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Karl Russo bringt durch seine mafiösen Verstrickungen ungewollt seine Familie in Gefahr. Nach der Entführung seiner Kinder verschwindet er ohne ein Wort und begibt sich auf eine lebensgefährliche Mission. Dabei setzt er alles auf eine Karte. Doch seine Frau Mariella, die unverrichteter Dinge zurückgelassen wird, macht sich sofort auf die Suche. Gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter Carlotta beginnt eine gefährliche Reise und ein Wettlauf gegen die Zeit.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhalt
Inhalt
Impressum
Nadia Voss
1 Das Dilemma im Kerker
2 Capriglia
3 Der lange Marsch
4 Besuch im Büro
5 Gustavs Entscheidung
6 Rassiali
7 Wie ein Raubtier im Käfig
8 Am Frankfurter Flughafen
9 Mariellas Plan
10 Der Militärflughafen
11 Carlotta auf Spurensuche
12 Welcome to Kairo
13 Carlotta am Rassiali Hof – Der Vortrag
14 Im Airport-Hotel
15 Carlotta am Rassiali Hof - Angeschlichen
16 Flucht
17 Unterirdisch
18 Familie Salem
19 Bei den koptischen Schwestern
20 Das Krankenhaus
21 Wo ist Karl?
22 Karls Festnahme
23 Im Institut
24 Im goldenen Käfig
25 Schwester Aziza
26 Das Polizeirevier
27 Die Frauendemonstration
28 Carlottas Traum
29 Was Karl getan hat
30 Carlotta und Antonio
31 Karl trifft Gustav
32 Linsensuppe
33 Besuch von Ahmed
34 Antibiotika
35 Gustavs Treueschwur
36 Carlotta findet noch viel mehr
37 Abu
38 Im Bestattungsraum
39 Mariella und Gustav im Institut
40 Königswasser
41 Auf der Suche nach Beweisen
42 Die Mafia Apotheke
43 Das Weinfest
Über die Autorin
Impressum
Copyright © Nadia Voß
alle Rechte vorbehaltenErscheinung: 2023Nadia Voß, Kampstr. 17, 48683 Ahaus
Das Buch ist auch als Taschenbuch erschienenLektorat / Korrektorat: Reinhard Gevers
Nadia Voss
Was Karl getan hat
Kriminalroman
1Das Dilemma im Kerker
Jetzt waren es nur noch wenige Minuten, bis der Henker vor seiner Zelle stehen würde. Der Gefängnisdirektor würde sich wundern, dass der zu hängende Mitgefangene bereits tot neben ihm lag. Zugleich würde er ihn mit Gewissheit fragen, was geschehen war, und ihn in letzter Konsequenz sogar für diesen Umstand verantwortlich machen. Ja, so würde es kommen. Er hörte die stampfenden, langsamen Stiefelschritte des Henkers durch den langen Flur des Kerkers heranschreiten. Pulsierend drangen die schallenden Geräusche in sein Ohr.
Gustav betrachtete seine Behausung mit ablehnender Haltung. Dieses Verlies, wie man es im finsteren Mittelalter vorzufinden glaubte, war in seinen Augen nicht viel mehr als ein etwas größerer Hundezwinger. Wenngleich, so wurde ihm immer wieder vermittelt, er froh sein könne, in einem der besseren Gefängnisse Kairos gelandet zu sein. Und doch war er zu empfindlich, um selbst diese scheinbar besseren Umstände zu ertragen. Schon oft hatte er sich in diesen vier Wänden erbrochen, weil ihm das Essen, die Gerüche und der Alltag mit den anderen Häftlingen auf den Magen geschlagen war.
Die Steine der Mauern um ihn herum waren grob und ungeschliffen. Er erinnerte sich daran, wie schön und weich sich das Moos in den Fugen anfühlte, wenn die Sonne darauf schien und er mit seinen Fingern darüber strich. An einigen Stellen drang Wasser durch die Decke und sickerte an der Wand entlang hinab, bis es auf den Steinboden plätscherte. Manchmal tropfte es auch in die Schuhe oder in das Geschirr, das der Wärter noch nicht abgeholt hatte. Insgesamt war es ein absolut unbefriedigender Zustand, den er nicht gewollt und nicht verdient hatte. Gustav schätzte die Zelle auf gut sechs Quadratmeter. Nicht gerade viel für zwei Männer.
Wenn er drei Schritte durch den Raum ging, dann stand er bereits am Fenster. Dieses unscheinbare Fenster, das kaum größer als eine Melone und zusätzlich mit zwei Eisenstangen durchzogen war. Jeden Morgen beobachtete er, wie Karl, sein Mitgefangener, es liebte, von der Sonne geweckt zu werden, die schon sehr früh am Himmel stand. Dazu sang er leise seine Lieder, immer wieder diese kleine italienische Melodie. Jetzt lag er tot am Boden, wo er sonst den Beginn des Tages besang.
Bei dem Gedanken an Karl wurde ihm übel. Er konnte es kaum ertragen, dass er jetzt tot war. Vor wenigen Minuten hatten sie sich noch unterhalten.
»Bruder, was ist bloß passiert?«, flüsterte er.
Gustav ging in die Hocke und lehnte sich zurück an die unebene Wand. Jetzt musste er sich auf das Unheil vorbereiten, das sich geräuschvoll aus der Ferne ankündigte. Was würde nun mit ihm passieren? Würde man ihn direkt als Mörder ansehen? Das dürfte mit Sicherheit seine Haft verlängern, wenn nicht sogar Schlimmeres. Daran mochte er gar nicht denken. Karls Überpräsenz in diesem Moment dadurch, dass er tot neben ihm lag und deshalb, weil sein Henker in wenigen Sekunden hier sein würde, machte es fast unmöglich, an etwas anderes zu denken. Kaum auszumalen, dachte er, wenn seine Familie es erfahren würde.
Er musste eine liebenswürdige Familie haben, denn es war schließlich das Einzige, worüber er mit leuchtenden Augen sprechen konnte. Sie wohnten in Capriglia, einem kleinen Bergdorf in der Nordtoskana. Seine Frau hieß Mariella und mit ihr hatte er drei Kinder. All das hatte Karl ihm ausgiebig dargelegt in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten und daher wusste er, wie viel sie ihm bedeutete. Insbesondere wenn er Dinge zum Vergleich heranzog. So bekamen sie in der letzten Woche an einem schönen sonnigen Tag einen köstlichen Linseneintopf hier im Gefängnis. Eine Seltenheit, denn eigentlich bekamen sie immer ein scheußlich riechendes Kräuterwasser, das die Wärter ohne Scherz Suppe nannten. Dazu gab es Brot. Billig zubereitete Kost, nur um sie am Leben zu halten.
Die Zustände seien in anderen Gefängnissen noch miserabler, wiederholte man stets, um Beschwerden abzuwenden. Möglicherweise hatte ein reicher Geschäftsmann dieses Mal seine Überschüsse gespendet oder es kam von den koptisch-orthodoxen Schwestern. Dieser kleine Konvent sorgte vor einigen Jahren dafür, dass Folter in diesem Gefängnis abgeschafft wurde. Die Schwestern dort arbeiteten mehr oder weniger autark und man wusste nicht genau, wem sie unterstellt waren, da sich der koptisch-orthodoxe Orden schon vor langer Zeit ins Landesinnere zurückgezogen hatte. Doch selbst dieser seltene Linseneintopf hatte für Karl keinen Wert. Er bestand sogar darauf zu betonen, dass die Ribollita von seiner Frau Mariella jedem Raum und Zeit vergessen ließ. Und viel mehr sagte Karl an jenem Tag nicht mehr. Für Gustav hatte es jedoch den Anschein, als hätte der Linseneintopf Karls Laune verdorben.
Er atmete tief aus. Irgendetwas hatte den Henker aufgehalten. Er kam gar nicht näher, wunderte er sich und richtete sich wieder auf, da die spitzen Steine der Wand inzwischen in seinen Rücken stachen. Nichts hier war bequem. Nicht einmal die Matratzen. Man hätte genauso gut auf dem Boden schlafen können. Doch dann hörte er die Schritte immer näherkommen. Der Henker und sein Gefolge – sie alle waren wohl vergebens hier, wie sie gleich feststellen würden. Kurz überlegte er, wie er dem Gefängnisdirektor diese Situation erklären sollte. Er war ja nicht schuld. Aber sah der Direktor das auch so? Schließlich war er die ganze Zeit allein mit Karl in der Zelle gewesen. Für die Wärter müsste es sonnenklar sein, was hier passiert war. Beim Frühstück war Karl noch lebendig, wenig später war er tot. Man würde klar behaupten: Der Häftling Gustav Stanner hat ihn umgebracht! Und damit lägen sie näher an der Wahrheit als an der Annahme, dass er Selbstmord begangen hätte. Wozu sollte Karl Selbstmord begehen? Nein, das hätte er niemals getan. Nicht jemand wie Karl. Der mitten in einer Mission steckte und nicht die Spur Willens war, diese Mission abzubrechen. Über die Ursachen seines plötzlichen Ablebens konnte er sich den Kopf nicht länger zerbrechen, denn nun sah er den Schatten des Priesters schon um die Ecke scheinen.
Der Priester war ein alter Ganove. Er ließ sich jedes Mal dafür bezahlen, den armen Häftlingen die Absolution zu erteilen. Das war ein gegenseitiger Vorteil, versprach er, denn so bahnte er den Seelen einen freien Weg in den Himmel zu Gott. Man verstand die anschließende Hinrichtung als Resozialisierung, genauso erklärte er es jedenfalls immer wieder in der Morgenmesse. Aber er ging schon lange nicht mehr in die Messe. Die Zeit, als er dort Hoffnung fand, war inzwischen vorüber. Jetzt erkannte er Gesichter. Er sah schon die kraus gerunzelte Stirn des näherkommenden Priesters, so als ob er sein Geschäft in Gefahr witterte. Was war das bloß für ein Priester? Das hatte nichts mit dem koptisch-orthodoxen Konvent zu tun, der selbstlos Hilfe anbot. Sein weißer Bart und sein prunkvolles schwarzes Gewand zogen alle Aufmerksamkeit auf sich, sodass der Henker wie ein farbloser Vasall neben ihm erschien. Dieser zeigte keine Miene, denn die Haube seines Gewands hatte er tief ins Gesicht gezogen. Die beiden Männer, die ihnen folgten, waren ganz offensichtlich der Gefängnisdirektor und dessen persönlicher Assistent Abu. Gustav atmete tief durch und behielt sie fest im Blick. Im Gegensatz zum bärtigen Abu, der einen sehr aufrechten, fast vornehmen Gang hatte, humpelte der Direktor wie ein alter Stallknecht hinter dem Priester her. Das soll was geben, dachte er. Sie würden enttäuscht sein und sie würden toben, ahnte Gustav.
»Stanner – was ist hier los?«, brüllte der Direktor. Er fuhr ihn mit seiner schroffen, rauen Stimme an, dabei drängelte er sich hinter dem Henker durch nach vorne in die erste Reihe. Das sah nicht besonders elegant aus, denn er war ein ziemlich korpulenter Mann, in zu enger Kleidung. Sein rundes, rotes Gesicht deutete auf gesundheitliche Probleme hin, mutmaßte Gustav und in dessen Mundwinkel hing, wie immer, eine Zigarre. Wenigstens konnte er viele Sprachen sprechen, was die Konversation zwischen ihm und dem Gefängnispersonal erleichterte. Ja, darin war er eine gute Hilfe, musste er anerkennend zugeben, denn er hatte ihn schon aus einigen Schwierigkeiten geholfen, die durch Sprachbarrieren entstanden waren. Das war aber auch das Einzige, was man ihm positiv zuschreiben konnte. Gustav fragte sich stets, wie ein Texaner auf die Idee kam, in Kairo Gefängnisdirektor zu werden.
»Wecken Sie ihn auf, Stanner! Sofort!«, brüllte der Gefängnisdirektor so brummend laut, so sonor und dass Gustav neben der Lunge auch die Ohren schepperten. Dabei rüttelte er mit einer Hand an der Eisengittertür, so als ob sie nicht verschlossen sei, sondern lediglich klemmen würde. Mit der anderen Hand kramte er in seiner linken Jackentasche nach dem Zellenschlüssel. Es dauerte hektische Sekunden, bis er ihn endlich hervorgeholt hatte.
»Aufstehen! Was liegen Sie da rum, Russo?«
Der Direktor richtete seine Worte dieses Mal direkt an Karl, der, wie zu erwarten war, nicht antwortete.
Der sonst so besonnene Abu trat hektisch an die Tür, die im selben Moment mit einem metallisch klingenden Klack aufsprang.
Auch für Gustav legte dieser Vorgang den Weg ins Freie dar, träumte er jedenfalls. Für einen kurzen Moment lenkte ihn das offene Gittertor und die in der Ferne liegende Treppe ins Freie so sehr ab, dass er überlegte, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu fliehen. Falls er jetzt schnell rennen würde, dann käme er an der unterbesetzten Wache vorbei und wäre ganz einfach frei. Wie weit er wohl kommen würde, überlegte er. Wohl nicht so weit, entschied er dann und erinnerte sich an die aktuell, derzeit ausweglose Situation. Er hatte keine Muskelkraft um auch nur überhaupt um die nächste Ecke zu fliehen. Er starrte den Direktor an und sah zu, wie er Karls Kragen weitete, damit dieser mehr Luft bekommen konnte. Er rüttelte an ihm und klopfte ihm auf die Brust. Aber er bekam ihn nicht wach und endlich realisierte der Direktor, dass es kein Schlaf war, in den Karl versunken war. Mit einer sich überschlagenden Stimme fragte er:
»Erklären Sie uns sofort, was hier vorgefallen ist, Stanner!«
Gustav erstarrte. Er konnte kein Wort über die Lippen bringen. Er fühlte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunter rann. Was sollte er denn erklären? Der Direktor kniete mittlerweile neben Karl und fühlte seinen Puls.
»Nicht vorhanden!«, brummte er. Dabei verzog er keine Miene und sein Blick wich vorwurfsvoll nach links. Doch auch Gustav blickte hoffnungslos und traurig auf den leblosen Körper von Karl. Rechts starrten zwei grimmige Milchgesichter auf sie hinab, die des Priesters und des Henkers. Nur Abu war, wenn Gustav es richtig deutete, der Einzige, der ähnlich bestürzt über die Situation war wie er selbst. Jetzt wussten alle, was geschehen war. Karl Russo war tot.
Der Priester protestierte, dass es wohl nicht wahr sein könne, man würde heute doch eine Hinrichtung erwarten. Er sagte es so, als ob die Hinrichtung eine legitime Art der Verbrechensbekämpfung sei, die zur Abschreckung feierlich zelebriert werden müsste. Gustav schlotterten die Knie. Der Henker schwieg und nickte. Gustav erkannte, dass er nichts weiter wollte, als seinen Job gewissenhaft durchzuführen. Im nächsten Moment sprang der Direktor in einem Zug bis direkt an Gustavs Nasenspitze heran, um das auszusprechen, was er bereits die ganze Zeit befürchtet hatte:
»Sie haben ihn umgebracht, Stanner!«
Auch das noch. Es war ihm zwar schon klar, dass dieses Urteil käme, aber wenn er überlegte, war das eine unlogische Schlussfolgerung. Wenn man bedachte, dass heute der Tag seiner Hinrichtung war, welchen Sinn hätte es gemacht, ihn kurz vorher zu töten? Er ließ sich nichts anmerken, keine Mimik, nichts. Sein Gesicht war wie eingefroren. Er wusste nicht, ob das überhaupt jemand bemerkt hatte, aber Karl und er hatten sich sehr gut verstanden, sie waren hier im Gefängnis Freunde geworden, er sah in ihm einen Bruder. Er hätte ihm niemals etwas antun können. Da er kein Wort der Erklärung hervorbringen konnte und weiterhin schwieg, dauerte es nicht lange, bis sie ihn packten und abführten. Er wehrte sich nicht. Man konnte ihm nichts nachweisen. Nach allem, was er von Karl wusste und was sie beide erlebt hatten, war ihm klar, dass er der Sache auf den Grund gehen musste. Wer oder was steckte wirklich hinter Karls Tod?
2Capriglia
Karl kam zusammen mit Despina den kleinen steinigen Bergtrampelpfad hinauf. Sie hatten die Pferde gerade zurückgegeben und waren voller neuer Eindrücke von der Erlebnistour durch den Wald. Despina berichtete ohne Unterlass über die neuen Erfahrungen mit Moonie, ihrem Trekkingpferd. Karl hatte den Namen seines Pferdes schon wieder vergessen, hörte ihr aber voller Aufmerksamkeit zu.
»Weißt du, dass er schon dreimal auf Reiterreisen war?«, rief sie ausgelassen und drehte sich beim Laufen mehrmals im Kreis, sodass sich ihre Zöpfe wie Propeller um ihren Kopf drehten.
»Damit hat er schon viel Geld verdient. Das ist eine Ehre für Pferde!«
»Pass auf, dass dir nicht schwindelig wird!«, ermahnte Karl sie freundlich. Despina war voller Energie und sah die Welt durch eine rosarote Brille.
»Da sind Pedro und Alessandro!«, bemerkte sie auf einmal, »darf ich noch etwas mit ihnen spielen?« Karl erkannte Alessandro, Despinas Zwillingsbruder, schon von Weitem winken.
»Na gut, geh schon, aber seid pünktlich zum Essen zurück!«, warf Karl ihr wohlgesonnen zu. Die drei waren unzertrennlich. Hier oben in Capriglia, dem kleinen Dorf oberhalb von Pietrasanta, gab es nicht viele Kinder zum Spielen und so war es zwangsläufig, dass sich ihre Wege kreuzten. Sie verbrachten jede freie Minute gemeinsam.
Nach der Dusche gönnte sich Karl einen Espresso. Es war noch etwas Zeit bis zum Essen und so warf er einen Blick in die Tageszeitung. Dort las er:
»Zwei Kilo Koks in Keller gefunden!« Dabei griff er sich fassungslos an den Kopf.
»Mamma mia! Unfassbar, dass sich das jemand traut!«
Seine Aufmerksamkeit wurde jäh von lautem Knirschen und Quietschen geweckt. Er blickte aus dem Fenster und beobachtete seine Frau Mariella dabei, wie sie auf der Terrasse die großen Pflanztöpfe so lange hin und her schob, bis ihr die Ausrichtung der Pflanzen gefiel. Dabei hatte sie unentwegt mit ihren langen, dunkelbraunen Haaren zu kämpfen, die ihr dauernd wieder ins Gesicht zurückfielen. Sie nahm einige Veränderungen auch am Rosenspalier vor, bis sie glücklich ihr neues Werk betrachtete. Er konnte ihr stundenlang dabei zusehen, wie sie die alltäglichen Dinge erledigte und dabei immer so liebenswürdig aussah.
Als sie bemerkte, wie Karl sie ansah, blickte sie über ihre Schulter zu ihm, lächelte und warf ihm einen Kuss zu.
Karl legte viel Wert darauf, möglichst oft in der Nähe seiner Familie zu sein und so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. In den ganzen Jahren, in denen sie hier oben in Capriglia, dem kleinen Bergdorf, in den Apuanischen Alpen, lebten, hatte er es sich nicht nehmen lassen, stets pünktlich aus dem Krankenhaus zu kommen, um seine Familie bloß nicht beim Abendessen zu versetzen. Dabei wusste er genau, dass Mariella es ihm natürlich verzeihen würde. Karl war ein Familienmensch und wollte nie länger als notwendig im Krankenhaus arbeiten. Als er vor fünfundzwanzig Jahren als Assistenzarzt im Krankenhaus Cisanello in Pisa begann, hatte er oft bis tief in die Nacht gearbeitet und sogar jeden Notdienst angenommen. Allerdings missfiel ihm das zunehmend und langfristig machte es ihn krank. Er durchlief eine Phase der Depression. Das ging so weit, dass er sogar anfing, an seinem Beruf zu zweifeln. Das Krankenhaus half ihm, einen gangbaren Weg zu finden. Seine Erfahrung und sein Können waren für das Krankenhaus in Pisa unverzichtbar.
»Wollen wir gleich draußen auf der Terrasse zu Abend essen, Karl?«, fragte Mariella, als sie mit dem Putzeimer in der Hand zurück ins Haus kam. Karl erhob sich, kam auf sie zu und nahm ihr den Eimer ab. Dann umarmte er sie und küsste ihre Stirn.
»Aber gerne, mia cara.«
Das Krankenhaus hatte ihm damals zwei Notfallärzte zur Seite gestellt. Zunächst übergangsweise, bis Karl seine Depression überwunden hatte. Ein Sonderrecht, das kein weiterer Arzt in diesem Krankenhaus genoss. Und dann hatte er sich in den letzten Jahren zunehmend der Krankenhaus-Kalkulation und Organisation gewidmet. Er sah überall Bedarf, die Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses zu verbessern. Als Chef-Chirurg des Krankenhauses Cisanello hatte er viele weitere Privilegien, wie Entscheidungsbefugnis bei Anschaffungen und Personalentscheidungen, erworben. Alles nur durch seine hervorragenden Leistungen und sein Geschick in der Finanzbuchhaltung. Das Krankenhaus schrieb hohe schwarze Zahlen, seitdem er den finanziellen Bereich übernommen hatte. Karl rechnete mit spitzem Bleistift und nahm sich viel Zeit dafür, die Herstellerpreise zu vergleichen und später zu drücken. Damit blieb mehr übrig für Investitionen in die Ausstattung, was immer vorteilhaft für den Ruf eines Krankenhauses war. Normalerweise würde sich kein praktizierender Arzt so eindringlich damit beschäftigen, aber für Karl war es eine willkommene Abwechslung. Dabei praktizierte er stets weiter, operierte und ließ es sich auch nicht nehmen, den engen Kontakt zu Patienten weiter zu pflegen.
Karl mochte es nicht, wenn man ihm nachsagte, nur des Geldes wegen zu operieren. Im Gegenteil, denn das war nicht sein Verständnis von wirtschaftlicher Krankenhausarbeit. Er handelte lieber mit Herstellerfirmen gute Verträge aus, anstatt sich durch teure Operationen an Patienten, die oftmals nicht nötig waren, zu bereichern.
Es roch aus der Küche nach Saltimbocca alla Romana. Ein Leibgericht, das hauptsächlich aus einem gebratenen Kalbsschnitzel mit Salbei bestand. Dazu gab es Parmaschinken und Gemüse aus dem eigenen Garten.
»Das duftet wunderbar, Mariella«, rief Karl ihr zu.
»Es wird aber noch etwas dauern!«, entgegnete sie.
Karl nutzte die Zeit für ein kurzes Telefonat mit einem seiner Patienten. Im Laufe des Tages hatte er nämlich mehr Informationen über das Krankheitsbild des Patienten bekommen, weshalb er, nach gründlicher Abwägung der Vor- und Nachteile, eine Schulteroperation für den hochbetagten Herrn besser ablehnen würde. Dieser Mann hatte vor vielen Jahren einen Schlaganfall erlitten und war halbseitig gelähmt. Ausgerechnet die Schulter seiner gesunden Körperhälfte löste neuerlich starke Schmerzen bei ihm aus. So ließ er sich zeitweilig Cortison gegen die Schmerzen spritzen. Nach ausgiebiger Untersuchung sowie einer Röntgenuntersuchung, einem MRT und Ultraschallaufnahmen zeigte sich ein klares Krankheitsbild. Ein sogenannter Abriss der Rotatorenmanschette. Da dieser Patient schon darauf eingestimmt wurde, sich auf eine Operation einzustellen, hielt Karl es jedoch für wichtig, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
»Maciello – buona sera«, meldete sich der Patient am anderen Ende der Leitung.
»Buona sera, Signor Maciello, hier spricht der Dottore. Karl Russo. Sie waren heute bei uns im Krankenhaus zur Besprechung.«
»Si.«
»Ich rufe Sie deshalb an, weil ich Ihren aktuellen Befund noch einmal gut durchdacht und abgewogen habe. Dabei bin ich zu der Entscheidung gekommen, Sie lieber nicht operieren zu wollen. Die Begründung würde ich Ihnen gerne genauer erläutern.«
»…«
Karl hörte den Mann durch das Telefon atmen. Dann antwortete er plötzlich:
»Dottor Russo! Si, erklären Sie es mir bitte, denn ich habe immer noch so starke Schmerzen.«
»Seien Sie nicht besorgt. Was die Therapie Ihrer Schulter betrifft, würde ich Ihnen gerne Physiotherapie anraten. Ich möchte dazu kurz meine Begründung erklären. Ihre linke Körperhälfte ist fast vollständig gelähmt. Die rechte Seite hingegen ist völlig funktionsfähig und es reicht so gerade, im Alltag kleinere Tätigkeiten auszuführen. Wir werden eine Physiotherapie, ausgerichtet auf Ihre Schulterproblematik, einleiten. Dass die Operation für Sie nicht in Frage kommt, hat den entscheidenden Grund, dass Sie Ihren Arm nach der Operation mindestens sechs Wochen nicht bewegen dürfen. Das heißt, Sie sind komplett auf fremde Hilfe angewiesen und Sie können dann gar nichts machen. Nicht allein essen, nicht allein ins Bad, vielleicht auch nicht mal allein hinsetzen oder aus dem Bett aufstehen. Ich könnte Ihnen noch weitere Beispiele nennen, aber Sie merken, worauf ich hinauswill?«
»Ja, das wird mir jetzt bewusst.«
»Damit möchte ich Sie nicht belasten! Kommen Sie vorbei und holen sich zwei Rezepte ab. Wir begleiten die Therapie weiterhin medikamentös, damit Sie nicht so starke Schmerzen haben. Sind Sie einverstanden?«
»Si, va bene. Gracie, Dottore.«
Mariella rief zum Essen. Die Kinder deckten gemeinsam den Tisch draußen. Carlotta, Karl und Mariellas älteste Tochter, genoss ihre letzten Ferien nach der soeben bestandenen Maturità, bevor sie, wie sie hoffte, einen Studienplatz bekommen würde. Despina und Alessandro, die 11-jährigen Zwillinge, die jeden Tag Trubel ins Haus brachten, komplettierten die typisch italienische Familie.
Karl wusste genau, wie er seine Ehe durch kontinuierliche Wertschätzung intakt hielt. Auf seine Weise, indem er Mariella vor allen anderen immer wie ein Kunstwerk präsentierte. Vor einigen Jahren hatte er sie von einem jungen Künstler aus Pietrasanta malen lassen. Mariella war damals über das Ergebnis so gerührt, dass es ihr tagelang die Sprache verschlug. Sie war eine typische Italienerin, die allem voran sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte. Ihre vierzig Jahre sah man ihr nicht an. Sie verstand es, stets im besten Licht zu erscheinen und verließ das Bad am Morgen niemals ungeschminkt. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, ausgediente Kleidung zu tragen oder sogar im Alltag auf Schmuck zu verzichten. Das würde sie nicht als Frau des Chefarztes repräsentieren, glaubte sie. Die modernsten Hosen mit den Löchern, die ihre Kinder manchmal anfragten, waren für sie eine Todsünde. Ebenfalls verzichtete sie dankend auf Jogginghosen. Selbst ihre einzige Sweatshirt-Jacke, die sie wegen der Gartenarbeit besaß, war lediglich gut genug für diese Arbeit. Ihre dunklen lockigen Haare hatte sie immer zu einer natürlichen Frisur im Nacken zusammengebunden und nach vorne hin ließ sie meistens zwei Strähnen heraus.
»Tomaso Rassiali hat angerufen. Er möchte sich gerne morgen mit dir treffen.«
»Va bene, Mariella, ich werde ihn gleich zurückrufen. Hat er gesagt, worum es geht?«
»Nein!«
Auch wenn das Familienleben noch so perfekt war, legte sich ein Schatten auf seine berufliche Tätigkeit, denn Karl hatte sich über die Zeit mit der italienischen Mafia eingelassen. So kam der Tag, an dem er mit einem Vertreter der Pharma-Branche einen guten neuen Vertrag für ein solides Antibiotikum verhandelt hatte, da offerierte dieser ihm einen weiteren Handel. Karl sollte demnach zukünftig auch Medikamente, wie beispielsweise Antibiotika, in Kairo bestellen. Natürlich nicht für seine Patienten, diese Medikamente würden nicht in den normalen Umlauf gehen. Sie wären für den Weitertransport in ärmere Länder und im Speziellen an Hilfsorganisationen gedacht. Für diesen Dienst als Zwischenkäufer gäbe es einen weiteren Nachlass von dreißig Prozent auf Antibiotika aus europäischer Produktion und eine finanzielle Aufwandsentschädigung. Eine Hilfsorganisation könnte nicht direkt beim Hersteller bestellen, argumentierte der Pharmavertreter. Sie waren auf Spenden aus Krankenhäusern angewiesen und auf Zwischenkäufer. Das war für Karl der Einstieg ins organisierte Verbrechen, und zwar, ohne es zu wissen.
Einige Jahre lief es ohne Probleme und ohne weitere Zwischenfälle gut. Karl baute eine vertrauensvolle Geschäftsbeziehung zum ACP Institut in Kairo auf. Alle Medikamente, die er bestellte, durchliefen vorher die nötigen Zulassungen und es erschien ihm nichts Verwerfliches dabei. Die Globalisierung bringt es mit sich, dachte er. Karl wusste stets, dass es seinen Patienten an nichts fehlte und sein Krankenhaus gut wirtschaftete, womit alles im grünen Bereich war. Zweifelsfrei war er stolz auf das, was er tat. Aber die zunehmende Einflussnahme auf Krankenakten und die schamlose Einschüchterung des Klinikpersonals schränkten eine normale Krankenhausarbeit mehr und mehr ein. Eines Tages, so berichtete Karl mal, traf der Bestatter im Krankenhaus ein und wunderte sich, dass der Patient noch lebte, den er abholen sollte. In der Folge verschwanden zwei Krankenhausangestellte ohne Grund. Der Patient wurde gesund entlassen, aber wie es ihm heute ging und ob er gar noch lebte, wurde nicht bekannt. Trotz diesem und ähnlicher Vorfälle distanzierte sich Karl nie ganz von der Mafia und insgeheim sah er manches sogar positiv.
Carlotta rümpfte stets die Nase und konnte kaum ertragen, wenn ihr Vater die kriminellen Verstrickungen in irgendeiner Form positiv darstellte. An manchen Tagen war er einfach blind, fand sie und dann wunderte sie sich, wie stur ihr Vater sein konnte. Karl störte sich daran, wenn Gemeinde und Städte verdreckt waren und die Müllproblematik nicht in den Griff bekamen. Seitdem die Mafia die Recyclingbranche übernommen hatte, sei es viel sauberer und ordentlicher in den Ortschaften geworden, sagte er. Doch Carlotta blieb hartnäckig und argumentierte gerne gegen ihren Vater. Es sollte kein Tag kommen, an dem ihr je ein positives Wort zur Mafia über die Lippen kommen würde.
3Der lange Marsch
Sie zerrten ihn aus der Zelle durch die Gänge des Kellers. Weitere Wärter kamen dazu geeilt und diskutierten aufgehetzt. Sie redeten laut und wild durcheinander. Ihre aggressiven Gesichter bissen wie kläffende Hunde um sich. Gustav reichte der Anblick und er glaubte, es sei besser für ihn, nicht alles zu verstehen. Wenn er auf die Zeit zurückblickte, wie er vor zehn Wochen ins Gefängnis gekommen war und die Umstände, warum er überhaupt hier war, sprach alles dafür, dass es hier ein trauriges Ende für ihn finden würde. Er war von vorne bis hinten in kriminelle Verstrickungen verwickelt und so sehr er beschwor, nichts davon gewollt zu haben, umso mehr sprachen die Fakten gegen ihn. Wer sollte da auf seiner Seite sein? Es war so, als sei es erst gestern gewesen, dass sie ihn auf die gleiche Weise, aber genau in die andere Richtung, in die Zelle zerrten. Alles kam ihm plötzlich wieder in den Sinn.
Damals hatte er sich das Ganze völlig anders vorgestellt, als er am Flughafen Kairo-Almaza landete. Dort erwartete er, dass ihn ein Mann vom italienischen Sicherheitspersonal am Flughafen empfangen würde, doch stattdessen empfing ihn die ägyptische Militär-Polizei. Nachdem sie ihm seine mitgebrachte Fracht abgenommen hatten, forderten sie, dass er Ihnen fünftausend Euro Schmiergeld zahlen solle, um wieder freizukommen, was er nicht tat. Er hatte diese Summe nicht. Aber das Geld, das er bei sich trug, nahmen sie ihm ab. Ganze tausendfünfhundert Euro - sein Lohn für den begleiteten Transport der Ware. Doch sie gaben sich damit nicht zufrieden. Hätten sie nur eine Ahnung, wie es auf seinem Konto aussah. Reich war er nämlich nicht. Zuhause lebte er in einfachen Verhältnissen, hatte Schulden und gönnte sich nichts. Als arbeitsloser Ex-Soldat konnte er kein großes Vermögen vorweisen. Tatsache war, dass man ihm grundsätzlich nicht traute. Genau deshalb ließ man ihn nicht wieder frei und brachte ihn stattdessen in dieses Kellerloch. Er hatte sechs Sturmgewehre sowie achtzig Kilo Munition bei sich, und doch hatte Gustav ein reines Gewissen. Alles war mit Sicherheitsdokumenten, Zertifikaten und Bescheinigungen belegt und im Vorfeld genehmigt worden. Es war eine legale Waffenüberführung. Der Zoll hatte ebenfalls keine Probleme gemacht. Alles war wasserdicht. Die Fracht sollte sicher an italienisches Sicherheitspersonal übergeben werden. Aber dazu sollte es nicht kommen. Sie nahmen ihm die Waffen und die Munition ab. Außerdem verwehrten sie ihm das Recht, Kontakt mit der deutschen Botschaft aufzunehmen. Jene kümmerte sich auch im Gegenzug nicht um ihn. Als ob ihn niemand vermissen würde. Wer auch? Vielleicht Markus sein Nachbar? Als er endlich Kontakt aufbauen konnte, gab es anfangs einen Besuch von einem Anwalt, aber er hatte nicht das Gefühl, dass dieser ihm helfen wollte. Stattdessen äußerte der Pflichtverteidiger, dass er selbst schuld sei an seiner hoffnungslosen Lage. Entsprechend wurde für ihn nichts weiter unternommen. Sie prügelten ihn hierher und hier blieb er dann.
Nachdem sich einige Wochen lang nichts tat, gab es einen Prozess und eine vorläufige Anklage. Dann warfen sie ihm vor, ein Attentat ausüben zu wollen und sogar ein Spion zu sein. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte sich lediglich darauf eingelassen, einen gut bezahlten Auftrag zu erledigen. Aber er hatte kein Interesse daran, etwas auszuspionieren oder gar ein Attentat auszuüben. Das wollte man nicht hören. Zu gerne hätte er noch am Flughafen den Barscheck entgegengenommen und sich in das nächste Flugzeug gesetzt, um wieder zurück nach Deutschland zu fliegen. Er hatte es mehrfach erklärt und erläutert, doch immer, wieder wurde ihm entgegengebracht, es gäbe kein sogenanntes PLP. Kein italienisches Sicherheitspersonal würde Piraterie in Kairo bekämpfen. Zu Gustavs Verwunderung ließ man irgendwann die Anklage gegen ihn fallen. Zuletzt hieß es dann, dass er wegen illegalem Waffenbesitz mit einer Haftdauer von zwei Jahren seine Zeit hier absitzen solle, wovon die ersten Wochen mitgerechnet wurden. Und diese noch übrigen knapp zweiundzwanzig Monate saß er nun ab in der Hoffnung, dass auch diese Anklage irgendwann fallen gelassen würde.
Gustav dachte an die hoffnungslose Zeit zurück und konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als endlich alles besser wurde. Er hoffte jeden Tag, dass es aufwärts gehen würde. Das Leben im Kerker wurde aber erst erträglicher, als sie eines Tages Karl in seine Zelle brachten. Er sah so erledigt aus. Er hatte ein blutunterlaufenes Auge, als wäre er in eine Schlägerei geraten. Außerdem zog er ein Bein hinter sich her. In dem Moment jedoch, als Karl in seine Zelle kam, wusste er: Jetzt geht es hier bergauf. Denn Karl brachte etwas ganz Besonderes mit – nämlich ein verschmitztes Lächeln!
Je weiter sie durch den düsteren Gefängnisflur marschierten, umso wärmer wurde es. Es wurde nicht nur wärmer, es wurde auch immer heller und damit klärte sich auch sein Bewusstsein und der Sinn für die dramatische Lage, in der er sich befand.
Plötzlich maulte der Direktor, der ihn fest im Griff hielt:
»Laufen Sie vorwärts, Stanner! Nicht einschlafen!«
»Ich habe keine Kraft mehr«, flehte Gustav, dem tatsächlich aufgrund der psychischen Lage sämtliche Muskelkraft abhandengekommen war.
»Ach, was reden Sie denn da für einen Unsinn. Sie wissen wohl nicht, wie ernst die Lage für Sie ist und worum es hier geht!?«
»Hm«, brummte Gustav resignierend und hatte das Gefühl, als wäre der Direktor ebenso unvorbereitet. Dieser jedoch schüttelte genervt den Kopf und sah nach vorn. Auch alle anderen Gesichter waren höchst angespannt und blickten ernst. Abu sah ihn sogar etwas bemitleidend an, was wohl die höchste Stufe der Abwertung sein musste, glaubte er.
Sie liefen über den Gefängnisvorhof. Fliehen konnte er hier nicht, denn man hielt ihn so stramm fest, dass es ihm nicht im Traum gelang, sich zu befreien. Er versuchte es erst gar nicht.
»Wo bringt ihr mich hin?«
»Wahrscheinlich zur Verhandlung!«, murrte der Direktor knapp.
Es fuhren eine Reihe Autos vor. Sogar der Wagen des Totengräbers war schon da, was ihn schockierte.
»Wird Karl Russo nicht mehr untersucht?«
»Er war doch gesund. Stanner, sagen Sie, wo ist Ihr Problem?«
Gustav wurde nervös, denn es kreisten noch so viele Fragen in seinem Kopf herum, die nicht geklärt werden konnten, wenn Karl jetzt zum Bestatter käme.
»Und wer benachrichtigt seine Familie?«
»Jetzt ist aber Schluss, Stanner. Wir konzentrieren uns jetzt auf Ihre Verhandlung! Den Fall Russo erledigt der Bestatter, das ist nicht mehr unser Bier. Jetzt fragen Sie nicht so viel!«
Heute war der Tag der Hinrichtung und es gab keinen Hinzurichtenden mehr. Warum konnten nicht einfach alle Menschen, die sich auf dem Platz versammelt hatten nach Hause gehen? Für einen Moment hätte man meinen können, dass sie ihn als eine Art Ersatzkandidat betrachten könnten, nur weil er rein zufällig in der üblichen Hinrichtungsschlange hinter dem Henker herlief. Alle blickten ihn an, als würden sie das genau so sehen. Ihre Körpersprache deutete es an.
Heute Morgen hatte Karl noch so geschwärmt von seiner hübschen Frau Mariella, dass ihm jede Angst vor der Hinrichtung aus dem Gesicht verschwunden war. Und im Nachgang wunderte Gustav sich sogar, dass Karl kurz vor seiner Hinrichtung so entspannt gewesen war. Ganz im Gegensatz zu ihm, der immer deprimierter wurde. Und auch über Frauen konnte er nicht mitreden, so wie Karl es immer tat. Er hatte nämlich keine Freundin mehr. Es lag auch nicht daran, dass er keine Verabredungen bekam oder zu wählerisch war. In den letzten Jahren war es die häufigste Begründung, warum eine Frau plötzlich keine weiteren Treffen mehr wollte, dass es an seinem Beruf läge. Kaum eine Frau, die ihm gefiel, konnte sich mit seinem Soldaten-Beruf anfreunden. Manche meinten auch, er sei viel zu sensibel für einen Soldaten. Seine Entlassung bei der Bundeswehr machte es auch nicht besser, denn jetzt war seine Arbeitslosigkeit der Grund, warum die Frauen sich nicht weiter auf ihn einlassen wollten.
Was hatte ihn bloß in diese Lage gebracht? Er war doch kein Attentäter und erst recht nicht Karls Mörder. Sie durften ihn doch nicht an seiner Stelle hinrichten, nur um eine Hinrichtung zu bekommen. Alles entsprach einfach nicht der Wahrheit.
Wobei – an manchen Orten, er war sich nicht sicher ob Ägypten auch dazu zählte, musste man offenbar nicht unbedingt etwas Schlimmes getan haben, um verurteilt zu werden, erinnerte er sich. In der Zeit, in der er im Kerker saß, hatte er einige Geschichten von anderen Inhaftierten gehört. Angeblich würde es ausreichen, nur der falschen Frau zu nah zu kommen, ohne sie auch nur zu berühren, um dafür gehängt zu werden. Ob es stimmte, war fraglich, aber es wurde erzählt.
Sie zerrten an ihm und es kamen immer mehr Personen mit weißen Gewändern dazu. Einige von ihnen sahen etwas offizieller aus als die meisten Wachmänner. Sie schauten so finster drein, als nähmen sie den Vorfall persönlich und wollten ihn zur Rechenschaft ziehen. Seine Füße hatten kaum noch Kraft, um allein zu laufen. Links und rechts nahm er das wenige Grün der Pflanzen wahr, welches zu den Spitzen der Tamarisken und Akazien gehörte. Sie gaben dem Gelb-, Beige-, Weiß- und Braun-Mix der Umgebung den nötigen Kontrast. Warum drängelten sie denn nur so? Möglicherweise war er ihnen auch nur zu langsam und sie wollten, dass es schneller vorwärts ging. Er sah zwei Männer mit langen weißen Gewändern auf sich zukommen. Mit einer ruckartigen Bewegung holten sie ein Schriftstück aus ihrem Gewand hervor und lasen es ihm vor. Gleichzeitig trat ein weiterer Mann dazu, um es simultan zu übersetzen. Man wollte sichergehen, dass er alles verstehen würde, was nun auf ihn zukäme. So erfuhr er, dass man bedauerte, dass der Kandidat Karl Russo nicht mehr exekutiert werden könnte. Warum sagten sie ihm das? Man wollte in einem Ad-hoc-Verfahren urteilen, wie man nun mit ihm weiter vorgehen würde und das gab ihm ein sehr schlechtes Gefühl. Sie waren schon auf dem halben Weg zur Hinrichtungsstätte, was sollte sie also dazu bewegen ihn freizusprechen?
Es dauerte weitere zehn Minuten, bis die Meister mit den weißen Gewändern wieder zurückkamen und ihre Entscheidung vortrugen. Die Menschenmasse, die sich zum Hinrichtungsereignis versammelt hatte, jubelte und schrie hysterisch und voller Begeisterung. Erst mit etwas verzögerung wurde ihm übersetzt, dass er schuldig des Mordes an Karl Russo gesprochen worden war.
Eine Begründung wiederum, wie er das durchgeführt haben sollte, blieb man ihm schuldig.
4Besuch im Büro
»Phd Karl Russo, primario medico«, stand in dicken schwarzen Lettern an seiner Bürozimmertür aus Buntglas. Er wusste noch, als sei es erst gestern gewesen, wie es die Krankenhausleitung vor fünfzehn Jahren an seiner Tür befestigte. Es regnete in Strömen, als er sein erstes eigenes Sprechzimmer im Krankenhaus Hospital Cisanello in Pisa bezog. Deshalb erinnerte er sich sehr genau an diesen Tag.
Meistens, so auch heute, führte er dort Patientengespräche in Form von Vorbesprechungen für anstehende Operationen. Er ging gerade seinen Terminkalender für den morgigen Tag durch und schaute, was noch auf dem Plan stand. Morgen würde er noch Besuch von einem Medikamentenhersteller bekommen. Gelegentlich bekam er Besuch von Vertretern der Pharmaindustrie oder von Herstellerfirmen, die medizinisches Material und Gerät verkaufen wollten. Karl hatte sich die Freiheit genommen, all das zu prüfen und immer mitzubestimmen, was künftig für das Krankenhaus bestellt werden sollte. Es sollten hauptsächlich hochwertige, regional produzierte Produkte sein, mit langer Haltbarkeit. Seine Erfahrung gab ihm recht und er hatte die volle Unterstützung der Krankenhausleitung.
Er saß an seinem großen, massiven Mahagoni-Schreibtisch und blickte geradeaus auf das große Bildnis seiner Frau Mariella. Das war das Bild, das er einst für sie anfertigen ließ. Es zeigte sie in einer stehenden Pose mit einem Apfelkorb in der Hand den sie mit beiden Händen festhielt. Jeder, der in sein Büro kam und dieses Bild sah, hinterließ ein paar lobende Worte. Das schmeichelte ihm immer. Und er war nie verlegen um ein paar nette Worte über Mariella. Karl hatte das Büro mit Mariella gemeinsam eingerichtet und er konnte sie überreden, ihm zu gestatten, das Bild dort aufzuhängen. Wenn ihm etwas wichtig war, wie Mariella, dann versuchte er seinen Willen durchzusetzen. Er überzeugte sie mit der Begründung, dass es zwischen all den anstrengenden und traurigen Erlebnissen für ihn wie ein warmer Sonnenstrahl sei, sie jederzeit anschauen zu können. Mariella erlaubte es mit wohlwollendem Einverständnis. Und auf einmal klopfte es an der Tür.
»Ja, bitte«, bat Karl den Unbekannten hinein.
Drei recht junge Männer betraten sein Büro. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig, etwas älter als Carlotta dem Anschein nach. Karl hatte zwar damit gerechnet, dass es sein späterer Termin sei, für den er jetzt noch etwas zusätzliche Zeit eingeplant hatte, aber dem war nicht so. Er kannte die Männer nicht, die so forsch in sein Büro traten. Sie waren sehr unauffällig gekleidet und sahen aus wie Studenten. Einer von ihnen trug ein Shirt mit der lässigen Aufschrift »Keep Calm And Go To The Beach«. Sie wirkten auf Karl arrogant und kamen sich unheimlich wichtig vor, dennoch verhielten sie sich sehr entspannt. Gleichzeitig wunderte er sich, dass Sophie, seine Sekretärin, ihn nicht über die Ankunft des unerwarteten Besuchs informiert hatte.
»Guten Tag Herr Russo«, begrüßte einer der jungen Männer ihn übertrieben freundlich.
»Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Unser Boss hat ein Anliegen an Sie. Er braucht Ihre Hilfe!«
Karl schüttelte den Kopf, jetzt wusste er, wer die drei jungen Männer zu ihm geschickt hatte, damit schlug seine Stimmung augenblicklich um.
»Meine Hilfe? Per carità! Um Gottes willen! Als würde ich nicht schon genug helfen!«, schimpfte Karl.
Er wusste sofort, wer sie geschickt hatte. Es war Vito. Aber Karl hielt sich erst einmal bedeckt und wartete ab, was sie ihm zu sagen hatten.
»Ha, ja genau, als würden Sie uns nicht schon genug helfen. Das ist zwar wahr und das ist schön und das wird auch so bleiben, aber denken Sie daran, es ist in Ihrem Interesse.«
»Ach, hört doch auf damit, es ist schon lange nicht mehr in meinem Interesse«, flog Karl dazwischen, »und wenn ich recht überlege, war es das nie!«
Einer der Männer kam einen großen Schritt auf ihn zu und wollte zum Ausdruck bringen, dass er sich provoziert fühlte.
»Es bringt ja nichts, Herr Russo! Wir brauchen Ihre Hilfe dringend. Ihre Unterstützung in Kairo ist nun gefragt. Sie sind der richtige Mann. Den Rest erklärt Ihnen unser Boss.«
»Auf keinen Fall! Das war nicht abgemacht! Zu keinem Zeitpunkt. Sie haben doch ausreichend Männer in Kairo. Lassen Sie doch Ihre Männer dort für Sie die Dinge erledigen, was soll ich denn da? Meine Aufgaben sind hier.«
»Bleiben Sie in den nächsten 24 Stunden erreichbar, Herr Russo.