Das Geräusch ihrer Hufe und das Brechen von Zweigen im Unterholz dröhnten in Ottos Ohren, bis es von einem anderen Geräusch überlagert wurde. Dem Geräusch von keuchendem Atem.

Eine korpulente Frau kam aus dem Unterholz geschnauft, die eine Stirnlampe auf der Pudelmütze trug. Es war Madame Monique, die Köchin im Schlossinternat. Ihr dicker burgunderroter Steppmantel ließ sie unförmig wie eine dieser russischen Matroschka-Puppen wirken, sie war allerdings auch ohne ihn das Gegenteil von zierlich. Um abzunehmen, machte sie nicht nur nach dem Mittagessen, sondern auch vor dem Schlafengehen einen längeren Spaziergang durch den Finsterwald.

»Was ist denn los?«, fragte sie völlig außer Atem. Ein paar blondgraue Strähnen kringelten sich unter ihrer Mütze hervor, und sie strich sie ungeduldig zurück. »Ich habe Schreie gehört. Warst du das, Otto, der so hysterisch krakeelt hat?«

»Nein. Natürlich nicht. So ein Stimmvolumen habe ich doch gar nicht.« Er trat einen Schritt zurück, weil ihn der Schein ihrer Stirnlampe blendete. »Manfred … also eines der Einhörner … sein Horn ist explodiert.«

»Explodiert?« Ihre Augenbrauen erreichten inzwischen fast den Rand ihrer Pudelmütze.

»Ja, es hat geglüht, dann hat es einen Knall gegeben, und dann auf einmal … war es weg. Einfach so. Puff!« Otto unterstrich dieses Geräusch durch ein abruptes Öffnen seiner Faust.

Er befürchtete schon, dass Monique ihm diese zugegebenermaßen hanebüchene Geschichte nicht glauben würde, aber dann griff sie sich mit ihrer behandschuhten Hand an ihr Ohrläppchen, wie immer, wenn sie nachdachte.

»In der letzten Zeit sind wirklich seltsame Dinge an unserer Schule passiert«, sagte sie nachdenklich. »Dass Erbsen an der Bohnenranke gewachsen sind, habe ich ja noch für einen Schabernack des Hauspersonals gehalten. Aber als die Kürbisse in meinem Gemüsegarten auf einmal Kutschen waren, kam ich schon ein wenig ins Grübeln. Zu einem solch komplizierten Verwandlungszauber dürften nur die wenigsten in der Lage sein.« Sie sprach weiter wie zu sich selbst. »Diese Mäuse und Ratten auf einmal überall … Und jetzt ist das Horn eines Einhorns explodiert … Dabei sind Einhörner mächtige Wesen und außerdem von einem natürlichen Schutzbann umgeben. Mir ist kein Zauberer bekannt, dessen Magie so stark ist, dass er dazu in der Lage wäre, ihn zu durchbrechen …«

Otto auch nicht. Nicht einmal Frau Rabenmeier, und die Lehrerin des Fachs Gestaltwandeln war die mächtigste Zauberin, die er kannte. Nach Rex Regulus natürlich. Den Zauberer hätte Otto in dieser Situation gerne um Rat gefragt. Doch der war nach einem Nervenzusammenbruch Knall auf Fall verschwunden, und an dessen Stelle unterrichtete nun sein nichtsnutziger Bruder das Fach Umgang mit magischen Gegenständen.

»Was für ein Schlamassel! Was für ein furchtbarer Schlamassel!« Moniques rundes Gesicht wirkte ganz bekümmert, und das ungute Grummeln in Ottos Magengegend verstärkte sich zu einem stechenden Schmerz. »Irgendetwas muss passiert sein, was unsere Welt vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht hat.«

»Könntest du dir vorstellen, dass …« Er musste sich seine trockene Kehle befeuchten, bevor er weitersprechen konnte. »… dass es mit dem Öffnen des Dornröschenzimmers zu tun hat?« Angespannt wartete Otto auf eine Reaktion.

Und die erfolgte prompt. »Darüber habe ich schon nachgedacht«, antwortete Monique langsam. »Aber es ist noch da, ich habe nachgeschaut. Am besten schaue ich aber gleich noch einmal nach. Komm mit, Otto! Wir müssen den Schulleiter darüber informieren, dass gerade ein gefährlicher Angriff stattgefunden hat. Und Frau Rabenmeier fragen, ob sie irgendeinen Zauberspruch kennt, mit dem sich das Horn des Einhorns zurückzaubern lässt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese arme Kreatur gerade mitmacht.«

Das wollte Otto sich auch nicht. Auf Füßen, die sich viel zu schwer anfühlten, folgte er der Köchin.

Das alles war nicht gut. Gar nicht gut!

Und morgen schon würden die Schüler aus den Ferien zurückkommen.

1

»Alles in Ordnung?«, fragte Leonies Vater und sah sie über den Rückspiegel besorgt an.

»Ja«, antwortete Leonie. Dabei hätte sie viel lieber ganz laut Nein! geschrien. Es fing wieder an. Sie spürte es. Ihr Kopf fühlte sich schon ganz wattig an, so als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen würde.

»Du musst keine Angst haben.« Auch Toni, Leonies kleine Schwester, die bis eben mit ihrer Stoffkatze Minzi im Arm tief und fest geschlafen hatte, wirkte voller Mitleid. Sie streichelte Leonies Hand.

Sah sie wirklich so schlimm aus? Leonie warf einen Blick in den Spiegel.

Ja! Ihr Gesicht war weiß wie die Schneeflocken, die die Bäume des Finsterwaldes bedeckten. So hieß der dunkle, unheimliche Wald mit den uralten Bäumen, der Schloss Rosenfels umgab.

»Stimmt, du musst wirklich keine Angst haben.« Papa grinste so breit, dass sie seine Backenzähne sehen konnte. »Ich habe damals auch ein bisschen gebraucht, um mich auf der Dornröschenschule einzugewöhnen, aber als ich es geschafft hatte, wollte ich in den Ferien gar nicht mehr nach Hause.«

Er klang übertrieben aufgekratzt, als er Toni und Leonie von seiner Zeit auf Schloss Rosenfels erzählte: Wie er mit seinem Freund Herbert in der Hexenküche einen Zaubertrank brauen wollte, mit dessen Hilfe ihre Kinderstimmen männlich klingen sollten. Wie sie dabei aber zwei Zutaten verwechselten und deshalb so lange mit einem Bart herumrennen mussten, bis Frau Hausmännin endlich ein Gegenmittel gebraut hatte. Wie er im Finsterwald einmal das Horn eines echten Einhorns gefunden und es einem Mädchen namens Celina geschenkt hatte. Und natürlich von seinem ruhmreichen Abschneiden bei den Internationalen Märchenmeisterschaften.

Sie verzog das Gesicht. All diese Geschichten hatten Toni und sie in den letzten Monaten sicher schon zehnmal – ach, was sagte sie! – hundertmal gehört. Seit das Geheimnis ihrer Familie an ihrem zwölften Geburtstag unerwartet gelüftet worden war, erzählte er ständig von Schloss Rosenfels.

Leonie wusste, dass Papa es nur gut meinte. Trotzdem nervten sie die immer gleichen Geschichten. Toni und sie kannten sie schon alle auswendig. Und im Moment stand sie kurz vor dem Hyperventilieren. Hieß es nicht, dass man im Fall einer Panikattacke in eine Papiertüte atmen sollte? Neben ihr lag eine. Sie nahm sie in die Hand. Ein schwarzer Samtbeutel befand sich in der Tüte. In ihm lag eine Kristallkugel, groß wie Leonies Handball, den sie zu Hause zurücklassen hatte müssen, weil keiner auf Schloss Rosenfels Handball spielte.

Kurz bevor Papa sie vor etwa einem halben Jahr das erste Mal ins Internat gefahren hatte, war Onkel Philipp vorbeigekommen und hatte Leonie diese Kugel geschenkt. Er arbeitete als Märchenforscher. Leonie hatte diesen Beruf früher immer etwas komisch gefunden. Seit ihrem zwölften Geburtstag verstand sie besser, wieso ihre Eltern sich durch ihn kennengelernt hatten. Onkel Philipp war als Experte für Märchen total berühmt, er reiste ständig durch die Welt, und von seinen Reisen brachte er Toni und ihr immer die verrücktesten Dinge mit. So wie diese Kristallkugel.

»Es heißt, wenn man in sie hineinblickt, sieht man das, wonach man sich am meisten sehnt. Und ich weiß, was das bei dir ist«, hatte Onkel Philipp zu ihr gesagt und mit seinen großen, tröstenden Händen über ihr Haar gestrichen.

Leonie hatte so sehr gehofft, dass das, was man sich über die Kugel sagte, auch wirklich stimmte. Mehr als alles andere auf der Welt sehnte sie sich nämlich nach ihrer Mama. Aber bisher war sie ihr noch nie erschienen, egal, wie oft sie mit ihr sprach.

Fünf Jahre war es nun schon her, dass sie an dieser seltsamen Krankheit gestorben war, die kein Arzt hatte heilen können, und Leonie vermisste sie noch genauso wie am allerersten Tag. Gut, dass sie wenigstens noch Onkel Philipp hatte! Mamas älterer Bruder. Und natürlich Papa und Toni.

Leonie überlegte, ob sie den Samtbeutel herausnehmen und wirklich den Kopf in die Tüte stecken sollte. Aber das ließ sie wohl besser sein. Denn dann würde Papa denken, dass sie sich übergab, und sie wollte ihn nicht beunruhigen.

»Soll ich anhalten?«, fragte er.

Zu spät! Er war bereits beunruhigt.

»Es geht schon«, presste Leonie hervor, obwohl sie kaum noch Luft bekam. Jetzt war ihr auch noch schwindelig und außerdem so heiß, als würde sie gerade gegrillt werden. Bestimmt hatte sie nur Probleme mit dem Kreislauf, redete sie sich ein. Das fühlte sich schließlich ganz genauso an. Aber Leonie ahnte, dass ihre Probleme ganz anderer Natur waren.

»Richte deinen Blick fest darauf, was du gerade siehst! Schau dir alles ganz genau an, und sage dir in Gedanken, was es ist«, hatte Frau Rabenmeier in ihrer ersten Einzelstunde zu Leonie gesagt. »Dann kannst du die Verwandlung abwenden.«

Da sie Papa und Toni nicht anschauen wollte, legte sie ihre Stirn gegen die kühle Scheibe des Autos. Sie starrte nach draußen und fing leise an, zu zählen: »Baum. Baum. Baum. Noch ein Baum.«

Aber besser fühlte Leonie sich deswegen nicht. Im Gegenteil! Da sie wirklich nur Bäume um sich herum sah, war es ein bisschen so, als würde sie Schäfchen zählen, und ihre Benommenheit nahm eher noch zu. Vielleicht würde Frau Rabenmeiers Methode ja funktionieren, wenn sie erkennen könnte, an welcher Art von Bäumen sie nun schon seit zehn Minuten vorbeifuhren. Dann könnte sie sagen: »Buche, Kiefer, Eiche …« Aber jetzt, mit einer dicken Zuckergussschicht Schnee bestäubt, sahen sie alle gleich aus.

Zum Glück würden sie bald das Schloss erreicht haben. Und Leonie würde sie alle wiedersehen …

Besonders auf ihre besten Freunde Marle und Hans freute sie sich total. Genau wie auf die meisten Lehrer, auf die Tiere und natürlich auf Otto, den Hausmeister von Schloss Rosenfels. Aber auf Blanche und Rosa freute Leonie sich überhaupt nicht. Bei dem Gedanken an die beiden wurde ihr gleich noch ein bisschen schwindeliger.

O nein! Jetzt war es so weit. Leonie ließ die Papiertüte fallen. Das verdächtige Kribbeln begann, das sich so anfühlte, als würde ein ganzer Ameisenstaat über sie hinwegkrabbeln. Gefolgt von dem entsetzlichen Gefühl, dass sie sich gleich auflösen würde. Wenn sie sich doch nur auflösen würde! Stattdessen geschah etwas ganz anderes … Schon sah Leonie, wie sich ihre Haut verfärbte. Wie sie einen Grünton annahm, der von Sekunde zu Sekunde intensiver wurde. Und wie sich ihre Hände verformten. Statt fünf Finger hatte sie nur noch vier. Wenn man diese grünen, glitschigen Dinger mit den Schwimmhäuten dazwischen überhaupt Finger nennen konnte.

Quak!

»Papa!«, schrie Toni, und ihr Vater trat auf die Bremse. Dann drehte er sich nach hinten um. »O nein!« Er schloss kurz seine Augen. »Ich hatte gehofft, dass du nur in Ohnmacht gefallen bist.«

»Leider nicht«, sagte Leonie unglücklich.

»Aber du … du hast doch sicher schon gelernt, wie du … diesen … ähm, Zustand wieder rückgängig machen kannst. Ich weiß ja genau, wie unangenehm solch ungeplante Verwandlungen sind. Mir hat es damals am meisten geholfen, wenn ich mir vorstelle, wie ich normalerweise aussehe.«

Diesen Tipp musste er von Frau Rabenmeier bekommen haben.

»Visualisieren ist das Geheimnis bei der Rückverwandlung!«, hatte sie auch zu Leonie gesagt.

Leonie versuchte, ein Bild von sich heraufzubeschwören. Aber das war gar nicht so einfach. Sie wusste natürlich, dass sie widerspenstige braune Locken hatte, die leider nie glatt und seidig waren, egal, wie viele Stylingprodukte sie hineinknetete. Sie wusste, dass sie einundzwanzig Sommersprossen auf ihrer Stupsnase hatte und dass diese Nase an der Spitze einen kleinen Knick hatte und sich leicht nach oben bog. Und sie wusste auch, dass ihre Augen braungrün waren und dass ihre Oberlippe etwas schmaler als ihre Unterlippe war. Dass sie ein Muttermal über der linken Augenbraue hatte. Doch egal, wie sehr sie sich bemühte, sich all das ins Gedächtnis zu rufen, vor ihrem geistigen Auge blieb sie klein, grün, glubschäugig und … ein Frosch.

Leonie spürte Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Es war furchtbar! Wieso musste sie ausgerechnet vom Froschkönig abstammen? Das war neben Rumpelstilzchen ja wohl die uncoolste Märchenfigur überhaupt! Selbst als sie noch nicht gewusst hatte, dass der schleimige Typ ihr Urahn war, hatte sie ihn schon nicht leiden können.

»Leonie!«, ermahnte Papa sie. »Könntest du dich mit der Rückverwandlung ein bisschen beeilen? In einer halben Stunde müssen wir da sein.«

»Das ist gar nicht so einfach«, motzte Leonie ihn an. »Solltest du eigentlich wissen … Oder hast du von Anfang an nur mit dem Finger schnipsen müssen, um dich in einen Frosch und wieder zurück zu verwandeln?« Dabei hatte er recht. Doch egal, wie sehr sie sich anstrengte: Sie blieb unverändert klein, grün – und ein Frosch.

»Nein, natürlich nicht.« Papa seufzte. »Ich hatte so gehofft, dass du von unserem Familienerbe verschont bleibst.«

Ja, das wäre super gewesen! Leonie ließ den Kopf hängen. Vielleicht hatte wenigstens Toni Glück!

Papa startete den Motor. »Am besten fahren wir zur Schule. Frau Rabenmeier wird wissen, was zu tun ist.«

Das würde sie sicher, aber … »Das geht nicht! Wenn mich jemand sieht …!« Als Frosch! Das wäre voll peinlich!

Doch Papa war bereits losgefahren.

2

Schloss Rosenfels lag – wie der Name es schon andeutete – auf einem Felsen, und es war besser von der Außenwelt abgeschirmt als ein Hochsicherheitsgefängnis. Rex Regulus, der mächtige Zauberer, der vor Leonies Eintritt in die Schule das Fach Umgang mit magischen Gegenständen unterrichtet hatte, hatte einen Bannkreis gezogen, um unerwünschte Eindringlinge abzuwehren. Außerdem war das Schloss von einer hohen Mauer und einem Wassergraben umgeben, und man konnte es nur durch zwei Tore betreten. Das erste, es lag noch vor der Brücke, war ein ganz normales Eisentor, das nur nachts geschlossen wurde. Über dem zweiten hing ein brauner Pferdekopf.

»Zu wem möchtest du?« Falada schaute auf Papa herunter.

»Ach Pferd, jetzt spiel dich nicht so auf!«, er rollte mit den Augen. Falada war schon zu seiner Zeit Torwächter auf Schloss Rosenfels gewesen. »Du weißt genau, dass ich meine Tochter bringe.«

»Und wo ist sie?« Falada nahm seine Rolle überaus ernst. Aber das musste man wohl auch, wenn man das Eingangstor einer streng geheimen Schule bewachte. Er machte einen langen Hals, um in das Auto hineinschauen zu können. »Ich sehe nur die Kleine. Hallo, Antonia!« Falada bleckte seine Pferdezähne, und Toni wurde ganz blass. Zwar liebte sie Pferde, aber nur wenn sie auch einen Körper hatten, auf dem man reiten konnte.

»Da sitzt Leonie! Zeig sie ihm, Toni!«

Toni kletterte aus dem Auto und streckte ihm Leonie entgegen. Faladas Augen wurden sichtlich größer.

»Verstehe!«

Das Tor glitt auf, und sie konnten passieren. Leonie schluckte. Nun hatte sogar schon ein abgehackter Pferdekopf Mitleid mit ihr. Wieso hatte Falada ihnen den Zutritt nicht einfach verweigern können? Dann könnten sie wieder nach Hause fahren.

 

Offiziell galt die Dornröschen-Schule auf Schloss Rosenfels als Schule für hochbegabte Kinder, weswegen die Schüler von den Dorfbewohnern immer recht seltsam gemustert wurden, wenn sie einmal in der Woche Ausgang hatten. Wie komisch hätten die Leute erst geschaut, wenn sie gewusst hätten, wer wirklich hinter den hohen Mauern lebte! Und dass es in Wirklichkeit eine Schule für die Nachfahren aus Märchenfamilien war. Hier lernten die Mädchen und Jungs, ihre magischen Kräfte zu schulen, damit ihr Märchenerbe nicht verkümmerte. Und auch, diese Kräfte zu kontrollieren. Denn diese konnten, wie man am Beispiel von Leonie ja gut sehen konnte, durchaus problematisch sein.

»So, wir sind da.« Papa quetschte Leonie in seine Manteltasche und stieg aus.

»He! Ich sehe ja gar nichts.« Unter Einsatz all ihrer Kräfte schaffte es Leonie, sich ein Stück nach oben zu ziehen, um über den Rand der Tasche lugen zu können.

Toni stand bereits draußen und schaute mit in den Nacken gelegtem Kopf und offenem Mund an dem Schloss hoch.

Auch wenn Leonie inzwischen schon über ein Dreivierteljahr hier zur Schule ging, war auch sie immer noch ganz überwältigt von seinem Anblick, denn es sah mit seinen vielen Türmen und Zinnen nicht nur wie ein Märchenschloss aus: Es war eines. Und nicht nur irgendeins, sondern das berühmteste Märchenschloss der Welt! Auch wenn die Familie längst nicht mehr dort wohnte, erinnerte eine Fahne mit ihrem Wappen immer noch daran, dass es einst dem Dornröschengeschlecht gehört hatte. Viele Jahre war es von einer dichten, hohen Dornenhecke umgeben gewesen, bevor endlich ein Prinz gekommen war, Dornröschen wach geküsst und den ganzen Hofstaat befreit hatte. Ja, diese Geschichte war wahr! Die meisten Märchen waren wahr!

»Oh! Da ist ja ein Kätzchen!«, rief Toni, und sie hatte auch schon die Hand ausgestreckt, um das Tier zu streicheln.

»Nein! Nicht anfassen!«, schrie Leonie. »Das ist Giselle!«

Giselles Katzenvorfahrin war die Katze der Bremer Stadtmusikanten, und sie war mindestens genauso unerschrocken und wehrhaft. Außerdem gehörte sie zu den seltenen dreifarbigen Katzen, und ihr weißes Fell zierten schwarze und rotbraune Flecken. Sie war eine ausgesprochen hübsche Katze. Im Gegensatz zum dicken Giacomo, der gegen ein paar Streicheleinheiten nichts einzuwenden hatte, kam man dieser Katze besser nicht zu nah, wenn man nicht ihre Krallen spüren wollte – als Maus nicht und als Mensch auch nicht.

Toni zuckte gerade noch zurück, Giselle hatte schon drohend die Tatze erhoben und sie angefaucht. »Stammt sie von dem Gestiefelten Kater ab?«

»Nein, von der Katze aus den Bremer Stadtmusikanten.«

»Cool!« Leonies kleine Schwester fand alles an der Märchenwelt faszinierend, und sie träumte davon, in ein paar Jahren auch auf Schloss Rosenfels zur Schule zu gehen. Da Mama ein ganz normaler Mensch gewesen war, standen ihre Chancen fünfzig zu fünfzig, dass auch sie Märchenmagie in sich trug, und Toni wünschte sich sehr, dass der Froschköniganteil in ihren Genen überwog. Leonie dagegen hoffte inständig, dass es nicht so war. So gerne sie ihre kleine Schwester bei sich gehabt hätte und so gern sie inzwischen auch auf Schloss Rosenfels zur Schule ging: Ohne ständig von der Angst geplagt zu werden, sich in ein quakendes grünes Tier zu verwandeln, lebte es sich einfach leichter!

Ein weiteres Auto fuhr auf den Schlosshof. Es war eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben. Sie bremste so rasant neben ihnen ab, dass Kies spritzte und Papa einen Satz zur Seite machte. Ein Chauffeur sprang aus dem Wagen, lief einmal um ihn herum und hielt einem rundlichen Mädchen mit roten Korkenzieherlocken die Tür auf.

Dornröschen hatte ihren großen Auftritt! Leonie verzog das Gesicht. Rosa bildete sich ganz schön viel darauf ein, dass sich die Schule im früheren Stammsitz ihrer Familie befand und sie als Einzige von allen Schülern von einem Chauffeur hergebracht wurde. Leonie ließ sich zurück in die Manteltasche plumpsen. In diesem Zustand durfte Rosa sie auf gar keinen Fall sehen.

Leonie musste daran denken, wie sie sich das erste Mal verwandelt hatte. Es war vor neun Monaten gewesen, auf der Party zu ihrem zwölften Geburtstag. Sie hatten Flaschendrehen gespielt.

»Auf wen die Flasche als Nächstes zeigt, der muss Leonie küssen«, hatte ihre Freundin Santje mit einem breiten Grinsen gesagt.

Leonie war immer noch nicht sicher, ob nicht schon Magie im Spiel gewesen war, als die sich drehende Flasche von all den zwölf Gästen, die sie hatte einladen dürfen, ausgerechnet vor Niklas anhielt. Seit dem Kindergarten war sie in den Jungen mit den vielen Sommersprossen im Gesicht verliebt.

»Bäh, nein!«, hätten sicher die meisten Jungs an seiner Stelle gesagt. Aber so war Niklas nicht. Er war aufgestanden und zu ihr rübergekommen. Leonie wusste noch gut, dass ihr Herz so schnell geschlagen hatte, dass sie sich sicher gewesen war, dass es gleich aus ihrem Brustkorb hüpfen würde – und dass sie überlegt hatte, wann sie die Augen schließen sollte. Schon vorher oder erst, wenn Niklas’ Lippen ihre berühren würden? Doch dazu war es nicht gekommen. Noch heute ärgerte sich Leonie darüber, dass die Verwandlung nicht ein paar Sekunden später erfolgt war. Und sie wurde knallrot, wenn sie daran dachte, was statt des Kusses passiert war.

Noch nie hatte sie ihre Freunde, auch Niklas nicht, so laut schreien gehört. Nur Papas Gedächtnisverlustzauber hatte verhindert, dass die ganze Sache in einer noch größeren Katastrophe geendet hatte.

Bis zu diesem Tag hatte Leonie weder gewusst, dass Papa zaubern konnte, noch, dass Onkel Philipp sehr wohl davon wusste.

Nachdem Papa die Eltern ihrer Freunde angerufen und sie darum gebeten hatte, ihre Kinder sofort abzuholen, weil seine Tochter von einem Moment auf den anderen schlimmen Brechdurchfall bekommen hatte (Hätte er sich vielleicht noch etwas Peinlicheres ausdenken können?!), war ihr Onkel sofort gekommen. Als er eingetroffen war, hatte Leonie gerade, immer noch als Frosch, panisch unter dem Sofa im Wohnzimmer gekauert und von Papa, der davor kniete, erfahren, dass ihr Urahn nicht Schmied, Schuster oder Müller gewesen war, sondern ein König. Ein Froschkönig. Natürlich wusste sie, dass Papa früher mit Nachnamen Frosch geheißen hatte, bevor er – verständlicherweise – den ihrer Mutter angenommen hatte, die ganz unspektakulär Martin hieß. Aber sie hätte doch nie gedacht, dass die Redewendung nomen est omen, die sie im Lateinunterricht gelernt hatte, in diesem Fall stimmte und der Nachname tatsächlich ein Zeichen war. Ein Zeichen dafür, dass Papa nicht nur ein Mensch, sondern auch ein Frosch war.

»Sie kann hier nicht mehr bleiben. Nicht solange sie nicht gelernt hat, ihre Magie zu kontrollieren. Je mehr sie sie schult, desto weniger wird ihr das Frosch-Problem Ärger bereiten«, hatte Onkel Philipp eindringlich zu Papa gesagt, als die beiden später am Abend dachten, dass sie sie nicht hören konnte. Und obwohl auch Leonie klar gewesen war, dass Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft dazu neigten, sich in eine Amphibie zu verwandeln, kein normales Leben mehr führen konnten, hatte sie Onkel Philipp das erste Mal nicht leiden können. Obwohl sie die Vorstellung, vielleicht, ganz vielleicht, in Zukunft tatsächlich zaubern zu können, auch ein klein wenig aufgeregt machte. Denn das bedeutete es ja schließlich ebenso: Sie hatte magische Fähigkeiten! Auch wenn es wohl noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie die kontrollieren konnte …

Am nächsten Tag hatte Papa Leonie auf der Dornröschen-Schule, seiner früheren Schule, angemeldet, und eine Woche später hatte sie dort angefangen. Mitten im Schuljahr. Inzwischen war es Januar.

»Bringen Sie meine Koffer auf mein Zimmer!«, wies Rosa den Chauffeur an und brachte Leonie damit wieder in die Gegenwart zurück.

»Hallo, Rosa!«, piepste Toni. Dornröschen war ihr Lieblingsmärchen, weswegen sie das Mädchen völlig unverdient anhimmelte. Leonie selbst hatte es noch nie besonders gemocht – weder das Märchen noch das Mädchen.

»Hallo … äh … wer?« Leonie konnte sich gut vorstellen, wie Rosa in diesem Moment fragend ihre schmalen Augenbrauen nach oben wölbte.

»Antonia!«, half Toni ihr auf die Sprünge. »Ich bin die Schwester von Leonie.«

»Ah!« Rosa klang nicht sonderlich interessiert. Aber sie hatte immerhin den Anstand, nachzufragen: »Wo ist denn Leonie?«

»Die ist schon auf ihr Zimmer gegangen«, antwortete Papa.

Damit war die Sache für Rosa zum Glück abgehakt, und im nächsten Moment kreischte sie: »Blanche! Huhu!«

O nein! Leonie stieß einen Seufzer aus. Nun waren die Lästerschwestern wieder vereint. Wobei Blanche vom Schneewittchen-Geschlecht sogar noch um einiges schlimmer war als Rosa. Sie war nämlich viel schlauer. Und während Leonie damit kämpfte, sich bei Aufregung nicht in eine Amphibie zu verwandeln, war Blanche hauptsächlich auf der Schule, um, abgesehen vom allgemeinen Umgang mit Magie, zu lernen, ihre betörende Schönheit verblassen zu lassen, damit nicht alle um sie herum in Ohnmacht fielen. Und das passierte, wenn sie nichts dagegen tat. Kein Wunder bei einer Haut weiß wie Schnee, Lippen rot wie Blut und Haaren, die schwarz wie Ebenholz waren … Dabei war sie schon allein durch ihre magischen Fähigkeiten den meisten Schülern deutlich überlegen. Nicht alle Nachfahren hatten die gleichen. Wie groß die Märchenmagie war, hing wohl nicht nur vom eigenen Talent ab, sondern auch davon, wie stark der Zauber gewesen war, der vor vielen hundert Jahren auf ihre Vorfahren gewirkt hatte. So ganz genau wusste das niemand, aber es stand außer Frage, dass bei Schneewittchen durch die lange Zeit, die sie nach dem Essen des vergifteten Apfels in ihrem gläsernen Sarg gelegen hatte, eine ganze Menge davon im Spiel gewesen sein musste.

»Wer ist denn der Junge, der bei Blanche ist?«, fragte Papa.

Ein Junge war bei Blanche! Das musste Robin sein. Aber den kannte Papa doch. Nun zog Leonie sich doch wieder ein Stück nach oben und lugte über den Rand der Manteltasche.

Nein! Das war nicht Robin. Der Rapunzelnachfahre hatte zwar auch brünette Haare, doch er war ein gutes Stück kleiner. Robin war auch der Spaßvogel in ihrer Klasse. Nie um einen Spruch verlegen und immer am Lachen. Der Gesichtsausdruck dieses Jungen wirkte gelangweilt und ziemlich herablassend. Er hatte einen langen, dunklen Mantel an, wie ihn sonst nur Erwachsene trugen, und die Haut seines herzförmigen Gesichts war auffallend blass. Seine Augen leuchteten in einem so intensiven Blau, dass Leonie es sogar aus ihrer Froschperspektive erkennen konnte. Leonie fand ihn nicht sonderlich sympathisch. Rosa jedoch verschlang ihn geradezu mit ihrem Blick.

»Hey, Rosa!« Blanche strich sich die seidigen Haare nach hinten. »Wir haben einen neuen Mitschüler. Er heißt Tristan McGowd, lebt mit seinen Eltern auf einer Burg in Schottland und geht ab jetzt in unsere Klasse.«

»Hallo! Ich bin Rosa von Dornenstein!«, piepste Rosa, die augenscheinlich von dem Mini-Graf-Dracula genauso entzückt war wie ihre beste Freundin. »Weißt du schon, in welchem Zimmer du bist, Tristan?«

»Ja, in Nummer fünf. Robin heißt mein Zimmernachbar, hat mir euer Hausmeister gesagt.«

Das war ja interessant. Der Junge lebte auf einer Burg in Schottland! Das würde seine seltsame Blässe erklären. In Schottland regnete es schließlich immer. Falls Blanche, Rosa oder sogar dieser Tristan noch etwas sagten, wollte sie das hören. Leonie krabbelte noch ein Stück höher in Papas Jackentasche, um nichts von dem Schauspiel vor ihr zu verpassen. Leider bedachte sie dabei nicht, dass der Schwerpunkt ihres Froschkörpers viel weiter oben lag als der ihres Menschenkörpers. Sie verlor das Gleichgewicht und plumpste unelegant auf den kalten Boden.