4,99 €
Zufällig landet der Schweizer Kriminalkommissar Alexandre Dupont nach einer Autopanne im französischen Sisteron. Als ihm die Besitzerin des Lavendelhofs, Eloise Ricard, vom mysteriösen Verschwinden ihrer Tochter Georgina erzählt, lässt ihn der Fall nicht los. Vor was war sie weggelaufen, warum verhalten sich alle Bewohner der Kleinstadt so seltsam und warum ermittelt die französische Polizei in der Sache nicht weiter? Eine heiße Spur führt ihn nach Aix-en-Provence zu einem Schuhmacher, der etwas zu verbergen scheint. Während Alexandre alles gibt, Georginas Verschwinden aufzuklären, muss er aufpassen, nicht von seinen eigenen Dämonen eingeholt zu werden. Jean Baptiste Bromé kommt derweil einer noch größeren Sache auf die Spur, bei deren Aufdeckung er um sein Leben fürchten muss.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
Inhalt
Impressum
Nadia Voss
Vorlage für diesen Roman
1 Die Flucht
2 Gestrandet
3 La Cordonnerie Farges
4 Kein typischer Montag
5 Schatten der Vergangenheit
6 Rückkehr nach Sisteron
7 Riechst du schon das Meer?
8 Bromés Mission
9 Die Destille
10 Der Brief
11 Mistral 347
12 Joaquin Belmonts These
13 Kalkulationen
14 Der nackte Mann
15 Die Kontaktperson
16 Das Bild hinter dem Schrank
17 Unser gemeinsamer Freund
18 Georginas Akte
19 Die Zeugin namens Madame Henri
20 Monroe
21 In der Höhle
22 Vaters liebste Tochter
23 Schulden
24 Kleinstadtgesetze
25 Gasoline
26 Fieber
27 Der Teufel soll dich holen
28 Genf
29 Die Ludwig-Theorie
30 Die Lebensbeichte
31 Nachtschwärmer
32 Die Leinwand
33 Apfelernte mit Folgen
34 Das falsche Kind
35 Janinas Rat
36 Kein guter Tag für Ratschläge
37 Unter Verdacht
38 Rache auf Französisch
39 Die Wahrheit
40 Der Feuerteufel
41 Der Turm
42 In der Verdonschlucht
43 Flammen über Sisteron
44 Die Leiche aus Moustiers-Sainte-Marie
45 Der Minusmann
Über die Autorin
Impressum
Copyright © 2025 Nadia Voß
Nadia Voß, Kampstraße 17, 48683 Ahaus
nadiavoss.de
Korrektorat / Lektorat: [email protected]
Cover- und Umschlaggestaltung: Nadia Voß, mit Bildern und Grafiken von: Olga Gavrilova von Getty Images und Mark Fritzsimons von Getty Images Signature
Nadia Voss
Flammen über Sisteron
Ein Fall für Alexandre Dupont und Jean Baptiste Bromé
»Es ist ein frommer Wunsch aller Väter, das, was ihnen selbst abgegangen, an den Söhnen realisiert zu sehen, so ungefähr, als wenn man zum zweitenmal lebte und die Erfahrungen des ersten Lebenslaufes nun erst recht nutzen wollte.«
(Johann Wolfgang von Goethe)
Quelle: (im Original ohngefähr statt ungefähr) Goethe: Dichtung und Wahrheit – Hamburger Ausgabe, Band 9, dtv, München 1982, S.31f.(l,1) ISBN: 3423590386-9
Here Comes The Sun – The Beatles
Sun - Canine
Leave Me Alone – New Order
Die With A Smile – Lagy Gaga, Bruno Mars
By The River – PiJaMa
Happiest Of All Memorial Days – Acollective, RABINO, Roy Rieck
That Loving Feeling – Isaac Hayes
Gasoline – Bishop Delgado
Sweet Talk – Saint Motel
Beggin – Madcon
Happy Together – The Turtles
Avignon – Piano Version – Piàsi
There Is Still Pain Left – Sophie Hunger
I’ll Miss You Baby – Warhaus
Wake up – Imagine Dragons
Passing Through – Balthazar
Bouncy Castle – Dino Brandão
J‘ai oublie – PiJaMa
Leave Me With The Monkeys – Sophie Hunger
Vorlage für diesen Roman
Die südfranzösische Kleinstadt Sisteron ist Schauplatz dieser fiktiven Geschichte. Sisteron liegt im Département Alpes-de-Hautes-Provence zwischen den Regionen Dauphiné im Norden und der Provence im Süden. Das Gebiet wird auch »Porte de la Provence« genannt, da der Fluss Durance hier einen Durchbruch durch die 490 Meter hohe Bergkette der Montagne de lure und des Rocher de Baume geschlagen hat.
1Die Flucht
Selten war der Himmel so blutrot wie heute. Mit zitternden Händen berührte sie die Fensterscheibe in der Küche und beobachtete die Lavendelerntemaschinen. Sie zogen ihre letzten Bahnen an diesem Tag über die Lavendelfelder. Würde sie das vermissen? Ja. Bei dem Gedanken daran sank ihr Herz. Den Schmerz, den sie fühlte und der sie zu zerreißen drohte, hatte heute nach vielen Monaten seinen Höhepunkt erreicht. Jetzt war der Moment gekommen, die Ketten, die sie hielten, zu sprengen und das Band der Verpflichtungen zu zerschneiden. Es gab kein Zurück mehr.
Minutenlang blieb ihr Blick an dem Fahrzeug hängen, das ihr heute Nacht zur Flucht verhelfen sollte. Da stand er, der alte graue Lieferwagen, von Nachbar Belmonts Sohn Joaquin. Er hatte ihn heute frisch gewaschen. Wenn er nur wüsste, dass er das vergebens getan hatte. Den Zündschlüssel legte er immer auf den hinteren rechten Reifen. Das war kein Geheimnis, denn jeder, der hier wohnte, wusste davon. Es kam nämlich von Zeit zu Zeit vor, dass jemand das Fahrzeug auslieh oder einfach nur ein paar Meter zur Seite bewegen musste, weil es im Weg stand. Das war Joaquins Fehler, denn heute würde sie ihn ausleihen und ihm den Wagen nicht zurückbringen. Sie würde damit von zuhause fortfahren, für lange Zeit oder vielleicht für immer.
Georgina wartete, bis die Lichter langsam erloschen und alle schlafen gegangen waren. Ihre Tasche hatte sie bereits gepackt und trug sie bei sich. Nun konnte sie das Schnarchen ihres Vaters durch das ganze Haus vibrieren hören. Ein Wunder, dass er überhaupt schlafen konnte.
Ihre Mutter wusste, wie schwer ihr das Herz war und wie sehr sie unter der fehlenden beruflichen Perspektive in Sisteron litt. Aber Vater sah das nicht so. Er könnte ihr niemals verzeihen, wenn sie den Hof verlassen würde. Totschlagen würde er sie – hatte er angedroht und das meinte er nicht im Spaß. Das war vor Jahren, als sie ihre beruflichen Pläne noch ganz unverblümt darlegte. Das war auch das letzte Mal, dass sie im Kreis ihrer Familie offen über ihre Träume von einem Kunststudium sprach.
Bis heute.
Sie atmete noch einmal tief durch, blickte in die sich spiegelnde Küchenfensterscheibe und erkannte, wie ihr Auge inzwischen dick angeschwollen war. Vaters Fausthieb hatte gesessen. Das wars dann jetzt.
Der Vollmond erhellte den Innenhof, aber der Lieferwagen stand im Schatten der Scheune, sodass Georgina, nachdem sie das Haus leise verlassen hatte, ungesehen blieb. Sie sah sich nervös um. Ihr Herz raste, jetzt dürfte nichts schieflaufen. Es war inzwischen fast Mitternacht. Wenn sie den Schritt jetzt nicht täte, dann würde es zuhause immer schlimmer werden. Der Druck war schon jetzt kaum auszuhalten. Sie dachte an die vergangenen Wochen. Das, was das Fass zum Überlaufen brachte, war, als Vater ihre persönlichen Ersparnisse anfragte. Ein Stich ins Herz. Das Geld, so sagte er, müsste dringend in die Restaurierung des Hofs einfließen. Es wäre schließlich eine Investition in ihre Zukunft. Aber das war nicht ihre Zukunft, das konnte er nicht verlangen. Was war mit ihrem Studium, das er nicht bezahlen wollte? Wovon sollte sie es bezahlen, wenn sie ihm jetzt ihre Ersparnisse gab? Nein. Mutter schaute betroffen, sagte aber nichts. Sie hatte ihm nicht widersprochen, was eigentlich das Verwerflichste an ihrer Reaktion war. Kopfschüttelnd sah sie sich einmal mehr darin bestätigt, mit ihrer Flucht das Richtige zu tun.
Als sie in den Lieferwagen stieg, warf sie ihren Rucksack auf den Beifahrersitz. Beim Blick nach hinten blieb sie an den zahlreichen Olivenöl-Kisten hängen. Sie waren bis oben hin mit Olivenöl gefüllt, weil die Belmonts eine Olivenbaum-Plantage hatten und ihr eigenes Olivenöl herstellten. Joaquins Kunden würden morgen keine Lieferung bekommen, bedauerte sie kurz, kniff die Augen zu und schob den Gedanken schnell beiseite. Dann warf sie einen letzten Blick in den Rückspiegel. Ihr Herz klopfte, der Lavendelhof zeigte sich noch einmal in seiner ganzen Pracht. Die Fensterläden waren geschlossen, die Blumen in den Kübeln leuchteten im Mondlicht und vermittelten ihr ein letztes Gefühl von Heimat. Wie wohl sie sich hier als Kind gefühlt hatte, daran bestand kein Zweifel. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
»Nein, ich werde nichts bereuen«, flüsterte sie in den Rückspiegel und schaltete die Zündung ein. Der Motor brummte leise auf. Niemand würde etwas hören, da war sie sich sicher. Der Motor des Lieferwagens war viel leiser als der von Vaters Mercedes, der schon seit Wochen kaputt in der Scheune stand. Im Rückspiegel sah sie ihr entschlossenes Gesicht und trat beherzt aufs Gaspedal.
»Auf geht’s, Georgina!«, motivierte sie sich. Und so fuhr sie mit Belmonts Lieferwagen und etwa hundert Litern Olivenöl über die hügeligen Straßen der Provence in Richtung Süden. Dabei bemerkte sie nicht, wie ein Fahrzeug um die Ecke bog und die Verfolgung aufnahm.
Gedankenverloren fuhr sie durch die Straßen, die nur von dem Lichtkegel ihres Lieferwagens angestrahlt wurden. In Sisteron schliefen sie hoffentlich noch. Aber das würden sie nicht mehr lange tun, denn die Arbeit auf dem Hof wartete schon und begann früh am Morgen. Eine Arbeit, die auch für sie bestimmt war. Eine Arbeit, die sie ihr Leben lang machen müsste, ohne dass sie gefragt worden wäre. Es war eben Tradition, den Eltern zu helfen und später den gut gehenden Hof zu übernehmen. Wer sich weigerte, war egoistisch, dumm oder ließ die Eltern im Stich. Georgina blickte nachdenklich auf die Straße. Und wer hatte sie gefragt? War sie jetzt ein schlechter Mensch?
Dann kramte sie in ihrem Rucksack und zog einen Apfel heraus. Wann Liv wohl endlich die Reißleine ziehen würde, überlegte sie und ritzte mit einem Messer ein grimmiges Gesicht in die Apfelschale. Ursprünglich hatten sie vor, beide zusammen in Marseille Kunst zu studieren. Zum Spaß hatten sie schon gemeinsam die Anmeldeformulare ausgefüllt. Aber Livs Situation ließ das im Moment noch schlechter zu als ihre.
Die übrigen Kilometer bis Aix-en-Provence schmolzen dahin, aber ihr Gesicht erhellte sich erst bei dem Gedanken, bald bei Etienne zu sein. Und in einigen Wochen, dann, wenn Gras über die Sache gewachsen war, würde sie zurückkommen und versuchen, vernünftig mit ihren Eltern zu reden. Aber sie würde nicht nach Sisteron zurückkehren, nein. Sie würde ein Kunststudium beginnen. Das war der Plan und das wusste sonst nur Liv.
Sie atmete tief ein. In der Ferne sah sie bei dem dunklen Licht schon den Lichtkranz über Aix-en-Provence. Sie war bald da. Noch fühlte es sich wie ein Traum an.
Kurz darauf flackerte etwas Grelles in ihrem Rückspiegel. Sie sah ein Fahrzeug auftauchen und es näherte sich schnell. Mit Schrecken erkannte sie, dass es regelrecht näher gerast kam. Zwei Scheinwerfer, die in mehreren kurzen Intervallen provokant aufblendeten, trieben ihr den Schweiß auf die Stirn. Da war doch genug Platz zum Überholen, dachte sie. Nervös zog sie nach rechts hinüber, bis dicht an die Grasnarbe. Der Fahrer des Wagens aber schien kein Interesse daran zu haben, sie überholen zu wollen, ganz im Gegenteil, er wurde plötzlich langsamer und blieb nah an ihrer Stoßstange. Georgina schrie auf. Es schien ihm Spaß zu machen, sie zu bedrängen. Seine Fahrweise wirkte, als wolle er ein Spielchen mit ihr treiben. Zuerst ließ er den Motor laut aufheulen, dann sich zurückfallen, nur um im nächsten Augenblick wieder mit vollem Tempo auf sie aufzufahren und kurz vor ihrem Heck abzubremsen. Voller Panik krallte sie sich in das Lenkrad und hatte Angst, gleich die Kontrolle zu verlieren. Beim Blick in den Rückspiegel riss sie die Augen auf und kreischte. Plötzlich gab es einen Knall. Ihr Kopf prallte zuerst an die hintere Kopfstütze, dann voller Wucht vorn auf das Lenkrad. Im selben Moment sprang das Radio an und schrillte in höchster Lautstärke »Here Comes The Sun« von den »Beatles«. Georgina wurde mit voller Wucht getroffen und einige Meter in ihrem Fahrzeug nach vorn katapultiert. Der heiße reißende Schmerz, den sie unmittelbar an ihrer Nase und Stirn verspürte, zeigte sich in roten Blutspuren auf dem Lenkrad. Verzweifelt tastete sie mit der Hand nach dem Lautstärkeregler des Radios. Doch es gelang ihr nicht den Regler zu erreichen. Im Rückspiegel sah sie, wie sich das fremde Auto zurückfallen ließ. Panisch blickte sie in den Spiegel und sah neben ihrem blutüberströmten Gesicht und ihrem geschwollenen Auge auch, wie das Auto erneut auf das Heck des Lieferwagens zuraste. Der zweite Aufprall verpasste ihrem Fahrzeug einen heftigen Schlag und schleuderte sie seitlich in die tiefe Böschung.
Als sie zu sich kam, fragte sie sich, ob es Minuten oder Sekunden, vielleicht Stunden oder Jahre der Bewusstlosigkeit gewesen waren, aus der sie gerade erwachte. Sie fand sich in einer ausweglosen Situation wieder, die ihr jegliches Zeitgefühl genommen hatte. Da war kein Schmerz, keine Erinnerung. »Sind das meine Blutspritzer da am Blechhimmel? Bin ich tot?« Alles, was sie fühlte, war eine sanfte Leere, die sie wie ein warmer Wintermantel umhüllte und jedes Unbehagen von ihr nahm.
Erst als die Flammen hoch über ihrem Kopf in die Luft schlugen, erkannte sie die Gefahr und versuchte mit aller Kraft zu schreien. Doch sie fand keinen Ton. Nur ein pfeifendes Keuchen entwich ihr, aber das reichte nicht aus. Ihre Stimme war weg. Panisch und hilflos sah sie an sich herunter. Das Lenkrad drückte sie gegen den Fahrersitz und quetschte ihr die Lunge ein. Sie war verloren.
Dann krachte es, aber das Geräusch war nicht das einstürzende Wrack, sondern ein Werkzeug. Sie spürte, wie ein Gegenstand von außen das Lenkrad zur Seite schob und jemand mit einem beherzten Griff ihren Arm packte.
2Gestrandet
Kriminalpolizist Alexandre Dupont saß hinter dem Steuer seines geparkten Autos und starrte missmutig in den strömenden Regen. Der Schauer prasselte auf das Autodach und die Scheibenwischer flogen quietschend von links nach rechts. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass sein letzter Urlaubstag so enden würde. Vor wenigen Minuten noch hatte er sich auf halber Strecke zwischen dem französischen Toulouse und dem Schweizer Ort Sion befunden, als plötzlich ein Gewitterschauer einsetzte. Zu allem Überfluss zwang ihn eine Sicherheitswarnung, die Autobahn zu verlassen. »Fahren Sie zur nächsten Werkstatt« blinkte alarmierend durch die Armaturen. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wo er war, denn der strömende Regen hatte zuvor jedes Wort der Straßenschilder verschluckt und das Datennetz lahmgelegt. So saß er ausharrend hinter dem Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe auf das verwaschene graue Bild.
Nach einer guten Stunde ließ der Starkregen nach und ging allmählich in einen gleichmäßigen Landregen über. Langsam zeigten sich Konturen der Landschaft und so zeichnete sich in erreichbarer Ferne ein größeres Gebäude ab. Das war die Gelegenheit, bei jemandem zu klingeln und Bromé oder Victoria auf der Wache anzurufen, denn sein Handy hatte immer noch keinen Empfang. Jeder Versuch, ein Telefonat zu führen, scheiterte. Er musste lediglich seinen Standort senden. Drauf bestehen, dass er heute noch auf die Wache kommen würde, so wie vereinbart, würden sie ganz sicher nicht.
Er packte seinen Rucksack, stieg schwungvoll aus dem Wagen und eilte durch den Regen auf das fremde Haus zu. Je näher er kam, desto klarer erkannte er, was er vor sich hatte. Das Bauernhaus war ganz offenbar ein Ferienhof. »Lavendelhof Ricard– bed and breakfast« stand in großen lockigen Buchstaben über der Eingangspforte, die weit geöffnet stand. Vermutlich war sie vom Wind aufgeschlagen worden. Der Haupteingang war sehr einladend und an jeder Ecke standen Tonkrüge mit Oleander in voller Blütenpracht. Bei sonnigem Wetter würde die Bank unter offenem Himmel garantiert zum Verweilen einladen, dachte er. Geschickt tänzelte er um die Regenpfützen herum bis direkt auf die überdachte Veranda. Endlich war er im Trockenen. Es duftete trotz des Regens nach Lavendel und auch ein bisschen nach Zitrone.
Sein Finger berührte nur vorsichtig und kurz die Klingel. Aber es reichte aus, um einen gewaltigen Krawall auszulösen. Ein tiefes und vor allem lautes Läuten erklang und ließ auf ein großes Gebäude mit hohen Decken schließen, die den Schall weit leiteten, dass dieser vermutlich noch hinten im Garten zu hören war. Ein Hund begann zu bellen. Dem Klang nach zu urteilen war es ein kleiner Hund. Damit war die Klingellautstärke im Grunde unwichtig, denn von diesem Moment an wusste der Hund, dass Besuch vor der Tür stand, und er gab sein Bestes, dies seinen Besitzern mitzuteilen.
Nach langen Minuten öffnete sich die Tür vorsichtig und langsam. Eine ältere Frau mit ergrautem Haar blickte ihn, ohne ein Wort zu sagen, durch den Türspalt misstrauisch an. Auf dem Arm trug sie den kleinen weißen Hund, der nun nicht mehr bellte, sondern so stark hechelte, als hätte das Informieren seiner Besitzerin seine letzte Energie erfordert.
»Bonjour, Madame, mein Name ist Alexandre Dupont«, stellte er sich vor, versuchte zu lächeln und deutete mit einem Finger abwechselnd zum Himmel und dann hinüber zu seinem Auto, »ich stehe da vorne mit meinem Wagen und habe eine Panne.«
Langsam schloss sich der Türspalt ein paar Zentimeter. Dabei dachte er, dass er seriös, freundlich und überzeugend wirkte, so wie immer eben, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich blankes Misstrauen. Als hätte es auch eine hinterlistige Ausrede sein können, um sich illegal Zutritt zu ihrem Haus zu verschaffen. Sie legte die Stirn in Falten, verlor dabei aber kein Wort. Aus einem Impuls heraus zog er seine Polizeimarke. »Vielleicht beruhigt es Sie, dass ich kein Landstreicher, sondern nur ein gewöhnlicher Schweizer Kriminalpolizist auf der Durchreise bin«, sagte er und hielt ihr seine Marke dicht vor die Nase. Doch statt sie damit zu besänftigen, riss sie ihre Augen auf und entgegnete alarmiert: »Kommen Sie wegen Georgina?« Aufgeregt ließ sie ihren Hund zu Boden fallen. Ihr Gesichtsausdruck erhellte sich und sie öffnete die Tür ein kleines Stück.
»Georgina?«, stockte Alexandre, »ich, also, nein, es ist nur wegen der Autopanne, gleich da drüben«, erwiderte er, kratzte sich nachdenklich am Kopf und zeigte erneut auf sein Auto. Dabei spürte er, dass sie alles andere von einem Polizisten lieber gehört hätte, als dass er eine lapidare Autopanne direkt vor ihrer Tür hatte. Und so wagte er es nicht einmal mehr, seine Bitte zu Ende zu formulieren und zu fragen, ob er ihr Telefon benutzen dürfte. Schnell verschwand das kurze Strahlen wieder aus ihrem Gesicht. Sie senkte ihre Augenbrauen und danach ihren Kopf. Das Gefühl, ihr nicht helfen und ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können, belastete ihn. Wortlos und ohne ihn weiter zu beachten, riegelte sie die Tür einfach vor seiner Nase zu.
Er seufzte tief, als die Tür vor ihm ins Schloss fiel und er vor die weiße, mit Intarsien verzierte Tür blickte. Das hatte er in seiner bisherigen Polizeikarriere noch nie erlebt. Ihre Enttäuschung war auf ihn übergeschwappt und übertraf an Qualität seinen eigenen Frust, den er in der letzten Stunde wegen der Panne aufgebaut hatte. Woher sollte er denn wissen, wer Georgina war? Wie festgenagelt blieb er vor ihrer verschlossenen Haustür stehen und spürte, wie ihm der Wunsch nach einem Bromé-Telefonat verloren ging. Die Dringlichkeit seiner aktuellen Sorgen löste sich in Luft auf und schien ihm bei dem Gedanken an Georgina immer gleichgültiger zu werden. Wie konnte das sein? Wurde sein Aufspür-Instinkt getriggert?
Er hob die Augenbrauen und atmete tief ein. Er war nicht zuständig, weil er kein französischer Kriminalpolizist war. Er wollte doch nur nach Hause. So blickte er prüfend zum Himmel. Der Regen war wieder stärker geworden.
Georgina, dachte er, und ließ den Namen auf seiner Zunge zergehen. Ein sehr schöner Name. Vielleicht ging es um ihre Tochter? Es musste so sein, denn so traurig, wie sie schaute, konnte nur eine Mutter blicken. Dabei dachte er an seine eigene Mutter, die den gleichen hoffnungsfrohen Blick hatte, als er nach sechs Jahren plötzlich wieder vor ihrer Tür stand. Sie hatte ihn angesehen, als wäre er von den Toten auferstanden. Wie hatte es sich wohl für sie angefühlt?
Georgina musste ihre Tochter sein. Keine Frage, er konnte nicht anders, er musste noch einmal zurückgehen und sie fragen, was mit ihr passiert war. Die Neugier ließ ihn nicht los und so drehte er sich auf dem Absatz um. Und wie er das tat, erschrak er sogleich, denn kaum hatte er sich zur Tür umgedreht, sah er sie bereits vor sich stehen und ihn hereinbitten.
»Treten Sie ein, Monsieur! Ich bin Eloise Ricard!«, sagte sie gefasster als Minuten zuvor. »Ich habe erwartet, dass Sie zurückkommen – das unterscheidet Sie von Landstreichern«, erklärte sie überraschend. Schnellen Schrittes führte sie ihn hinter sich her in ihr Haus, das von innen unerwartet alt aussah und weniger hohe Decken hatte, als er angenommen hatte.
»Hier können Sie telefonieren«, erklärte sie und zeigte auf ein grünes Telefon, das neben der Garderobe fest an der Wand montiert war. Er bedankte sich und nahm den Hörer. Der kleine Hund saß neugierig an der Garderobe und beobachtete ihn dabei, wie er die Tastatur bediente.
»Merci, Madame. Sie helfen mir sehr«, begann er, doch ihre leicht abwinkende Handbewegung zeigte ihm, dass es nicht der Rede wert war. Er schätzte sie auf etwa sechzig Jahre, aber ihr trauriges Gesicht verriet, dass sie sich älter fühlte. Dann rieb er sich die Stirn und wählte die Pannen-Hotline. Nach etwa zwei Minuten antwortete eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Es ist viel los auf den Straßen, Monsieur Dupont«, erklärte sie. »Rechnen Sie bitte mit einer Stunde Wartezeit.«
»Danke!«, erwiderte er und wiederholte in Gedanken ihre Worte. Als er auflegte, stellte er erstmals in Frage, ob er heute überhaupt noch zurück nach Sion kommen würde, so wie er es mit seinem Freund und Vorgesetzten Kantonskommandant Jean Baptiste Bromé vereinbart hatte. Erneut wählte er eine Nummer, bei der nach langem Klingeln wie erwartet Bromé abnahm.
»Bromé?«, fragte er und stolperte direkt in die Leitung.
»Bonjour, Alexandre, schon zurück aus dem Urlaub? Bist du bereits in Sion?«
»Nein, das wäre zu schön«, erklärte er mit einem tiefen Seufzer. »Ich bin immer noch in Frankreich, aber nicht in Toulouse. Ich bin am Ferienhof Ricard, das ist in, warte...«, er stockte und sah sich im Flur um, auf der Suche nach Hinweisen, die auf seinen Aufenthaltsort hindeuteten.
»Sisteron!«, warf Eloise Ricard ein.
»Merci! – Hörst du, in Sisteron bin ich!«
»Was machst du da?«
»Ich hatte eine Panne und warte auf den Pannendienst. Deswegen rufe ich an. Vielleicht schaffe ich es nicht mehr, auf die Wache zu kommen.«
»An die Stadt habe ich aufregende Erinnerungen«, entgegnete Bromé. Aber eigentlich, so dachte Alexandre, hatte Bromé an jede Stadt aufregende Erinnerungen. Alexandre kannte niemanden, der so gut vernetzt war wie Bromé. Daher war er nicht allzu überrascht über seine Aussage.
»In Sion geht auch gerade die Welt unter, so stark regnet es hier. Melde dich, wenn du zurückfährst, wir sehen uns Montag, adé«, verabschiedete sich Bromé.
»Adé!«
Alexandre hängte den Hörer zurück an seine Wandhalterung und blickte Madame Ricard dankend an.
»Sie können natürlich hier im Warmen warten«, erklärte sie und zeigte auf einen runden Esstisch, der mit einer Häkeldecke, einem schlanken Kerzenständer mit grüner Kerze und einem Sonnenblumengesteck geschmückt war. Dann nahm sie einen Teekessel aus dem Schrank. Trotz ihrer introvertierten und nach außen hin kühl wirkenden Art gab sie ihm nicht das Gefühl, ein ungebetener Gast zu sein.
»Im Wirklichkeit sind Sie wegen Georgina umgekehrt, nicht wahr?«, fragte sie. »Sie wollen wissen, was mit ihr passiert ist, stimmts?«
Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Was war denn bloß mit ihm los? Natürlich hatte sie recht damit. Aber was hatte ihn das als Schweizer Polizist zu interessieren? Er wusste noch nicht einmal, worum es ging und ob überhaupt ein Verbrechen vorlag. Und sie wusste, dass er ihr nicht helfen konnte. Eine klar ungünstige Situation.
»Ja, Madame!«, gestand er. »An der Schwelle der Veranda hielt mich der Regen zurück. Es war fast wie die zwanghafte Einladung, noch einmal umzukehren. Aber helfen Sie mir bitte, ich weiß ja gar nichts über Georgina.«
Eloise Ricard sah ihn an und nickte langsam. Dann erhob sie sich und öffnete eine schmale Tür mit eingefasster Scheibe, die trotz ihrer geringen Größe einem massiven Tennen-Tor glich. Dahinter verbarg sich eine Art begehbarer Schrank. Ein Bereich, der nur aus einer Anrichte bestand, auf der eine Herdplatte installiert war, darüber surrte eine Abzugshaube und genau in diesem Moment begann der Kessel zu pfeifen, was den Hund veranlasste, zu bellen.
»Silence, Ludwig!«, rügte sie ihn und der Hund verstummte umgehend. »Er ist noch jung, er weiß noch nicht, wann es unnötig ist, zu kläffen«, kommentierte sie sein ungezügeltes Verhalten.
»Ich lebe hier allein. Manchmal kommt Liv, um mich zu unterstützen. Ohne sie wäre ich verloren«, sagte sie, während sie ihm einen Tee eingoss. »Sie ist Georginas beste Freundin und sie war direkt nach ihrem Verschwinden für uns da, hat ihren eigenen Hof beinah vernachlässigt für uns.« Dann senkte sie ihren Kopf. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie weh es tut, nicht zu wissen, wo das eigene und das einzige Kind ist.« Alexandre senkte verständnisvoll den Blick. Wieder musste er an seine Mutter denken.
»Wie ist sie denn verschwunden?«, fragte er.
»In der Nacht«, schluchzte sie und hielt sich die linke Hand vor den Mund, um ihr zitterndes Kinn und ihre aufsteigende Traurigkeit vor ihm zu verbergen. Doch dann plötzlich brach es aus ihr heraus: »Wissen Sie, Monsieur Dupont, es war so: Vor ungefähr einem Jahr ist sie mit dem Lieferwagen unserer Nachbarn verschwunden. Der Wagen wurde in einer Böschung in der Nähe von Aix-en-Provence gefunden. Er war völlig ausgebrannt, aber von Georgina fehlte jede Spur.«
Er zog überrascht die Augenbrauen hoch.
»Das tut mir leid. Wie schrecklich«, antwortete er mitfühlend. »Was hat die Polizei gesagt?«
Eloise Ricard verdrehte die Augen und schien die Hoffnung in die Polizei aufgegeben zu haben.
»Die Polizei hat die Suche nach ihr aufgegeben. Sie glauben, sie sei ins Ausland geflohen und dort untergetaucht. Aber das ist sie nicht, ich weiß es. Ich spüre es, ich weiß es ganz sicher. So war Georgina nicht. Sie wäre nie gegangen, ohne eine Information zu hinterlassen. Nach so langer Zeit glaube ich, dass ihr etwas angetan wurde.«
Alexandre starrte Eloise an. Sie sagte es so, als wäre dieser Fakt in Stein gemeißelt, es fehlte nur noch die Aufklärungsarbeit dazu.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«
»Zweiundzwanzig«, seufzte sie.
»Hat sie etwas gesagt, steckte sie in Schwierigkeiten? Was hat die Polizei herausgefunden?«
Ihr Blick sank zu Boden. »Wir hatten kurz zuvor die erste Ferienwohnung hergerichtet und planten, noch weitere zu errichten. Alain sah die Landwirtschaft in Gefahr und wollte für die Zukunft vorsorgen. Aber ohne Georginas Hilfe würde es für uns schwer werden. Wir hatten so auf ihre Unterstützung gehofft, anscheinend hat sie das zu sehr unter Druck gesetzt.«
»Wo ist Ihr Mann?«
»Alain ging nach Weihnachten!«, entgegnete sie unter Tränen. Mit einem Tuch tupfte sie rasch und unkontrolliert ihr Gesicht ab, das mit der Anzahl an Tränen immer runzeliger erschien. Ihre Hände zitterten. »Alain konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Tochter nie wieder zu sehen. Wir wussten nicht, wo wir suchen oder was wir tun sollten«, enthüllte sie und versuchte, die Sicht ihres Mannes wiederzugeben. »Er hat nicht alles richtig gemacht, aber ihr Verschwinden hat ihn richtig krank gemacht, und am Ende ist er daran zerbrochen. Ein zweiter Herzinfarkt hat ihn schließlich …«, schluchzte sie und brach ab. Dann blickte sie zu ihm auf und erhob sich, nahm das Taschentuch erneut, um sich ihre Augen zu trocknen und ging zum Fenster hinüber, wo sie schweigend stehen blieb.
Alexandre fragte sich, was Georgina dazu veranlasst haben mochte, ohne Vorwarnung von zuhause wegzugehen. Hatte Alains Tod gar Eloises Erinnerungen beeinflusst? Konnte er ihren betrübten Aussagen glauben? All diese Fragen gingen ihm durch den Kopf, als Eloise sich plötzlich umdrehte, die erste Schublade eines alten Sekretärs öffnete und ihm ein Foto entnahm. »Schauen Sie, das ist sie.«
Das Bild zeigte Georgina mit schulterlangen, blonden Haaren. Alexandre atmete tief ein und aus. Sie war noch deutlich jünger auf dem Foto. Warum hatte die Polizei nicht mehr herausfinden können? Fragen, die ihm plötzlich im Kopf umherschwirrten und nach Antworten suchten. Nach dem Unfall musste es doch eine Menge Ermittlungsmaterial im Fluchtfahrzeug gegeben haben? Es erschütterte ihn innerlich.
»Georgina ist mit dem Lieferwagen gefahren, Monsieur Dupont. Daran besteht kein Zweifel. Das ergab eine Untersuchung der Blutspuren am Steuer. Aber sie haben keine weiteren Spuren von ihr gefunden. Auch nicht in der unmittelbaren Umgebung. Die Polizei hat erklärt, es sei so, als hätte sie sich direkt am Unfallort in Luft aufgelöst. Denn es gab auch keine Kriechspuren, die aus dem Wrack führten. So haben sie es uns erklärt. Ja, Monsieur Monroe von der Gendarmerie in Sisteron hat sich sehr viel Mühe gegeben, mir alles einfühlsam zu erklären. Er ist ein guter Polizist.«
Er sah sie skeptisch an. Das hätte doch für die Polizei Anlass genug gewesen sein müssen, intensiv zu ermitteln, stattdessen hatten sie die Suche eingestellt.
Alexandres Puls nahm Geschwindigkeit auf. Er konnte es kaum fassen und suchte nach Erklärungen.
»Ach, Monsieur Dupont«, seufzte sie kurz. »Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Ich weiß, dass Sie mir nicht helfen können, aber es ist lange her, dass ich so frei von Herzen über Georgina sprechen konnte. Übrigens wartet der Pannendienst schon an Ihrem Auto«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger aus dem Fenster.
Alexandre wich zurück. Wie schnell die Zeit vergangen war. Noch ganz in Gedanken verloren reichte er Eloise Ricard die Hand und hörte sich sagen:
»Madame Ricard, danke, für Ihre Freundlichkeit. Aber zu diesem Fall, ich verspreche Ihnen, hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ich werde der Sache nachgehen!«
3La Cordonnerie Farges
4 Monate vor dem Verschwinden
Was eine richtige Cordonnerie war, wussten nicht viele, und sie wusste es nur von ihrem Vater. Das waren Schuhmacher, die sich ihrem Handwerk zutiefst verschrieben hatten und meist in Tradition edelste Schuhe herstellten und verkauften. Es handelte sich zumeist um Familienbetriebe, in denen überwiegend Männer, aber auch Frauen arbeiteten, die ihr ganzes Leben dem Handwerk der Maßschuhfertigung gewidmet hatten. Doch in den letzten Jahren war ihre Zahl immer kleiner geworden. Vor allem, weil billige Schuhgeschäfte mit Dumpingpreisen um Kunden warben.
Bevor Georgina das Schuhgeschäft Farges betrat, warf sie noch einen kritischen Blick in das spiegelnde Schaufenster und rückte ihr Sonntagskleid zurecht. Ihr war bereits klar, dass es wichtig war, in angemessener Kleidung in das Geschäft zu gehen. Vater sagte: »Georgina, wenn du zu Farges gehst, ist es angebracht, dass du dein schönstes Kleid anziehst«.
Vater kannte den alten Cordonnier Antonio Farges, die beiden waren vom gleichen Schlag, konservativ, ernst und unsympathisch, das sagte jedenfalls Mutter immer und lachte dann. So war es für Vater selbstverständlich, seine Schuhe nur im Hause der Farges-Cordonnerie und nirgendwo anders anfertigen zu lassen. Niemals würde er sich in die Fußgängerzonen der Städte begeben, um einen jener Kettenläden aufzusuchen, in denen die Leute Schuhe kauften, die sie in ein paar Jahren mit einem orthopädischen Rezept wieder zu Farges führen würden, um ihre krummen Füße mit Spezialschuhen versorgen zu lassen. An diesem Tag musste ausnahmsweise Georgina seine Schuhe holen, weil er auf einer Versammlung der Bauerngenossenschaften von Sisteron und Umgebung sprechen wollte und selbst keine Zeit hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrat sie das Geschäft des renommierten Schuhherstellers Farges.
Ein klirrendes Windspiel kündigte ihr Eintreten an. Der Laden war kaum größer als die heimische Küche, und so duftete es auch. Vor allem nach Lavendel, denn auf der Theke stand ein großer Lavendelstrauß, aber es roch auch nach Wachs und Öl, nach Kräutern und nach etwas Orientalischem. Zwischen der Ware, die hauptsächlich aus Taschen, Portemonnaies, Gürteln und Schuhen bestand, hatte Farges große bunte Vasen mit überdimensionalen Blumensträußen aufgestellt, die wahrscheinlich frisch vom Markt kamen, um die Ware besonders in Szene zu setzen. Das gefiel ihr. Es war ein kleines, sehr individuelles Geschäft, das bis unter die Decke mit außergewöhnlichen Lederwaren bestückt war und in dessen Mitte noch Platz für ein rotes Sofa mit Goldkante war. So etwas Außergewöhnliches hatte sie noch nie gesehen. Fast magnetisch zog sie es an, sich darauf zu setzen, was sie zu ihrer eigenen Überraschung auch tat. Von den Düften und Eindrücken dieses Lederladens fast verzaubert sah sie sich in alle Richtungen um und konnte ihren Blick kaum von den museumsreifen Waren abwenden, die sie irgendwie anzogen und gleichzeitig abstießen, denn sie wusste, dass sie in diesem Laden niemals etwas für sich finden würde, da so gut wie alles nicht dem Budget einer Einundzwanzigjährigen entsprach. Dennoch war ihr Auge von der verspielten Handwerkskunst angetan. Beim Anblick der leichten Ziernähte und der verschiedenen Brauntöne des Leders wurde ihr warm ums Herz. Ihr Blick blieb an einer kleinen Handtasche hängen, die in der Mitte des Ladens zwischen anderen Taschen ausgestellt war. Sie konnte nicht anders, sie musste sie anfassen. Und als ihre Fingerspitzen das weiche, glatte Leder der Tasche berührten und sanft darüber strichen, genoss sie es so sehr, dass sie langsam die Augen schloss und die sich nähernden Schritte des Ladenbesitzers nicht wahrnahm.
»Bonjour, Madame«, empfing sie eine männliche Stimme, die sie in ruhigem Ton aus ihren Gedanken riss.
»Bonjour!«, antwortete sie prompt und schnellte in eine aufrechte Sitzhaltung, als hätte er sie dabei ertappt, etwas Verbotenes zu tun. Der Mann hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem alten Ladenbesitzer Antoine Farges, zumindest was dessen Beschreibung durch ihren Vater anging. Er hatte keine grauen Haare und war weit entfernt von dem Alter, in dem er Vaters guter Freund von damals hätte sein können. Nein, da stand jemand anderes vor ihr. Sein Gesicht verriet nichts über ihn, und das machte ihn sofort einzigartig. Er war wohl das, was man optisch einen attraktiven Mann nennen würde. Sie starrte ihn fasziniert an. Das volle braunschwarze Haar, das ihm bis zu den Ohren reichte, die dichten dunklen Augenbrauen, das markante Gesicht, alles schien perfekt, aber dann dieser traurige, wenngleich warme Blick. Je länger sie ihn ansah, desto mehr fühlte sie sich zu ihm hingezogen - und das alles in so kurzer Zeit. Sie dachte, wenn sie jetzt noch länger zögerte, ihm zu sagen, warum sie hier war, würde er sie für ein unfähiges junges Mädchen halten, das zum ersten Mal ohne ihre Mutter Schuhe einkaufen ging. Innerlich schüttelte sie den Kopf, dann räusperte sie sich:
»Ich sollte Schuhe für meinen Vater abholen. Für Alain Ricard aus Sisteron.« Daraufhin nickte der Mann kurz und verschwand hinter dem Tresen. Georgina blickte auf ihre Knie und senkte den Kopf. Wie unangenehm. Was hatte sie da gesagt? Ricard aus Sisteron. Mit Sisteron hatte er den Beweis, dass sie ein Kind der Landwirtschaft war, und da das in Städten als nicht besonders anziehend galt, nahm sie ihre Hand und verbarg für einen Moment ihr Gesicht dahinter. Aber die Neugier ließ sie nicht los. Sie reckte sich und spähte hinter die Theke in das Zimmer, in dem er verschwand. Das war nicht Monsieur Farges, daran gab es keinen Zweifel.
Als er zurückkam und die Schuhe wortlos vorsichtig auf den Marmortresen stellte, erhob sie sich vom Sofa und kam auf ihn zu. Seine Ausstrahlung zog sie so sehr an. Für eine Sekunde blickte er zu ihr auf, so dass das Sonnenlicht seine hellblauen Augen durchleuchtete, dann senkte er den Blick sofort wieder auf die Schuhe. Sie beobachtete ihn, wie er die Schuhe ein letztes Mal mit einem Spezialtuch putzte und dem Leder einen letzten Glanz verlieh. Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, und ihr Blick wanderte über seine dunkel behaarten Unterarme und Hände, die mit zarten Bewegungen auch die letzten Rillen und Winkel des Oberleders erreichten. Dann faltete er das Tuch zusammen und legte es behutsam beiseite. Er entnahm seiner Hemdtasche einen Füller und schlug den Quittungsblock auf. Dabei setzte er eine Brille mit dunklem Rahmen auf. Langsam schrieb er die Artikelbezeichnung und dann in Worten den Warenwert auf die Quittung. Zuletzt unterschrieb er.
Etienne Farges
Mit den Schuhen ihres Vaters in einer hochwertigen Farges-Tasche verließ sie das Geschäft, dabei stand sie noch ganz unter dem Eindruck dieser Begegnung. Dieser Mann, der junge Farges offensichtlich, der seine Verschlossenheit in ein so attraktives Äußeres verpackt hatte, war eine Momentaufnahme, die sie unbedingt festhalten musste. Draußen vor der Tür sah sie sich noch einmal um und blickte zurück in den Laden. Dabei trafen sich ihre Blicke – nur kurz. Sie konnte ein kleines Lächeln nicht verbergen und sah, dass er ihr durch die Glastür ein angedeutetes Lächeln zurückwarf. Er hatte ihr nachgesehen.
Als sie zuhause angekommen war, zog sie zuallererst einen Skizzenblock aus dem Regal hervor sowie eine Schachtel Kohlestifte. Während der gesamten Rückfahrt mit dem Bus von Aix-en-Provence bis Sisteron war sie sein Gesicht, das sich in ihre Erinnerung eingebrannt hatte, in allen Einzelheiten durchgegangen, damit sie bloß kein Detail vergaß, wenn sie ihn später zeichnen würde. Sie musste diese Introvertiertheit, diese Traurigkeit und Verschlossenheit, die er ausstrahlte, einfach einfangen, zu Papier bringen und für immer festhalten. Und so begann sie, seine hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und die schmale Nase zu zeichnen. Dann seine markante Kieferknochenlinie, die mit einer sanften Kurve in die Ohrläppchen anschloss. Mehr nicht, denn darüber fiel bereits sein Haar. Sein Gesicht war frisch rasiert, die Koteletten auf ein ideales Maß getrimmt und seine Haut sah glatt und gepflegt aus, all das brachte sie zu Papier. All das hatte sie nicht vergessen. Die vollen, tiefbraunen, fast schwarzen Haare fielen gescheitelt, mit einem seitlichen Pony in sein Gesicht und verdeckten seine hohe Stirn. Dann erinnerte sie sich daran, wie er aufblickte und sie ansah, und wie für einen Moment das Sonnenlicht seine blauen Augen ausleuchtete. Diesen Blick wollte sie darstellen und suchte in ihrer Schublade nach etwas Geeigneterem. Sie fand Ölkreide. Somit skizzierte sie seine Augen mit blauer Farbe und betrachtete ihr Kunstwerk nach einer Weile voller Stolz.
Er hatte ein perfektes Gesicht, er war ein maßgeschneiderter Mensch, aber die Skizze spiegelte nicht im Geringsten diese Traurigkeit wider, die sie im Laden wahrgenommen hatte, wodurch sie überhaupt erst auf die Idee gekommen war, eine Skizze anzufertigen. Je länger sie dieses Bild betrachtete, umso klarer wurde ihr, dass sie ihn wiedersehen musste.
4Kein typischer Montag
Als Alexandre Dupont am Montagmorgen die Tür zu seinem Schlafzimmer quietschen hörte, riss er schreckerfüllt die Augen auf. Noch bevor er sich richtig aufrichten konnte, sprang die Tür auf und zwei maskierte Männer stürmten herein. Seine Kehle schnürte sich zu. Der dritte und letzte Mann richtete eine Pistole auf ihn. In seinen Augen las er das böse Grinsen, das der Mann unter seiner Maske versteckte. Ohne Vorwarnung schoss er ihm in die Brust. »Hilfe«, schrie es in ihm. Er konnte nicht sprechen, nicht schreien, alles war plötzlich voller Blut, als er an sich herabsah. Dann griff er sich an die Brust, hielt mit beiden Händen die Wunde zu, aber das warme Blut rann durch seine Finger und ergoss sich über die Bettdecke. Es sprudelte und quoll wie ein überlaufendes Waschbecken aus seiner Körpermitte auf das frische weiße Laken. Zeit blieb ihm nicht mehr. Sie mussten ihm helfen. Jetzt! Doch als er verzweifelt aufblickte, waren die Männer verschwunden – und als er dann auf die Decke vor sich blickte, war auch das Blut wieder verschwunden. Und wie dann sein Wecker vibrierend auf dem Nachttisch tanzte, verstand er, dass es schon wieder einer dieser Träume war… Ein Traum, aus dem er nicht zum ersten Mal erwachte, seit seine gute Freundin Carolina im vergangenen Jahr in seiner Wohnung erschossen worden war.
Als er später die Wache in Sion betrat, lag ihm ein schwerer Kloß im Magen. Das freundliche »Hallo« von Victoria nahm er erst mit Verzögerung wahr und ließ es unbeantwortet. Stattdessen schritt er an ihr vorbei und steuerte direkt auf Bromés Büro zu. Er wollte ihn über die jüngsten Erlebnisse im französischen Sisteron informieren. Bromés Bürotür war allerdings verschlossen, was sehr ungewöhnlich war an einem Montagmorgen, an dem die Gepflogenheiten des Kontaktaustausches bewusst lockerer waren als an den anderen Tagen der Woche. Bromé begrüßte in der Regel morgens jeden persönlich und legte als Kommandant des Kantons Wallis auch großen Wert darauf, den aktuellen Stand der Ermittlungen zu kommunizieren und für alle transparent zu machen.
Heute Morgen sah er Bromé aber lediglich durch die Jalousie seiner Bürofenster. Er unterhielt sich angeregt mit einem Mann. Bromé ließ die Bürojalousie nur selten herab, wenn er Besuch hatte, doch heute tat er es und heute war sein Kopf bei der Besprechung stark errötet, soviel konnte er durch die Jalousie-Schlitze sehen. Dann trafen sich ihre Blicke. Für eine Millisekunde las er in seinem Gesicht, dass es sich um eine ernste Sache handelte, aber er nahm auch eine freundliche Begrüßung wahr. Wie ging das? Dann wandte Bromé sich wieder seinem Gesprächspartner zu.