Flieg, Krahwin! Flieg! - Viola Hilsenbeck - E-Book

Flieg, Krahwin! Flieg! E-Book

Viola Hilsenbeck

0,0

Beschreibung

Immer wieder wird Krahwin, ein halb verhungertes Häuflein Krähe, im Stich gelassen. Zuerst von seinen Eltern, dann von den Menschen, die zu seiner Familie geworden sind. Ob er jemals ein freies wildes Krähenleben führen kann, steht in den Sternen- wären da nicht seine neuen Freunde und der Glaube an die eigene Kraft. Dennoch kann er seine Menschen nicht vergessen ... ... und muss erkennen, dass die Dinge oft ganz anders liegen, als es zunächst schien. Eine ergreifende und gleichzeitig humorvolle Geschichte über Freundschaft, Loslassen aus Liebe und das Über-sich-selbst-Hinauswachsen. Band 1 der Krahwin-Reihe

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Viola Hilsenbeck wurde 1971 in München geboren und verbrachte eine glückliche Kindheit als Landkind in der Hallertau. Dort lebt sie auch heute noch, zusammen mit ihrer Familie und einigen vierbeinigen Freunden. In ihrem Debütroman »Flieg, Krahwin! Flieg!« findet sich ihr altes Haus mit Naturgarten als Kulisse wieder. Wie im Buch beschrieben, ist ihr Garten eine Zuflucht für Wildtiere. Dort geht es zwar meist nicht ordentlich zu, aber für jedes Tier ist der Tisch gedeckt. Im echten Leben ist die Autorin Grundschullehrerin und tut, was sie kann, damit aus Kindern Leseratten, Natur- und Tierfreunde werden. Informationen über Buch und Autorin: www.violahilsenbeck.de

Ute Sinram, geboren 1966, lebt in Hamburg. Zu ihren Leidenschaften gehören seit jeher die Literatur, die Malerei und die Musik. So findet sie sich immer in der Nähe einer Bühne wieder. Hauptberuflich arbeitet sie im Theater als Requisiteurin und Technikerin.

„Flieg, Krahwin! Flieg!“ ist ihre erste Arbeit als Illustratorin.

Foto: Tanja Hall

Über das Buch

Der Krähenjunge Krahwin muss zu früh das Nest verlassen. Schwach und flugunfähig wird er von Menschen gefunden. Johanna und ihre Großmutter kümmern sich um ihn und ziehen ihn auf.

Es dauert nicht lange, da treten Schwierigkeiten auf. Die kleine Krähe bindet sich zu stark an ihre Menschenfamilie. Dabei muss sie doch wieder in die Freiheit entlassen werden.

Wie soll Krahwin überleben, wenn er bei den Nachbarn auf den Frühstückstisch hüpft?

Die Menschen entscheiden sich dafür, den geliebten Vogel wegzubringen. Er leidet unter Heimweh und ist verzweifelt.

Doch er hat nicht mit seiner eigenen Kraft und der Macht der Freundschaft gerechnet. Beides hilft ihm auf seinem Weg in ein freies Krähenleben.

Trotzdem kann Krahwin seine Zeit bei den Menschen nicht vergessen ...

... und lernt, dass die Dinge manchmal ganz anders liegen, als er anfangs dachte.

Eine ergreifende und gleichzeitig humorvolle Geschichte über Freundschaft, Loslassen aus Liebe und das »Über-sich-selbst-Hinauswachsen«.

Geeignet für Tier- und Naturfreunde ab 9 Jahren.

Widmung

Für meine Mutter, meine Tochter

und das zerzauste Krähenkind,

das wir alle ins Herz geschlossen haben.

Inhalt

Im Hopfengarten

Raus aus dem Nest!

Vorsicht, Menschen!

Klauen und Verstecken

Ein Schrecken in der Nacht

Im Krähengefängnis

Krahwins Wunder

Familienanschluss

Mit Schießstock und Sichtgestell

Ein Entschluss

Stangenfelder

Hübscher Vogel

Alles ganz anders

Ein weißer Fleck

An dich

Über Krähen (von Ute Sinram)

Danke

»Das ist das Schicksal von Menschen,

die Tiere in ihr Herz schließen:

Dass sie oft Kummer aushalten müssen.

Aber dafür gibt es in unseren Leben

besonders viel Liebe.«

Johannas Großmutter

Kapitel 1

Im Hopfengarten

Die Hitze war unerträglich. Schon seit Wochen flirrte sie über die Erde des Reviers, in dem die kleine Krähenfamilie lebte. Obwohl der Hopfengarten regelmäßig von einem Mann mit einem Traktor gegossen wurde, gab es dort nur wenig Nahrung in diesem Jahr. Es war eben ein schlechtes Jahr für Insekten – und somit auch für alle Tiere, die sich von Insekten ernährten.

»Wenn es so weitergeht, werden wir keinen von ihnen groß bekommen.« Der Krähenvater schluckte. Seine Kehle war staubtrocken. Die Vorstellung, seine Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, zu verlieren, machte ihm zu schaffen. Besonders einer der beiden Jungen bereitete ihm Sorgen. Dieser war noch kleiner und schwächer als seine beiden Geschwister.

Seine Frau wühlte weiter mit dem Schnabel in der Erde. Schließlich gab sie auf und seufzte.

»Es sieht nicht nach Regen aus. Selbst wenn es regnen würde, würden wir die letzte Zeit nicht wieder ungeschehen machen können. Unser Kleiner hat gewiss schon Schäden an den Federn davongetragen. Es wird vermutlich bis zur Frühlingsmauser dauern, bis er fliegen kann. Wir werden ihn nicht groß bekommen – wir nicht.«

»Du meinst ... sie würden es schaffen? Aber würden sie es überhaupt tun?« Der Krähenvater bekam Angst. In seinem Magen spürte er ein Ziehen. Würde er die Entscheidung heute treffen müssen? Die Entscheidung, über die er vor ein paar Tagen mit seiner Frau gesprochen hatte? Dieser Plan war verrückt. Er konnte ihm seine Kinder wegnehmen. Und war vielleicht die einzige Möglichkeit, sie zu retten.

»Sie würden es tun. Und sie würden es schaffen. Ich denke, die zwei Großen können schon fliegen. Der Kleine nicht. Es wird hart werden für ihn – und für uns, aber wir werden ihn von oben beobachten. Wenn sie ihn wieder frei lassen, kommt er zu uns zurück und wir werden ihm erklären, warum wir so gehandelt haben.«

Als sie das Entsetzen in seinen Augen sah, hüpfte seine Frau zu ihm und drückte sich dicht an seine Seite. »Es ist ein verstörender Plan, ich weiß«, sagte sie. »Mir wird ganz schwindelig davon. Ich habe Angst. Aber mir fällt nichts Besseres ein. Willst du lieber abwarten?«

Ihr Mann ließ sich Zeit mit der Antwort. Abwarten? Dann könnte es in ein paar Tagen zu spät sein. Der Kleine wäre verhungert. Wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzten, dann würde er seinen Sohn vielleicht nicht aufwachsen sehen. Aber wahrscheinlich würde er überleben. Ihm war schlecht. Es war keine gute Lösung, aber die einzige, die es gab. Er war kein Vater, der abwartete und aufgab, wenn er noch einen Ausweg sah.

»Wir haben keine andere Wahl. Er kann nicht gerettet werden, wenn er im Nest bleibt. Wir werden es so machen wie besprochen. Lass uns keine Zeit mehr verlieren, die Menschen sind gerade zuhause. Ich hoffe, du hast recht und es ist Verlass auf sie.«

Traurig blickte er zu Boden und sein Herz war schwer. Der Kleine würde denken, sie hätten ihn im Stich gelassen.

Kapitel 2

Raus aus dem Nest!

Das ging nun schon seit Wochen so.

Immer, wenn seine Eltern mit Futter ans Nest flogen, machten sich seine Geschwister groß und drückten ihn zur Seite.

Jeder Bissen landete im gierigen Schlund von Bruder und Schwester. Er selbst ging leer aus.

Gerade hatten die Alten wieder zwei Käfer gebracht. Der schwächste Krähenjunge blieb hungrig, aber auch seine Geschwister waren nicht gut genährt.

Er beobachtete seine Eltern. Sie flogen in das große Feld, das neben dem Walnussbaum lag, in den das Nest gebaut war. Es war ein Feld mit hohen Holzstangen. Pflanzen wuchsen an Drähten Richtung Himmel. Sie hatten bereits die halbe Höhe der Holzstangen erreicht. Am Rand des Feldes suchten Mutter und Vater nach Nahrung. Sie unterhielten sich dabei.

Er konnte nicht verstehen, was sie sprachen, doch es schien ein wichtiges Gespräch zu sein. Vater wirkte fast verzweifelt. Der Krähenjunge machte sich Sorgen.

War etwas Schlimmes geschehen?

Ihm wurde warm. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, so wie jeden Tag, seit er aus dem Ei geschlüpft war. Er atmete schneller durch den geöffneten Schnabel.

Da landeten Mutter und Vater auf dem Ast, der das Nest hielt. Er erschrak. Ihre Mienen verhießen nichts Gutes.

»Wir müssen mit euch reden«, begann sein Vater. Es fiel ihm schwer, den Kindern in die Augen zu sehen.

»Wir können nicht genug Nahrung für euch finden. Die Erde ist trocken und hart. Es gibt dieses Jahr nicht genug Insekten. Es tut uns leid.«

»Wir dachten uns«, fuhr seine Mutter fort, »dass ihr mitkommen solltet zur Futtersuche, denn vielleicht finden wir gemeinsam mehr Nahrung. Außerdem können wir euch dann direkt im Hopfengarten füttern. Das würde uns weniger Kraft kosten, denn auch wir sind vom Hunger geschwächt. Natürlich müsst ihr dafür das Nest verlassen. Was haltet ihr davon?«

»Jippie! Endlich fliegen!«, rief die Schwester des Krähenjungen. Sofort kletterte sie zu ihren Eltern auf den großen Ast.

»Klar bin ich schon groß genug«, sagte sein Bruder und folgte der Schwester.

Der Krähenjunge blieb im Nest sitzen. Sein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas mächtig falsch lief. Das Nest zu verlassen schien ihm undenkbar.

»Und du, mein Kleiner?«, fragte ihn sein Vater.

»Ich glaube nicht, dass ich schon fliegen kann«, antwortete er. Er richtete sich, so gut es ging, im Nest auf und breitete seine Flügel aus.

Da sahen alle die Bescherung:

Seine langen Schwungfedern waren abgebrochen. Zwischen ihnen waren Lücken, so groß, dass man hindurchsehen konnte. Und in seinem Gefieder waren viele weiße Stellen, die vom Hunger kamen. Als er in die entsetzten Gesichter seiner Familie sah, schämte er sich und zog seine Flügel schnell wieder ein.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis endlich jemand seine Sprache wiederfand.

»So schlimm ist es nicht. Ich habe schon Krähen mit weniger Federn fliegen gesehen. Das wird alles bald wieder nachwachsen, wenn du erst genug zu essen bekommst«, sagte seine Mutter.

Ihr Gesichtsausdruck passte jedoch nicht zu ihren Worten.

»Wir müssen es versuchen. Denn hier im Nest hast du keine Zukunft. Ich verspreche dir, mein Junge, was auch passiert, wir werden immer in deiner Nähe sein«, sagte sein Vater.

Das beruhigte den Jungen ein wenig.

»Ich werde es versuchen und mein Bestes geben«, sagte er und kletterte mühsam auf den Ast, auf dem seine Geschwister in Startposition warteten.

Seine Schwester sprang voran. Mit angehaltenem Atem sah ihr der Rest der Familie zu. Zuerst fiel sie stetig nach unten, doch dann schaffte sie einen kleinen Aufschwung und landete auf einem Bäumchen.

Sie saß hoch genug, um in Sicherheit zu sein.

Er hörte seine Mutter erleichtert ausatmen.

Auch sein Bruder fiel anfangs abwärts. Er konnte sich aber gut genug in der Luft halten, um schließlich direkt in dem Feld mit den Stangen zu landen. Beide hatten es vorerst geschafft.

Mutter gesellte sich zu seinen Geschwistern, um sie zu beschützen. Nur Vater blieb bei ihm auf dem Ast.

Was seine Geschwister konnten, schaffte er bestimmt auch.

Unmöglich durfte er hier alleine auf dem Ast bleiben. Sein Vater würde bestimmt bald wegfliegen, um seine Frau zu unterstützen, dann würde der Krähenjunge zurückgelassen werden.

»Los, mein Junge. Vergiss nicht, immer kräftig mit den Flügeln zu schlagen. Und denk dran: Wir sind immer in deiner Nähe«, sagte sein Vater.

Seine Augen sahen dunkel und traurig aus.

Der Junge blickte nach unten. Er war hoch über dem Boden. Doch er musste es wagen. Er sprang nach vorne. Wie verrückt schlug er mit seinen Flügeln. Die Luft zischte durch die Lücken zwischen den Federn. Immer weiter Richtung Boden fiel er.

Er strauchelte durch ein dichtes Gestrüpp. Alles um ihn herum drehte sich. Äste und Dornen griffen nach ihm und ließen seine wenigen gesunden Federn auch noch abbrechen.

Unsanft landete er zu Füßen der Hecke. Es dauerte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, was geschehen war. Er hatte es nicht geschafft.

Sein Kopf schmerzte. Ihm war schwindlig. Sein ganzer Körper fühlte sich wund an. Und jetzt?

»Papa?«, rief er. Es kam keine Antwort. Er musste dafür sorgen, etwas zu sehen, sonst würde er seine Familie nicht mehr finden. Ein paar Schritte schleppte er sich aus dem Gebüsch nach vorne und erreichte eine Wiese. Er sah zurück in die Richtung, aus der er heruntergefallen war. Dort war der Walnussbaum. Er war riesig. Zum ersten Mal sah er die Welt von unten. Er kannte sich nicht mehr aus. Wo war das Feld mit den Stangen? Er horchte, doch er hörte keine Geräusche, die von Krähen stammten.

»Papa! Mama! Wo seid ihr? Ich bin hier!«, krähte er verzweifelt.

Keine Antwort.

Sie würden ihn doch nicht im Stich lassen. Oder? Vater hatte gesagt, sie würden immer in seiner Nähe sein.

Warum kam niemand zu ihm?

Er war ein weiteres kleines Stück vorangekommen und saß auf einer Wiese.

Immer wieder rief er nach den Eltern, bis seine Stimme schwach geworden war. Aber keiner kümmerte sich um ihn.

Wo waren sie? Hatten sie ihn einfach vergessen? War ihnen egal, was aus ihm wurde? Lag es daran, dass er nicht fliegen konnte, so wie seine Geschwister?

Er hatte versagt.

Er blieb sitzen und schloss die Augen.

Solch ein Hunger. Er konnte nicht mehr weiter. Er musste ein wenig ausruhen. Ganz still saß er und unternahm gar nichts mehr. Irgendwann würde seine ausweglose Lage vorbei sein. Vielleicht würden seine Eltern doch noch kommen. Im schlimmsten Fall würde ihn nachts ein ausgehungertes Raubtier finden. Dieser Gedanke machte ihm zwar Angst, aber der Krähenjunge war so müde. Zu müde, um weiterzukämpfen.

Kapitel 3

Vorsicht, Menschen!

Zur Wiese, auf der der Krähenjunge saß, gehörte ein großes altes Haus. Im Inneren des Hauses hörte er ein Menschenkind rufen: »Oma, wo ist mein neuer Bikini?« Das Kind hüpfte die Treppe herunter, die in den Garten führte. Er zuckte zusammen. Ein Mensch. Menschen waren gefährlich.

»Ja, bin ich denn eine Suchmaschine? Wahrscheinlich da, wo du ihn zuletzt gehabt hast«, ertönte die Antwort aus dem Haus. Das Menschenkind blieb am Fuß der Treppe stehen. Erstaunt sah es zu der kleinen Krähe hinüber, die auf der Wiese saß. Es ging ein paar Schritte auf den Vogel zu.

»Oma, da sitzt ein schwarzer Vogel auf der Wiese. Er fliegt nicht weg, obwohl ich in seiner Nähe bin.«

Eine Frau kam in den Garten und blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Sie betrachtete den Krähenjungen.

Er wünschte sich, die Menschen würden wieder weggehen. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, nie zu nahe an Menschen heranzukommen. Sie konnten Vögeln schreckliche Dinge antun.

»Geh schnell ins Haus und mach die Türen zu, Johanna. Unsere Katzen – sie dürfen jetzt nicht nach draußen.«

Das Menschenkind ging fort, kam aber bald darauf wieder zurück.

»Oma, was ist mit dem Vogel?«, fragte es.

»Ich denke, er ist aus dem Nest gefallen. Ein Vogel, der auf dem Boden sitzen bleibt, wenn Menschen kommen, kann nicht fliegen. Wenn Katzen ihn finden, werden sie ihn töten. Unsere Katzen sind zwar jetzt eingesperrt, es gibt aber noch andere Gefahren. Fremde Katzen oder Greifvögel.«

»Was sollen wir jetzt tun? Fahren wir doch nicht ins Schwimmbad?«, fragte das Menschenkind.

»Nein, wir passen auf den jungen Vogel auf. Wir müssen beobachten, ob die Eltern kommen und ihn füttern. Wir dürfen uns dabei aber nicht blicken lassen, sonst werden sie sich nicht trauen. Lass uns ins Haus gehen«, sagte die Frau.

Die Menschen gingen endlich weg und der Krähenjunge war wieder allein.

Er steckte seinen Schnabel in sein Rückengefieder. Einfach nur schlafen.

Irgendwann ging die Tür des Hauses wieder auf. Das Menschenkind kam heraus und ging auf ihn zu.

Oh Schreck. Es stand vor ihm und schaute ihn an.

»Oma, der arme Kleine gefällt mir gar nicht. Er sieht schwach und krank aus. Seine Eltern haben sich nicht blicken lassen und er sitzt hier schon seit zwei Stunden«, rief es. Das Kind ging in die Knie, sah ihm mit einem liebevollen Blick in die Augen und redete ruhig mit ihm. Er verhielt sich ganz still.

»Du armes kleines Häufchen Federn ... bist du etwa aus dem Nest gefallen?«

Der Krähenjunge blieb sitzen und schaute das Kind mit großen Augen an. Es schien sich Sorgen um ihn zu machen. Es hatte ein freundliches Gesicht. Vielleicht war es gar nicht gefährlich.

Leise sagte er: »Krah.«

»Oma, komm mal her. Seine Federn sind irgendwie ... zerfetzt. Aber er ist so süß. Er hat blaue Augen.«

Die Frau kam und sah auf ihn herab.

»Ja, das ist eine junge Krähe«, erklärte sie. »Alle jungen Krähen haben Augen so dunkelblau wie der Himmel an einem Gewittertag. Aber diese hier ist halbverhungert und hat schlechte Federn und weiße Flecken. Du hast recht.«

»Wir können den Kleinen doch nicht einfach hier sterben lassen. Was sollen wir nur tun?«, fragte das Mädchen.

»Lass mich nachdenken ... er braucht ein Zuhause, sonst ist er leichte Beute ... haben wir nicht noch etwas, in dem er wohnen kann?«

Die Frau kratzte sich am Kopf.

»Ah, da fällt mir ein, wir haben schon seit Ewigkeiten ein Kaninchengehege im Keller stehen. Das müssen wir nur zusammenbauen und ihn hineinsetzen. Dort ist er vorerst in Sicherheit. Vielleicht lernt er ja schon bald das Fliegen«, sagte sie nach einer Weile.

Das Kind freute sich: »Au ja, beim Aufbau helfe ich mit.«

»Du musst keine Angst haben«, beruhigte es den Krähenjungen. »Ich bin Johanna. Die Frau, die gerade dein neues Zuhause suchen geht, ist meine Großmutter. Wir werden uns um dich kümmern. Du siehst aus wie ein Junge. Ich werde dich Krahwin nennen. Weil du vorhin so lieb gekraht hast.«

Johanna zog sich mit vorsichtigen Schritten zurück. »Ich muss jetzt mit Oma dein Zuhause bauen. Aber ich komme bald wieder.«

Nun war das Krähenkind wieder alleine. Das Mädchen hatte ihm einen Namen gegeben. Krahwin. Das gefiel ihm. Sie war nett gewesen. Sie würde ihm nichts tun. Die Augen fielen ihm zu.

Da wurde er eingefangen. Eine Hand hatte ihn gepackt. Er zeterte und schrie um sein Leben. Vögel durften sich niemals, wirklich niemals einfangen lassen. Das wusste er schon, seit er aus dem Ei geschlüpft war. Warum hörten ihn seine Eltern nicht? Warum kamen sie nicht, um ihn zu befreien? Mit seinem großen Schnabel zwickte er in die Hand, die ihn hielt.

Damit hatte er Erfolg, denn er wurde wieder auf die Wiese gesetzt. Nun war um ihn herum ein Gitter gebaut.

Wo war er hingebracht worden? Er legte sich auf die Seite und bewegte sich nicht mehr. So würden sie ihn in Ruhe lassen. Und tatsächlich. Kein Mensch war mehr zu sehen.

Er lebte noch. Puh.

Schließlich rappelte er sich auf. Über seinem Kopf sah er eine Stange. Er schaffte es, hinauf zu hüpfen. Kaum halten konnte er sich darauf.

Da sah er etwas Essbares, direkt vor seinen Augen.

Hunger.

Er hatte solchen Hunger, dass ihm egal war, wer das Essen brachte. Es schmeckte köstlich. Er sperrte seinen Schnabel auf und ließ sich von Johannas Großmutter füttern.

Beim Schlucken des Futters machte er glucksende Geräusche. Johanna lachte.

Sie brachte ihm auch noch eine ganze Schüssel voller Wasser. Er fühlte sich schon besser, setzte sich auf den Rand der Schüssel und trank.

»Ich habe ihn Krahwin genannt«, erzählte Johanna ihrer Großmutter. »Er hat leise gekraht und mich lieb angeschaut, als ich vorhin zu ihm hingegangen bin.«

»Oje, Kind. Du darfst dich nicht zu sehr an ihn gewöhnen. Er ist ein Wildvogel, kein Haustier. Wenn er erst fliegen kann, müssen wir ihn wieder in die Freiheit entlassen«, warnte ihre Großmutter.

»Kein Problem für mich, Oma. Ich bin ja schon elf. Ich verstehe das. Ich wünsche mir, dass er ein Leben in Freiheit führen kann. Außerdem habe ich ja zwei Haustiere, die beiden Katzen. Mit denen zusammen würde es sowieso Probleme geben, wenn wir die Krähe behalten würden.«

Kapitel 4

Klauen und Verstecken

Am nächsten Tag hatte sich Krahwin erholt und war lebhafter geworden. Er erschrak: Das Mädchen, das Johanna hieß, kroch in seinen Käfig. Sie saß eine ganze Weile bei ihm.

»Krahwin, du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte sie. »Ich tue dir nichts.«

Krahwin hatte aber trotzdem Angst. So nahe war er noch nie einem Menschen gekommen. Was würden seine Eltern davon halten? Vielleicht verstellte sich das Mädchen und würde ihm in Wahrheit weh tun.

Er versteckte sich in der Ecke, die am weitesten von Johanna entfernt war. Wann würde sie endlich wieder verschwinden?