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Anna Kur leidet seit ihrer Kindheit an unerklärlichen Ohnmachtsanfällen. Stunden, sogar ganze Tage verschwinden im Blackout. Doch unter Hypnose entdeckt ihr Arzt etwas Schreckliches. Im französischen Toulouse führt sie ihr eigenes Architekturbüro. Eines Tages erhält sie ein mysteriöses Angebot aus der Schweiz. Ausgerechnet für die Firma, bei deren Staumauer-Einsturz vor zehn Jahren ihr Vater ums Leben kam, soll Anna Kur eine neue Staumauer entwerfen. Noch ahnt sie nicht, in welche Gefahr sie sich damit begibt. Zehn Jahre nach dem verheerenden Staudammunglück gibt es neue Erkenntnisse, die die Schweizer Polizei vor ein Rätsel stellen. Kriminalkommissar Alexandre Dupont wird nach Frankreich geschickt um die Suissewall-Außenstelle in Toulouse genauer zu inspizieren und die wahren Hintergründe des Staudammbruchs im Schweizer Hérémence-Tal aufzudecken. Plötzlich steht Anna Kur im Zentrum der Ermittlungen und damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhalt
Nadia Voss
Vorlage für den Roman
SOUNDTRACK
1 Der Staudamm
2 Ein neuer Fall für Alexandre Dupont
3 Das kleine Architekturbüro in Toulouse
4 Die neue Wohnung
5 Die Suissewall Betriebsfeier
6 Die neue Brücke für Beauzelle und Fenouillet
7 Abgewürgt
8 Alte Freundschaften
9 Sichtwechsel
10 Konfrontation mit der Vergangenheit
11 Die wichtige Zeugin
12 Lago Barasona
13 Vivien Descent
14 Congost de Mont Rebei
15 Falsche Freundschaften
16 Was darf ich hoffen?
17 Die offene Tür
18 Carcassonne
19 Die innere Abkehr
20 Das Chalet am Lac des Dix
21 Der weiße Teppich von Sloan Bourdon
22 Der rote Ball
23 Ermittlungen in Sion
24 Projekt LDD
25 Aus der Kurve geflogen
26 Besuch bei Ninette Kur
27 Eine Prise Hoffnung
28 Elisabeth Kur
29 Zurück nach Toulouse
30 P.I.T.
31 Hilf mir, zu sehen
32 Bromés Recherchen
33 To-Do-Liste
34 Bromés Warnung
35 Von Angesicht zu Angesicht
36 Versteckt
37 Erkenntnisse und andere Wahrheiten
38 Er ist der Grund für all das hier
39 Müllers Aussage
40 Das geheime Zimmer
41 Ich wollte nie die Böse sein
42 Die letzte Tat
43 Im Krankenhaus
44 Erinnerungen
45 Der Vorstand
46 An der Staumauer
47 Das Sportparkprojekt
Über die Autorin
Danksagung
Impressum
©2024 Nadia Voß
Kampstr.17, 48683 Ahaus
instagram: nadia.voss.autorin www.nadiavoss.de
Alle Rechte vorbehalten
Korrektorat / Lektorat: [email protected]
Cover & Umschlagsdesign: Nadia Voß, mit einem Foto von jplenio von pixabay
Berner-Dialekt: mfUv Textshuttle, Schaffhauserstraße 339, 8050 Zürich
Nadia Voss
Toulouse Therapie
Ein Fall für Alexandre Dupont und Jean Baptiste BroméKriminalroman
Vorlage für den Roman
Der Stausee ›Lac des Dix‹ im Schweizer Kanton Wallis dient dem Roman als Vorlage für den Haupthandlungsort in der Schweiz.
Foto: Der Staudamm Grande Dixence und seine Umgebung in der Schweiz, Val de Hérémence, Sion.
SOUNDTRACK
Mogli – Aftermath
Suzanne Lindon – Seize printemps
Gilbert Bécaud – Nathalie
Phosphorescent – Zong for Zula
Gael Faye – Chalouper
Joe Strummer, The Mescaleros – Mondo Bongo
Juliette Armand – A la Folie
Imagine Dragons – Enemy
Dummy – Portugal. The Man
Christophe – Sunny Road to Salina
Husky – Wristwatch
Nouvelle Vague, Camille – Making Plans for Nigel
Edwige – C’est tout comme
Frazey Ford – September Fields
Big Black Delta – Huggin & Kissin
Grand Corps Malade – Tailler la route
Metronomy – The Look
Michelle Gurevich – End of an Era
Motel Club – Viens
Taylor Swift, Bon Iver – Exile
Ane Brun – Virvelvind
Juliette Armand – L’amour en Solitaire
Moriarty – Enjoy the Silence
Agnes Obel – Sons and Daughters
Revers Gagnant – Paradis bleu
Coline Rio – Les moulins de mon coeur
1Der Staudamm
2013
Sie hatten Gewitter gemeldet. Aber immer noch konnte man sich gut im Freien aufhalten. Am Morgen war der klare Blick auf die schneebedeckten Berge und den Stausee ein einzigartiges Erlebnis.
Ihr langes Haar hatte sie leicht über die Schulter fallen lassen und kämmte die vom Wind zerzausten Strähnen mit ihren Fingerspitzen. Die Beine waren locker übereinandergeschlagen und mit dem oberen Fuß wippte sie nervös auf und ab. Außer ihrem kleinen Lederrucksack trug sie nichts bei sich. So saß sie nun auf über zweitausend Metern Höhe in den Walliser Alpen an der Staumauer des Lac des Dix im schweizerischen Val de Hérémence. Langsam drängte die Zeit und sie sah verwundert auf die Uhr. Er war sonst immer pünktlich. Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht und blickte in die aufgehende Sonne. Wie nämlich jeden Tag wartete sie auf ihren Vater, der beim Energieerzeuger Suissewall SA arbeitete. Sie trafen sich regelmäßig zu einem kurzen Austausch, seit Wochen, seit Monaten.
Wie gern saß sie im Sommer an der Staumauer und sah den Leuten beim Flanieren zu. Mit ihren Familien schlenderten sie gemütlich über die fünf Meter breite Staumauer und dabei staunten nicht wenige beim Blick in die Tiefe. Die meisten genossen die Aussicht auf den hellblauen See oder in die nördlich gelegenen Weiten des Schweizer Kantons Wallis mit seinen malerischen Tälern. Von dort reichte der Blick bis zur Kantonshauptstadt Sion, die von vielen auch Sitten genannt wurde. Einige bevorzugten jedoch den französischen Namen Sion, genau wie Anna.
Oft sah sie den Wanderern und Touristen einfach zu, wie sie ihren Alltag hier oben an der Staumauer erlebten. Sie kamen, um die größte Gewichtsstaumauer der Welt zu betrachten. Mit 285 Metern war sie auch die höchste Konstruktion der Schweiz, was sie zu einem Publikumsmagneten machte. Viele Menschen besichtigten das Stauwerk und ließen sich dessen Leistung erklären, was im Übrigen auch die einzige Möglichkeit war, einen Blick in das Innere des monumentalen Betonbauwerks werfen zu können. Niemand, der in den Sommermonaten zum Lac des Dix fahren wollte, ließ sich das entgehen.
Ihr Vater hingegen ließ auf sich warten. Ungeduldig blickte sie wiederholt auf ihre Uhr. Drei Minuten würde sie noch warten, länger nicht, beschloss sie. Sie ließ den Blick noch einmal sehnsuchtsvoll über den See gleiten. Der aufgestaute See war von unvergleichlicher Schönheit. Eine kristallklare, spiegelglatte, hellblaue Wasserfläche breitete sich zwischen den Berghängen aus und heute Morgen hing eine hauchdünne Nebeldecke über dem See, die den Eindruck erweckte, der See schliefe noch. Das war nichts für Touristen, die Bootsfahrten und Wassersport liebten oder baden gehen wollten, denn Bergseen waren für ihre Eiseskälte bekannt. Nein, solch ein Freizeitangebot lieferte der Lac des Dix nicht. Nicht so wie der beliebte Genfer See oder der nahegelegene italienische Lago Maggiore. Im Winter fuhren die meisten Menschen ohnehin direkt weiter zu den Skipisten und machten nur selten an dem Stausee halt. Die Zufahrt zur Staumauer war beschwerlich. Wenn es viel geschneit hatte, wurde sie sogar gesperrt. Für März war es außergewöhnlich kalt und das eigentlich schon seit Wochen.
Ihr Vater war mit Wartungsarbeiten am Staudamm beschäftigt. Vor einiger Zeit waren nämlich Haarrisse im Beton aufgetreten, die in einem aufwendigen Verfahren repariert werden mussten. Sie begleitete diese Wartungsphase statistisch für ihr Studium - aber auch mit großem Interesse. Täglich durfte sie in der Pause ein Foto von den aktuellen Druck- und Dichtigkeitsprüfwerten des Vortages machen, die ihr Vater für sie vorbereitet hatte. Dateien durften das Gelände nicht verlassen, auch nicht in Kopie. Aber in ihrem Fall wurde vom Geschäftsvorstand geduldet, dass sie diese Werte als Referenzwerte für ihre Bachelorarbeit verwendete.
Anna dachte für einen Moment an ihren Großvater Manuel, der vor etwa fünfzig Jahren an genau dieser Stelle beim Bau des Staudamms ums Leben gekommen war. Er erlangte traurige Berühmtheit, weil er um die Gefahren der Baustelle gewusst und in den Zeitungen immer wieder auf die Anzeichen der Gletscherschmelze und die damit verbundenen Gefahren beim Staudammbau hingewiesen hatte. Aber Anna war ein ganz und gar rationaler Mensch und hatte keine Zeit, sich von Emotionen leiten zu lassen. Ihr Studium als Bauingenieurin in Graubünden war der Auslöser für ihr Interesse am See.
Sie saß so dicht am Ufer, dass ihre Hand das Wasser berühren konnte. Ihre Finger streichelten die Oberfläche und hinterließen dabei kurvige Spuren. Normalerweise war der Wasserstand nicht so hoch. Er war schon grenzwertig hoch, stellte sie besorgt fest und formulierte eine Sprachnachricht an sich selbst. Anna notierte den Wasserpegel in ihrem Handy. Sie las ihn an ihrem selbstgebauten drei Zentimeter breiten Metallpegel ab, den sie vor einigen Monaten an der Innenwand des Staudamms unbemerkt befestigt hatte. Achtzig Zentimeter Anstieg.
Sie würde ihren Vater verpassen, wenn er nicht bald käme. Warum kam er nicht? Er war schon zu spät.
Mit Blick auf die Zeit zog sie ihre Handschuhe wieder an und machte sich bereit, den Ort wieder zu verlassen. Dann musste er die Schieber eben allein öffnen. Kaum hatte sie sich bereit gemacht, tauchte er jedoch am anderen Ende der Staumauer auf. Sie sah ihn verwundert an. Rannte er etwa? Tatsächlich!
»Anna – nein!«, schrie er, mit weit aufgerissenen Augen. Die blanke Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Bewegungen waren unnatürlich, kantig. Er strauchelte und eilte dabei auf sie zu. Noch etwa fünfzig Meter war er von ihr entfernt. Sein Schrei versetzte sie in Panik, dass sie erstarrte. Dann hielt er mahnend seinen Arm in die Luft, riss seine Augen noch weiter auf, schüttelte wie ein Verrückter den Kopf und machte ihr damit deutlich, nicht noch näher auf ihn zuzukommen.
»Verschwinde, Anna! Dreh um, lauf sofort zurück!«
Sie blickte links zum Ufer. Es war nicht weit, vielleicht waren es fünf Meter. Sie konnte an nichts denken. Plötzlich verspürte sie etwas, das sie zurückhielt und unfähig machte zu reagieren. Sie war handlungsunfähig und die Welt um sie herum schien still zu stehen.
»Anna! - Der Staudamm bricht!«, rief er mit einer ganz anderen, höheren Stimme als zuvor, und seine Worte überschlugen sich fast so, wie er sich überschlug, als er über seine eigenen Füße stolperte und lang hinfiel. In diesem blanken Chaos wurde Annas Kopf plötzlich ganz heiß. Sie konnte ihren Herzschlag hören.
»Hörst du nicht? Verschwinde!«, wiederholte ihr Vater, diesmal kraftlos.
Doch blitzartig gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der in ein lang anhaltendes Gedröhne überging. Sie brach zusammen und hielt sich die Ohren zu. Auch ihr Vater hielt sich die Ohren und wälzte sich auf dem Boden. Als das Geräusch langsam abklang, kehrte für einen Moment Stille ein. Langsam begann es, um sie herum zu knirschen und zu knistern. So als bräche ein Ast. Es ertönte ein summendes Geräusch, daraufhin knackte es. Dann folgte rasch ein lauteres Krachen. Der Boden, auf dem sie stand, setzte sich in Bewegung. Schockiert folgte ihr Blick dem Riss, der sich sofort zwischen ihnen quer über die Staumauer zog. Anna war wie gelähmt, ihre Hände waren schwach, ihre Beine weich. Ohne den Blick von ihrem Vater abzuwenden, zitterte sie sich rückwärts zurück. Woher sollte sie die Kraft nehmen? Sie fühlte nicht, ob sie schnell ging oder langsam. Sie sah bloß, wie das Wasser begann, unter knackenden Geräuschen die Mauer nach Norden wegzudrücken. Sie stieß einen lauten Schrei aus.
Anna musste miterleben, wie der Damm unter ihrem Vater zusammenbrach. Sie sah entsetzten Blickes, wie er mit den Staumauer-Brocken in die Tiefe gerissen wurde. Unter Schock realisierte sie, dass sie selbst auch noch auf dem schwankenden Damm stand. Sie musste sich in Sicherheit bringen und nur einmal kurz springen. Genau in die entgegengesetzte Richtung. Und dann sprang sie. Sie sprang mit drei Schritten ans Ufer und krallte sich an das Seil, das den Startpunkt des Klettersteigs in die Berge markierte. Wasserberge brachen unter lautem Getöse in das Tal und zogen lärmend und polternd alles mit sich, was sie umgab. Sie schrie gegen die Kräfte des Sogs an. Aber ihre lauten Schreie waren gegen den Lärm nicht zu hören und ließen sie aussehen wie eine Stummfilmschauspielerin. Das Echo der Berge vervielfachte die Intensität des Donnergrollens. Und Anna stand kreideweiß da, zitternd, schockiert, traumatisiert. Sie hielt sich immer noch krampfhaft am Seil des beginnenden Klettersteigs fest.
Der Platz an der Staumauer, an dem sie vor wenigen Sekunden noch gesessen und in die aufgehende Sonne gelächelt hatte, existierte nicht mehr. Er war einfach so in die Tiefe gebrochen und hatte ihren Vater mitgerissen. Im nächsten Moment setzten die Sirenen ein und eine weitere schrille Lautstärkefrequenz durchschüttelte ihren Körper. Doch dann wurde es still.
Später erwachte Anna nicht aus einem bösen Traum, sondern aus ihrer Bewusstlosigkeit. Das Seil hatte sich spiralförmig um ihren Unterarm gewickelt. Sie erschrak, als sie langsam wieder zu sich kam und vor sich einen reißenden breiten Fluss sehen musste. Die Stauwassermassen strömten weiter über die gebrochene Staumauer und in die Talsperre hinein. Von den ehemals 285 Metern waren, wenn ihr Verstand nicht geblendet war und ihr falsche Bilder vorgaukelte, vielleicht noch zwei Drittel übrig. Dann ging sie, bleich wie sie war, taumelnd und unter Sirenengeheul den weiten Weg nach Hause. Ihr Fahrrad, mit dem sie am Morgen hierhergekommen war, war vom Wasser weggespült worden und zu allem Überfluss setzte das prognostizierte Gewitter ein, sodass sie ungeschützt durch den Regen gehen musste. Nun hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren und ihre Gedanken wurden zu einem wässrigen Einerlei. Ihr Kopf war leer.
Als sie das Elternhaus am Hang betrat, erlebte sie, wie ihre Mutter und ihre Großmutter aufgeregt durch die Küche liefen. Das, was an der Staumauer geschehen war, war bei ihrer Ankunft zuhause bereits jedem Schweizer Bürger im Kanton Wallis und darüber hinaus bekannt. Die Sirenen tönten immer noch, aber von hier klang es anders – freundlicher. Anna hatte das Geheul bis zu diesem Moment gar nicht mehr wahrgenommen, so tief war es bereits in ihr Unterbewusstsein eingedrungen. Alle Häuser der Gefahrenzone wurden nach einem speziellen Notfallplan evakuiert, wusste sie. Wahrscheinlich waren die Bewohner der tiefer gelegenen Berghütten in größter Sorge, überflutet zu werden. Ihrem kleinen oben am Hang gelegenen Elternhaus würde das Unglück aller Voraussicht nach nichts ausmachen, hoffte sie. Als Annas Großmutter Elisabeth realisierte, wie sie ins Haus kam, umarmte sie ihre Enkelin erleichtert.
»Da bist du ja, Kind!«, sagte sie erlöst und drückte sie fest an sich.
Gemeinsam mit Annas Mutter Ninette saß sie in der Küche vor dem kleinen Küchenfernseher mit der ausziehbaren Antenne. Der funktionierte immer, auch wenn es Stromschwankungen gab. Dort verfolgten sie besorgt die lokalen Nachrichten. Ninette sprang immer wieder vor Schreck auf, wenn sie glaubte, eine bekannte Person zu erkennen, um sich danach direkt wieder erleichtert hinzusetzen, wenn sie feststellte, dass es nicht so war. Inzwischen hat die Flutwelle Vex und die Kantonshauptstadt Sion erreicht. Die Fernsehreporter standen mit Stiefeln in überfluteten Straßen und hielten ihre Reportagen über Verletzte, überflutete Keller und Notfalleinsätze. Es gab bereits zwei Tote.
»Bist du durchnässt!«, stellte Elisabeth fest. »Nimm dir am besten schnell ein Bad und zieh dir etwas Warmes an.«
»Oma, mein Fahrrad wurde weggespült«, entgegnete Anna monoton. Elisabeth legte den Kopf mitfühlend auf die Seite und deutete mit einer Hand auf den Teller Pfannkuchen, der auf der Anrichte stand. Ihr tröstender Blick gab Anna zu verstehen, dass alles gut werden würde. Dann wandte sie sich wieder den Nachrichten zu. Anna ging ins Obergeschoss, wo sie sich zunächst in ihr Zimmer zurückzog. Dort räumte sie in aller Ruhe den Inhalt ihres nassen Rucksacks in die Schreibtischschublade und hängte ihn zum Trocknen über die Stuhllehne. Dann legte sie sich weit ausgestreckt auf ihr Bett. Dicke Wolken kreisten in ihrem Kopf umher. Blitze zeigten sich hinter ihren verschlossenen Augen. Nun war das angekündigte Gewitter auch in ihrem Kopf angekommen. Das Dröhnen des brechenden Damms hallte gleichbleibend stark in ihren Ohren nach.
Das, was Elisabeth und Ninette die ganze Zeit befürchtet hatten, weil John nicht nach Hause gekommen war, wurde mit dem Eintreffen der Behörde bittere Wahrheit. Während des Abendessens klopfte es an der Tür und Anna sah, wie ein sichtlich betroffener Mann Ninette eine Arbeitsjacke mit dem Firmenlogo Suissewall SA und dem Namensschild John Kur überreichte. Vielleicht dachte er, dass er einen Beweis vorlegen müsste, solange Johns Leiche noch nicht gefunden war. Allerdings hatte man neben dieser Jacke auch seine Armbanduhr sowie seinen Unterarm kurz vor Sion in Vex gefunden, aber das Detail wollte man der Familie erst später mitteilen. Ninette verstand die Übergabe der Jacke als Trost und umarmte sie schluchzend, so als ob ihr Mann noch darin steckte.
Anna sprach kein Wort. Sie blickte an diesem Abend lange in den schwarzen Himmel. Es war eine mondlose Nacht mit tiefhängenden Wolken, die dem Himmel kein Sternenlicht schenkten. Dieses Bild glich der Dunkelheit in ihrem Kopf. Das Hérémence-Tal lag wieder friedlich vor ihr, nur der Dixence floss, gespeist mit Kubikmetern an Stauseewasser, in strömender Geschwindigkeit hinab durch das Tal. Die Flut hatte Sion an diesem Tag mit voller Wucht getroffen.
Gegenüber wuchs ein Baum aus einem Felsen, den sie in schwach grüner Farbe wahrnehmen konnte. Seine Äste ruderten wie die Arme ihres Vaters.
Anna war fast einundzwanzig Jahre alt und das Einzige, was sie zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
2Ein neuer Fall für Alexandre Dupont
Zehn Jahre später
In der Kantonshauptstadt Sion im Schweizer Wallis gab es an diesem Freitag schlechte Nachrichten für Kriminalpolizist Alexandre Dupont. So war er gerade unterwegs zu seinem Schreibtisch, als ihn die Hiobsbotschaft knallhart von der Seite traf.
»Du wirst vorerst nach Toulouse ziehen müssen, Alexandre!«, erklärte Jean Baptiste Bromé, Kommandant des Kantons Wallis, aus heiterem Himmel. »Aber warte einen Moment, ich bin sofort bei dir«, fügte er hinzu und lief erstmal weiter. Obwohl Alexandre sich nichts anmerken ließ und äußerlich gefasst wirkte, traf ihn diese Anordnung wie ein Schlag. Starr blieb er stehen und blickte dabei auf die filzige, abgelaufene Auslegeware der Polizeiwache. Wieso Toulouse? Warum nach Frankreich als Schweizer Ermittler, ging ihm durch den Kopf. Er hätte sich Besseres vorstellen können, wie zum Beispiel einen neuen Fall in Sion zu übernehmen, trotzdem verzog er keine Miene. Während Bromé noch beschäftigt war und einen Kollegen aus der Wache verabschiedete, machte sich Alexandre Gedanken, was hinter der Versetzung stecken könnte. Langsam ging er weiter bis in sein Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er stellte seine Tasse Kaffee neben die kümmerliche Sukkulente, die ihm eine Praktikantin als Abschiedsgeschenk mitgebracht hatte. »Du verstehst es auch nicht, oder?«, wandte er sich fragend an seine Pflanze.
Ob es an dem Streit mit Michel Britzelmayr lag? Alexandre zweifelte und gestand sich ein, dass es wohl auch an ihm selbst liegen könnte, dass sie bei diesem Fall nicht weiterkamen. Und jetzt wollte Bromé ihn bestimmt loswerden. Andererseits konnte er froh sein, dass er den Britzelmayr vorerst nicht wiedersehen musste, wenn das mit Toulouse wahr werden sollte. Damit war er auch den bisher ungeklärten Fall mit den gehäuften Juwelen-Diebstählen im Grenzbereich Wallis zu Bern los. Mit dem Britzelmayr, seinem an den Fällen beteiligten Kripo-Kollegen aus Bern, lag er nämlich nicht auf einer Wellenlänge. Er fragte sich, wer überhaupt mit ihm auskam. In diesem Fall ermittelte jeder für sich, so war sein Gefühl. Offenbar waren die Kommandanten der beiden Kantone es nun leid, oder Britzelmayr hatte sich über ihn beschwert. Er selbst hätte sich nie beschwert.
Bromé kam mit einer Tasse Kaffee auf ihn zu und bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen.
»Es tut mir leid, Alexandre. Du weißt, wir kennen uns schon so lange, aber in diesem Fall ging es nicht anders. Ich möchte dich zum Cold-Case-Ermittler befördern!«, lächelte Bromé verhalten und reichte ihm drei dicke Aktenordner. Alexandre erwiderte das Lächeln, obwohl ihm gar nicht zum Lächeln zumute war, und nahm die verstaubten Ordner an sich. Beide wussten genau, dass es sich bei der Aufarbeitung von ungeklärten Fällen nicht um eine Beförderung handelte. Das musste schon etwas Besonderes sein, dachte er. Innerlich suchte er ein Ventil und atmete tief und vor allem laut aus. Die erneute Prüfung alter Fälle war in der Regel sehr aufwendig. Dort neu anzusetzen, wo sich Kollegen zuvor schon Zähne ausgebissen hatten und zu keinem Ergebnis gekommen waren. Aber Bromé musste sich etwas dabei gedacht haben und wollte ihm sicher nichts Böses, denn die beiden verstanden sich sehr gut.
»Gibt es neue Erkenntnisse zu diesem Fall? Um was geht es denn, dass ich dafür bis nach Toulouse reisen muss?«
»Es geht um den Staudammbruch im Val de Hérémence vor zehn Jahren. Wir haben immer noch keine klaren Beweise. War es ein Unfall oder menschliches Versagen? Bei mehreren Toten muss man der Sache nachgehen. Alexandre, du weißt, wie gut ich dich hier gebrauchen kann, allerdings überzeugt mich deine Spürnase, die es für diesen Fall braucht. Ich halte dich für den richtigen Mann in dieser Angelegenheit. Eine relevante Zeugin, der Firmenchef der Betreiberfirma und ein Dutzend Mitarbeiter sind in Toulouse ansässig.« Alexandre sah ihn skeptisch an. Doch er wusste, Bromé begann nie etwas, von dem er sich nicht hundertprozentigen Erfolg versprach.
»Es klingt fast so, als würde ich einen unentdeckten Mord aufspüren müssen. Haben wir denn jetzt neue Beweise?«
»Nein, wir ermitteln höchstens wegen fahrlässiger Tötung, und das ist der Firma ein Dorn im Auge. Und ja, es haben sich neue überraschende Veränderungen in diesem Fall ergeben. Es gibt Indizien, die wir nicht ignorieren dürfen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sieben Tote gab.«
»Ich weiß, entsetzlich!«
»Seit dem Wochenende habe ich diese brandaktuellen Neuigkeiten, und mein Plan ist es, dich auf eine längere Auslandsermittlung zu schicken, unter anderem, um das Unternehmen auszukundschaften. Ich habe dir die E-Mail, die vom Geheimdienst an mich weitergeleitet wurde, in die Akte gelegt. Es ist erstaunlich. Die wollen in der Tat die Mauer wieder hochziehen«, erklärte Bromé mit hochgezogenen Augenbrauen und einem verkniffenen Lächeln. In diesem Fall sah Alexandre ihm an, dass er nicht wusste, wie er es besser verkaufen sollte. »Es ist schön in Südfrankreich«, fügte er abschließend noch hinzu, um der Angelegenheit eine positive Note zu geben. »Victoria wird für dich einen Plan ausarbeiten und eine Wohnung am Hafen anmieten. Sie hat dir auch eine Adressliste der relevanten Mitarbeiter erstellt.«
»Hm.«
Alexandre war sich nicht sicher, ob die aufkommenden Bauchschmerzen von dem zu starken Kaffee stammten oder ob sie etwas mit Bromés Neuigkeiten zu tun hatten.
»Ich werde dir morgen vor deiner Abreise noch konkretere Anweisungen geben, Alexandre.«
»Morgen vor meiner Abreise? Wann soll ich denn abreisen?«, erwiderte er und sein Gesicht trug dabei mehr als nur einen Ausdruck von Fassungslosigkeit.
»Die Schlüsselübergabe zu deiner neuen Wohnung ist am Sonntagabend. Aber spät. Ich würde dir empfehlen, früh am Sonntag loszufahren.« Bromé stand auf, nahm seine Tasse, nickte kurz und verabschiedete sich bei ihm.
Alexandre fühlte, wie ihm die Mundwinkel noch weiter absackten, und drehte sich auf seinem Stuhl, um nach draußen zu blicken. Als ob es dort etwas zu sehen gäbe, was ihn hätte aufmuntern können, denn der Ausblick aus seinem Fenster hatte weniger Charme, als man erwarten würde. Ganz entgegen der Hoffnung, auf ein schneebedecktes Hochgebirge zu blicken, sah man lediglich auf eine graue Wand des Nachbargebäudes. Passend zu seiner Stimmung regnete es. Traurigerweise gab es kein einziges Büro in dieser Kripostelle mit Blick auf die Berge. Selbst wenn man auf die Dachterrasse stieg, konnte man die Berge nicht sehen, so eingekesselt war die Kripostelle von den umliegenden Gebäuden. Neue Mitarbeiter monierten die fehlende Aussicht gelegentlich, aber im Grunde wusste jeder, dass man zum Arbeiten hier war und nicht, um die Aussicht zu genießen. Alexandre musste aufpassen, dass er nicht in Selbstmitleid versank und drehte sich um zu seinem Schreibtisch. Er öffnete die oberste Akte und als erstes fiel sein Blick auf das Foto einer jungen Frau. Für einen Moment schenkte er ihr Aufmerksamkeit. Danach verstaute er das Bild in einer Klarsichtfolie und packte alle Akten zusammen.
Natürlich wusste Alexandre auch von den schönen Stellen in Sion, wo man einen eindrucksvollen Blick über die Berge genießen konnte oder in das Stadtleben eintauchen konnte. Genau dorthin sollte es ihn im Anschluss an seinen Arbeitstag verschlagen. Er hatte nun etwas Dringendes zu klären und ging strammen Schrittes los.
Die Altstadt von Sion lag etwas erhöht und an ihrer höchsten Stelle thronten das Château de Tourbillon und das Château de Valère auf zwei Hügeln. Von hier aus hatte man einen umwerfenden Blick auf die Alpen, auch wenn die beiden Hügel allein schon ein postkartenreifes Motiv abgaben.
Ihn zog es jetzt in sein Stammlokal, in dem er sich wie so oft zu Carolina an den Tresen setzte und sich die neuesten Geschichten des Tages erzählen ließ. Carolina Lemaire war eine Frau in den Vierzigern und hatte schon einiges erlebt. Ihr Gesicht war von der Sonne gegerbt, die Zigaretten taten ihr Übriges, und die schwarz gefärbten Haare verwandelten sie äußerlich in eine Frau, der man ihr liebevolles, sanftes Wesen nicht gleich auf den ersten Blick ansah.
»Bonjour, Alexandre«, begrüßte sie ihn, während sie mit einem Lappen über den Tresen wischte. »Wie war dein Tag?« Alexandre blickte erschöpft zu Boden, was auf den ersten Blick für sie nichts Besonderes war, denn so kam er oft in letzter Zeit herein.
»Salut, Carolina. Ach, frag besser nicht. Machst du mir einen Jsotta auf Eis, bitte?«, entgegnete er, ohne näher auf das einzugehen, was ihm heute widerfahren war und ihm in Wirklichkeit zusetzte. Sie blickte skeptisch, denn sie kannte ihn und wusste, dass er mit der Wahrheit nicht herausrücken wollte, begab sich aber pflichtbewusst an die Arbeit und überreichte ihm nur kurze Zeit später einen Jsotta auf Eis.
»Hör zu, Carolina«, erklärte er und wandte sich ihr ein Stück näher zu, »ich bin ab Sonntag vorerst nicht mehr da. Sie versetzen mich für einen Fall nach Toulouse.«
»Oh, mon Dieu!«, erschrak sie und schlug die Arme über den Kopf zusammen. »Was hast du angestellt?« Alexandre leerte sein Glas in einem Zug und sah sie fragend an.
»Habe ich das? Ich weiß es nicht, Carolina. Vielleicht will mich Bromé erstmal aus dem Blickfeld haben, damit der Fall, an dem ich bisher beteiligt war, einem neuen Kollegen zugeteilt werden kann. Du weißt ja, Britzelmayr und ich, wir sind nicht die besten Partner. Und insgesamt zieht sich das schon so lange hin.«
»Ach Alexandre, das glaub ich nicht. Da würden die doch eher den Britzelmayr abziehen. Nicht du bist schuld, wenn es an mangelnder Zusammenarbeit liegt. Weiß doch jeder, dass der ein Dickkopf ist.«
»Ich wünschte, du hättest recht!«, entgegnete Alexandre, der sein leeres Glas mit allen Fingerspitzen oben festhielt und auf der Theke im Kreis drehte.
»Warum geht es nach Toulouse?«
»Ein alter Fall mit neuen Erkenntnissen, wir können jetzt nicht im Detail darüber reden, Carolina. Viel weiß ich auch noch nicht.« Alexandre tippte etwas in sein Smartphone. »Es sind 850 Kilometer bis Toulouse, ganz schön weit. Immerhin hat er mir gesagt, dass er mich für den richtigen Mann hält und mich deshalb für diesen Fall ausgewählt hat. Das ist ein kleiner Trost«, lächelte Alexandre mit schrägem Blick. Carolina lächelte zurück. Gleichzeitig war sie traurig und wollte ihm Mut machen, etwas Positives zu sehen.
»Siehst du, er hat es bestätigt«, antwortete sie und schenkte ihm ein neues Glas ein. Auch sich selbst gönnte sie eine kleine Portion Jsotta, was sie sonst nie tat, wenn sie arbeitete. Dann stießen sie an. »Santé! Du wirst den Fall aufklären – ich glaube an dich.«
Alexandre blieb den ganzen Abend bei ihr am Tresen sitzen. Sie sprachen weiter nicht viel, denn Carolina hatte in ihrem Lokal alle Hände voll zu tun. Erst gegen ein Uhr nachts leerte sich die Bar, in der auch viele Touristen aus aller Welt verkehrten. Alexandre fand erst spät die Gelegenheit, sich bei ihr zu verabschieden. Er nahm sie in den Arm, wobei sie ganz glasige Augen bekam. Dann drückte sie ihn fest an sich und blickte ihm in die Augen.
»Schreib mal, wenn du Zeit findest.«
»Ja, ich hoffe, ich komme bald wieder. Carolina, ich werde dir morgen meinen Wohnungsschlüssel in den Briefkasten werfen. Vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, falls deine Tochter Frederike kommt und irgendwo übernachten will, bevor dein Ex euch wieder terrorisiert. Du sagtest ja, dass es momentan wieder stärkere Probleme mit ihrem Vater gibt. Benutzt einfach die Wohnung als Rückzugsort, dann habt ihr zwischendurch etwas Ruhe.« Carolina nickte dankbar und sah sichtlich traurig aus, als Alexandre ihre Bar verließ.
Danach steuerte er gedankenverloren auf die Rhône zu. Der Wind blies ihm erfrischend ins Gesicht, je näher er dem Flussufer kam. Er hatte immer noch nicht begriffen, dass er bereits am Sonntagmorgen nach Toulouse fahren sollte. Der Alkohol hatte es nicht geschafft, vielleicht schaffte es ja ein Spaziergang an der Rhône.
Immerzu dachte er an Toulouse. Er war noch nie dort gewesen, was war das überhaupt für eine Stadt? Was war das bloß für ein Auftrag, dass man ihn so kurzfristig abkommandieren musste, er verstand es nicht. Und dann so dringend, gab es dort etwa Fluchtgefahr? Aber wenn nicht ihn, wen hätte Bromé sonst schicken sollen? Genau. Wenn nicht ihn, wen dann? So viele Fragen. Es war nicht so, dass er hier Wurzeln geschlagen hatte, seitdem er aus Genf weggezogen war, aber Sion war sein momentaner Lebensmittelpunkt. Mit seinen zweiunddreißig Jahren hatte er hier beruflich schon so viel erreicht. Er hatte es bis zur Kriminalpolizei des Kantons geschafft. Morgen müsste er all seine Sachen packen und mit Bromé den Transport besprechen und vieles mehr.
Sichtlich durch den Wind setzte er sich für einen Moment auf eine Bank an der Rhône. Es war Neumond. Nur die Lichter der Stadt reflektierten die kleinen Spitzen auf den Wellen der Rhône und brachten sie zum Funkeln. Einige Touristen genossen die milde Nacht bei einem Spaziergang am Fluss. Plötzlich vibrierte Alexandres Handy. Er holte es hervor. War es vielleicht Bromé? Doch im selben Moment kam von hinten ein langer Arm über seine Schulter und riss ihm das Gerät aus der Hand.
Unvorbereitet, aber geistesgegenwärtig sprang Alexandre auf.
»Ey! Stehenbleiben!«, schrie er. Der Angreifer kam aus dem Nichts und lief, so schnell er konnte mit dem Handy davon. Alexandre nahm schlagartig die Verfolgung auf. Er war ein sehr durchtrainierter Polizist und in bester Form. Damit hatte der Angreifer offenbar nicht gerechnet. Dieser spürte, wie Alexandre ihm immer näher kam, so dass er nach einer Weile das Handy in einem großen Bogen seitlich in die Böschung warf, in der Hoffnung, seinen Verfolger nun loszuwerden.
Alexandre registrierte es, ignorierte es jedoch und folgte ihm mit hohem Tempo. So lange, bis der Dieb den Weg in die Altstadt einschlug und in den engen Gassen zu verschwinden drohte. Die Gassen waren derart verwinkelt, dass man hier leicht verschwinden konnte. Aber Alexandre war hellwach und blieb ihm dicht auf den Fersen. Bis zu dem Moment, in dem der Dieb tatsächlich stolperte und Alexandre schon vorher dachte:
Wahrscheinlich wird er dort stolpern, dann habe ich ein leichtes Spiel und kann ihn ergreifen. So geschah es, er hatte tatsächlich keine Probleme, ihn zu packen. Mit ein paar geschickten Handgriffen hatte er ihn schnell gesichert.
»So mein Freund, jetzt habe ich dich! Hast du es tatsächlich nötig, ein dummes Handy zu stehlen?«
Als er ihm ins Gesicht blickte, musste er zweimal hinsehen, um zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte. Dann fing er an zu lachen, sein Lachen wurde immer lauter, schließlich war es so laut, dass er sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. Am Ende lachte er so befreit, dass der Dieb eine Fratze zog, als ob er mit allem gerechnet hätte, nur nicht damit, ausgelacht zu werden.
»Du hättest nicht ausgerechnet mich überfallen dürfen, mein Freund!«, lachte Alexandre. »Wo sind deine Brüder?«
Er wusste, dass es dem Britzelmayr morgen nicht schmecken würde, wenn er erfahren würde, dass er, Alexandre Dupont, sein ungeliebter Kollege aus Sion, heute Nacht einen der Juwelen-Diebe verhaftet hatte.
3Das kleine Architekturbüro in Toulouse
Im schummrigen Licht des Architekturbüros in der Rue de la Madeleine, mitten in der Altstadt von Toulouse, standen die Zeichen auf Feierabend. Alle Mitarbeiter waren bereits ins Wochenende gegangen. Nur eine Person konnte sich absolut nicht von ihrer Arbeit trennen und zeigte kein Verlangen, den Weg nach Hause anzutreten. Es war die Chefin höchstpersönlich, Anna Kur.
»Das sieht so aus, als ob du nicht mehr mitkommen möchtest«, stellte Julien Martinez fest, der Anna vorsichtig über die Schulter blickte. »Du siehst noch so beschäftigt aus. Kommst du später nach?«, fragte er.
Anna saß noch an ihrem Schreibtisch. Ihre hellbraunen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengebunden und die Lesebrille bis weit nach vorne auf die Nasenspitze vorgerückt. Ihre Finger klapperten unablässig über die Tastatur, als ob sie Juliens Frage nicht wahrgenommen hätte und ihn stattdessen mit ihrem emsigen Tasten-Klappern vertreiben wollte.
Julien fragte aus Höflichkeit, aber wie ihr langsames Kopfschütteln verriet, hatte sie wenig Interesse daran, einen Abend mit ihren Arbeitskollegen zu verbringen. Dann stoppte sie und starrte auf den Bildschirm.
Das Treffen sollte bei Gilbert stattfinden, den sie als einen strebsamen jungen Architekten schätzte. Er war jemand, der gerne viele Menschen um sich hatte, mit denen er feiern konnte. Dass sie nicht mitkommen wollte, lag auch nicht an Gilbert, im Gegenteil, sie mochte ihn, aber ausgerechnet heute würde sie nirgendwohin gehen, nicht mal zum Papst. Nicht zu einem so wichtigen Zeitpunkt während der Projektphase. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, auch an keinem anderen Abend, aber das würde sie nie offen sagen, obwohl es jeder wusste. Dann aber antwortete sie erwartungsgemäß:
»Danke, Julien, ich bleibe lieber hier! Du weißt doch, diese Geschichte hier mit dem Sportparkprojekt bereitet mir schon die ganze Zeit Kopfschmerzen. Ich möchte die Zeichnungen noch einmal überprüfen, bevor sie am Montag zur Bauleitung und zu Monsieur Sautron gehen«, rechtfertigte sie.
Anna hatte Julien aufgrund seiner hervorragenden Arbeit zu fünfzig Prozent am Sportparkprojekt beteiligt. Zu ihrer Erleichterung hatte auch er bis vor fünf Minuten an diesen Zeichnungen gearbeitet, aber es war bereits acht Uhr und das Wochenende stand vor der Tür. Anna sah kein Problem darin, dass er ging. Aber sie selbst brauchte den Abend vor der Abgabe, um ihren Auftritt zu proben.
»Soll ich es noch einmal mit dir zusammen durchgehen?«, bot er an. Aber Anna winkte ab.
»Nein, nein, geh du nur, Julien. Ich weiß doch, dass es perfekter nicht werden kann. Aber wie du weißt, suche ich nach Fallstricken, die wir bei der Bauleitung erläutern müssen. Insbesondere vor Monsieur Sautron, der jedes Haar in der Suppe findet – du kennst ihn ja.«
Nachdem Julien gegangen war, begann Anna in ihren DIN-A2-Zeichnungen zu blättern. Sie sah nervös auf und ab. Sie überprüfte alle Zeichnungen, die das Architekturbüro verließen, mehrmals, bevor sie zu Bauleitungen gingen oder zu anderen Auftraggebern. Es dauerte, bis sie endgültig zufrieden war. Jede Eventualität musste sie in ihrem Kopf durchspielen. Dabei führte sie ausgedehnte Selbstgespräche, um mögliche Einwände des Kunden zu imitieren und darauf zu antworten. Manchmal brüllte sie und manchmal argumentierte sie ihr Gegenüber an die Wand. Das probte sie an Abenden wie diesem. Und sie ahnte, dass es heute spät werden könnte. Irritiert blickte sie zur Tür. Julien war zurückgekommen und griff seine Jacke vom Haken, die er vergessen hatte.
»Sag ihm, ich komme beim nächsten Anlass mit.« Julien nickte und hob die Hand zur Verabschiedung. Sein Blick verriet, dass er wusste, dass sie auch beim nächsten Mal nicht mitkommen würde.
Kaum war er fort, rückte sie wieder bis auf zehn Zentimeter vor den Bildschirm und kräuselte ihre Nase, damit die Brille nicht verrutschte. Wenn sie eins konnte, dann war es konzentriert zu arbeiten und darüber die Zeit zu vergessen. Es war sogar schon einmal vorgekommen, dass sie bis zum Sonnenaufgang im Büro blieb. Genauso schritt auch heute die Zeit dahin. Sie hörte die Glocken von Notre Dame de la Dablade neunmal, dann auch irgendwann zehnmal läuten, bis das Telefon plötzlich unerwartet klingelte.
Sie starrte verwundert über ihren Brillenrand, um die Nummer zu identifizieren. Was war das für eine seltsame Nummer? Normalerweise war der Anrufbeantworter um diese Uhrzeit längst eingeschaltet. Aber wenn sie länger blieb, ließ sie die Leitung frei.
»Kur Architekten und Ingenieure«, begrüßte sie den Anrufer wie gewohnt, ungeachtet der Uhrzeit. Es blieb still – niemand meldete sich. Ein seltsames Knacken ertönte aus dem Hörer. Anna hielt den Hörer etwas vom Ohr weg. Dann hörte sie eine Flüsterstimme. »Anna – Anna – Anna«, ertönte aus dem Hörer. Sie erschrak und warf den Hörer zurück auf die Gabel. Ihr Herz begann zu rasen. Anna nahm einen großen Schluck Wasser und stand auf. Dann legte sie ihre Brille auf die Tastatur, ging zum Fenster, öffnete es und lehnte sich weit hinaus, um tief Luft zu holen. Die französische Abendluft tat ihr gut. Dann schaute sie die Straße hinunter. Es war sehr viel los in der Stadt. Viele Menschen waren unterwegs. Nur sie nicht, erkannte sie nachdenklich, sie saß in einem Büro und ließ sich vom Telefonterror ärgern.
Es wurde immer später, und gegen dreiundzwanzig Uhr begann ihr Kopf vor Müdigkeit zu schwanken, so dass sie nicht mehr in der Lage war, einen Streit mit dem Auftraggeber Sautron zu simulieren. Nervös blickte sie auf die Uhr, dann auf ihre Tasche und den Apfel, den sie wieder einmal vergessen hatte zu essen. Sie packte ihre Sachen, verriegelte die Fenster, löschte das Licht und schloss die Bürotür hinter sich ab.
»Bonsoir, Madame Kur, so spät noch?«, grüßte die Putzfrau, die ihr im Treppenhaus begegnete. Sie reinigte immer sehr spät erst die Büroräume, damit sie niemanden störte. Anna war etwas erstaunt, denn sie hatte sie schon lange nicht mehr gesehen, dass sie zweimal hinsehen musste, um sie zu erkennen. Sie hatte tatsächlich schon fast vergessen, wie sie aussah.
»Ja, Madame, verzeihen Sie bitte. Es ist ausnahmsweise spät geworden. Bonne nuit«, sagte Anna, als sie die Treppe verließ und über den unteren Treppenabsatz auf die Straße trat.
Der Weg zu ihrer Wohnung führte nur über die Pont Neuf. Eine schöne Steinbrücke mit Bögen aus dem siebzehnten Jahrhundert, die über die Garonne führte. Anna liebte diese Brücke. Sie dachte daran, wie oft sie hier schon angehalten und ihre Nase in den Wind gehalten hatte. Meistens blieb sie dabei auf ihrem Fahrrad sitzen, hielt sich an einem Laternenpfahl fest und schaute von der Brücke über den Fluss nach Süden. Der südwestfranzösische Fluss, der seinen Ursprung in Nordspanien hat und bei Bordeaux in den Atlantik fließt, brachte einen frischen Wind in die Stadt.
Sie wohnte in der Rue Courte, einer etwas ruhigen Seitengasse, direkt über einer Fromagerie und nur wenige Häuser von der besten Boulangerie Toulouses entfernt. Eine sehr ansprechende Wohngegend. Die beleuchtete, verträumt anmutende Strecke fuhr sie auch nachts ohne Sorge.
Am nächsten Tag war sie schon mit dem Frühstück fertig, als sich die Sonne gerade erst auf den Weg machte, über den Horizont zu schauen. An Tagen wie diesen, die schon morgens mit einem strahlendblauen Himmel grüßten, fuhr sie am liebsten als Erstes in die Südstadt hinaus. Weit hinaus bis ins Grüne.
Darum schwang sie sich rechtzeitig auf ihr Fahrrad und fuhr los. Sie fuhr ihre Lieblingsstrecke mit einem alten Holland-Fahrrad, das einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Vor einigen Tagen hatte sie es noch etwas schwarz nachgepinselt an einigen Stellen, wo es schon zu rosten begann. Sorgen bereitete ihr die Dreigangschaltung, die sie regelmäßig in der Fahrradwerkstatt überprüfen ließ, weil sie nach einiger Zeit immer wieder hakte und sich dann schlecht schalten ließ. Ein Austausch sei zu teuer und würde den Wert des Fahrrads übersteigen, sagte man ihr. Aber ein bisschen nachjustieren ging immer, hieß es. Egal, wohin sie während ihrer Studienzeit zog, dieses Fahrrad zog immer mit.
Heute musste sie weit nach Süden fahren, am Ufer der Garonne entlang bis zum Parc du Confluent. Dort machte sie wie so oft eine längere Pause. Eigentlich war der Park gut besucht, aber sie war immer sehr früh dran, so dass noch kaum jemand da war. Die ersten Jogger begegneten ihr am nördlichen Ufer der Garonne. Und wenn sie hier ankam, dann war es stets so, als ob eine fremde Hand sie führte und ihr den weiteren Weg zeigte. So als hätte sie zu einem bestimmten Moment, an den sie sich aber niemals erinnerte, die Kontrolle über sich selbst verloren.
Fünf. Sie lehnte ihr Fahrrad an einen Baum und lief über die sehr große, grüne Wiese. An sie angrenzend lag das naturbelassene Flussbett der Garonne, das mit hellen kleineren und größeren Steinen am Ufer eine malerische Kulisse erzeugte. Vier. Alles war ganz zu ihrer Zufriedenheit. Der Parc du Confluent war ein ursprüngliches Kleinod und der Platz Nummer Eins in ihrem Leben. Hier war alles so, wie sie es wollte. Drei. Sie legte sich ins Gras und streckte Arme und Beine weit von sich. Ihr langes Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf geflochten. Ihren dunkelblauen langen Rock mit Blumenmuster zog sie bis zum Knie hoch und ihre Sandalen aus. Zwei. Mit großen Augen blickte sie nun zum Himmel. Dann atmete sie tief ein. Dreimal, viermal, zehnmal. Je länger sie in die Luft starrte, desto mehr veränderte sich die Wolkenlandschaft vor ihren Augen und nahm eine verschwommene, reale Form an. Eins.
Dann schloss sie ihre Augen und erkannte eine grüne Wiese. Eine wunderschöne weitläufige Alpenwiese mit einem Blick auf die Bergspitzen. Es war ein Sommertag. Kinder lachten und jauchzten. Es war ein fröhliches Kinderlachen. Aus der Ferne klangen vertraute Kirchenglocken. Dann sah sie kurze Kinderbeine durch das Gras rennen und kleine Hände, die Gänseblümchen pflückten. Plötzlich sprang ein roter Ball hervor. Er hüpfte über die Wiese und die kurzen Beine rannten dem Ball nach. Wo rannten sie hin? Sie konnte ihnen nicht folgen.
Bei diesen Bildern wurde ihr heiß und es war so, als schnürte es ihr die Kehle ein. Blitzartig begann sie zu hecheln und rang nach Luft. »Hilfe!«, schrie es in ihr, aber dann – wurde sie unerwartet aus ihrem Traum gerissen.
»Anna! Wie geht es dir?«, begrüßte sie ein Mann und unterbrach ihren Tagtraum. Zögernd öffnete sie ihre Augen. Sie erkannte die vertraut klingende Stimme, weshalb ihr Gesicht entspannt blieb.
»Monsieur Brandl! Gut!«, entgegnete sie keuchend. Sie blieb in ihrer Position liegen und atmete, als hätte sie einen Dauerlauf hinter sich. Sie kümmerte sich nicht weiter darum, ihm etwa die Hand zu reichen oder sich aufzurichten und auf seine Augenhöhe zu begeben. Erschöpft atmete sie aus.
»Darf ich mich einen Moment zu dir setzen, Anna?«, fragte Brandl, der sich so verhielt, als sei er ein guter Bekannter.
»Ja«, antwortete sie, und es klang, als hätte er es auch ohne sie zu fragen gedurft. Anna beruhigte sich und ihre Atmung war wieder sehr gleichmäßig.
»Wie laufen die Projekte, Anna?«
»Es geht. Es ist viel Arbeit!«
»An was arbeitest du denn im Augenblick?«
»Wir sind noch immer an diesem Prestigeprojekt der Stadt beschäftigt. Das Brückenprojekt zwischen den Gemeinden Beauzelle und Fenouillet. Ich glaube, ich erzählte schon einmal davon. Nicht einfach. Die Vorgaben sind streng und lassen nur wenig Spielraum.« Anna kratzte sich dabei nervös am Kopf und drückte damit ihr Unbehagen aus, das sie bei diesem Projekt empfand. Dann öffnete sie ihre Augen und ihr Blick wurde finster. »Unsere Pläne wurden schon mehrfach vom Auftraggeber abgelehnt. Wir hätten uns angeblich nicht an behördliche Vorgaben gehalten, hieß es. Aber das kann nicht sein, ich habe es überprüft, wir haben alle Vorgaben eingehalten. Monsieur Sautron findet immer etwas Neues. Ich weiß gar nicht, was ihn hemmt. Mit uns hat er die besten Architekten der Stadt. Ich glaube, er hat was gegen mich. Oder aber er hat ein Problem mit Frauen in Führungspositionen. Zu teuer sind wir gewiss nicht. Jetzt hat er sogar gedroht, einen weiteren Planer mit ins Boot holen zu wollen. Wenn es schlecht läuft, befürchte ich, werden wir aus dem Projekt geworfen.«
Brandl nickte und sah sie mit einer großen Portion Mitgefühl an. Dann legte er seine Hand vertrauensvoll auf ihren Unterarm.
»Hast du schon mal über Urlaub nachgedacht?«
Anna sah ihn entgeistert an.
»Wo soll ich denn hin – und mit wem?«, empörte sie sich fast. Dann erhob sie sich leicht und stützte sich auf ihren Ellenbogen ab. Sie sah ihn jetzt direkt an und kniff ihre Augen zusammen. Allerdings verschwand dieser Gesichtsausdruck schnell wieder. Monsieur Brandl verstand die rhetorische Frage und löste sich von ihrem Blick. Stattdessen schaute er auf die im Hintergrund rauschende Garonne, die hier in Seelenruhe an ihnen vorbeifloss. Auch Anna blickte langsam hinüber zum Fluss. Beide betrachteten die Garonne mit sehnsüchtigen Blicken.
»Mit diesem Fluss haben wir schon viel Geld verdient«, fügte sie an. Dabei lachte sie leise und Brandl schien zu wissen, was sie damit meinte, denn er schmunzelte auch. »Ich weiß nicht, wie viele Brücken wir schon gebaut haben. Es waren einige.«
»Aber ist das nicht ein schönes Bild?«, bemerkte Brandl, »Brücken bauen, das hat so viel Symbolik!«
»Ja, darüber kann man philosophieren«, antwortete Anna, die nicht in der Laune war, über Symbolik nach-zudenken und sich durch das heutige Gespräch überhaupt nicht bereichert fühlte. Dann stand Brandl auf, richtete seine Brille und verabschiedete sich von ihr.
»Bis zum nächsten Mal, Anna. Au revoir.«
Anna ließ ihren Kopf noch einmal nach hinten sinken und legte sich dann auf die Seite. Nachdenklich blickte sie noch minutenlang hinüber zur Garonne. Je länger sie in die blaue Unendlichkeit blickte, desto wärmer wurde ihr ums Herz und sie fragte sich: Wieso Urlaub?
4Die neue Wohnung
Es war noch sehr warm, als Alexandre Dupont abends in Toulouse ankam. Viel wärmer als in Sion, wo es abends auch schon mal sehr kühl werden konnte. Das unangenehme Gefühl, das ihn zunächst begleitet hatte, verschwand langsam, je öfter er die Lavendelfelder links und rechts an sich vorbeiziehen sah. Durch die Provence zu fahren, gab ihm ein aufmunterndes Gefühl und langsam änderte sich seine Stimmung zum Besseren.
Er hatte das große Glück, noch ein bisschen Sonnenlicht bei seiner Ankunft zu erleben, denn es hieß, Toulouse, die rote Stadt, sei besonders schön, wenn das Abendlicht alle Häuserfassaden in einem malerischen Rot erstrahlen lässt.
Aber das stimmte gar nicht. Erstaunt setzte er seine Sonnenbrille ab, denn das, was er sah, war eine farbenprächtige, bunte Stadt.
Nach einem kurzen Telefonat mit der Hausverwaltung schickte man ihn zur Rue Courte. Den Schlüssel für seine Wohnung erhielt er über eine Schlüsselbox. Dann betrachtete er staunend das Haus. Es erstrahlte in nostalgischem Glanz und die Wohnung im obersten Stockwerk, die er betrat, war so außergewöhnlich, dass er kaum glauben konnte, dass Victoria ihm eine so elegante Wohnung gönnte. Als er seine Jacke auszog, spürte er, wie sehr sein Hemd an ihm klebte. Er konnte kaum abwarten, sich aus seinen Kleidern zu befreien.
Für einen kurzen Moment genoss er den Blick von seinem Balkon auf die Stadt, die bereits in der Dämmerung lag.