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Die eine ist ein Straßenkind. Die andere Erbin der mächtigsten Adelsfamilie des Stadtstaats Raverra. Zusammen bilden Zaira und Amalia als magiebegabte Falkin und magiebändigende Falknerin ein eingespieltes Duo. Deshalb werden sie mit einem Auftrag höchster Dringlichkeit bedacht. Denn immer mehr Falken verschwinden an der Grenze zu Vaskandar, das offen Truppen zusammenzieht. Plant das Nachbarland eine Invasion? Und hängt das Verschwinden der Falken damit zusammen? Amalia und Zaira sollen die Lage klären und die verschollenen Falken aufspüren. Doch die Mission führt sie direkt in die Arme des Feindes ...
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Seitenzahl: 832
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
KAPITEL VIERZIG
KAPITEL EINUNDVIERZIG
KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
KAPITEL DREIUNDVIERZIG
KAPITEL VIERUNDVIERZIG
KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
DANKSAGUNG
Über das Buch
Die eine ist ein Straßenkind. Die andere Erbin der mächtigsten Adelsfamilie der Stadt. Zusammen bilden sie als magiebegabte Falkin und magiebändigende Falknerin ein eingespieltes Duo. Deshalb werden Zaira und Amalia mit einem wichtigen Auftrag bedacht. Immer mehr Falken verschwinden an der Grenze zum Nachbarland Vaskander. Die beiden jungen Frauen sollen herausfinden, wer dahintersteckt, und die Falken wenn möglich befreien. Doch die Mission führt sie direkt in die Arme des Feindes …
Über die Autorin
Melissa Caruso bezeichnet sich selbst als Fantasyautorin, Teetrinkerin, Geek und Mutter – nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Sie studierte Kreatives Schreiben an der Brown University und bestand mit Auszeichnung. Danach schloss sie einen Master of Fine Arts an der University of Massachusetts an. Ihr Debütroman Flammenflug stand auf der Shortlist für den MORNINGSTAR AWARD 2017, den DAVID GEMMEL AWARD für das beste Debüt 2017. Melissa Caruso lebt mit ihrem Ehemann, einem Programmierer, und ihren beiden Töchtern in Massachusetts.
MELISSA CARUSO
STURMSCHWINGEN
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Meier
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:Copyright © 2018 by Melissa CarusoTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Defiant Heir – Book 2 of the Swords and Fire Trilogy«Originalverlag: Orbit, Hachette Book Group, New YorkThis edition is published by arrangement with Orbit. New York, New York, USA. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Frank Weinreich, BochumTitelillustration: © Yolande de Kort/Trevillion ImagesUmschlaggestaltung: Cover Design by Lisa Marie Pompilio; Cover Art by Yolande de Kort/Trevillion Images;Cover © 2018 Hachette Book Group, IncE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7830-6
www.luebbe.dewww.lesejury.de
Ich kletterte zu den anderen auf die niedrige Felsenkuppe hinauf und erkannte, was sie betrachtet hatten.
Etwas dümpelte an den Felsen, gefangen von der steigenden Flut. Schwarzes Wasser plätscherte über leuchtend scharlachrote Wolle. Ich erhaschte noch einen Blick auf dunkles Haar, das sich wie Seegras auf dem Meer ausbreitete, auf aufgedunsene weiße Finger und den Schimmer goldener Bordüren an einer allzu vertrauten Uniformjacke. Dann musste ich mich abwenden, und ich presste die Arme auf meinen rebellierenden Magen.
»Grazie der Barmherzigkeit«, flüsterte ich.
»Das ist einer von uns«, sagte Marcello erbittert. »Ein Falkner.«
Für Jesse,weil du meinen Traum immer unterstützt hast – und weil du mich ertragen hast, während ich dieses Buch geschrieben habe.
Es war ein Jammer, solch einen grünen Ort niederzubrennen.
Die winzige Insel lag inmitten der vorherrschenden Strömung, die allerlei Abfälle aus der Erlauchten Stadt anschwemmte, die sich an der dem Festland zugewandten geschwungenen Küste sammelten. Im Grunde war sie nur ein Haufen Sand und Steine, ein navigatorisches Hindernis, das nicht einmal einen Namen hatte. Aber das Ufer, an dem wir standen, wurde von blühenden Sträuchern gesäumt, die bald einem Hain aus jungen Bäumen und Büschen weiter landeinwärts Platz machten, dessen bloße Existenz einem Wunder nahekam. Eine salzige Brise, die von der Lagune herbeiwehte, entlockte dem Laub, das sich der umgreifenden Gelbfärbung des Herbstes bisher hatte entziehen können, ein leises Seufzen.
Der ganze Ort wirkte viel zu leicht entflammbar. Nicht, dass das besonders wichtig wäre, wenn es um Schadfeuer ging.
Ich berechnete die Winkel und ging drei Schritte weit über den Sand. Es konnte nicht schaden, auf der Windseite zu bleiben. Dies war zwar nur eine Übung, dennoch mochte sie uns alle umbringen, sollte etwas schiefgehen.
Unter ihrem windzerzausten Durcheinander aus dunklen Locken runzelte Zaira die Stirn. »Bist du jetzt lange genug um uns herumgetanzt? Wir sind nicht hier, um ein Menuett einzustudieren.«
Ich schätzte den Abstand zwischen ihr und mir ab. Drei Fuß vielleicht. Nicht annähernd genug, dass ich mich in Sicherheit bringen konnte, sollte sie die Kontrolle verlieren. Andererseits wären dreißig Fuß dafür womöglich immer noch nicht ausreichend.
Ich nickte, und mein Herz schlug schneller. »In Ordnung.«
»Ich setze dich schon nicht in Brand«, versprach Zaira. »Nicht dieses Mal.«
»Ich vertraue dir.« Ich verzichtete darauf, hinzuzufügen: Solange du du selbst bist. Dem Wesen, zu dem sie wurde, wenn die Flammen sie überwältigten, brachte ich hingegen nicht das geringste Vertrauen entgegen.
Sie drehte sich zu Marcello um, der ungefähr fünfzig Fuß von uns entfernt auf dem grauen Sandstreifen wartete. Er wirkte entspannt. Schwarze Locken fielen auf den Kragen seiner in Scharlachrot und Gold gehaltenen Uniform. Weit hinter ihm erhoben sich auf der anderen Seite der Lagune die Stallungen und blickten ihm wachsam über die Schulter. Aber seine Hand, die er so lässig in den Gürtel gehakt hatte, berührte den Griff seiner Pistole.
Nicht, dass ihm das viel helfen würde. Das Einzige, was Zairas Feuer aufhalten konnte, war das Wort, das nur aus meinem Mund die Macht besaß, es zu löschen. Wie auch immer, bei dieser Übung sollte ich dieses Wort nicht aussprechen. Zaira trainierte ihre Beherrschung. Was auch hieß, sollte mein Urteilsvermögen mich trügen, sollte ich nur eine Sekunde zu lange warten, so würden Menschen sterben.
Die Tage an der Universität waren mir bedeutend lieber. Wenn ich dort bei einer Praxislektion versagte, musste ich mit nichts Schlimmerem als einem gestrengen Vortrag meines Professors rechnen.
»Seid ihr bereit?«, rief Zaira.
Marcello nickte.
Zaira reckte mir eine Hand entgegen, die Handfläche nach oben gewandt, als würde sie von mir erwarten, dass ich etwas hineinlegte. Das Geschüh an ihrem klapperdürren Handgelenk funkelte golden.
Mein Mund fühlte sich so trocken an wie Flugsand. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«
»Nein, ich bin eigentlich wegen eines Picknicks hergekommen. Natürlich will ich. Gib mich frei.«
Tief atmete ich die feuchte Seeluft ein, und als ich sie wieder ausatmete, formte ich mit ihr das schauerlichste Wort, das ich kannte.
»Exsolvo.«
Zaira schloss die Hand. Als sie sie dann wieder öffnete, loderten von ihren Fingern blaue Flammen auf.
Es war nur ein kleines Ding, vorerst, aber so bösartig wie ein Hakenmesser. Mit gierigem Verlangen fraß es sich in die Luft. Schadfeuer.
Die kleine Flammenspirale bog sich in meine Richtung, gegen den Wind. Ich wich einen Schritt zurück.
»Halten Sie stand, Dama Amalia.« Das war Balos’ Stimme, tief und fest. Er hatte gegenüber von Marcello, etwa zwanzig Fuß den Strand hinunter, mit Jerith, seinem Falken und Ehemann, Position bezogen. »Sie müssen sich daran gewöhnen. In einem Notfall dürfen Sie nicht davor zurückschrecken.«
»Es ist schwer, nicht vor etwas zurückzuschrecken, das einen umbringen will«, murrte ich.
»Ist nicht persönlich gemeint.« Zaira grinste, aber die Art, wie sich die Haut um ihre Augen straffte, gab ihre Anspannung preis. Sie fürchtete sich ebenfalls. »Es will jeden umbringen.«
»Jetzt steck etwas in Brand«, rief Jerith. Irgendwie hörte er sich eher an wie ein Kind, das einen Schulkameraden verleiten wollte, Unsinn zu machen, weniger wie ein älterer Hexer, der einen jüngeren anzuleiten gedachte.
Mit einer knappen Bewegung aus dem Handgelenk richtete Zaira die Finger auf einen gedrungenen Busch mit glänzenden, runden Blättern. Ein Funke sprang aus ihrer Hand, brannte sich einen leuchtenden Pfad durch die Luft und landete in dem Gestrüpp. Blau-weiße Flammen loderten in der Mitte des Strauchs auf, krochen hungrig an seinen schwarz werdenden Zweigen empor und verwandelten sämtliches Laub in Asche.
»Halt es im Zaum«, wies Jarith sie an. Das Magiermal in seinen Augen schimmerte silbern, während er Zairas Gesicht beobachtete. »Lass nicht zu, dass es sich ausbreitet.«
»Ich weiß, was ich tue«, fauchte Zaira. Schweiß glänzte auf ihren Schläfen.
»So? Und was ist dann das?« Jarith machte eine abrupte Kopfbewegung und deutete mit dem Kinn auf das Feuer.
Von dem Gebüsch war nur ein ausladender, verkohlter Zweig übrig, aber die Flammen loderten höher denn je, reckten sich den Ästen der Bäume über ihnen entgegen. Dünne Flammenfäden mäanderten hinaus und folgten den Wurzeln des Strauches unter der Erdoberfläche.
Einer davon schlüpfte am Rand des sandigen Bereichs – dünn, machtvoll und so schnell wie eine Schlange – direkt auf Marcello zu. Die Erinnerung an Gestalten, die sich unter Qualen in dem blauen Feuer wanden, und an den Geruch von verkohltem Menschenfleisch versengten mein Bewusstsein. Ich holte Luft, hielt das Wort der Versiegelung aber doch noch zurück, obwohl es bereits gegen meine Zähne drängte.
Ich musste darauf vertrauen, dass sie es in der Hand hatte. Das war die Hälfte, die ich zum Erfolg dieser Übung beizutragen hatte.
Zaira streckte die Hand nach der rasenden Feuerlinie aus, als wollte sie sie zurückziehen, doch die Flammen loderten nur noch höher auf. Ein schwacher blauer Schimmer leuchtete in ihren Augen. Marcello wich hastig zurück, doch das Feuer war schneller und würde ihn binnen Sekunden erreichen. Ich klappte den Mund auf, um das Wort hinauszuschreien, das ihn retten konnte.
»Zaira!«, rief da Jerith in scharfem Ton.
Zaira zerschnitt die Luft mit einer raschen, ausholenden Bewegung ihrer Hand. Das Schadfeuer erlosch und ließ nur einen rauchenden schwarzen Fleck am Boden zurück.
»Seht ihr? Bestens.« Sie warf ihre dunkle Lockenmähne zurück. »Komplett unter Kontrolle.«
Aber ihre Hände zitterten ein wenig, und sie schob sie rasch in die Taschen ihres Rocks.
»Revincio«, hauchte ich seufzend und versiegelte ihre Macht. Meine Knie fühlten sich an, als könnten sie vor Erleichterung jeden Moment nachgeben.
Jerith schüttelte den Kopf. Ein Diamant funkelte an seinem Ohrläppchen. »Die Kontrolle zu wahren wird erheblich schwerer werden, wenn du es mit vaskandrischen Musketieren zu tun bekommst, oder sollte einmal die Schoßchimäre eines Hexenlords mit ihren giftigen Klauen auf dich losgehen.«
Ich scharrte unbehaglich mit den Füßen. »Wir befinden uns nicht im Krieg mit Vaskandar.«
Jerith lachte. »Nur nicht so schüchtern, gnädige Frau. Die Geheimnisse Ihres Rats sind bei mir sicher. Und jeder, der von den Truppenbewegungen gehört hat, weiß, dass die sich auf eine Invasion vorbereiten. Da ist es doch nur angemessen, wenn wir ihnen im Gegenzug die gleiche Achtung erweisen.« Mit einem Finger zeigte er auf Zaira. »Und das bedeutet, wir müssen deine Fähigkeiten, deine Macht zu kontrollieren, so weit verbessern, dass Dama Amalia dich entsiegeln kann, ohne sich darüber Sorgen machen zu müssen, dass du sie zusammen mit dem Feind abfackeln könntest.«
Zairas Augen blitzten vor Zorn. »Damit mich das Imperium als Waffe benutzen kann.«
»Nein. Damit du niemanden umbringst, den du nicht töten willst.« Jeriths Lächeln wirkte erbittert. »Das Imperium wird versuchen, dich als Waffe zu benutzen, ganz gleich, wie gut oder schlecht du deine Macht unter Kontrolle hast.«
Balos schlang einen muskulösen Arm um die schmalen Schultern des Sturmhexers, und ich fragte mich, ob Jerith aus Erfahrung gesprochen hatte.
Marcello näherte sich uns. Tiefe Falten verunzierten seine Stirn. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, wie sehr der Schnitt seines Uniformwamses ihm schmeichelte. Da half es wenig, dass ich mich während der letzten paar Wochen ständig ermahnt und mir immer wieder klargemacht hatte, dass wir nicht buhlten – nicht auf diese Weise umeinander werben konnten – jedenfalls nicht jetzt. Noch war ich nicht bereit, die Macht aufzugeben, die mit meinen politischen Rechten als Erbin der Contessa verbunden war.
»Das war besser«, sagte er.
Zaira warf einen kurzen Blick auf die verkohlten Überreste der Übung der letzten Woche. Da hatte ich ihr noch Einhalt gebieten müssen. »Verdammt richtig, das war es. Glaubt ihr etwa, ich würde auch nur einen von euch ertragen, würde das nicht hinhauen?«
»Wir sollten es noch einmal versuchen«, schlug Marcello vor. »Dieses Mal länger.«
Ich beäugte das Dickicht aus Sträuchern und überhängenden Zweigen rund um den geschwärzten Strunk, der von dem Busch übrig war, den Zaira niedergebrannt hatte. »Vielleicht sollten wir uns einen Ort suchen, an dem es sich nicht so leicht ausbreiten kann.«
Für einen Moment sah Marcello mich an. Lachfältchen an seinen Augenwinkeln kündeten von einer gewissen verschrobenen Belustigung. »Gute Idee. Ich kann nicht abstreiten, dass mein Herz am Ende auch einiges zu tun hatte.«
Ich erwiderte sein Lächeln, doch in meiner Brust regte sich ein vages Unbehagen. In den Wochen, seit wir aus Ardence zurückgekommen waren, hatte er sich mir gegenüber freundlich und zuvorkommend verhalten. Er war geradezu übertrieben professionell aufgetreten; es war, als hätte es diesen verzweifelten Kuss in dem Moment, den ich für ein letztes Lebewohl gehalten hatte, nie gegeben. Inzwischen war ich nicht mehr sicher, ob sich hinter seinem Lächeln womöglich ein heimlicher Schmerz verbarg.
Sein Blick entfernte sich und wanderte über den Strand. »Wie wäre es dort drüben?«
Er zeigte auf eine Reihe muschelverkrusteter Steine, die an einem Ende der sichelförmigen Insel, nicht weit von uns entfernt, eine Nehrung bildeten. Schadfeuer kann auch auf Fels brennen – oder, da wir gerade dabei sind, auf Wasser – aber dort draußen bestand zumindest nicht die Gefahr, dass eine überraschende Böe den Ast eines Baums in die Flammen drückte.
Zaira tat ihre Gleichgültigkeit mit einem Achselzucken kund, also gingen wir auf die Nehrung zu. Sie schien es nicht eilig zu haben, und ich hatte zwar eine Hose angezogen, kam mit meinen Stadtstiefeln aber in dem schlüpfrigen, weichen Sand nicht gut voran; bald fielen wir hinter den anderen zurück.
Mir sollte es recht sein. Ich musste sie etwas fragen, mich einem bohrenden Unbehagen stellen.
»Jerith hat recht«, sagte ich leise. »Dieses Mal ist es keine Finte. Vaskandar bereitet sich auf einen Krieg vor. Und du weißt, was der Rat von dir verlangen wird.«
»Ja, hab ich gehört. Musketiere. Chimären.« Sacht zupfte sie an dem Geschüh an ihrem Handgelenk, als wollte sie ausprobieren, ob es vielleicht doch endlich abging. »Dürfte sogar einfacher sein, als irgendeinen dürren Busch abzubrennen. Je kleiner desto schwieriger.«
»Bist du …« Ich suchte die richtigen Worte, um meine Frage zu formulieren. »Wie fühlst du dich dabei?«
»Warum fragt mich jedermann nach meinen Gefühlen? Bei den Titten der Grazien, du und Terika …« Sie klappte den Mund zu und presste die Lippen zusammen.
»Vielleicht sorgen wir uns um dich.«
Zaira schnaubte verächtlich. »Muss nett sein, wenn man den Luxus hat, sich Sorgen über so einen Unsinn zu machen. In den Unschlitten lernt man schnell, dass Gefühle wertlos sind. Die sind das, was die Säufer am Morgen danach in den Rinnstein pissen.«
Über manche Dinge lohnte es, mit Zaira zu diskutieren – und über manche nicht. »Ich würde es nicht gern sehen, wenn du in eine Lage gerietest, in der du gezwungen wärst, dein Feuer zum Töten zu benutzen.«
»Statt was zu tun? Fleischspieße auf dem Markt zu rösten? Es gibt nicht so viele andere Dinge, für die das zu gebrauchen ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast Jerith doch gehört. Für das Imperium bin ich ein Werkzeug, eine tödliche Waffe, weiter nichts. Und so falsch liegen sie da nicht. Wenn ich bei den Falken bleibe, dann werde ich eine Spur aus Asche durch Vaskandar ziehen. Deine süßen Skrupel und Nettigkeiten werden daran nichts ändern.«
Dieses Wenn grenzte an Hochverrat. Die Gesetze des Imperiums ließen jenen, die das Magiermal trugen, keine Wahl, auch wenn sie sie mit Reichtümern und üppigen Annehmlichkeiten für ihren obligatorischen Dienst bei den Falken entschädigten. Aber ich zweifelte nicht daran, dass Zaira, wenn sie nur wollte, jederzeit davonlaufen konnte. Nur aufgrund der Tatsache, dass sie wusste, dass ihr dieser Ausweg offenstand, hatte sie sich damit abgefunden, zu bleiben. Vorerst.
»Ich wünschte, ich könnte meine Falken-Reform durchbringen, ehe ein Krieg ausbricht.« Ich trat gegen einen Stein, der ein Stück weit über den Sand glitt. »Dann könnte jeder Magier selbst entscheiden, ob er Soldat wird. Aber meine Mutter sagt, solange die vaskandrischen Streitkräfte an unserer Grenze lauern, hätte ich keine Chance, in der Versammlung Gehör zu finden.«
Zaira bedachte mich mit einem Seitenblick. »Immer noch diese Geschichte? Das geht nie durch.«
»Wenn die Bedrohung durch Vaskandar nachlässt, könnte es das aber«, beharrte ich. »Ich habe jetzt schon ein paar Dutzend Angehörige der Versammlung überzeugt, den Antrag zu unterstützen. Ich brauche nur mehr Zeit.«
»Ein paar Dutzend. Von Tausend. Verzeih, wenn ich nicht wie ein braves kleines Mädchen darauf warte, dass du uns befreist.« Zaira blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Du denkst doch nicht, dass das der Grund ist, warum ich noch hier bin, oder? Dass ich auf dein albernes Gesetz hoffe?«
»Nein«, erwiderte ich stirnrunzelnd. »Ich nehme an, du bist wegen Terika geblieben.«
»Ich mag Terika«, gab Zaira zu. »Aber wenn du denkst, ich würde mich von ihr an die Stallungen ketten lassen, dann kennst du mich schlecht.«
»Mag sein«, räumte ich seufzend ein.
»Ich bin nur aus einem Grund hier.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Um zu lernen, meine Macht gut genug zu beherrschen, dass ich niemanden verletze. Gut genug, um sie zu verbergen. Denn nun weiß die Welt von mir, und es gibt keinen Ort, an den ich mich flüchten könnte. Die werden mich nie in Ruhe lassen.«
»Aha.« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte; sie hatte ja recht.
»Die mögen dein Gesetz für Artefaktoren und Alchemisten bewilligen. Wegen Geräten und Tränken machen sich die Leute nicht so ins Höschen wie bei Schadfeuer. Vor den Hexern haben sie zu viel Angst.« Sie schüttelte den Kopf. »Kein zurechnungsfähiger Mensch kann wollen, dass jemand, der imstande ist, im Alleingang aus einer Laune heraus eine ganze Stadt zu vernichten, frei herumläuft. Der ganze Kontinent Eruvia will mich sicher in den Stallungen verwahrt wissen – oder noch besser tot.«
»Ich will dich weder verwahrt noch tot sehen«, protestierte ich.
»So?« Skeptisch zog Zaira eine Braue hoch. »Wenn ich beschließe, es einfach darauf ankommen zu lassen, davonzulaufen und mich zu verstecken, was würdest du dann tun?«
Das war eine unangenehme Frage, über die ich mir in den letzten paar Wochen häufig den Kopf zerbrochen hatte. Nicht zuletzt, weil es mir schwerfiel, mir eine Zukunft auszumalen, in der Zaira damit zufrieden wäre, lange Zeit in den Stallungen eingesperrt zu sein. »Ich versuche, eine Möglichkeit zu finden, dass du auf legale Art da rauskommst. Ich versuche, den Dogen und den Rat zu überzeugen, dich gehen zu lassen.«
»Die werden mich nie gehen lassen, und das weißt du auch.«
»Tja, dann werde ich eben meinen Einfluss nutzen und tun, was ich kann, um das Imperium daran zu hindern, sich deiner zu bemächtigen. Damit du in Sicherheit bist.« Mein Herz schlug schneller angesichts der inhärenten Rebellion in dieser Aussage; meine Pflicht als Falknerin würde von mir verlangen, dass ich half, sie wieder aufzuspüren.
Andererseits war ich mehr als nur eine Falknerin.
»In Sicherheit?« Zaira stieß ein bellendes Gelächter hervor. »Wo ich bin, gibt es keine Sicherheit. Ich bin Salz gewordene Gefahr – gib mich irgendwo dazu, und ich mache es erst richtig interessant.«
»Ich kann nicht bestreiten, dass das eine recht zutreffende Beurteilung sein dürfte. Aber falls du wegläufst, wo willst du dann hin? Was willst du tun?«
Zaira trat schweigend in den Sand und setzte eine finstere Miene auf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn ich es wüsste, hätte ich es schon getan. Aber der erste Schritt ist ohnehin, mein Feuer unter Kontrolle zu bekommen. Danach kann ich mir dann überlegen, was ich als Nächstes tue.«
»Also wirst du nur so lange bei den Falken bleiben?« Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Natürlich wollte ich auch, dass Zaira frei war, und mein Leben würde ohne sie zweifellos ruhiger verlaufen. Aber das wäre eine einsame Ruhe.
»Kommt darauf an.« Zaira senkte die Stimme. »Nach diesem Schwachsinn in Ardence habe ich mir ein Versprechen gegeben. Sollte der Doge mir befehlen, Leute zu verbrennen, die das nicht verdient haben, ist die Grenze erreicht. Dann bin ich weg.«
Ich nickte. »Ich verstehe. Aber was ist, wenn er dir befiehlt, gegen Vaskandar vorzugehen? Was dann?«
»Wenn die bei uns einmarschieren, ist das etwas anderes.« Sie gab sich der Vorstellung von einem Krieg zwischen dem Imperium und seinem mächtigsten Nachbarn gegenüber so gleichgültig, als handelte es sich lediglich um ein ärgerliches Insekt. »Ich habe von den runzligen alten Relikten in den Stallungen Geschichten über den Dreijährigen Krieg gehört. Großväter, die in ihren Betten von Brombeerranken erdrosselt wurden, Kinder, die man an Bären verfütterte – die Hexenlords kennen keine Gnade. Wenn die unsere Grenze übertreten, dann werde ich ihnen zeigen, dass sie nicht die einzigen Dämonen in den Neun Höllen sind!«
Vor uns blieb Marcello auf der felsigen Erhebung auf der Nehrung stehen, als hätte ihm der Wind ein Tor vor der Nase zugeschlagen.
»Was ist das da im Wasser?« Furcht raubte seiner Stimme die Farbe.
Jerith und Balos sprangen neben ihm hinauf und blickten zu der anderen Seite des Felsens hinab. Balos schlug eine Hand vor den Mund; Jerith fluchte.
Zaira und ich wechselten einen kurzen Blick und rannten los, um zu den anderen aufzuschließen.
Zaira hatte den Felsen zuerst erklommen, und ihre Röcke peitschten hinter ihr durch die Luft. Sie schaute nur kurz zum Wasser hinab und nickte dann entschieden, ganz so, als hätte sich ein längst gehegter Verdacht bestätigt.
»Tot«, sagte sie.
Ich kletterte zu den anderen auf die niedrige Felsenkuppe hinauf und erkannte, was sie betrachtet hatten.
Etwas dümpelte an den Felsen, gefangen von der steigenden Flut. Schwarzes Wasser plätscherte über leuchtend scharlachrote Wolle. Ich erhaschte noch einen Blick auf dunkles Haar, das sich wie Seegras auf dem Meer ausbreitete, auf aufgedunsene weiße Finger und den Schimmer der goldenen Bordüren an einer allzu vertrauten Uniformjacke. Dann musste ich mich abwenden, und ich presste die Arme auf meinen rebellierenden Magen.
»Grazie der Barmherzigkeit«, flüsterte ich.
»Das ist einer von uns«, sagte Marcello erbittert. »Ein Falkner.«
*
Ich brachte es nicht über mich, Marcello, Zaira und Balos zu helfen, den Leichnam aus dem Wasser zu ziehen. Als Zaira mich als verweichlicht bezeichnete, nickte ich nur mit fest zusammengepressten Lippen und wandte den Blick ab.
Wenigstens behielt ich mein Abendessen bei mir. Als Jerith aus dem Wald zurückstolperte, wischte er sich den Mund ab und sah noch blasser aus als sonst.
»Ach, dieser arme Kerl«, krächzte er.
»Wer ist er?«, fragte ich und sah mich nervös zu der Stelle um, an der sich die anderen über die Leiche beugten. »Haben Sie ihn erkannt?«
»Nein. Dafür ist er zu zernagt gewesen. Aber sein Name sollte auf seiner Uniform stehen.« Jerith sank in den Sand und legte die Stirn auf seine Knie. »Ich habe kein Problem mit Toten. Hab schon Dutzende gesehen. Blut, furchtbare Verbrennungen, das macht mir nichts aus. Aber eine Wasserleiche, die tagelang im Meer gelegen hat, das ist etwas anderes.«
Ich nickte mitfühlend. Den Grazien sei Dank, dass mir der Wind ins Gesicht blies und die todesgeschwängerte Luft davontrug.
Die anderen richteten sich wieder auf. Balos blieb mit gesenktem Kopf bei dem toten Mann stehen. Marcello ging an uns vorbei zum Wasser und wusch sich die Hände in der sauberen, salzigen Lagune. Sein Gesicht sah abgespannt und gequält aus. Der Schmerz, der an seinen attraktiven Zügen zerrte, bohrte sich wie ein Messer in mein Inneres. Ich ging auf ihn zu.
Zaira stapfte herbei und wischte sich die Handflächen an ihren Röcken ab.
»Tja«, sagte sie, »das nenne ich aufgedunsen. Der hat schon mindestens eine Woche im Wasser gelegen.«
Jerith hob den Kopf und fluchte. »Eine Woche?«, fragte er. »Verdi!«
Marcello drückte den Rücken durch. »Ich weiß. Das ist zu lang. Sein Falke muss auch bereits tot sein.«
»Alle Höllen!« Daran hatte ich gar nicht gedacht. Wenn Falkner starben, blieben ihren Falken nur ein paar Tage, um sich ein neues Geschüh zu verschaffen, oder die scheinbar harmlosen, hübschen goldenen Armreifen trieben ihre tödliche Magie in die Adern ihrer Träger und bescherten ihnen einen langsamen Tod.
So etwas sollte im Grunde niemals passieren. Zumindest glaubte Marcello, dass das lediglich eine Vorsichtsmaßnahme war, um Verbrechern oder fremden Mächten den Ansporn zu nehmen, Falkner zu töten. Ich jedoch hegte den Verdacht, dass der Doge es vorzog, den Tod eines Falken in Kauf zu nehmen, ehe er in feindliche Hände geraten konnte.
»Wer war das?«, fragte Jerith mit brüchiger Stimme.
»Anthon. Er wurde ein Jahr nach mir zum Falkner.« Marcello starrte über die Lagune zu den Stallungen hinüber. »Sein Falke war Namira, eine Artefaktorin aus Osta. Sie hatten sich beurlauben lassen, um ihre Familie zu besuchen, aber anscheinend haben sie es nie auf ihr Schiff geschafft.«
»Was ist passiert?« Ich sah mich zu Balos um, der immer noch still und ehrwürdig bei dem Toten stand; das klägliche, scharlachrote Bündel lag jenseits der Felsen und außerhalb meines Blickfelds. »Ist er ertrunken?«
»Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten«, sagte Marcello knapp. »Er wurde ermordet.«
Betroffenheit hing wie ein Leichentuch über unserem Tisch bei Dama Auricas Abendgesellschaft. Marcello sprach kaum ein Wort, und die Dienstboten räumten die Teller der ersten beiden von vierzehn geplanten Gängen an seinem Platz beinahe unberührt ab. Zaira hingegen fiel noch ergrimmter als sonst über ihr Essen her. Marcellos Schwester Istrella beugte sich über einen kleinen Haufen fummeliger Artefaktionsstücke, die sie in ihrer seidenen Tasche mitgebracht hatte. Mit sorgenvollem Stirnrunzeln verdrehte sie ein Stück Draht. Eine alte Matrone am Nebentisch rümpfte die Nase ob dieses Benehmens und bedachte sie mit einem tadelnden Seitenblick. Aber das war eben Istrella, wie sie leibte und lebte.
Ich wagte nicht einmal den Versuch, selbst eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ich hatte den ermordeten Falkner und seinen wahrscheinlich ebenfalls toten Falken gerade gut genug gekannt, um ihren Namen Gesichter zuordnen zu können. Anthon hatte sich einen Bart stehen lassen, den er ständig rieb, wenn er sprach. Namira war so alt gewesen wie meine Mutter und hatte leuchtende, scharfe Augen und kurze, eisengraue krause Locken gehabt. Doch sowenig ich sie auch gekannt hatte, kam es mir doch falsch vor, gerade einen Tag nachdem wir die Leiche gefunden hatten, einem Fest beizuwohnen.
Die Bediensteten trugen einen Zwischengang mit Nüssen auf, eine reichliche Ernte diverser Sorten, kunstvoll mit Blumen und Grün auf einer silbernen Platte angerichtet. Zaira zupfte eine Walnuss heraus; das harsche Knirschen, als sie die Schale knackte, zerrte so sehr an meinen Nerven, dass ich die Stille nicht länger ertrug.
»Gibt es schon einen Verdacht, wer das getan haben könnte?«, fragte ich Marcello.
Er blickte auf. Die dunklen Schatten unter seinen Augen deuteten darauf hin, dass er nicht viel geschlafen hatte. Ich hasste es, die sonst so klaren Züge so müde und ausgezehrt vor mir zu sehen, und ich wünschte, ich könnte einfach die Hand ausstrecken und die Sorgenfalten von seiner Stirn streichen.
»Nein«, sagte er. »Es ergibt keinen Sinn. Namira war Artefaktorin. Sie hat Schutzbanne entworfen und neue Falken unterrichtet. Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand ihren Tod oder den des armen Anthon gewollt haben könnte.«
Zaira starrte finster auf ihren Teller. »Den Mistkerl, der das getan hat, würde ich zu gern in die Finger kriegen. Namira war in Ordnung.« Ein scharfes Knacken unterstrich ihre Worte, und sie warf sich eine weitere Nuss in den Mund.
»Meine Mutter verdächtigt Vaskandar.« Ich warf einen Blick zu dem vaskandrischen Botschafter, der drei Tische weiter sein Glas erhob und zwei wohlhabenden Importeuren zuprostete. »Schon weil sie immer noch ihre Truppen an unsere Grenze verlagern, obwohl der Herbst bevorsteht. Das bedeutet, dass sie eindeutig irgendetwas im Schilde führen.«
»Ich begreife nicht, welchen Vorteil es ihnen einbringen könnte, eine einzelne Artefaktorin und ihren Falkner umzubringen«, bemerkte Marcello mit nachdenklicher Miene.
»Namira war eine sehr begabte Entwicklerin und auf Runenartefaktion spezialisiert«, stellte ich fest. »Vielleicht hat sie an einem Projekt gearbeitet, das Vaskandar Sorgen bereitet hat, möglicherweise eine neuartige Waffe oder eine Falle für das Schlachtfeld. Wir sollten ihre Notizen nach Hinweisen durchsuchen.«
»Du hast stets so gute Ideen, Amalia.« Marcello lächelte wehmütig. »Das ist eines der Dinge, die ich an dir liebe.«
Die Worte trafen mich trotz seines beiläufigen Tons wie ein Blitzschlag. Liebe.
Er hatte es seit jenem Moment in Ardence, als ich wegen eines Gifts im Sterben lag und wir uns verabschiedeten und kaum Hoffnung hatten, einander noch einmal zu sehen, nicht mehr ausgesprochen. Ich glaube, ich könnte dich lieben. Ich hatte versucht, das zu vergessen; die Umstände waren schließlich erdrückend gewesen. Und es wäre närrisch, bei der Frage zu verweilen, ob er mich liebte oder ob ich ihn liebte, nachdem ich die politische Entscheidung getroffen hatte, ungebunden zu bleiben, zumindest vorerst.
Was mich zu einer Närrin machte, denn natürlich dachte ich seither an beinahe jedem Tag in der Woche daran.
»Namira arbeitete gerade an einigen von diesen wundervollen Spiralrunen, die man in den Mauerbildern alter Gruften in Osta finden kann. Sie wollte sie modifizieren«, warf Istrella überraschend ein. »Sie hatte vor, weitere Nachforschungen in Osta anzustellen. Ich war ziemlich neidisch; irgendwann will ich mir dort die artefaktischen Filigranarbeiten aus Draht im königlichen Palast ansehen.«
»Vielleicht können wir gemeinsam hinfahren«, schlug ich vor, und Istrella schenkte mir ein Lächeln.
»Ich hätte wissen müssen, dass sie verschwunden waren.« Marcello sprach so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. »Sie hätten schon vor Tagen in Osta eintreffen sollen. Aber weil Namira beurlaubt war, habe ich nicht erwartet, dass sie sich melden.« Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einer erbitterten Linie zusammen.
»Du darfst dir keine Schuld geben«, sagte ich und bemühte mich um einen Ton, der vielleicht sanfter war, als klug gewesen wäre.
»Wer sagt, ich würde mir die Schuld geben?« Er versuchte sich an einem wenig überzeugenden Lächeln.
»Jeder, der dich kennt.«
»Für die Sicherheit der Falken bin ich verantwortlich.« Er rieb sich die Stirn. »Besonders nach meiner Beförderung.«
»Beförderung! Du hast mir gar nicht erzählt, dass du befördert wurdest.« Mir waren ein paar zusätzliche Litzen an seinem Kragen aufgefallen und noblere Falkenkopfknöpfe, aber ich hatte angenommen, er trüge lediglich eine neue Paradeuniform.
Er hatte es mir nicht erzählt. Diese Erkenntnis versetzte mir einen Stich und bohrte sich in meinen Brustkorb. Vielleicht war er nur zu beschäftigt gewesen, aber vielleicht hielt er mich auch auf Distanz.
Strahlend vor Stolz blickte Istrella von dem Draht auf, den sie wickelte. »Ja, er ist nun Hauptmann Verdi. In den Stallungen ist er damit nur noch Oberst Vasante unterstellt. Er kann jetzt die Mittel für meine Projekte selbst bewilligen! Das finde ich wunderbar. Er stellt nicht zu viele Fragen wegen der Sicherheitsvorkehrungen.«
Marcellos Augenbrauen zuckten alarmiert in die Höhe. »Das sollte ich vielleicht ändern.«
»Meinen Glückwunsch«, sagte ich und hob mein Glas, fest entschlossen, die Kränkung nicht in meinem Lächeln durchscheinen zu lassen. »Ich weiß, du hast schon länger darauf hingearbeitet.«
Marcello zuckte mit den Schultern und zupfte verlegen an den Litzen seines Kragens. »Danke. Allerdings musste ich jetzt schon feststellen, dass das nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt hatte.«
»So?« Ich zog fragend eine Braue hoch. »Mehr Arbeit? Mehr Politik?«
»Mehr Schuld.« Er verzog das Gesicht. »Oberst Vasante ist anscheinend der Meinung, unser Umgang mit der Lage in Ardence hätte gezeigt, dass ich bereit bin, größere Verantwortung zu übernehmen. Aber ich fürchte, ich enttäusche sie schon jetzt. Nun, da Vaskandar sich auf einen Krieg vorbereitet, hätte ich zusätzliche Gardisten für alle Falken, die außerhalb der Stallungen unterwegs sind, abstellen müssen.«
»Tritt dir ruhig selbst in die Weichteile, wenn du unbedingt willst, aber ich wäre eher dafür, seiner Öligen Exzellenz hier die Schuld zuzuweisen«, grollte Zaira und deutete mit einer Kopfbewegung auf den vaskandrischen Botschafter, der sich gerade erhoben hatte, um eine Landsmännin zu begrüßen, und dabei liebenswürdig mit dem Kopf nickte. »Er verschwindet immer wieder in einem Nebenraum, um mit irgendwelchen Leuten zu reden.«
»Tatsächlich?« Ich verdrehte mir den Hals, um einen Blick auf ihn zu werfen. Die Grazien wissen, dass ich ihn auch hätte im Auge behalten müssen, statt mir die Aufmerksamkeit von Erinnerungen an den Tod und verwesende Leiber vernebeln zu lassen.
Er war ein Mann in mittleren Jahren, der aussah, als hätte er einmal Muskeln besessen, sie aber verkommen lassen. Ein kräftiger Bart bildete einen Kontrapunkt zu der kahlen Stelle, die jedes Mal aufblitzte, wenn er den Kopf beugte. Selbst seine Garderobe wirkte wie ein Kompromiss: eine Brokatjacke im raverranischen Stil in vaskandrischem Waldgrün. Ich suchte in meinem Gedächtnis nach seinem Namen und kramte ihn schließlich aus einer Erinnerung an meinen letzten Besuch in der Botschaft hervor, als ich an einer wahrlich zermürbenden Festivität mit Prinz Ruven hatte teilnehmen müssen: Botschafter Varnir.
Zaira hatte recht; Varnir deutete auf eine Tür auf der anderen Seite von Dama Auricas Speisesaal, und gleich darauf bahnte er sich mit seiner Begleiterin – eine große, elegante Dame in einem langen Ledermantel mit einer kantigen vaskandrischen Stickerei – einen Weg zwischen den Tischen hindurch.
»Ich würde einiges darum geben, mit anzuhören, worüber die reden«, bekundete ich.
Istrella blickte ruckartig von ihrer Arbeit auf. Marcello hatte sie überzeugt, ihre artefaktische Brille daheim zu lassen, und das Magiermal in ihren Augen trat leuchtend golden hervor und verlieh ihnen einen fiebrigen Glanz. »Oh! Wirklich? Lass mich mal sehen, was ich tun kann.«
Summend zog sie eine kleine Zange hervor und fing an, Draht um ihren Dessertlöffel zu wickeln. Marcello und ich wechselten einen warmherzigen Blick; wenn man ein Problem zu lösen hatte, war auf Istrella immer Verlass. Sie steckte ein paar Perlen auf den Draht, zog eine Nadel aus ihrem widerspenstigen Haarwust und tauchte sie in ein Tintenfässchen aus ihrer Tasche ein. Binnen weniger Augenblicke hatte sie einen einfachen Kreis mit einigen Runen auf der Rückseite ihres Löffels angebracht.
»Ist das ein Kreis, der Geräusche verstärken kann?«, fragte ich beeindruckt. Wir hatten ein paar davon in den Lauschposten in unserem Palast, aber ich hatte noch nie gehört, dass irgendjemand so ein Ding in dem Tempo eines Schnellzeichners hergestellt hätte.
»Ja.« Istrella strahlte. »Ich habe dir ein Lauschgerät gemacht!« Sie hielt mir den Löffel hin, wie eine Lieblingstante einem Kind eine Süßigkeit anbieten mochte. »Es ist ein bisschen fragil, aber solange es nicht bricht, dürfte es gut genug funktionieren.«
»Istrella, du bist ein wahres Wunder.«
Zaira schob grinsend ihren Stuhl zurück. »Also dann, lass uns gehen und sehen, welches Geheimnis unseren Diplomaten veranlasst, sich von einem kostenlosen Abendessen abzuwenden.«
*
Zaira führte mich durch einen Gang, der an dem Raum vorbeiführte, in dem unser Lauschopfer verschwunden war. Kritisch beäugte sie den kurzen, unscheinbaren Korridor; er verband den Speisesaal mit Räumlichkeiten, die nach Küche rochen. Der einzige Zierrat bestand aus kleinen immergrünen Topfpflanzen und einem leicht trüben Spiegel in einem kunstvollen Silberrahmen.
»Gut.« Sie stellte sich vor den Spiegel und fing an, an ihrem Haar herumzufummeln, zupfte an den juwelenbesetzten Nadeln und den kunstvollen Spirallocken, die zu kreieren meine Zofe eine halbe Stunde gebraucht hatte. »Du lehnst dich an die Wand, als würdest du gelangweilt auf mich warten, und findest heraus, was das verrückte Mädchen mit Besteck anzufangen weiß.«
Ich legte Istrellas Löffel an die Wand. Sofort ertönten blecherne Stimmen.
»Ihr müsst verstehen, dass die Situation heikel ist …« Das klang ganz nach dem Botschafter.
»Gelangweilt warten«, blaffte Zaira mich an, ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden.
»Oh. Richtig.« Ich lehnte mich an die Wand und polsterte meinen Kopf mit beiden Händen, um unauffällig mein Ohr an den Löffel zu halten.
»Ich will alle Informationen haben, die Ihr mir über diese Leute liefern könnt.« Das war die Frau. Ihre Stimme klang flach und kalt, bar jeglichen Akzents und völlig tonlos, so zweckmäßig wie ein gewöhnliches Messer. »Ihre Bewegungen, ihre Verbindungen, ihre Strukturen.«
»Ich verstehe.« Papier raschelte, und der Botschafter schwieg einen Moment lang. Dann seufzte er. »Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, ich kann Euch in dieser Sache nicht helfen. Ich bin ein Diplomat, kein Spion.«
»Ihr dient den Hexenlords.« Sogar über den Löffel konnte ich die Drohung in ihrer Stimme hören.
»Ja, gewiss«, beschwichtigte der Botschafter. »Aber, vergebt mir, Ihr seid kein Hexenlord, und ich wage nicht, das Risiko auf mich zu nehmen, bei den Raverranern noch mehr Ärger zu provozieren. Meine Position …« Seine Stimme verhallte. Ich änderte die Haltung, um mein Ohr noch näher an den Löffel heranzubringen, und ignorierte den finsteren Blick, den Zaira mir zuwarf, während sie so tat, als würde sie ihre Lippenfarbe kontrollieren.
»Das ist ein Befehl der Herrin der Dornen«, fauchte die Vaskandranerin. »Sie wird keine Weigerung dulden. Es steht mehr auf dem Spiel als nur Eure Position.«
Die Herrin der Dornen. Etwas an diesem Namen kam mir vertraut vor, aber die Erinnerung entzog sich mir, tanzte stets knapp außerhalb der Reichweite meines Verstands.
Ein tiefer Seufzer vibrierte durch Istrellas Gerät. »Nun gut, nun gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich bitte Euch um Besonnenheit. Um unser beider willen.« Was immer er für ein Papier in der Hand hielt, es knisterte erneut. »Wartet. Einige von diesen Leuten sind heute Abend hier.«
»Ich weiß«, entgegnete die Frau. »Besser, Ihr denkt gar nicht daran.«
»Warum ist der hier eingekreist?«
Für einen Augenblick herrschte Stille. Ich hielt den Atem an, bemüht, die Antwort nicht zu verpassen.
»Das geht nur mich und meine Herrin an«, sagte die Frau schließlich.
Der Botschafter murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann, lauter: »Darum seid Ihr hier, nicht wahr? Wagt es nicht, während dieses Essens irgendetwas zu tun! Ihr bringt uns nur beide hinter Gitter.«
»Ihr habt mir gar nichts zu sagen.«
»Ihr werdet all die Abkommen ruinieren, an denen ich für die anderen Hexenlords arbeite!« Dann erklang ein reißendes Geräusch, als hätte er das Papier zerfetzt. »Ihr mögt Anweisungen von einer Adelsherrin erhalten haben, aber ich diene allen siebzehn Hexenlords. Wenn Ihr mitten in meine Verhandlungen platzt und anfangt, ernste Zwischenfälle zu provozieren, dann werde ich mich vor all den anderen dafür verantworten müssen … Wo geht Ihr hin? Ich rede noch mit Euch!«
Zaira seufzte scharf. »Ich habe dir doch gesagt, ich bin in einer Minute fertig!«
Ich erschrak und riss Istrellas Löffel von der Wand. Ein Diener kam aus der Küche und eilte mit einem Tablett Schüsseln voller duftender Fischcremesuppe an uns vorbei.
»Die Grazien weinen bitterlich. Du bist ein hoffnungsloser Fall«, murrte Zaira. »Wenn du so reagierst, kann ich dich beim nächsten Mal auch einfach treten.«
»Tut mir leid.«
»Hast du erfahren, was du wissen musst? Viel länger kann ich das nicht mehr vortäuschen.« Anerkennend nickte sie ihrem Spiegelbild zu.
Ich schaute an ihr vorbei zum großen Saal und sah den Botschafter zurück zu seinem Tisch stolzieren, das Gesicht vor Zorn gerötet. Von der Frau war nichts zu sehen.
»Wenn es möglich ist, sollten wir in diesen Raum da rein«, sagte ich. »Sie haben über eine Namensliste gesprochen, und es hat sich angehört, als ob er sie zerrissen und weggeworfen hätte. Falls wir die Einzelteile finden, könnte sie uns etwas mehr verraten.«
»Das dürfte kein Problem sein.« Mit einer Kopfbewegung deutete Zaira in Richtung Speisesaal. »Komm mit.«
Sie führte mich nicht zu der Nebentür, sondern zu einem Tisch in der Nähe, auf dem ein Gästebuch mit Goldschnitt für Grüße an unsere Gastgeberin bereitlag. Mit gespielter Neugier beugte sich Zaira über das Buch. Ich hatte durch unsere Abenteuer in Ardence gelernt, einfach mitzuspielen, und achtete sorgsam darauf, die Tür nicht anzusehen, so gern ich es auch getan hätte.
»Zu viele Leute, die uns zusehen«, murmelte Zaira. »Warte hier und schreib was in das Gästebuch, damit es aussieht, als wärst du beschäftigt; ich gehe und sorge dafür, dass die in eine andere Richtung gucken.«
Pflichtschuldig beugte ich mich über das Gästebuch, als sie sich entfernte, wenn auch ein wenig beklommen, weil ich mich fragte, was sich Zaira wohl unter einem geeigneten Ablenkungsmanöver vorstellen mochte. Dama Aurica war eine der Personen, die meine Falken-Reform unterstützten, und das Letzte, was ich wollte, war, ihre Abendgesellschaft zu ruinieren.
Ich tauchte die Gästebuchfeder mit der silbernen Spitze in das bereitstehende Tintenfass und fing an, eine Nachricht zu schreiben, in der ich Dama Aurica sowohl für dieses Fest als auch für ihren Einsatz für eine bessere Zukunft für die Falken des Imperiums dankte. Es konnte schließlich nicht schaden, dort einen Hinweis auf die Reform zu hinterlassen, wo andere Gäste es sahen.
»Ah, Dama Amalia«, ertönte eine weiche, sanfte Stimme neben mir. »Ihr verfolgt also immer noch Euren edlen Traum, die Falken zu befreien, wie ich sehe.«
Ich erschrak und verteilte Tintentropfen auf der Seite. Ich hatte keine Ahnung, wer da so dicht neben mir aufgetaucht war, also drehte ich mich um, um den Sprecher anzublicken. Als ich sah, mit wem ich es zu tun hatte, hätte ich beinahe die Feder fallen lassen.
Lord Caulin, ein mausgrauer, schmächtiger Mann, der offiziell dem Dogen als juristischer Berater diente. Doch dank der Position meiner Mutter im Rat der Neun kannte ich seine wahre Rolle: Er war der so genannte Stille Kanzler, eine inoffizielle, aber hohe Stellung, in der er mit der Aufsicht über die imperialen Assassinen betraut war und Verbindungen zur kriminellen Unterwelt unterhielt. Er stand in dem Ruf, seine Ziele still, effizient und absolut skrupellos umzusetzen. Dabei strahlte er eine Mischung aus Belanglosigkeit und Schüchternheit aus, die meinen Blick ständig abgleiten lassen wollte, doch ich war klug genug, ihn nicht zu unterschätzen. Dieser Mann war gefährlich.
Er konnte aber auch nützlich sein. Zweifellos waren seine Fähigkeiten besser geeignet als meine, wenn es darum ging, die Absichten des Botschafters und dieser Dame aufzudecken. Aber in meinem Kopf blitzte eine Erinnerung auf: meine Mutter, die der Marquise von Palova gegenüber den Kopf schüttelte, nachdem Letztere vorgeschlagen hatte, Caulins Dienste im Zuge einer Informationsbeschaffung in Anspruch zu nehmen. Dieser Mann ist kompetent, aber wann immer er an einem Unterfangen beteiligt wird, kostet das Menschenleben.
Vielleicht war es doch das Beste, nicht zu erwähnen, warum ich in der Nähe dieser Tür herumlungerte.
»Selbstverständlich verfolge ich das noch«, sagte ich. »Die Träger des Magiermals verdienen die gleiche Wahlfreiheit wie alle anderen Bürger des Imperiums.«
»Oh, gewiss tun sie das.« Lord Caulin gluckste, als hätte ich gescherzt. »Aber sagt mir, Dama Amalia, denkt Ihr wirklich, die Versammlung erlässt Gesetze, um den Leuten das zu geben, was sie verdienen?«
»Es ist unsere Pflicht, zum Besten von Raverra und dem Imperium zu regieren«, sagte ich angespannt. Am liebsten hätte ich den Raum nach Zaira abgesucht, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen.
Lord Caulin neigte seinen Oberkörper in einer ehrerbietigen halben Verbeugung. »Exakt. Und die Träger dieses Magiermals sind die machtvollen Werkzeuge, die uns befähigen, dieses Gut zu schützen. Ist es nicht so?«
»Menschen sind keine Werkzeuge, Lord Caulin.«
Er zog die dünnen Brauen hoch. »Was für eine wunderliche Ansicht, aber, ach, das ist der Idealismus der Jugend.« Er schüttelte den Kopf. »Eines Tages werdet Ihr verstehen; immerhin seid Ihr die Erbin Eurer Mutter.«
Er behandelte mich wie ein Kind. Vor ein paar Monaten hätte ich es vielleicht nicht anders verdient, aber in Ardence hatte ich mich gut genug geschlagen.
Ich reckte das Kinn vor. »Mitgefühl ist nicht das Gleiche wie Naivität.«
»Wenn Ihr es sagt, gnädige Frau.« Lord Caulin verbeugte sich tief vor mir. »Ich hoffe und bete, Ihr müsst niemals am eigenen Leib erfahren, dass es sich anders verhält. Genießt den Abend.«
Stirnrunzelnd sah ich ihm nach, als er davonschlich. Sein schwarzer Samtumhang und die Stiefelhosen hoben sich durch ihre Schlichtheit von all den bunten Brokatstoffen und dem farbenfrohen Samt der übrigen Gäste ab. Doch obgleich ich versuchte, seinen Weg durch den Saal zu verfolgen, verlor ich ihn schon im nächsten Moment aus den Augen.
Dann erregte ein lauter Krach meine Aufmerksamkeit. Ich wirbelte herum und sah einen jungen Diener, der sich mit hochrotem Kopf bückte, um ein heruntergefallenes Tablett aus einem beachtlichen Haufen Keramikscherben zu pflücken.
Zaira zupfte an meinem Arm. »Du sollst dich nicht ablenken lassen. Komm.«
Mir blieb kaum Zeit, die Feder in ihren Halter zurückzustellen, ehe sie mich durch die gerade einen Spalt weit geöffnete Tür zerrte und sie umgehend hinter uns schloss.
Der Raum war für genau die privaten Zwecke ausgelegt, für die ihn der Botschafter genutzt hatte, und vielleicht auch noch für intimere Zusammentreffen. Ein paar Stühle standen dicht an dicht in einem dem Austausch zuträglichen Kreis um einen kleinen goldenen Tisch herum. In Wandnischen verbreiteten Leuchten einen sanften Schein, und auf dem Tisch verströmte eine Öllampe ein wärmeres, aber unsteteres Licht.
Ich verdrängte die sorgenvollen Gedanken darüber, was es mit Lord Caulins subtiler Warnung auf sich haben mochte. Wir hatten vielleicht nicht viel Zeit, ehe der Botschafter merkte, dass wir hier drin waren – und ich war auch nicht besonders interessiert daran, mich Caulin gegenüber zu rechtfertigen.
»Such das Dokument«, drängte ich Zaira. Die sank auf den Teppich und starrte unter die Stühle.
Mein Blick streunte zu dem kleinen Kamin mit dem kunstvoll geschnitzten Sims. Feuerholz war säuberlich auf dem Rost aufgeschichtet, aber noch nicht entzündet worden.
Nun, ich wusste, was ich mit einem belastenden Dokument tun würde. Ich ging hinüber, um einen genaueren Blick in die Feuerstelle zu werfen, und tatsächlich lag in der Asche frisch zusammengeknülltes Papier.
Ich zog es hervor und breitete die beiden zerknitterten Hälften einer Liste auf dem Tisch aus, während Zaira mir über die Schulter blickte.
Etwa zwanzig Namen standen dort in plumper Schrift. Der dritte war mit nachlässiger Hand eingekreist worden.
Istrella Verdi.
»Alle Höllen«, hauchte ich.
*
Die Liste mit der Faust umklammernd, jagte ich aus dem Nebenraum, nur um meine schlimmste Befürchtung bestätigt zu sehen: Istrellas Stuhl war leer, und ihr Artefaktionszubehör lag noch immer an ihrem Platz auf dem Tisch. Marcello saß allein da und stocherte wenig begeistert mit dem Löffel in seiner Fischcremesuppe herum. Mir wurde so flau, als wäre ich am Rand eines Kanals von den Steinen abgerutscht.
»Wo ist Istrella?«, herrschte ich ihn an.
»Im Damenabort. Warum?« Er erhob sich. »Ist sie …«
Zaira und ich warteten nicht, bis er seine Frage zu Ende gebracht hatte. Wir rannten durch den vollen Saal. Zairas Röcke streiften erschrockene Gäste; ich trug eine reich verzierte Brokatjacke und eine Hose – der Anlass war nicht so formell, dass er ein Kleid erzwang – und konnte mich leichter als sie zwischen den Stühlen hindurchschieben. Zur Abwechslung war ich ihr einmal voraus.
Als Vorraum für den Abort diente ein Ankleidezimmer, dessen Tür mit idyllischen Blättern und Blumen bemalt war. Ich stieß sie auf und platzte in einen luftigen Raum mit hohen Fenstern, deren hauchdünne Vorhänge sich in dem übel riechenden Abendwind wölbten, der vom Kanal hereinwehte. Mein Herz erstarrte augenblicklich zu einem scharfkantigen Eiskristall.
Istrella lag auf dem Boden wie eine welke Blume und hatte alle viere von sich gestreckt. Ein schwacher Pfefferminzgeruch hing in der Luft.
Die Vaskandranerin mit der kalten Stimme kniete über ihr, in der Hand einen glänzenden Dolch.
Die Vaskandranerin erhob sich und zog einen zweiten Dolch.
»Dama Amalia Cornaro.« Sie blickte mir in die Augen, so wachsam wie eine sprungbereite Katze. »Wie passend.«
Mein Puls tat einen Satz, und ich ergriff mein Leuchtmedaillon, doch in diesem Moment stürmte Zaira herein.
Istrellas Angreiferin fluchte und schoss mit wehendem dunklem Mantel und flatterndem blondem Zopf zum Fenster.
Ich achtete nicht weiter auf sie, sondern warf mich neben Istrella zu Boden und legte ihr eine Hand an den Hals. Warm und lebendig mit pulsierendem Blut und stetem Atem. Mir wurde vor Erleichterung ganz schwindelig.
Zaira jagte mit dem Messer in der Hand zum Fenster, riss die Vorhänge weg und lehnte sich hinaus in die Nachtluft. »Die Dämonen sollen dich holen, du Feigling!«
Ein Ruderer auf dem Kanal unter dem Fenster brüllte eine rüpelhafte Entgegnung.
»Kannst du sie noch sehen?«, fragte ich beklommen. »Soll ich dich entsiegeln?«
»Nein.« Zaira spuckte auf Dama Auricas Teppich. »Die ist weg.«
Marcello tauchte mit gezogener Pistole in der Tür auf, stieß einen erstickten Schrei aus und starrte seine Schwester an.
»Es geht ihr gut«, versicherte ich ihm hastig. »Man hat ihr nur ein Schlafgift verabreicht, darum ist sie bewusstlos.« Ich beschloss, ihm nicht zu erzählen, dass ich gehört hatte, das sei eine verbreitete Vorgehensweise unter Assassinen, die verhindern wollten, dass ihr Opfer durch Schreie auf sich aufmerksam macht.
Er kam herein, setzte sich zu ihr und hielt ihren Kopf. »Ich hätte sie begleiten sollen.«
»Zum Abort der Damen?« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und spürte, wie angespannt seine Muskeln waren. »Sie wird wieder gesund. Es ist nichts weiter passiert.«
Aber es wäre etwas passiert, schon in der nächsten Minute. Sie hätte so tot sein können wie der arme Anthon, der eine Woche im Wasser gelegen hatte. Ein Schauer rann über meinen Rücken.
Ich zweifelte nicht daran, dass Marcello das Gleiche dachte. So blass hatte ich ihn noch nie gesehen. Sacht schüttelte er seine Schwester. »Komm schon, Strella, wach auf«, murmelte er. »Es tut mir so leid.«
Ein dünner Speichelfaden rann über ihre Wange, aber sie rührte sich nicht.
Ich kauerte mich neben ihn, zögerte dann jedoch. Was geziemte sich, wenn man einen verstörten Freund trösten wollte und dieser Freund jemand war, den man geküsst, bei Hofe jedoch verleugnet hatte? Die Luft zwischen uns war einmal angefüllt gewesen mit verbotenen Möglichkeiten; nun stellte jeder Versuch, diesen kurzen Abstand zu überbrücken, ein Labyrinth aus Komplikationen dar.
Ich begnügte mich damit, ihm die Schulter zu tätscheln. »Sie wird bald aufwachen. Es geht ihr gut, und du kümmerst dich um sie.«
Die Lippen zu einer entschlossenen Linie zusammengepresst, nickte er. »Weißt du, wer das getan hat?«
»Vaskandar. Und das ist nicht alles.« Ich entknitterte die Liste, die ich immer noch in der Hand hielt, und breitete sie auf einem Toilettentisch aus. Die schlichten, klaren Federstriche lieferten einen Namen nach dem anderen, und manche davon waren mehr als nur ein bisschen vertraut.
Jerith Antelles. Terika. Istrella Verdi …
Ich schluckte. »Du stehst auch drauf, Zaira.«
Sie kam vom Fenster herüber. »Was? Wo?«
Ich zeigte auf ihren Namen. Sie konnte noch nicht richtig lesen, aber Terika hatte sie bereits die Buchstaben und ein paar Worte gelehrt, daher war ich ziemlich sicher, dass sie ihren Namen erkennen würde.
Zaira runzelte die Stirn. »Das da weiter oben, ist das Terikas Name?«
»Ja.«
Sie fluchte. »Niemand bedroht Terika. Ich brenne sie nieder, bis ihre Zähne schmelzen. Wer steht sonst noch drauf?«
»Falken von großer Bedeutung. Sämtliche Hexer und die Meister-Artefaktoren. Marcello, du solltest dich vergewissern, dass es all diesen Leuten gutgeht und niemand fehlt.«
»Sobald wir sicher zurück in den Stallungen sind«, versprach er in erbittertem Ton.
Ich ging die Liste weiter durch, las bis zum letzten Namen, Falke um Falke. Und dann verharrte mein Blick, als wäre er auf eine Ziegelmauer gestoßen.
Amalia Cornaro.
Zaira muss mir angesehen haben, dass etwas nicht stimmte. »Was ist los?«, fragte sie barsch.
»Das erzähle ich dir später.« Ich sprach so leichthin, wie ich nur konnte, obwohl die Sorge ihren schrillen Gesang in meinen Adern verbreitete, und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Marcello. Er musste sich jetzt nicht auch noch um mich ängstigen. Zaira grunzte zustimmend.
Ich faltete die Liste zusammen und steckte sie in die Tasche. »Wie geht es Istrella?«, fragte ich Marcello. »Irgendwelche Fortschritte?«
Er wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht. »Vielleicht ein Zucken. Sie schläft immer noch. Wer dieses Gift angemischt hat, besitzt eine Menge Macht.«
»Dann bleib du bei ihr.« Ich strich meine Jacke glatt und vergewisserte mich, dass das Leuchtmedaillon an meinem Hals hing. »Ich werde mich ein wenig mit dem vaskandrischen Botschafter unterhalten.«
Zaira und ich stürmten aus dem Ankleidezimmer, vorbei an unserer erkalteten Fischcremesuppe und den Tischen der anderen Gäste, die die Hälse verdrehten, um herauszufinden, was der Rummel zu bedeuten hatte, und geradewegs zum Tisch des Botschafters. Der zauderte inmitten einer Anekdote, die er den Leuten um sich herum erzählt hatte, als er uns kommen sah. Das Grinsen verschwand aus den ihn umgebenden Gesichtern, und die Herrschaften rückten samt ihrer Stühle ein Stück weit von ihm ab.
Gut. Sollte er ruhig Angst haben.
Er versuchte sich an einem angespannten Lächeln und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Dama Amalia Cornaro! Es ist mir ein Vergnügen!«
Ich maß ihn mit einem harten Blick. »Botschafter, wir müssen uns unterhalten.«
Seine Züge ordneten sich zu einem Ausdruck argwöhnischer Verständnislosigkeit an. Dann ließ er die Schultern hängen und seufzte schwer.
»Nun gut, nun gut. Begleitet mich, Dama Amalia, lasst uns ungestört reden.«
*
Ich schloss die Tür des Nebenzimmers selbst, um sicherzustellen, dass er kein artefaktisches Siegel anbrachte. Botschafter Varnir führte uns zu den Stühlen und verbeugte sich dabei ununterbrochen so tief, dass er mehr oder weniger in der Mitte abknickte.
»Bitte, meine Damen, machen Sie es sich bequem.«
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Ich glaube, ich stehe lieber. Was hat dieser Anschlag auf Istrella Verdi zu bedeuten?«
»Wie bitte? Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet.«
»Redet keinen Unsinn«, fauchte Zaira. »Wir wissen, dass Ihr Euch direkt vor dem Anschlag mit dieser Schlampe mit den Eisaugen in ebendiesem Raum unterhalten habt.«
Er verzog das Gesicht. »Ach, der Anschlag. Was für eine Schande. Ich hoffe doch, er ist fehlgeschlagen? Ist er?«
»Wäre er das nicht, würdet Ihr jetzt in Flammen stehen«, knurrte Zaira.
»Gewiss.« Er schluckte. »Ich glaube, Dama Aurica hält hier drin eine Flasche bereit. Stört es Euch, wenn ich …? Möchtet Ihr auch?« Er drehte sich zu einem reich verzierten Schrank um, stöberte kurz darin und brachte eine Flasche und drei Gläser zum Vorschein. Die kahle Stelle auf seinem Kopf glänzte vor Schweiß.
»Botschafter Varnir«, tadelte ich, »Ihr schindet Zeit.«
»Natürlich tue ich das, Dama Amalia. So, wie es jeder Mann täte, der sich überlegt, wie er seinen Kopf am besten auf dem Hals behalten kann.« Er schenkte sich ein Glas Rotwein ein, trank einen tiefen Schluck und füllte es gleich wieder nach. »Ich habe keinen Anschlag auf Eure Falkenfreundin befürwortet, im Gegenteil, ich habe mich vehement dagegen verwendet. Aber Ihr müsst verstehen, ich habe keinen Einfluss darauf, was Hexenlords ihren Agenten zu tun befehlen.«
»Also gebt ihr zu, dass Vaskandar tief genug gesunken ist, um Falken zu meucheln.«
»Vaskandar? Oh, nein, ganz und gar nicht.« Mit zitternder Hand bot er mir ein Glas Wein an. Ich nahm es und presste einen gewissen in Draht gewickelten und mit Artefaktionsrunen versehenen Ring dagegen; der Ring an meinem Finger blieb kühl, der Stein in der Mitte dunkel. Keine Alchemie erkennbar, aber das hieß nicht, dass der Wein kein gewöhnliches Gift enthalten könnte.
»Lügt mich nicht an«, sagte ich scharf. »Ich weiß, dass die Assassinin von der Herrin der Dornen geschickt worden ist.«
»Ach.« Varnir wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Welch kühne Beschuldigung! Ich würde nicht im Traum daran denken, dies zu bestätigen oder abzustreiten. Wie dem auch sei, die Handlungsweise eines Hexenlords repräsentiert nicht die ganze Nation Vaskandar. Ich fürchte, Ihr unterliegt einem recht verbreiteten Missverständnis hinsichtlich meines Landes.«
»Mir ist bekannt, dass die Hexenlords jeder für sich souverän über ihren jeweiligen Herrschaftsbereich gebieten«, entgegnete ich eisig. »Ihr müsst mich nicht über den grundlegenden Aufbau der vaskandrischen Gesellschaft unterrichten.«
»Dann versteht Ihr vielleicht«, erklärte Varnir, »dass jede Handlung, die Ihr meinem Land zuschreibt – von dem unglückseligen und unklugen Anschlag auf Eure Freundin über Handelsabkommen bis hin zu den Truppen, die sich an Eurer Grenze sammeln –, tatsächlich allein das Werk des einen oder anderen Hexenlords ist. Oder, manchmal, die Folge einer Kabale. Aber Ihr könnt dergleichen nicht Vaskandar als Ganzem zuschreiben oder gar zur Last legen. Und folglich, so hoffe ich doch, auch nicht seinem Botschafter.« Er lachte nervös.
Ich legte die Stirn in Falten. »Moment, das gilt sogar für die Truppen an der Grenze? Wollt Ihr mir erzählen, das sei ein Schachzug eines einzelnen Hexenlords und Vaskandar bereitet sich nicht auf einen Krieg gegen das Imperium vor?«
»Ach, gnädige Frau, was das betrifft, so kann ich unmöglich eine Aussage treffen.«
Zaira schob ihre spitzengesäumten Ärmel hoch. »Sag das Wort, und ich stecke ihn in Brand.«
Mit geweiteten Augen reckte er die Hände hoch, und der Wein in seinem Glas schwappte über den Rand. »Nein, bitte! Ich versuche nicht, etwas zurückzuhalten! Ich kann es nicht sagen, weil sie bisher noch kein Konklave gehalten haben.«
Ich wechselte einen Blick mit Zaira. »Konklave? Ist das nicht der vaskandrische Regierungsrat?«
»Nein, nein.« Varnir winkte mit beiden Händen ab. »Ihr Raverraner hättet gern, dass es Eurem Rat der Neun gleicht, aber Vaskandar hat keinen Regierungsrat. Niemand steht über den Hexenlords; ihre Herrschaft über ihr Reich ist unangreifbar. Aber wenn sie Unstimmigkeiten zu klären haben oder sich zu einem gemeinsamen Ziel zusammenschließen wollen – beispielsweise einem Krieg gegen das Erlauchte Imperium –, dann berufen die Hexenlords ein Konklave ein. Nichts wird entschieden, solange das nicht stattgefunden hat, was erst in etwa einem Monat geschehen wird.«
Ich stellte mein Glas ab, ehe es mir noch in der Hand zersprang. »Also könnte dieses Konklave auch beschließen, nicht in das Imperium einzufallen?«
»Oh, nein, nein, nein.« Er lachte höflich, als hätte ich nur einen dummen Scherz gemacht. »Wir haben eine ausreichende Anzahl Hexenlords, die fest entschlossen sind, in den Kampf zu ziehen, also ist das, wie ich Eurem Dogen auch zu erklären versucht habe, unausweichlich, fürchte ich. Andere wiederum haben mich gebeten, Raverra ihres Engagements für den Frieden zu versichern; aber jeder Hexenlord führt sein eigenes Heer.« Er lächelte mild. »Ihr Raverraner scheint Euch an der Gewissheit zu laben, dass Vaskandar keine Bedrohung für Euch darstellt, aber Euer Imperium hat sich nie allen siebzehn Hexenlords auf einmal stellen müssen. Was Ihr den Dreijährigen Krieg nennt, der vor fünfzig Jahren stattgefunden hat, das ging auf den Angriff dreier Hexenlords zurück, die auf eigene Faust handelten, ohne von den übrigen vierzehn unterstützt zu werden.«
Ein zarter Schauer schlich mit eisigen Pfoten über meine Schultern. Raverra hatte den Dreijährigen Krieg definitiv gewonnen, aber der hatte in den Ländereien an der Grenze eine Verwüstung hinterlassen, die zu überwinden Jahrzehnte gedauert hatte. »Und wie viele sind jetzt auf Krieg aus?«
Botschafter Varnir zog beide Brauen hoch. »Die Hexenlords beteiligen mich nicht an ihren Beratungen, gnädige Frau. Sie übermitteln mir kaum ihre Wünsche, und ich tue wirklich mein Bestes, um ihre Befehle umzusetzen und in ihrem Namen Abkommen zu verhandeln, ohne jemanden zu verärgern.«
»Das ist ein Scheißposten«, stellte Zaira fest. »Aber von uns solltet Ihr keine Gnade erwarten. Eine der Euren hat gerade versucht, unsere Freundin zu töten.«
»Eine furchtbare Idee war das. Aber ich war daran nicht beteiligt.«
»Mir ist aufgefallen, dass Ihr erschüttert seid«, bemerkte Zaira. »Ihr stammelt eine Geschichte zusammen, um sie Euren Freunden zu erzählen, rührt Euer Essen kaum an, vergesst sogar, uns zu warnen.«
»Das konnte ich nicht tun.« Er leckte sich die Lippen. »Einige meiner Herren sind vernünftiger als andere. Die Herrin der Dornen würde mich in ihr Reich schleifen und auf einem Dornenbaum aufspießen lassen, hätte ich ihre Pläne vereitelt.«
Nun fiel mir wieder ein, wo ich schon einmal von der Herrin der Dornen gehört hatte. Cousin und Cousine väterlicherseits in Callamorne, einem der Vasallenstaaten des Erlauchten Imperiums, hatten mit ihren grausigen Geschichten darüber, was Kindern widerfuhr, die sich in ihre Wälder verirrten, dafür gesorgt, dass ich als kleines Mädchen manche Nacht schlaflos in die Dunkelheit gestarrt hatte. Ich hatte mir die Decke ihres Gästebetts über den Kopf gezogen und mir einzureden versucht, die Herrin der Dornen wäre gar nicht real. Aber Botschafter Varnir erhielt offenbar Befehle von der Kreatur aus den Albträumen meiner jungen Jahre.
»Dann schlage ich vor, Ihr wählt eine weniger direkte Herangehensweise, wenn Ihr nicht in Ungnade fallen wollt.« Ich sprach in sachlichem Ton und füllte dabei sein Glas nach. »Warum sollte die Herrin der Dornen es auf eine vierzehn Jahre alte Artefaktorin abgesehen haben?« Istrella war eine außergewöhnlich begabte Artefaktorin – eine der wenigen Schülerinnen des Meister-Artefaktors, um genau zu sein, und eine aus gerade einer Handvoll, die imstande waren, die wirkungsvollsten Waffen des Imperiums herzustellen –, und ihr Bruder war nun stellvertretender Kommandant der Stallungen. Aber davon dürfte Vaskandar gar nichts wissen.
Zwar nahm Botschafter Varnir das Glas dankbar entgegen, doch er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Die Hexenlords offenbaren mir ihre Pläne nicht, gnädige Frau. Ich bin das, was Ihr einen Vivomanten nennen würdet, doch ich trage kein Magiermal, daher betrachten sie mich als einen Geringeren. Und ich habe festgestellt, dass ein sachkundiger Mangel an Neugier hinsichtlich der Angelegenheiten der Hexenlords für einen Mann in meiner Position eine unerlässliche Eigenschaft ist.«
»Ihr könnt von Glück reden, dass Eure Position nicht im Kerker ist«, knurrte Zaira.