Flammenflug - Melissa Caruso - E-Book
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Flammenflug E-Book

Melissa Caruso

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Beschreibung

Magie ist eine gefährliche Waffe und muss gebändigt werden! Deswegen wird im Stadtstaat Raverra jeder Magier an einen sogenannten Falkner gebunden, der die Kraft kontrolliert. Die Feuermagierin Zaira konnte diesem Schicksal bislang entgehen. Als sie jedoch in Gefahr gerät, entfesselt sie einen magischen Feuersturm. Nur durch das Eingreifen der Grafentochter Amalia kann Schlimmeres verhindert werden. Doch nun sind die jungen Frauen magisch verbunden. Ein Bund, der nicht rückgängig gemacht werden kann und von beiden große Opfer fordert ...

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Seitenzahl: 725

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

DANKSAGUNG

INTERVIEW MIT DER AUTORIN

Über das Buch

Magie ist eine gefährliche Waffe und muss gebändigt werden! Deswegen wird im Stadtstaat Raverra jeder Magier an einen sogenannten Falkner gebunden, der die Kraft kontrolliert. Die Feuermagierin Zaira konnte diesem Schicksal bislang entgehen. Als sie jedoch in Gefahr gerät, entfesselt sie einen magischen Feuersturm. Nur durch das Eingreifen der Grafentochter Amalia kann Schlimmeres verhindert werden. Doch nun sind die jungen Frauen magisch verbunden. Ein Bund, der nicht rückgängig gemacht werden kann und von beiden große Opfer fordert …

Über die Autorin

Melissa Caruso bezeichnet sich selbst als Fantasyautorin, Teetrinkerin, Geek und Mutter – nicht notwendigerweise in der Reihenfolge. Sie studierte Kreatives Schreiben an der Brown University und bestand mit Auszeichnung. Danach schloss sie einen Master of Fine Arts an der University of Massachusetts an. Flammenflug ist ihr Debüt. Der Roman ist derzeit für den Morningstar Award nominiert, den David Gemmel Award für das beste Debüt 2017.

Melissa Caruso lebt mit ihrem Ehemann, einem Programmierer, und ihren beiden Töchtern in Massachusetts.

MELISSA CARUSO

FLAMMENFLUG

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Meier

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Melissa CarusoTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Tethered Mage – Book 1 of the Sword and Fire Trilogy«Originalverlag: Orbit, Hachette Book Group, New York

This edition is published by arrangement with Orbit. New York, New York, USA. All rights reserved.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Frank Weinreich, BochumTitelillustration: ©Misty Fugate/ArcangelUmschlaggestaltung: © Lisa Marie PompilioE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7374-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Dadder immer geglaubt hat, dass ich es kann,und für Mom,die mir gezeigt hat, wie ich es anstellen muss.

KAPITEL EINS

Als der schmale Bug des Bootes an die steinernen Stufen am Rand des Kanals stieß, wünschte ich, ich wäre zu Fuß gegangen oder hätte ein Boot gemietet, statt mein eigenes zu nehmen. Der Ruderer war verpflichtet, La Contessa zu berichten, dass ihre Tochter an einem schmutzigen kleinen Anleger in einer zwielichtigen Ecke der Unschlitte, dem ärmsten Viertel der Stadt Raverra, von Bord gegangen war.

Doch bis meine Mutter irgendetwas davon zu hören bekäme, hätte ich das Buch bereits.

»Ja, danke. Genau hier.«

Der Ruderer enthielt sich jeglichen Kommentars, als er das Boot ausbalancierte, aber seine Augenbrauen offenbarten tiefen Zweifel.

Ich hatte einen Herrenmantel und Hosen angezogen, um in dieser schäbigen Umgebung weniger aufzufallen, und jetzt war ich froh, nicht riskieren zu müssen, Röcke durch das trübe Wasser zu ziehen, als ich aus dem Boot kletterte. Abfälle dümpelten in dem Kanal, und in der Luft hing mehr als nur der salzige Geruch des Meeres.

»Soll ich hier warten, gnädige Frau?«

»Nein, schon gut.« Je weniger meine Mutter über diesen Ausflug erfuhr, desto besser.

Sie hatte mir nicht direkt verboten, den Pfandleiher aufzusuchen, der behauptete, im Besitz einer Ausgabe von Muscatis Grundlagen der Artefaktion zu sein, aber sie hatte ihre Ansichten in Hinblick auf solch eine Exkursion deutlich gemacht. Und niemand widersetzte sich einfach so La Contessa Lissandra Cornaro. Ihr Wort war der Widerhall der Macht in jedem ummauerten Garten und jeder vergessenen Piazza in Raverra.

Ein Muscati wiederum war aber auch nichts, was man einfach so überging. Von dem Werk existierten nur zwölf bekannte Ausgaben. Sollte diese sich als echt erweisen, so wäre es die dreizehnte.

Während ich am Kanal entlangging, kamen mir die Warnungen meiner Mutter albern vor. Sonnenbeschienene Fassaden flankierten das grünliche Wasser, und auf den am Ufer vertäuten Booten waren Arbeiter dabei, die Fracht, bestehend aus Erzeugnissen vom Festland, zu löschen. An einem so strahlenden, friedlichen Nachmittag lauerten doch gewiss keine Gefahren.

Doch als mich mein Weg vom Kanal wegführte, hinein in einen schattigen Tunnel, der geradewegs durch ein Gebäude verlief, zögerte ich. Plötzlich fiel es mir ziemlich leicht, mir vorzustellen, dass jenseits dieses dunklen Durchgangs Attentäter oder Entführer lauern mochten. Es wäre nicht das erste Mal in den achtzehn Lebensjahren als Erbtochter meiner Mutter, dass ich mit dem einen oder anderen konfrontiert wurde.

Das Buch, ermahnte ich mich. Denk an das Buch.

Ich trat in den Schlund des Tunnels und kam in einer Straße wieder hinaus, die zu schmal war, um je im Sonnenschein zu liegen. Die wenigen Leute, die mir begegneten, bedachten mich mit verwunderten und abwägenden Blicken.

Als ich den Laden des Pfandleihers gefunden hatte, eilte ich erleichtert hinein in die schummrige Wildnis aus staubigen Schätzen. Geschmeide und Produkte aus geblasenem Glas glitzerten in den Regalen, Möbel verteilten sich über den Boden, und an den Wänden lehnten Gemälde. Der Eigentümer beugte sich gerade über eine mit Kupferdraht umwickelte Muschelschale. Ein Stirnrunzeln zierte sein so oder so schon faltiges Gesicht, und über seinen Ohren zeugten lichte Büschel weißer Haare als letztes Vermächtnis von vergangener Pracht.

Beim Näherkommen betrachtete ich die Muschel. »Sie ist kaputt.«

Er zog ein mürrisches Gesicht. »Tatsächlich? Ich hätte es wissen müssen. Für eine funktionstüchtige hat er zu wenig gefordert.«

»Die Hälfte der Perlen fehlt.« Ich deutete auf die wenigen Kügelchen aus buntem Glas, die immer noch auf dem Draht hingen. »Sie brauchen einen Artefaktor, der es repariert, wenn Sie damit je wieder Musik machen wollen.«

Der Pfandleiher blickte auf, und seine Augen weiteten sich. »Dama Amalia Cornaro.« Er verbeugte sich, soweit es in diesem vollgestopften Laden eben möglich war.

Ich sah mich um, aber wir waren allein. »Bitte, kein Grund, förmlich zu sein.«

»Vergebt mir, ich habe Euch nicht erkannt in diesem … äh, Aufzug.« Argwöhnisch musterte er meine Kniehose. »Auch wenn ich mir vorstellen kann, dass derlei heutzutage bei jungen Damen als modisch gelten mag.«

Kniehosen waren unter jungen Damen nicht im Entferntesten in Mode, aber ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. Ich war einfach dankbar, dass sie in meiner Generation zumindest so weit akzeptiert waren, dass ich nicht gleich befürchten musste, einen Skandal auszulösen oder für eine Kurtisane gehalten zu werden.

»Haben Sie das Buch, das Sie in Ihrem Brief erwähnten?«, fragte ich. »Muscatis Grundlagen der Artefaktion.«

»Gewiss. Ich hörte, dass Ihr auf der Suche danach seid.« In seine Augen trat ein Schimmer, der mir nur allzu vertraut war: Da spiegelte sich Cornaro-Gold. »Einen Moment, ich hole es.«

Er schlurfte durch eine Tür in ein Hinterzimmer.

Ich betrachtete die Muschel. Dank meiner Artefaktionsstudien wusste ich genug, um dem Muster des Drahtes folgen zu können und den Bann zu verstehen, der die Laute einer musikalischen Darbietung in den mit Runen gravierten Wirbeln der Muschel eingefangen hatte. Vielleicht hätte ich den kaputten Draht sogar reparieren können, aber ohne die angeborene Gabe eines Artefaktors konnte ich die neuen Perlen nicht mit magischer Energie aufladen und die Muschel würde stumm bleiben.

Der Pfandleiher kehrte mit einem ledergebundenen Buch zurück und legte es neben der Muschel auf den Tisch. »Bitte schön, gnädige Frau.«

Ich blätterte durch die Seiten, bis ich auf eine grafische Darstellung stieß. Muscatis Kombination aus pedantischer Präzision in den schematischen Schaubildern der Verdrahtung und den dicken, stumpfen Strichen, die er für die Runen verwendete, war unverkennbar. Zitternd atmete ich aus. Es war tatsächlich echt.

Der Pfandleiher bedeckte die aufgeschlagene Seite mit seinen langen, feingliedrigen Fingern. »Ist alles zu Eurer Zufriedenheit?«

»Ja, durchaus. Danke.« Ich legte eine Golddukate auf den Tisch, die so schnell verschwunden war, dass ich beinahe zweifelte, dass ich sie überhaupt hingelegt hatte.

»Stets ein Vergnügen«, murmelte er.

Ich packte das Buch in meinen Ranzen und hastete aus dem muffigen Laden. Vor Aufregung wäre ich beinahe gehüpft. Ich konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen, mich mit einem Glas Wein in mein Schlafgemach zu verziehen und mich in Muscatis alten Schriften zu vertiefen. Mein Freund Domenic von der Universität von Ardence sagte einmal, Muscati zu lesen sei, als würde man ein Fenster öffnen, hinter dem sich das Universum aus einem ganz neuen Blickwinkel darstelle wie eine zu lösende mathematische Gleichung.

Er hatte natürlich nur Auszüge gelesen. Die Universitätsbibliothek besaß keine Ausgabe des Muscati. Ich würde Domenic herholen müssen, um sie ihm zu zeigen. Vielleicht würde ich das Buch der Universität überlassen, wenn ich damit fertig war.

Es fiel mir schwer, mich auf den Weg zu konzentrieren und die richtigen Abzweigungen zu wählen, statt mich in meinen Träumereien von Runenalphabeten, geometrischen Diagrammen und komplizierten Drahtwicklungen zu verlieren. Zumindest hatte ich die korrekte Richtung eingeschlagen. Nur noch eine Brücke, dann wäre ich wieder in einem netten Patrizierviertel, sicher und gut aufgehoben; und kein Vortrag meiner Mutter würde irgendetwas daran ändern, dass ich meinen Ausflug ohne Zwischenfälle überstanden hatte.

Doch dann sah ich vor der Brücke eine Gruppe von Gestalten auf einer kleinen Piazza stehen. Wie in einem Patt standen sie da, und jede Faser ihrer Körper drohte mit roher Gewalt.

Wie so vieles in Raverra hatte nun auch mein Ausflug problematische Züge angenommen.

Drei breitschultrige Männer bildeten einen einschüchternden Halbkreis um eine hagere junge Frau mit wilden, dunklen Locken. Das Mädchen stand stocksteif und trotzig vor ihnen wie ein in den Schlamm gerammter Stecken. Ich wurde langsamer und blieb stehen, den Ranzen fest an meine Seite gedrückt, sodass sich die Kante des Muscati in meine Rippen bohrte.

»Du hast noch eine Chance.« Ein stämmiger Mann im Hemd trat auf das Mädchen zu, und seine Fäuste hingen wie Kanonenkugeln an seinen Seiten. »Komm still und brav zu deinem Meister. Sonst brechen wir dir die Beine und schleppen dich in einem Sack zu ihm.«

»Ich bin mein eigener Meister«, gab das Mädchen in einem Ton zurück, so derb wie ein Enterhaken. »Und ihr könnt Orthys sagen, er soll seinen Vertrag nehmen und ihn sich in sein Spundloch stopfen.«

Sie hatten mich noch nicht bemerkt. Noch konnte ich einen Umweg über eine andere Brücke nehmen und mein Buch sicher nach Hause bringen. Ich trat einen Schritt zurück und sah mich um, suchte nach jemandem, der dem ein Ende machen konnte: ein Wachoffizier, ein Soldat, irgendwer. Nur nicht ich.

Aber da war niemand. Die Straße war verlassen. Alle Menschen in den Unschlitten waren klug genug, sich rar zu machen.

»Wie du willst«, knurrte der Mann, und die Rüpel rückten auf ihr Opfer zu.

Dies hier war exakt die Art von Problemen, in die sich eine junge Dame aus dem erhabenen und adligen Haus Cornaro nicht verwickeln lassen sollte und bei der doch jeder moralisch gefestigte Mensch eingreifen musste.

Vielleicht konnte ich sie erschrecken wie streunende Hunde. »Ihr da! Aufhören!«

Sie drehten sich um und starrten mich aus kalten Augen an. Die Luft in meiner Kehle wurde ziemlich trocken.

»Das geht dich nichts an«, warnte mich ein Kerl in einem speckigen Lederwams. Einer seiner Mundwinkel mündete in eine Narbe, und ich bezweifelte, dass die sich auf einen Küchenunfall zurückführen ließe.

Außer dem Dolch in meinem Gürtel hatte ich nichts, um mich zu verteidigen. Der Name Cornaro mochte auch bei diesen Schuften ein gewisses Gewicht haben, aber sie würden mir nie abnehmen, dass ich eine war. Nicht, solange ich so gekleidet herumlief.

Mein Name war bedeutungslos. Der Gedanke löste einen Kitzel in meiner Lunge aus, als wäre die Luft plötzlich zum Leben erwacht.

Das Mädchen wartete nicht erst ab, was ich weiter tun würde, sondern versuchte, zwischen zweien der Männer hindurch zu türmen. Ein Baumstamm von einem Arm umfing sie in der Taille und hob sie hoch wie ein kleines Kind, sodass ihre Füße nur noch Luft traten.

Mein Ranzen zerrte an meiner Schulter, aber ich konnte jetzt nicht einfach davonlaufen und sie im Stich lassen, Muscati hin oder her. Meinen Dolch zu ziehen schien keine gute Idee zu sein. Die Männer waren alle bewaffnet, einer sogar mit einer Steinschlosspistole.

»Hilfe!«, rief ich.

Die Schläger gaben sich unbeeindruckt. Sie konzentrierten sich auf das zappelnde Mädchen und zerrten ihr die Arme auf den Rücken.

»Das reicht!« Wut stärkte ihre Stimme. »Das ist die letzte Warnung!«

Letzte Warnung? Was für eine seltsame Äußerung. Es sei denn …

Eis sickerte mir bis ins Mark.

Die Männer lachten, doch sie sah sie nur erbost an. Sie hatte keine Angst. Und mir fiel nur ein Grund ein, warum sie furchtlos sein sollte.

Ich presste mich gerade noch rechtzeitig flach an die Wand, ehe alles in Flammen aufging.

Ihre Augen zündeten zuerst, ein hungriger, blauer Funke erblühte in ihren Pupillen. Dann raste Feuer in zarten Linien über ihre Arme und knospten zu lieblichen Blütenblättern einer todbringenden Blume.

Fluchend machten die Männer einen Satz zurück, doch es war zu spät. Schon stieg Rauch von ihren Kleidern auf. Noch ehe sie einen ersten angsterfüllten Atemzug tun konnten, waren sie am ganzen Körper mit einem kühnen Glorienschein blauer Flammen überzogen, der jede Narbe und jeden Makel unter seinem Licht begrub. Für einen Moment waren sie wunderschön anzusehen.

Dann stießen sie die Schreie aus, für die sie Luft gesammelt hatten. Ich krümmte mich und schlug die Hände vor den Mund. Der Schmerz, der sich in ihren Lauten ausdrückte, war unmenschlich. Und dann erwischte mich der schreckliche, ölige Gestank brennenden Menschenfleisches, und ich würgte krampfhaft.

Die Männer stolperten in Richtung Kanal, wanden sich im tödlichen Griff der Flammen. Ich riss die Arme hoch, um mein Gesicht vor der Hitze zu schützen. Nun konnte ich zwar nichts mehr sehen, aber ich hörte lautes Platschen, das ihre Schreie verschluckte.

In der plötzlichen Stille ließ ich die Arme sinken.

Feuer leckte nun über die Schultern des Mädchens. Ein reiner, kalter Zorn lag in ihren Zügen. Das war nicht die Miene einer Frau, die schon fertig war.

Oh, Höllen.

Frohlockend hob sie die Arme, und Flammen erhoben sich aus dem Kanal selbst, bitter und bösartig. Sie breiteten sich auf dem Wasser aus wie auf einer Öllache, leckten an der Wölbung der Brücke. Auf der anderen Seite des Kanals ergingen sich die Neugierigen, die der Tumult angelockt hatte, in furchtsamen Schreien.

»Genug!« Meine Stimme klang höher als üblich. »Du hast gewonnen. Lass Gnade walten und hör auf!«

Doch die Augen des Mädchens brannten, und Flammen rannen über sein Haar. Wenn es mich verstanden hatte, ließ es sich davon nichts anmerken. Das blaue Feuer nagte an den Steinen unter seinen Füßen, breitete sich mit ungestilltem Hunger aus, als wäre die Straße mit Gras bewachsen.

Und da erkannte ich es endlich: Schadfeuer. Davon hatte ich in Orsennes Der Untergang von Celantis gelesen.

Grazie der Barmherzigkeit, behüte uns alle. Dieses Feuer würde alles verbrennen – Wasser, Metall, Steine. Es könnte die ganze Stadt in Brand stecken wie ein trockenes Maislager. Ich drückte mein Buch an die Brust.

»Du musst dem ein Ende machen«, flehte ich.

»Das kann sie nicht«, sagte eine angespannte Stimme. »Sie hat die Kontrolle verloren.«

Als ich mich umdrehte, sah ich einen großen, schlanken jungen Mann gleich hinter mir stehen, der das brennende Mädchen mit nachvollziehbarer Sorge fixierte. Sein welliges schwarzes Haar streifte den Kragen genau der Uniform, die zu erblicken ich mir gerade mehr als alles andere auf der Welt gewünscht hatte. Die Uniform jener Kompanie, die aufgestellt worden war, um Magie zu kontrollieren, damit derlei Dinge, wie wir sie gerade sahen, nicht passieren konnten.

»Den Grazien sei Dank, Sie sind hier! Können Sie sie aufhalten?«

»Nein.« Rasselnd holte er Luft. »Aber Sie, wenn Sie den Mut dazu haben.«

»Was?« Noch mehr Wahnsinn, der sich auf den Schrecken des Schadfeuers türmte. »Aber ich bin keine Falknerin.«

»Genau deswegen.« Etwas Zierliches funkelte in seiner offenen Hand. »Denken Sie, Sie können ihr dies übers Handgelenk streifen?«

Es war ein kompliziertes Flechtwerk aus Golddraht mit scharlachroten Perlen, so gefertigt, dass es mit einem kurzen Ruck zugezogen werden konnte. Das Muster kannte ich von einem Holzschnitt aus einem meiner Bücher: ein Falkner-Geschüh, benannt nach den Riemen, die in der Falknerei benutzt wurden. Doch dieses diente dazu, ein magisches Siegel zu platzieren.

»Sie brennt«, wandte ich ein.

»Ich weiß. Ich werde sicher nicht abstreiten, dass es gefährlich ist.« Seine leuchtenden, grünen Augen umwölkten sich. »Ich kann es nicht selbst tun; ich bin bereits an einen anderen gebunden. Ich würde nicht fragen, wenn dies kein Notfall wäre. Aber je mehr Leben das Schadfeuer verschlingt, desto weiter breitet es sich aus. Es könnte ganz Raverra vertilgen.«

Ich zögerte. Das Geschüh in seiner Hand sackte in sich zusammen. »Vergessen Sie es. Ich hätte gar nicht …«

»Ich mache es.« Ich riss ihm das Armband aus der Hand, ehe ich es mir anders überlegen konnte.

»Danke.« Er ließ ein sonderbar reumütiges Lächeln aufblitzen. »Ich lenke sie ab, während Sie sich nähern. Köpfchen und Courage. Sie schaffen das.«

Der Falkner rannte auf die Flammen zu, und das Geschüh baumelte an meiner Hand wie eine unbeantwortete Frage.

Er beschrieb einen Bogen zum Rand des Kanals. Von dort aus rief er das Mädchen. »Du! Hexe!«

Sie drehte sich zu ihm um. Flammen folgten ihren Bewegungen wie die Wasserfallfalten in der Robe einer Königin. Die von ihr fortstrebenden Ränder züngelten schon die Ziegelmauern des nächsten Hauses empor wie flammende Ranken.

Die Stimme des Falkners hallte über den Lärm der immer größer werdenden Menge auf der anderen Seite des Kanals. »Im Namen Seiner Durchlaucht, des Dogen, ich beanspruche dich für die Falken von Raverra!«

Das sicherte ihm ihre Aufmerksamkeit. Die Flammen leckten in seine Richtung, als würden sie von einem starken Wind getrieben.

»Euch gehöre ich auch nicht!« Ihre Stimme war so scharf wie das Fauchen einer Feuerwalze. »Ihr werdet mich nicht beanspruchen. Eher verbrenne ich euch!«

Nun würde sie ihn auch umbringen. Es sei denn, ich hinderte sie daran.

Mein Herz flatterte wie das Taschentuch einer besorgten Matrone, und ich hatte Mühe, mich zu beruhigen und klar zu denken. Vielleicht würde sie nicht angreifen, wenn ich auf sie zustürmte. Ich schob meinen kostbaren Ranzen unter den Mantel und hastete in Richtung Brücke, als wollte ich an ihr vorbeilaufen und flüchten. Das vorzugeben war nicht schwer. Einige der Leute in der Menge auf der anderen Seite winkten mir zu, ich solle mich in Sicherheit bringen.

Meine Beine zitterten, so sehr drängte es mich, ihrem Rat zu folgen und einfach weiterzurennen. Ich konnte die Vorstellung, Muscatis Seiten könnten zu Asche zerfallen, nicht ertragen.

Ich packte das Geschüh fester.

Der Falkner streckte die Hand nach dem Mädchen aus, um ihre Aufmerksamkeit wach zu halten. »Dem Gesetz nach gehörst du zu Raverra, seit du mit dem Magiermal geboren wurdest. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, dich so lange zu verstecken, doch das ist nun vorbei. Komm mit mir.«

Das Feuer wogte wie eine blau-weiße Welle auf ihn zu.

»Die Pest soll dich holen!« Trotzig reckte das Mädchen die Faust hoch. »Wenn Raverra mein Feuer will, soll sie es haben. Möge die Stadt brennen!«

Ich tat einen Satz, um die verbliebene Distanz zu überwinden, sprang über die sich schlängelnden Flammen hinweg. Die Augen halb geschlossen, um sie vor der Hitze zu schützen, riss ich meinen Arm hoch und streifte ihr das Geschüh über die erhobene Faust.

Die Wirkung trat unmittelbar ein. Die Flammen erloschen, als hätte ein eisiger Wind sie ausgeblasen. Der Falkner krümmte sich immer noch, die Arme schützend vor dem Gesicht. Rauch stieg von dem feinen Wams seiner Uniform auf.

Das Mädchen taumelte. Das Feuer in seinen Augen flackerte noch einmal müde auf, während das goldene Geschüh sich um sein knochendürres Handgelenk zuzog.

Sie brach auf dem Straßenpflaster zusammen.

Schmerz sengte durch meine Hand, und ich zischte mit zusammengebissenen Zähnen und zog hastig die Hand an die Brust. Dieser kurze Kontakt hatte gereicht, mir die Haut zu verbrennen und meine Stiefel und meinen Mantel anzusengen. Mein Ranzen schien jedoch unversehrt zu sein; den Grazien sei Dank.

Auf der anderen Seite der Brücke jubelten die Zuschauer, bevor sie dann allmählich ihrer Wege gingen. Die Vorstellung war vorbei, und niemand wollte sich in die Nähe einer Feuerhexe wagen, nicht einmal, wenn sie bewusstlos war.

Ich konnte es den Leuten nicht verdenken. Von den Rohlingen im Kanal war keine Spur mehr geblieben, auch wenn immer noch der fürchterliche Brandgeruch in der Luft lag. Verkohlte Narben zeichneten die Wände der Häuser rechts und links von mir.

Erleichtert grinsend kam der Falkner auf mich zu. »Gut gemacht! Ich bin beeindruckt. Geht es Ihnen gut?«

Mir wurde vor Aufregung beinahe schwindlig, als mir bewusst wurde, dass es vorbei war. Ich hatte uns gerettet – wenn schon nicht ganz Raverra, so zumindest einen oder zwei Häuserblöcke davon –, eigenhändig. Nicht, indem ich auf den Namen meiner Mutter zurückgegriffen hatte oder auf ihren Reichtum, sondern ganz aus eigener Kraft.

Der Weg zum Pfandleiher war zu gefährlich? Ha! Ich hatte gerade eine Feuerhexe ausgeschaltet. Ich strahlte ihn an und versteckte die verbrannte Hand in meinem Ärmel. »Mir geht es gut. Ich bin froh, dass ich helfen konnte.«

»Leutnant Marcello Verdi, zu Diensten.« Er verbeugte sich. »Darf ich fragen, wie Ihr Name lautet, tapfere junge Dame?«

»Amalia Cornaro.«

»Nun dann heiße ich Sie bei den Falknern des Dogen willkommen, Fräulein …« Er brach ab. Das Lächeln in seinem Gesicht erstarb, und seine bronzene Haut wurde aschfahl. »Cornaro.« Er schluckte. »Nicht … Sie sind doch nicht mit La Contessa Lissandra Cornaro verwandt, oder?«

Die Hochstimmung gerann in meinem Magen. »Sie ist meine Mutter.«

»Bei allen Höllen«, flüsterte der Leutnant. »Was habe ich getan?«

KAPITEL ZWEI

Meine Mutter war nicht einmal anwesend, und doch beherrschte sie das Gespräch. Ich beugte mich über das bewusstlose Mädchen, einerseits aus Sorge, andererseits, um meinen Ärger zu verbergen.

»Wird sie wieder gesund?«, fragte ich.

»Es geht ihr gut, gnädige Frau. Hexen brechen oft vor Erschöpfung zusammen, nachdem sie ihre Macht entfesselt haben.« Der steife Ton, der nun in Verdis Stimme lag, brannte wie Salz in meinen Brandwunden. Ich hätte ihm meinen Namen nicht verraten sollen.

Er ging in die Knie und griff nach dem Handgelenk des Mädchens. Zuerst dachte ich, er wolle ihren Puls kontrollieren, doch stattdessen folgten seine Finger dem komplizierten Gewebe des Armbands.

Dies Geschüh war das komplizierteste magische Gespinst, das ich je gesehen hatte. Die Kombination der kunstvollen Verflechtung des Drahts mit der Position der blutroten Perlen bildeten eine Sprache, die die Bedingungen des Banns diktierte; doch sie war zu ausgefeilt, als dass ich ihr hätte folgen können.

Einige der goldenen Drähte hatten ihre Form verloren und waren an dem Knoten, der die Stränge zusammenhielt, geschmolzen. Das dürfte gar nicht möglich sein; Geschühe sollten nahezu immun gegen physische Schäden sein. Aber Schadfeuer war auch eine äußerst machtvolle Magie.

»Es ist verschmolzen«, hauchte Verdi. »Ich glaube nicht, dass es sich noch abnehmen lässt.«

Ich schaute ihm in die grünen Augen, und die Sorge, die sich darin spiegelte, war so klar und unverhohlen, wie ich es in den elitären Kreisen in den Salons von Raverra nie erlebt hatte.

»Warum sollten Sie es ihr abnehmen?«, fragte ich.

»Weil, gnädige Frau, Sie diejenige sind, die es ihr angelegt hat.«

»Bitte, nennen Sie mich Amalia.«

»Es tut mir leid, Dama Amalia. Ich hätte Sie da niemals mit hineinziehen dürfen.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind dazu ausgebildet, Zivilisten als Freiwillige zu rekrutieren, damit sie bei einem überraschenden Notfall wie diesem das Geschüh anlegen. Aber ich habe noch nie gehört, dass schon einmal jemand versehentlich eine Adlige angeworben hat.«

»Sie haben mich nicht hineingezogen. Ich habe beschlossen zu helfen. Das habe ich selbst getan.« Während ich da auf der Straße kauerte, das Gesicht nur wenige Zoll von seinem entfernt, kam ich mir plötzlich ungelenk vor, also erhob ich mich und barg meine versengte Hand in der gesunden. Der zunehmende Schmerz bohrte sich überall hinein wie ein ungebetener Gast.

»Und Sie waren großartig. Ich bin derjenige, der die Sache vermasselt hat.« Auch Verdi erhob sich und rieb sich die Stirn. »Ich weiß nicht recht, wie es nun weitergeht. Ich muss unseren neuen Falken zu den Stallungen bringen, ehe das Mädchen wieder erwacht. Das Gesetz besagt, sie darf ohne ihren Falkner nicht in die Stadt, aber …« Er lachte nervös auf. »Sie sind ihre Falknerin.«

»Aber das ist unmöglich.« Nun wurde mir klar, warum er so erschrocken war. »Kein Angehöriger der großen Familien der Versammlung kann Falkner sein. Meine Mutter …«

»Ich weiß; glauben Sie mir, gnädige Frau.« Verdi verzog das Gesicht. »Ich bin nicht sicher, wer zuerst meinen Kopf fordern wird: La Contessa, mein kommandierender Offizier oder der Doge persönlich. Aber Sie haben ihr das Geschüh angelegt, also sind Sie auch die einzige Person, die ihre Macht binden und freisetzen kann. Nun, da das Geschüh beschädigt wurde, ist daran nichts mehr zu ändern.«

Ein einfaches Armband konnte doch keine so enorme Entscheidung für mich getroffen haben. Nicht einmal der Doge befand über das Schicksal einer Cornaro. Der einzige Mensch, der das vermochte, war … Ich schluckte. »Jemand wird das meiner Mutter erzählen müssen.«

Verdi salutierte vor mir.

»Oh, nein«, widersprach ich. »Ich kann das nicht.«

»Besser, sie hört es von Ihnen als vom Dogen.« Seine Brauen rückten näher zusammen. »Normalerweise würde ich Sie beide direkt zu den Stallungen bringen, aber ich wage es nicht, La Contessa zu verärgern.«

»Ich fürchte, das haben wir bereits.« Ich war gar nicht einmal unglücklich damit, etwas getan zu haben, das sie wohl kaum billigen würde; viel mehr Sorgen bereitete mir die Vorstellung, ich könnte gegen die Falknervorschriften und das Gesetz von Raverra verstoßen.

»Es tut mir leid, gnädige Frau.« Verdi verbeugte sich. »Das ist alles meine Schuld. Und ich möchte es nicht noch schlimmer machen, indem ich Sie jetzt allein lasse. Aber wenn ich unsere neue Rekrutin nicht in die Stallungen schaffe, ehe sie erwacht, wird nicht einmal die Grazie des Glücks noch imstande sein, diesen Schlamassel in Ordnung zu bringen.«

Einen Moment zögerte er über dem bewusstlosen Falken, dann hob er die junge Frau hoch und legte sie sich über den Rücken, nicht ohne das Gesicht zu verziehen, als sich seine versengte Schulter meldete. Ein hagerer Arm hing kraftlos herab.

Der Anblick erfüllte mich mit Sorge. Ich hatte vorgehabt, ihr zu helfen, nicht sie zu fangen. Aber die Falken lebten im Luxus. Das musste einfach eine Verbesserung sein gegenüber dem wie auch immer gearteten Los, das dafür gesorgt hatte, dass sie in Lumpen gehüllt vor Schurken hatte fliehen müssen.

»Sind Sie sicher, dass es ihr gut gehen wird?«

»Wir werden uns gut um sie kümmern«, sagte Verdi. »Sie ist keine Gefangene.«

Das Geschüh schimmerte an ihrem Handgelenk, und ich war nicht so sicher, ob sie das nicht doch war.

»Vergebung, gnädige Frau.« Verdi versuchte sich an einer neuerlichen Verbeugung, brach aber ab, als das Mädchen ihm beinahe vom Rücken rutschte. »Ich muss gehen. Ich werde mich in Ihrem Palast melden, sobald ich den Falken untergebracht habe, damit wir diese Angelegenheit besprechen können. Oder zumindest wird sich irgendjemand melden, und ich hoffe, ich werde derjenige sein. Denn wenn nicht, bedeutet das wahrscheinlich, dass ich in großen Schwierigkeiten stecke.«

*

In großen Schwierigkeiten. Die Worte klebten an mir wie der Rauchgestank in meinem Mantel, als ich die Marmorstufen zur Studierstube meiner Mutter erklomm. Schmerz pulsierte durch meine Hand auf dem kühlen Geländer. Die großen Cornaros der Vergangenheit lugten von düsteren Gemälden an den Wänden mit den scharfsinnigen Augen meiner Mutter auf mich herab.

Ich versteckte mein Buch hinter einer silbernen Urne auf dem Korridor, um die Chancen zu verbessern, das Ziel meines Ausflugs zu bemänteln. Kurz überlegte ich, ob ich erst in mein Zimmer gehen und mich umziehen sollte, aber La Contessa schätzte frühzeitige Informationen höher als passende Kleidung. Mir blieb keine Ausflucht, um dieses Gespräch hinauszuzögern.

Trotzdem stand ich einige Minuten vor der Tür und starrte den kunstvoll geschnitzten, vergoldeten Rahmen an, suchte nach den vertrauten Formen, die ich als Kind entdeckt hatte, während ich tonlos meinen Eröffnungssatz probte.

Irgendwann klopfte ich.

»Herein«, kommandierte sie von drinnen.

Ich öffnete die Tür. Warmer Sonnenschein fing sich in den barocken Ornamentstäben und den heiteren Fresken im Studierzimmer meiner Mutter. Eine große Karte des Erlauchten Imperiums von Raverra zierte eine Wand, eine andere wurde vom Boden bis zur fünfzehn Fuß hohen Decke von einem Bücherregal beansprucht.

Mutter saß mit dem Rücken zu mir an ihrem Schreibtisch, und ihre Feder bewegte sich in der Hand, während sie arbeitete. Ich liebte diesen Schreibtisch. Er war voller geheimer Schubladen und verborgener Fächer, und meine Mutter hatte mich gebeten, ihn auf die Probe zu stellen, als ich noch ein Kind gewesen war. Für jedes Versteck, das ich fand, wurde ich mit Süßigkeiten belohnt. Kunstvoll lockte sich ihr kastanienbraunes Haar über dem prächtigen, smaragdgrünen Samt, der ihre Schultern bedeckte. La Contessa musste jederzeit damit rechnen, dass der Doge nach ihr schickte oder der Rat der Neun zu einer Dringlichkeitssitzung zusammentrat, also war sie stets perfekt zurechtgemacht.

Ich räusperte mich. »Ich habe Raverra heute vor einem verheerenden Brand bewahrt.«

»Das könnte erklären, warum du riechst wie ein nicht gekehrter Kamin.« Sie schrieb weiter, ohne sich auch nur einmal zu mir umzublicken.

»Ja.« Ich scharrte mit meinen rußgeschwärzten Stiefeln. »Da war eine außer Kontrolle geratene Feuerhexe, und ich … ich habe geholfen. Ein Falkner gab mir ein Geschüh, und ich habe es ihr angelegt.«

Das Kratzen der Feder verstummte. Langsam drehte sich meine Mutter um. Sie hatte ihre Arbeitsmiene aufgesetzt; wunderschön und undurchschaubar, akzentuiert von einem stechenden Blick.

»Du hast einer gefährlichen Hexe ein Geschüh angelegt?«, fragte sie mit tonloser Stimme.

»Ja.« Meine Mundwinkel zuckten aus purer Nervosität, aber ich sollte nicht lächeln. Also verzog ich das Gesicht zu einer Grimasse. »Es, äh, scheint nicht mehr abzugehen.«

Der Moment dehnte sich. Mutter saß nur regungslos da. Endlich erbebte die Feder in ihrer Hand, als sie einen entschlossenen Punkt an das Ende des Gedankengangs setzte, den sie dort niedergeschrieben hatte.

»Ich wusste, dass du zum Einkaufen in die Unschlitte gegangen bist«, sagte sie. »Mir war allerdings nicht bewusst, dass du mir einen Falken anschleppen würdest.«

Sie wusste längst, wo ich gewesen war. Natürlich wusste sie es.

Ich verdrehte meine gesunde Hand im Riemen des Ranzens, sagte aber nichts. Meine Mutter hatte mir einmal erklärt, man solle, wenn man nicht wisse, wo man stand, den Mund halten und zuhören.

»Amalia, weißt du, warum ich dich ohne Eskorte in Raverra herumlaufen lasse?«

Ich zögerte und schüttelte dann den Kopf.

»Warum ich dir gestatte, Magiewissenschaften in Ardence zu studieren, oder zulasse, dass du dich kleidest wie die siebte Tochter eines Landjunkers, oder so tue, als würde ich es nicht wissen, wenn du Pfandleiher in zwielichtigen Umgebungen aufsuchst?«

»Nein, Mamma.«

»Um herauszufinden, was du tust, wenn du die Freiheit genießt, deine eigenen Entscheidungen zu treffen.« Ihre Worte zerschnitten die Luft wie ein Wurfmesser. »Und um herauszufinden, was du lernst. Denn ich habe gehofft, diese Unabhängigkeit würde auf einen Funken von Intelligenz oder Ehrgeiz hindeuten, der unserer Familie zuträglich wäre, und du könntest dich vielleicht als würdig erweisen, mein Erbe anzutreten.«

Ich hatte angenommen, es hätte vielleicht damit zu tun, dass ihr etwas an meinem Glück läge. »Ich habe Dinge gelernt.«

»Hmm.« La Contessa tippte mit ihrer Feder auf den Rand des Schreibtischs. »Du hast gewiss kühn gehandelt, dafür muss ich dich loben.«

»Danke, Mamma.« Vermutlich war das ironisch gemeint, aber sicher ist sicher.

»Die Frage ist, was nun passieren soll. Das Gesetz ist eindeutig: Du kannst keine Falknerin sein. Und doch bist du eine. Ist dir klar, was das bedeutet?«

Ich schluckte schwer. »Ich bereite allen Kopfzerbrechen?«

»Dir entgeht der entscheidende Punkt, Kind. Das bedeutet, dass wir die Einzigen in der Versammlung sind, die die Verfügungsgewalt über einen Falken haben.«

Ich blinzelte verwirrt. Von der Seite hatte ich es überhaupt nicht betrachtet. Die Hunderte von Patrizierfamilien in der Versammlung, dem großen gesetzgebenden Rat von Raverra, versuchten ständig, einander zum eigenen Vorteil auszumanövrieren. Machtvolle Magie jedoch war allein dem Staat vorbehalten, denn dies war ein Vorzug, der das prekäre Gleichgewicht der Macht in Raverra empfindlich stören könnte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Doge zulässt …«

»Du bist meine Erbin«, fiel mir La Contessa ins Wort. »Der Doge hat keine Kontrolle über dich. Ich schon.«

Meine Brauen schossen vor Ärger in die Höhe. »Bei allem Respekt, wenn das wirklich stimmte, dann müssten wir dieses Gespräch gar nicht führen.«

Mutter lachte. Sie hatte ein warmes, liebreizendes Lachen, das noch immer die Herzen von Höflingen und Königen erweichen konnte. »Nun gut, Kind. Du bist eine Cornaro. Niemand hat Kontrolle über dich. Aber sei vorsichtig. Der Doge wird diese Entwicklung nicht goutieren. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, wie die Dinge in Ardence derzeit stehen.«

Das hörte sich nicht gut an. »Stimmt denn etwas nicht in Ardence?« Domenic und meine anderen ardentinischen Freunde hatten in ihren letzten Briefen nichts von Problemen erzählt, allerdings hatte ich auch schon seit ein paar Wochen keine mehr empfangen. Doch selbst der Cousin meiner Mutter, der in Ardence als Gesandter des Dogen fungierte, hatte bei unserem Familiendiner vor einem Monat nichts gesagt. Aber La Contessa gehörte dem Rat der Neun an und überwachte persönlich die Aktivitäten des Geheimdienstes von Raverra; sie wusste üblicherweise schon vor dem Täter von der Tat.

»Nichts Ernstes … bisher. Der junge Herzog testet seine Grenzen aus. Du solltest der Welt um dich herum mehr Aufmerksamkeit widmen, Amalia.«

Ihr Blick glitt über meine Kleider und den leeren Ranzen, ehe er auf meiner Hand zur Ruhe kam.

»Was ist mit dir passiert?«, verlangte sie zu wissen und erhob sich.

Ich versteckte meine Hand unter dem Mantel. »Sie hat gebrannt, Mamma.«

Sie durchquerte den Raum und zog zärtlich meine Hand aus ihrem Versteck, und ich bemühte mich, nicht zusammenzuzucken.

»Es geht mir gut.«

»Das wird es«, stimmte Mutter zu. »Aber das muss wehtun. Wir müssen es behandeln lassen.«

Sie strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und schob die Locken hoch, als wolle sie mich frisieren, was, dem Ausdruck in ihren Augen zufolge, ein nutzloses Unterfangen war, also ließ sie mein Haar wieder los und lächelte beinahe traurig.

»Vergiss nicht, Amalia, du bist meine Erbin. Das steht über allen anderen Verpflichtungen, die das Leben dir auferlegen mag, einschließlich derer einer Falknerin. Daran erinnere dich stets, ganz gleich, wozu er dich zu überreden versucht.«

»Er?«

»Der Doge, natürlich.«

Der Doge. Natürlich. Manchmal, wenn wir miteinander sprachen, schien es, als führten meine Mutter und ich zwei völlig verschiedene Unterhaltungen, die keinerlei Bezug aufwiesen.

Stirnrunzelnd warf sie erneut einen Blick auf meine angesengte Kleidung. »Geh und zieh dich um, Mädchen. Und vergiss dein Elixier nicht.«

»Ich vergesse mein Elixier nie.«

»Augenscheinlich, da du immer noch am Leben bist.« Mutter beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn. Der Geruch ihres Parfüms, so fein und komplex wie eine ihrer Intrigen, hüllte mich ein. »Es wäre mir lieb, wenn es so bliebe. Sei vorsichtig, Kind.«

»Natürlich, Mamma.«

»Jetzt geh und zieh dich um. Das wird ein langer Tag werden.«

*

Wenn meine Mutter mir auftrug, mich umzuziehen, wusste ich, das bedeutete, ich solle mich einer Erbin einer Angehörigen des Rats der Neun angemessener kleiden – jenes verschlossenen Gremiums, das zusammen mit dem Dogen den wahren Machtfaktor in Raverra darstellte. Die Versammlung erließ die Gesetze, gewiss. Aber der Rat kontrollierte das Militär, den Geheimdienst und den diplomatischen Dienst, und er hatte in allen Belangen der Justiz, der Außenpolitik und der Sicherheitspolitik des Reiches das letzte Wort. Alle neun Mitglieder waren einst aus den Mitgliedern der Versammlung ausgewählt worden, aber über die Jahrhunderte hatten die mächtigsten Familien dauerhaft vier Sitze für sich beansprucht und vererbbar gemacht. Ich war schon als Nachfolgerin meiner Mutter bestätigt worden, ehe ich überhaupt geboren wurde.

Warum die Regentschaft über das Erlauchte Imperium jedoch bequeme Hosen ausschließen sollte, erschloss sich mir nicht. Pflichtgemäß holte ich ein Kleid aus dem Schrank und legte es auf das Bett; aber das Korsett wurde im Rücken geschnürt, und ich war allein in meinem Zimmer. Also endete das Ganze damit, dass ich mich bäuchlings neben das Kleid legte und mein neues Buch las.

Bei Muscati schien Artefaktion so einfach zu sein. Nimm Runen, um einem Objekt neue Eigenschaften zu verleihen, oder binde es mit Drahtwicklungen an neue Regeln und leite magische Energie in das Muster, um sie mit Macht zu erfüllen. Wenn ich diese atemberaubend komplizierten Schaubilder studierte, kam ich mir jedes Mal vor, als stünde ich an der Grenze zur Erleuchtung. Nicht nur wegen der speziellen Magie, die damit verbunden war, sondern infolge der Erkenntnis der Naturgesetze, die dabei angewendet oder überlistet wurden.

Während ich las, wurde es draußen dunkel. Die Leuchten in den Wandhaltern erwachten zum Leben und verbreiteten das sanfte Echo jenes Lichts, das von dem Solar-Artefaktionskreis auf dem Dach eingefangen wurde. Der neue Falke musste inzwischen erwacht sein – diese Fremde, die die abgeschiedenen Stallungen ohne mich nie wieder würde verlassen können.

Ich barg meine schmerzende Hand am Körper. Sie musste natürlich ausgerechnet eine Feuerhexe sein, die seltenste und tödlichste Magierart. Feuerhexer hinterließen verkohlte, rauchende Löcher in den Seiten der Geschichtsbücher: Städte, von denen nur Ruinen blieben, Schlachtfelder voller Asche und Gebeine.

Aber nichts hatte die Ruhe des Imperiums in den letzten fünfzig Jahren gestört, seit dem Dreijährigen Krieg. Nach den Erlauchten Verträgen verwalteten sich die Klientelstaaten selbst und blieben dabei weitgehend friedlich. Sie räumten Raverra Handelsprivilegien ein und gaben uns Falken im Gegenzug für militärischen Schutz. Zudem sorgten sie für die Infrastruktur in Form ordentlicher Straßen und Aquädukte, unterhielten die Reichspost und das Kurierlampennetz. Raverra überließ seine tributpflichtigen Staaten überwiegend sich selbst, auch wenn die Erlauchten Gesandten gelegentlich ein sorgfältig gewähltes Wort in die Ohren ihrer Regenten flüsterten, seien es nun Könige, Herzöge oder Konsuln. Keine fremde Macht hatte die Mittel oder den Willen, das Reich zu bedrohen, seit es zur Zeit meiner Großeltern die wahnsinnigen Hexenherrscher von Vaskandar im Dreijährigen Krieg besiegt hatte. Gab es keinen Feind, so gab es auch keinen Grund, die Macht eines Hexers zu entfesseln. Mein Falke mochte durchaus für den Rest seines Lebens im Verborgenen bleiben.

Im Verborgenen und eingesperrt in den Stallungen, ihr Leben lang gebunden von einer Kraft, die so unüberwindbar war wie einer von Muscatis magischen Kreisen.

Ein vertrautes, entschiedenes, zweifaches Klopfen an meiner Tür warnte mich gerade noch rechtzeitig, damit ich die Prinzipen der Artefaktion unter meinem Kissen verstecken konnte, ehe Mutter hereinrauschte. Ihre Dienerin Ciardha folgte ihr, eine Schatulle in Händen. Ciardha war keine einfache Dienstbotin, sondern Spross einer bekannten Händlerfamilie aus Osta, und sie verfügte über ein gutes Auge und einen scharfen Verstand, dem meine Mutter ihre wichtigsten Aufträge anvertraute.

»Gute Güte, du hast ja noch nicht einmal angefangen.« La Contessas Augen kontrollierten das Bett, und ich zwang mich, nicht zu meinem Kissen zu blicken und einfach zu hoffen, dass von dem Buch nichts zu sehen war. »Hast du wieder gelesen?«

»Ich habe über Feuerhexer nachgedacht.« Nun, das war nicht gelogen.

Ciardha ergriff ohne viel Aufhebens meine verbrannte Hand und fing an, sie mit Salbe einzuschmieren. Derweil stand ich stocksteif in Habachtstellung da.

Mutter bedachte das Kleid, das ich herausgelegt hatte, mit einem entsetzten Blick. »In diesem Ding kannst du den Dogen nicht empfangen, Kind. Was denkst du dir nur? Dieses Kleid kannst du vielleicht tragen, wenn du zum Markt gehst. Ciardha, wenn du mit ihrer Hand fertig bist, dann hilf Amalia, sich zurechtzumachen.«

»Gewiss, Contessa«, murmelte Ciardha.

Mein Mund wurde ganz trocken. »Ich treffe den Dogen? Heute?«

»Habe ich dir das nicht gesagt? Hast du gedacht, ich scherze? Seine Botschaft kam über die Kurierlampen herein, während du hier drin nicht imstande warst, dich anzuziehen. Er hat dich in den Reichspalast befohlen.« Sie riss meinen Schrank auf und musterte die Kleider. »Es ist mir gelungen, mit Verweis auf deine Brandwunden ein wenig Zeit zu schinden, woraufhin er sich bereit erklärt hat, stattdessen hierherzukommen. Also, Ciardha, sorg dafür, dass die Handverletzung gefährlich aussieht.«

»Gewiss, Contessa.« Ciardha zog einen Verband aus ihrer Schatulle und machte sich mit ebenso flinken wie geschickten Fingern an die Arbeit.

Mich befiel das machtvolle Bedürfnis, ihr meine Hand zu entreißen, aus dem Zimmer zu rennen und mir irgendwo ein Versteck zu suchen. »Der Doge kommt hierher? Wann?«

»Beruhige dich, Kind. Es ist ja nicht so, als wäre er noch nie hier gewesen. Ich habe eine oder zwei Stunden für uns herausgeschlagen. Vierzig Leute werden ihn auf dem Weg aus seinem Palast ansprechen und versuchen, mit ihm zu reden; so ist es immer. Ich habe einen Diener mit einem Fernglas auf dem Dach postiert, also werden wir ein paar Minuten vor seinem Eintreffen gewarnt werden. Das pfauenblaue Seidenkleid, denke ich, Ciardha. Achte darauf, dass sie passenden Schmuck anlegt, und mach irgendwas mit ihrem Haar.«

»Gewiss, Contessa.« Ciardha wob einen Kokon aus hauchdünnem Stoff um meine Hand.

»Ich kann meine Finger nicht bewegen.«

»Gewiss, gnädige Frau.« Ich hörte ein Lächeln aus Ciardhas Stimme heraus, von dem in ihrer ernsten Miene nichts zu sehen war. »Ihr seid viel zu schwer verletzt, um so etwas zu tun.«

La Contessa drückte meine Schultern. »Hör zu, Amalia. Ich werde dabei bleiben, wenn ich kann, aber der Doge wird darum bitten, dich allein zu sprechen. Du wirst dich ihm gegenüber behaupten müssen. Verstehst du mich?«

»Ja, Mamma …« Ich brach ab. »Halt. Nein, Mamma. Was will er überhaupt? Warum kommt er her, um mit mir zu sprechen?«

»Dein kleines Abenteuer von heute hat die Einsätze in die Höhe getrieben. Es geht um nicht weniger als die Kontrolle über die einzige Feuerhexe des Erlauchten Imperiums. Und damit auch um die unangefochtene Herrschaft des Dogen über die Falken. Und um die Geistesart der Erbin einer der mächtigsten Familien von Raverra. Natürlich will er mit dir sprechen!«

All die Worte Muscatis, die ich in glückseliger Unwissenheit verschlungen hatte, während ich mich hätte vorbereiten sollen, lagen mir nun schwer im Magen. »Ist das, was heute passiert ist, wirklich so bedeutsam?«

»Du wirst eines Tages dem Rat der Neun angehören, Amalia. Du gewöhnst dich besser daran, dass alles, was du tust, bedeutsam ist.«

»Was soll ich dem Dogen sagen?« Schmerz jagte durch meine Hand, als ich versuchte, sie zur Faust zu ballen, was Ciardha mit einem tadelnden Tss-tss quittierte.

»Wenn du kannst, dann sichere mir den Falken«, sagte Mutter. »Aber vor allem, lass nicht zu, dass er die Oberherrschaft über dich erringt. Wenn du ihm jetzt die Kontrolle über dich überlässt, wirst du, wenn du meinen Sitz im Rat der Neun übernimmst, nur mehr sein Werkzeug sein.«

»Was willst du eigentlich mit einer Feuerhexe?«

»Ich will keine Feuerhexe, ich will, dass bekannt wird, dass wir eine haben.« Sie strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. »Der Doge versteht das. Und das wirst du auch.«

»Fertig«, verkündete Ciardha. Verzweifelt musterte ich meine bandagierte Hand. So sollte ich den Dogen empfangen?

Mutter tätschelte mir den Arm und bedachte mich mit eben jenem Lächeln, mit dem sie auch das Land Callarmorne für das Raverranische Imperium gewonnen hatte. »Du wirst das schaffen, Kind. Vergiss nur nicht, wer du bist.«

Wer ich war oder wer ich in ihren Augen sein sollte? Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Ich bin nicht gut bei solchen Spielchen. Nicht so wie du, Mamma.«

»Dann spiel sie nicht. Finde heraus, worin du gut bist, und mach das zu deinem Spiel.«

Und schon rauschte sie mit der Majestät eines sich in die Luft erhebenden Schwans zur Tür hinaus und überließ es Ciardhas fähigen Händen, mich in das pfauenblaue Kleid zu stecken. Ich selbst hatte praktisch nichts zu tun, außer mich auf Kommando umzudrehen oder die Haltung zu wahren, während mir Ciardha ein Knie in den Rücken rammte, um mein Korsett zu schnüren.

»Ich wünschte, du könntest an meiner Stelle mit dem Dogen reden, Ciardha«, sagte ich, als ich wieder zu Atem kam. »Du bist bei allem gut.«

»Ihr macht das schon, gnädige Frau«, versicherte mir Ciardha im Brustton der Überzeugung, während ihre Finger geschickt in meinem Haar hantierten.

»Wie kannst du da so sicher sein?«

»Weil La Contessa gesagt hat, dass Ihr das schafft, und La Contessa irrt sich nie.«

Ein Ruf hallte durch das Haus, ein Diener rief dem anderen zu: Er kommt!

Sie hatten das Boot des Dogen auf dem Reichskanal entdeckt, und mir blieb nur zu hoffen, dass Ciardha recht hatte.

KAPITEL DREI

Der mächtigste Mann der Welt war kaum größer als ich, wenn man die herzogliche Krone abzog. Niro da Morante war recht jung für einen Dogen; das war ein Posten auf Lebenszeit, und die Versammlung wählte gewöhnlich niemanden, der noch über ein Übermaß an selbiger gebot. Sein Haar war immer noch dunkel, wenn auch von grauen Strähnen durchzogen, in den Augen schimmerte ein unerbittlicher Scharfsinn und er hatte eine Präsenz, die nichts mit seiner kostbaren Robe zu tun hatte – oder auch nur mit dem Umstand, dass er der Herrscher eines Reiches war, das den größten Teil des Kontinents Eruvia beanspruchte.

Als ich vor ihm knickste, sogen diese dunklen Augen jegliche Erkenntnis auf, die sie meiner Erscheinung abringen konnten. Selbst hier im großen Salon meines eigenen Hauses fiel es mir schwer, nicht daran zu denken, dass dies ein Mann war, dessen Wort über Krieg und Frieden gebot, über Reichtum und Ruin, Leben und Tod.

So mussten sich andere Leute fühlen, wenn sie mit meiner Mutter sprachen.

Meine Röcke fegten über den Marmorboden, als ich mich wieder aufrichtete. Mutter murmelte einen Gruß, und ich gab ebenfalls die passenden Laute von mir. Diener wirbelten herum wie Tänzer, boten dem Dogen Wein und Erfrischungen an, doch er winkte nur ab. Zu weit dehnte sich um uns herum der Saal, der eigentlich dazu erbaut war, Maskenbälle zu veranstalten und dem einen oder anderen Staatsakt den passenden Rahmen zu bieten. Ich verbrachte kaum Zeit in diesem Raum, dessen Fresken die Errungenschaften der Cornaro-Dogen priesen und dessen vergoldete Ornamente beinahe bis zur Hysterie überzogen waren. Er war dazu angetan, Gäste zu beeindrucken, nicht dazu, bewohnt zu werden.

Als der Doge auf dem Stuhl Platz nahm, den wir ihm anboten, tat er das mit einer unzufriedenen Miene – unzufrieden, nicht mit unserer Gastfreundschaft oder mit mir, sondern mit der ganzen Situation.

»Ich wünsche, allein mit meiner neuen Falknerin zu sprechen«, verkündete er.

Diskret verließ die Dienerschaft den Raum. Mutter lächelte ebenso anmutig wie selbstsicher. »Gewiss werdet Ihr meiner Tochter nichts zu sagen haben, was ich nicht mit anhören könnte.«

Die Betonung, die beide dem Wörtchen meiner zukommen ließen, war nicht zu überhören.

Der Doge zog eine Braue hoch. »Ist sie ein Kind, das sich hinter dem mütterlichen Rock verstecken muss?«

Getroffen klappte ich den Mund auf, doch ein heftiger Schmerz an meiner Schulter verhinderte, dass etwas herauskam. Mutters Hand lag dort, ganz zwanglos und entspannt, doch sie hatte einen ihrer Ringe umgedreht, sodass sie den Stein warnend in meine Haut bohren konnte.

»Amalia ist vollauf imstande, auf eigenen Füßen zu stehen«, sagte sie mit einer Zuversicht, die die vollständige Sammlung unserer bisherigen Gespräche nie hätte vermuten lassen. »Doch was könntet Ihr mit ihr zu besprechen haben, das vor ihrer Mutter und Eurer alten Freundin geheim gehalten werden muss?«

Einer der Mundwinkel des Dogen zuckte. »Nichts. Aber, Lissandra, Ihr wisst so gut wie ich, dass dies, solange Ihr im selben Raum seid, ein Gespräch zwischen Euch und mir werden wird, nicht zwischen Eurer geschätzten Tochter und mir.«

Stille trat ein, und der Ring bohrte sich immer noch in meine Schulter.

Dann lachte La Contessa und bedachte den Dogen mit einem ironischen Knicks. »Nun gut, Niro, das kann ich nicht abstreiten, dann lasse ich euch zwei wohl besser allein.«

Die samtenen Röcke meiner Mutter raschelten leise, die Salontür wurde geöffnet und geschlossen, und ich war allein mit dem Dogen.

Er bedeutete mir, Platz zu nehmen, und sein Blick ruhte auf meiner übertrieben dick verbundenen Hand.

Ich setzte mich auf die Stuhlkante, so gut ich es mit dem Korsett vermochte; angesichts der tiefen Taille und des steifen Mieders kam es mir vor, als wäre das Kleid für Damen entworfen worden, die sich niemals setzten. Etliche Lagen Seide und Unterröcke bauschten sich raschelnd unter mir. Deshalb bevorzugte ich Jacke und Hose.

Der Doge zog die Brauen hoch. »Also, Dama Amalia, Ihr habt eine … unübliche Methode gewählt, zu einer meiner Falknerinnen zu werden.«

Jedes Wort, das er benutzte, besetzte eine strategische Position auf einem Spielbrett, das ich nicht zu sehen vermochte, und brachte Punkte ein, die ich nicht einschätzen konnte. Die Handfläche unter dem Verband wurde feucht.

»Euer Durchlaucht, ich versichere Euch, ich hatte nicht die Absicht, dergleichen zu tun. Mein Ansinnen war allein, Raverra vor einem Schadfeuer zu bewahren.«

»Ungeachtet dessen stellt Ihr und Euer Falke ein Problem dar.« Er reckte eine leere Hand vor, als wolle er mir etwas zeigen. »Normalerweise bringen wir die Falken schon als Kinder in den Stallungen unter. Und die Falkner leben ebenfalls dort und werden jahrelang unterrichtet, ehe sie mit einem sorgsam ausgewählten Falken verbunden werden. Und von da an lassen sie alle anderen Verpflichtungen, sämtliche Eide und Titel hinter sich. Wenn sie einer Patrizierfamilie entstammen, verlieren sie das Recht, der Versammlung beizuwohnen.«

Das würde Mutter nie hinnehmen. »Aber das ist in diesem Fall natürlich nicht möglich.« Ich achtete darauf, mit unbekümmerter, aber fester Stimme zu sprechen. »Denn ich bin die CornaroErbin.«

Nachdenklich musterte mich der Doge. Auf der anderen Seite des Raums tickte die Uhr. Dutzende von gemalten Würdenträgern starrten aus dem Fresko an der Decke auf mich herab.

»Wisst Ihr«, fragte der Doge schließlich, »warum es den herrschenden Familien von Raverra verboten ist, Falkner zu sein?«

»Um zu verhindern, dass eine Familie zu viel Macht erlangt.«

»Ja. Aber das ist nicht der einzige Grund.« Er beugte sich vor. Tief in seinen dunklen Augen schimmerte etwas wie versunkenes Gold. »Ist Euch das Paradoxon der Gewalten ein Begriff?«

Ich zögerte. »Ich bin nicht sicher, worauf Ihr Euch bezieht, Euer Durchlaucht.«

»Die Macht der Flotte und der Magie von Raverra ist beispiellos. Dies ist, gepaart mit unserem großen Reichtum, zweifellos das Fundament des Reiches. Und doch mussten wir schon seit Jahrzehnten keine Gewalt zum Einsatz bringen, um unsere Position zu sichern. Der Grund dafür liegt darin, dass alle wissen: Raverra ist in der Lage, eine unaufhaltsame militärische Macht zu entfalten. Folglich müssen wir das nie in die Tat umsetzen. Die implizite Gefahr eines Krieges sichert den Frieden ganz Eruvias.«

»Wahre Macht übt man mit leichter Hand, denn mehr braucht es nicht«, zitierte ich meine Mutter.

»Üblicherweise.« Er kniff die Augen zusammen. »Aber was geschieht, Dama Amalia, wenn jemand versucht, uns auf die Probe zu stellen?«

»Aber … die Macht des Erlauchten Imperiums steht doch nicht infrage.«

»Nein. Nein, das tut sie nicht.« Zufriedenheit tränkte seine Stimme, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wie Celantis vor dreihundert Jahren gelernt hat. Ich nehme an, Ihr kennt die Geschichte?«

»Gewiss.« Das war eine Geschichte, die zu vergessen Eruvia schwergefallen war, nachdem sich das Erlauchte Imperium von Raverra aus der Wiege weniger Küstenorte zu immer größerem Wachstum aufgeschwungen hatte. »Raverra und die Inseln von Celantis haben Krieg geführt. Als der Doge die Flotte und die Falken in Stellung gebracht hat, um Celantis anzugreifen, hat er ihnen eine letzte Chance zum Frieden eingeräumt. Aber der König von Celantis hat ihm zur Antwort den Kopf seines Sendboten geschickt. Also hat der Doge eine weitere Nachricht mit einem Pfeil über die Stadtmauern geschickt: Ihr mögt glauben, Euer Königreich sei machtvoll, weil Ihr einen Mann vernichten konntet, doch ich brauche nur einen Mann, um Euer Königreich zu vernichten. Und dann hat er …« Ich schluckte. »… seinen Feuerhexer losgelassen.«

»Das ist richtig«, bestätigte Niro da Morante mit einem humorlosen Lächeln. »Das Schadfeuer fegte während dreier schrecklicher Tage und Nächte über die Stadt. Mit jedem Opfer, das die Flammen forderten, wurde es stärker. Es ernährte sich vom Leben der Gefallenen. Als hundert tot waren, dann tausend, konnte nichts mehr die Feuersbrunst stoppen, nicht einmal der Hexer selbst. Nur das Wort des Falkners vermochte dem Schrecken ein Ende zu bereiten.«

Ich nickte stumm und presste die Lippen zusammen.

»Aber auf Befehl des Dogen schwieg der Falkner, bis der König von Celantis durch die Hand seiner eigenen Leute den Tod fand und die Generäle vortraten, um sich zu ergeben und um Gnade zu bitten.«

Jener Falkner hatte zugesehen, wie Celantis gebrannt hatte, wohl wissend, dass er dem allen mit nur einem Wort ein Ende hätte machen können. Doch er hatte entschieden, es nicht auszusprechen; aus Loyalität gegenüber seinem Dogen. Hatte sein Schweigen ihn geschmerzt? War er den Rest seines Lebens aus Albträumen hochgeschreckt und hatte die Schreie gehört, das verbrannte Fleisch gerochen?

»Seither haben in der Tat nur wenige gewagt, sich der Erlauchten Stadt Raverra zu widersetzen.« Der Doge legte die Fingerspitzen aneinander. »Folglich mussten wir keine weiteren Königreiche niederbrennen. Ihr seht also, welche Rolle ein Feuerhexer bei der Aufrechterhaltung des Friedens im Reich spielt.«

»Ja.« Über diesen Umweg war er zu meinem Falken zurückgekehrt. Offenbar hatte er nun vor, die Falle zuschnappen zu lassen. Mein Herz schlug zweimal bei jedem Ticken der Uhr. »Das bloße Wissen, dass wir einen Feuerhexer haben, wird es noch weit unwahrscheinlicher machen, dass irgendjemand sich uns gegenüber feindselig verhält.«

»Und Ihr versteht auch, dass ich einer Sache sicher sein muss: Dass Ihr, sobald ich Euch rufe, das Feuer Eures Falken entfesseln und meinen Befehl unverzüglich ausführen werdet.«

Da hatten wir es. Er hatte mich in die Ecke getrieben. Ich starrte ihn nur an, als ein zynisches Lächeln an einem seiner Mundwinkel zupfte. Siehst du?, sagte es. So einfach ist das alles nicht.

»Euer Durchlaucht«, sagte ich gedehnt, »sollte die Sicherheit Raverras erfordern, dass ich meinen Falken loslasse, werde ich das tun.«

»Ganz gleich auf welches Ziel?«

»Ich werde Raverra im Fall einer Bedrohung verteidigen.«

»Hmm.« Sein Blick zuckte zu meinem Gesicht, als läse er ein Buch. »Dann erklärt Ihr Euch bereit, meinen Anordnungen zu gehorchen?«

Ich ballte die verbundene Hand, bis der Schmerz aufflammte wie ein roter Sonnenaufgang. Ich konnte nicht Ja sagen, aber ich durfte auch nicht Nein sagen. Und ich konnte nur hoffen, dass er mir nicht an der Nasenspitze ansah, wie sehr ich mir wünschte, Mutter wäre zugegen und würde an meiner Stelle antworten.

»Ich kann mir nicht vorstellen, Euer Durchlaucht«, brachte ich schließlich hervor, »dass Ihr mich je bitten würdet, meinen Falken loszulassen, es sei denn um der Sicherheit Raverras willen.«

Der Doge lachte und feine Falten bildeten sich in seinen Augenwinkeln. »Wohl gesprochen.« Er erhob sich, und ich folgte seinem Beispiel augenblicklich. »Nun gut. Ich denke, damit sollten wir es vorerst gut sein lassen.«

Wie es schien, war das Spiel vorbei. Aber ich hatte keine Ahnung, ob ich gewonnen oder verloren hatte.

»Ihr werdet jedoch zumindest ein wenig Unterricht benötigen«, sagte er. »Wir können nicht riskieren, dass ihr durch eine unbedachte Äußerung den Falken loslasst und die Stallungen niederbrennt.«

Unbedachte Äußerung? Nun fürchtete ich mich davor, irgendetwas zu sagen. Der Doge sah es mir an und lachte wieder.

»Meldet Euch morgen Vormittag zu einer Euch genehmen Zeit in den Stallungen, dann sorgen wir dafür, dass so etwas nicht passieren kann.«

»Euer Durchlaucht, bei allem Respekt, ich kann nicht in die Stallungen ziehen.«

»Das könnt Ihr vielleicht nicht. Aber Ihr könnt sie aufsuchen, um euch unterrichten zu lassen.«

Das klang durchaus vernünftig. »Ja, Euer Durchlaucht.«

»Bis zum nächsten Mal, Amalia Cornaro.«

*

Ich stand allein in dem großen Salon, während der Doge mit allen angemessenen Ehren und Annehmlichkeiten zu seinem Boot geleitet wurde, und meine Beine zitterten, als wäre ich gerade zwanzig Meilen geritten.

Ehe er lange genug weg war, dass ich zumindest daran denken konnte, mich zu setzen, schlüpfte meine Mutter zur Tür herein.

»Das dürfte reichen«, erklärte sie ohne weitere Vorrede. »Du hast keinen Boden an ihn abgegeben, und darauf kommt es an.«

»Du hast gelauscht? Du hast unser Gespräch mitgehört!«

»Mein liebes Kind, natürlich habe ich euch zugehört. Dein Urgroßvater hat sich doch nicht umsonst die Mühe gemacht, all diese Spionagekammern in den Palast einzubauen, damit seine Erben die Privatsphäre anderer unnötig achten. Aber nun müssen wir uns unseren nächsten Zug überlegen.«

Unseren nächsten Zug. Mutter hatte mich noch nie in ihre Machenschaften hineingezogen. Ich wusste nicht, ob ich jetzt Stolz oder Angst empfinden sollte. Vermutlich Angst.

»Mamma … Was ist mit dem Falken?«

»Es dürfte unsere Kontrolle über den Falken nicht beeinträchtigen, einige Lektionen in den Stallungen wahrzunehmen. Lass dich nur nicht von ihnen herumkommandieren oder dir einen militärischen Dienstgrad verleihen.«

»Das habe ich nicht gemeint.« Ich kämpfte darum, die Sorge, die wie eine gefräßige Raupe in meinem Kopf heranwuchs, in Worte zu fassen. »Ganz gleich, was passiert, dieses Mädchen und ich sind für den Rest unseres Lebens aneinandergebunden. Sie kann die Stallungen ohne mich nicht verlassen.«

»Richtig«, stimmte Mutter zu. »Das ist eine problematische Situation.«

»Wenn sie mich nicht mag, könnte sie sogar sehr problematisch werden.«

»Dann«, sagte sie, »sorg dafür, dass sie dich mag.«

*

Sorg dafür, dass sie dich mag. Für Mutter war das zweifellos in der Tat so einfach. Aber ich war, wie ich oft genug bewiesen hatte, nicht meine Mutter.

Gewiss, die meisten Leute verhielten sich, als würden sie mich mögen. Der Name Cornaro lockte bei jeder eleganten Abendgesellschaft, zu der Mutter mich von meinen Büchern wegzerrte, ein Gewimmel an Bewunderern herbei. Aber selbst dem Lächeln meiner gelehrten Freunde aus der Reichsbibliothek oder der Universität von Raverra haftete etwas Salbungsvolles an, wenn wir uns gemeinsam über die Bücher beugten. Auch da lief es letztlich auf eine ölige Lobhudelei hinaus, die, gepaart mit Furcht, ihre Worte schmierte. Ich war die Amalia Cornaro, das machte sich jeder bewusst, ehe er mich auf Fehler in meinen artefaktischen Entwürfen ansprach oder mit mir über die Ursachen des Dreijährigen Krieges diskutierte.

Ich wusste nicht, wie ich erkennen sollte, ob mich jemand mochte. Noch viel weniger, wie ich jemanden überzeugen sollte, mich zu mögen, wenn er mir nicht von sich aus gewogen war.

La Contessa brachte oft ein Geschenk mit, wenn sie jemanden zum ersten Mal aufsuchte. Ich hätte wetten mögen, dass das zerlumpte, halb verhungerte Mädchen aus den Unschlitten in seinem Leben noch nicht viele Geschenke bekommen hatte. Also kämpfte sich mein tapferer Rudersmann durch den morgendlichen Verkehr zum Markt, um mich ans Ufer zu bringen, sodass ich auf dem Weg zu den Stallungen einen Schmuckhändler aufsuchen konnte. Ich erwarb das erste Stück, das meine Aufmerksamkeit erregte, eine hübsche Halskette aus Bernstein. Eine bebrillte Frau wickelte sie sorgfältig für mich in ein Seidentuch.

Wieder in meinem Boot mit dem goldenen Bug fragte ich mich, wie sie wohl war, diese Frau, an die ich für den Rest meines Lebens gebunden war. Temperamentvoll, das stand fest. Schlau möglicherweise, da es ihr gelungen war, ihr Magiermal so lange zu verbergen. Die Art von Mensch, die ich mir zum Freund wünschen würde, hätte ich nicht jegliche Chance auf solch eine Freundschaft in dem Moment zunichtegemacht, in dem ich ihr das Geschüh über das Handgelenk gestreift hatte.

Die Art Freund, die meine Mutter niemals billigen würde, ginge es nicht um einen Falken.

Endlich entkam mein Boot dem überfüllten Reichskanal, fuhr das kurze Stück über die grünen Wasser der Lagune zur Greifvogelinsel und machte am Gästesteg inmitten von schlanken Militärkuttern fest. Die grauen Wände der Stallungen ragten über mir auf. Trotz der kunstvollen Mauern und der spitzen Torbögen wirkten sie furchteinflößend. Schützende Artefaktionsrunen umgaben jede Tür und jedes Fenster und schirmten die Stallungen vor Angreifern und ihren Pfeilen ab. Bewaffnete Wachen mit Musketen und Säbeln beobachteten mich. Niemand eilte herbei, um mir die Hand zu reichen, als ich aus dem Boot kletterte. Gott sei Dank hatte ich auch heute Stiefel und Hosen gewählt, auch wenn der bestickte Brokatstoff mit dem, was ich in den Unschlitten getragen hatte, etwa so viel Ähnlichkeit aufwies wie der Federschmuck eines Pfauen mit dem eines Sperlings.

Als mir unter dem abschätzigen Blick der Wachen gerade unbehaglich zumute wurde, flog die schwere bronzene Doppeltür auf, und Leutnant Verdi stolzierte mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen heraus, um mich in Empfang zu nehmen.

Ich starrte ihn an. Ein blaues Auge leuchtete in prachtvollem Purpur unter seinen welligen Ponyfransen.

»Dama Amalia Cornaro.« Er verbeugte sich, und die Wachen nahmen prompt Haltung an, als sie meinen Namen hörten. »Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind.«

Er hörte sich in der Tat froh an. Zu froh. Beinahe verzweifelt. »Stimmt etwas nicht?«

Verdi verzog das Gesicht. »Kommen Sie herein, gnädige Frau, dann werde ich es Ihnen erklären.«