Florenturna – Die Kinder der Sonne - Kathrin Lange - E-Book

Florenturna – Die Kinder der Sonne E-Book

Kathrin Lange

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Beschreibung

Der wahre Feind macht sich zum Kampf bereitUm 1500: Schon zweimal ist es Girolamo und seinen Freunden gelungen, Florenz und seine phantastische Spiegelwelt vor der Vernichtung zu retten. Doch jetzt kündigt sich ein Gegner an, der mächtiger und grausamer ist als alle zuvor. Und er bringt Girolamos Freunde in seine Gewalt. Plötzlich richten sie ihre Waffe gegen Girolamo …Der dritte Teil der phantastischen Trilogie von Kathrin Lange – packend von der ersten bis zur letzten Seite.

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Seitenzahl: 410

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Kathrin Lange

Florenturna – Die Kinder der Sonne

Fischer e-books

Für meine Schwester Tanja, die allererste Leserin meiner auf Butterbrotpapier geschriebenen allerersten Geschichte …

Und Tapferkeit wird gegen Wut

Die Waffen richten, der Kampf sich kurz bemessen:

Ist doch der altererbte Mut

Florenzias Herzen nicht gänzlich unvergessen.

(Aus: Niccolò Machiavelli, Il salvatore. Der Retter)

 

 

I. Die Zeit verrinnt

Grell schien die Sonne auf die Piazza della Signoria hinab und ließ die Fassaden der umliegenden Häuser und Paläste leuchten. Menschen hasteten über das weitläufige Pflaster oder blieben stehen, um sich zu unterhalten und die neuesten Nachrichten auszutauschen.

Rings um den niedergebrannten Scheiterhaufen, der sich mitten auf dem Platz befand, hatte man eine Absperrung aus rot und schwarz bemalten Balken errichtet, die von vier Wachen beaufsichtigt wurde. Wie Statuen standen die Männer da, ein jeder in eine andere Himmelsrichtung blickend und die Hand am Knauf des Schwertes. Sie hatten den Auftrag, dafür zu sorgen, dass niemand sich dem Scheiterhaufen näherte und die Asche jenes Mannes stahl, der am Tag zuvor seinen Tod in den Flammen gefunden hatte. Der Verurteilte war von seinen Anhängern wie ein Heiliger verehrt worden. Und jetzt, da er tot war, hielten sie ihn für einen Märtyrer und wollten seine sterblichen Überreste als Reliquien mit nach Hause nehmen.

Und um das zu verhindern, waren die Wachen da.

Die Asche roch noch immer nach Feuer. Ab und an, wenn ein leichter Windstoß aufkam, wölkte sie in die Höhe.

Eine Frau kam über den Platz geschritten. Die langen schwarzen Locken lagen ihr um Gesicht und Schultern, und das schlichte Gewand, das sie trug, verriet nicht, wer sich in Wahrheit hinter ihrer schlanken, hochgewachsenen Gestalt verbarg.

Langsam, mit gemessenen Schritten näherte sie sich dem Scheiterhaufen, und es war, als hätte ein Zauber die Blicke der Wachen getrübt, denn sie rührten sich nicht. Sie reagierten auch nicht, als die Frau sich unter der Absperrung hindurchduckte und dahinter stehenblieb, um die verkohlten Überreste eines dicken Pfahles zu betrachten.

In dem Blick der Frau lagen Trauer und Resignation. Eine Weile stand sie einfach da, still, als würde sie ein Gebet sprechen. Endlich gab sie sich einen Ruck, bückte sich und füllte ein wenig der Asche in ein bauchiges Gefäß.

Die Menschen ringsherum schienen sie ebenso wenig zu sehen wie die Wachen, und so richtete die Frau sich schließlich völlig unbehelligt wieder auf und hielt das Gefäß prüfend vor ihre Augen.

Es war eine Urne aus dickem, halb durchsichtigem Glas. Das schwarze Gestell aus Ebenholz, das sie hielt und schützte, war kunstvoll gedrechselt. Die Frau schüttelte das Gefäß sachte, und die Asche darinnen wölkte in die Höhe.

»O Girolamo!«, murmelte die Frau. Dann seufzte sie.

Gleich darauf verbarg sie das Gefäß in den Falten ihres weiten Umhangs, duckte sich erneut unter der Schranke hindurch und wandte sich zum Gehen.

Mit langen, weit ausgreifenden Schritten durchmaß sie die engen Gassen unten am Fluss, bis sie zu einem kleinen Laden kam, der sich unauffällig zwischen zwei Häuser duckte. Odo Ludovicio stand auf einem hölzernen Schild über der Eingangstür, weiter nichts.

Kurz verschwand die Frau in dem Laden, und als sie wieder herauskam, trug sie die Urne nicht mehr bei sich. Dafür lag nun ein zufriedenes Lächeln auf ihren Zügen.

Sie streckte die Arme aus, als wolle sie nach einem unsichtbaren Vorhang greifen.

Ihr Lächeln vertiefte sich.

Dann zerteilte sie den Schleier zwischen den Welten und war im nächsten Moment verschwunden.

 

Drei Wochen später

Girolamo erwachte mit einem Ruck. Er musste lächeln, denn er hatte einen schönen Traum gehabt. Lil war darin vorgekommen, seine beste Freundin, und ein seltsames bauchiges Gefäß aus Glas und Ebenholz. In all seinen Träumen tauchte in letzter Zeit dieses Gefäß auf, aber er dachte nicht weiter darüber nach. Stattdessen erinnerte er sich lieber an seinen Traum von Lil, daran, wie sie beide zusammen, Hand in Hand, über die Stadtmauer von Florenzia gegangen waren.

Girolamo setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die Morgensonne schien schräg durch die Fensterläden, die er aus Gewohnheit seit langem nicht mehr schloss. Er mochte es, nachts die Sterne und den Mond zu betrachten. Ein paar Staubkörner tanzten in der Luft vor seinem Bett, und eine Weile folgte er ihren Bahnen mit den Blicken, während er dabei seine Gedanken schweifen ließ.

Wo Lil jetzt wohl war?

Meistens hielt sie sich in Selenes Welt auf, kam nur selten in die von Girolamo. Wahrscheinlich befand sie sich zusammen mit Nadir, Ursa und Ben, Girolamos anderen Freunden, in einem ihrer Verstecke in Florenzia. Auf der anderen Seite des Schleiers …

Eine Weile dachte Girolamo über die beiden Welten nach, über jene, die sein Gott geschaffen hatte und in der er zusammen mit seinem Vater Piero lebte. Und über die andere, die Schöpfung einer Göttin namens Selene. Beide Welten wurden nur durch einen Schleier voneinander getrennt, und nur wenige Menschen, sogenannte Narratori, waren in der Lage, diesen Schleier zu durchschreiten. Girolamo und seine Freunde gehörten dazu.

Girolamo räkelte sich, dann hob er die Hände und drehte sie so, dass sie mit den Rücken zueinanderwiesen. Er musste sich kaum konzentrieren, so einfach war es neuerdings, den Schleier zu durchdringen. Wie ein dünner Vorhang aus Seide ließ er sich beiseiteschieben, und Girolamo konnte einen Blick in die jenseitige Welt werfen. Dort, auf der anderen Seite, befand sich ebenfalls ein Zimmer, etwas größer als das seine, aber ebenso unordentlich. Girolamo sah ein paar buntgeringelte Strümpfe auf einem schmutzigen Fußboden liegen und einen einzelnen Schuh, der so riesig war, dass Girolamo ihn als Waschschüssel hätte benutzen können.

Er musste schmunzeln.

Er drehte den Oberkörper ein wenig, so dass ein anderer Ausschnitt zwischen seinen Händen erschien. Eine massige Gestalt saß an einem Schreibtisch, der für sie viel zu klein, fast zerbrechlich wirkte. Lange, wie Flechten aussehende Haare fielen ihr über den breiten Rücken. Ein paar davon waren an dem dunkelroten Gürtel festgeknotet, den die Gestalt trug.

»Guten Abend, Folletto!«, rief Girolamo, und die Gestalt wandte sich um. Ihre Glieder verursachten dabei ein deutlich hörbares Knirschen. Es klang, als bestünde der massige Körper nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus trockenem Holz.

»Ah, Girolamo!« Ein breites Grinsen huschte über das runde Gesicht der Gestalt. Dutzende von Rissen durchzogen es wie Falten, aber wenn man genau hinsah, dann erkannte man, dass es tatsächlich Borke war. »Dir ebenfalls einen guten Abend!«

Girolamo verzichtete darauf, Folletto darauf hinzuweisen, dass, wenn drüben auf der anderen Seite des Schleiers die Abenddämmerung heruntersank, es in seiner Welt Morgen war. Folletto hatte zwei riesige bernsteingelbe Augen, in denen goldene Funken glitzerten. Wie immer, wenn Girolamo ihrem Blick begegnete, fühlte er sich bis in sein Innerstes durchleuchtet.

»Ich bin fast fertig!«, erklärte Folletto stolz und wies auf einen Stapel Papier, der vor ihm auf seinem zierlichen Schreibtisch lag. Girolamo hatte Folletto bei einem Ausflug in Florenzias Umgebung kennengelernt. Er wusste, dass das trollartige Wesen an einer schier endlos langen Ode über den Wald schrieb. Jedes Mal, wenn sie sich begegneten, behauptete Folletto, fast fertig zu sein, und jedes Mal fiel ihm danach wieder ein neuer Aspekt ein, den er unbedingt festhalten musste. Einmal hatte er Girolamo ein Stück seines Werkes zu lesen gegeben. Es hatte sich um die seitenlange Beschreibung eines einzigen Pilzes gehandelt, und Girolamo war es so gähnend langweilig geworden, dass er es seitdem tunlichst vermied, noch einmal eine Seite des Gedichtes in die Hand zu nehmen.

»Willst du mal ein Stück les…«

»Nein, nein! Danke!«, wehrte Girolamo rasch ab. »Ich warte lieber, bis du ganz fertig bist. Dann kann ich dein Werk besser würdigen.«

Er war erleichtert, als Folletto bereitwillig nickte. »Dauert nicht mehr lange«, sagte der Troll und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Girolamo ließ die Öffnung im Schleier zufallen und verließ endlich sein Bett.

Unten in der Küche konnte er seinen Vater Piero werkeln hören. Dem Klang nach zu urteilen, war Piero gerade dabei, ihren morgendlichen Getreidebrei zu kochen. Girolamo verzog das Gesicht. Zwar schmeckte der Brei, den sein Vater zubereitete, gar nicht so übel, aber Girolamo war ein gutes Honigbrot immer noch lieber.

Er streckte sich ein letztes Mal, dann stand er auf. Rasch ging er zu seinem Waschgeschirr, das auf dem Tischchen neben dem Fenster stand. Er goss sich etwas Wasser aus dem Krug in die dafür vorgesehene Schale und wusch sich Gesicht und Hände. Mit gespreizten Fingern fuhr er ein paarmal durch die wuscheligen Haare. Das musste genügen.

Mit knurrendem Magen verließ er sein Zimmer.

 

Der Flur im oberen Geschoss ihres Hauses war kurz, und Girolamo brauchte nur zwei Schritte, um an eine schmale Treppe zu gelangen, die um zwei Ecken herum nach unten führte. In einer dieser Ecken stand jemand, und Girolamo erschrak.

Es war eine hochgewachsene Frau mit langen schwarzen Haaren. Alessandra!

»Mutter!«, entfuhr es Girolamo.

Alessandra blickte zu ihm auf. Sie wirkte schmerzerfüllt und gehetzt. Kurz legte sie den Kopf schief, und Girolamo ahnte, dass sie auf Geräusche aus der anderen Welt lauschte. Dann konzentrierte sie sich auf Girolamo. »Du musst mir helfen!«, sagte sie.

Sie sprach sehr leise, und Girolamo hatte den Eindruck, dass sie nicht wollte, dass sein Vater Piero in der Küche sie hörte.

Rasch blickte er nach unten. Die Küchentür war nur angelehnt. Dahinter werkelte Girolamos Vater mit Tellern und Bechern herum, jedenfalls hörte es sich so an. »Wie kann ich dir helfen?«, flüsterte Girolamo.

Er war es inzwischen gewohnt, dass Alessandra kam und wieder ging, als sei sie ein Geist, der ihn beständig begleitete und sich nur zu bestimmten Zeitpunkten zu erkennen gab. Vor noch gar nicht so langer Zeit war Girolamo traurig über diesen Zustand gewesen, aber inzwischen hatte er gelernt, damit umzugehen. Eine Sache jedoch beunruhigte ihn: Immer, wenn Alessandra auftauchte, waren Schwierigkeiten nicht weit.

Schwierigkeiten!

Girolamo stieß ein bitteres Lachen aus. Was für ein winziges Wort für die Kämpfe, die er in den letzten Monaten hatte ausfechten müssen! Gleich zweimal hatte er Florenzia vor der Vernichtung retten müssen und Selenes ganze Welt gleich mit. Es waren gute Freunde von ihm gestorben, und Menschen, denen er eigentlich vertraut hatte, hatten sich als Verräter erwiesen. Schwierigkeiten?

»Warum lachst du?«, erkundigte sich Alessandra.

Er zuckte die Achseln. »Nur so. Wie kann ich dir helfen?«, wiederholte er seine Frage.

Erneut drehte Alessandra den Kopf, und in Girolamo verstärkte sich der Eindruck, dass sie in großer Eile war. »Die Zeit verrinnt«, meinte sie denn auch. »Die Macht der Göttin schwindet mit jedem Augenblick.« Sie hielt inne. Besann sich. Dann sagte sie völlig zusammenhanglos: »Die Urne, Girolamo!«

Ein Schauer rann Girolamo den Rücken hinunter. Er wusste sofort, was seine Mutter meinte. Jenes bauchige Gefäß aus seinen Träumen! Er glaubte, dessen Form ganz klar vor seinem inneren Auge zu sehen, obwohl er bisher kaum einen Gedanken an sie verschwendet hatte. Eine Urne war es also? Dann war es menschliche Asche, die sich darinnen befand.

»Was ist mit dieser Urne?«, flüsterte er.

Plötzlich fiel ihm auf, dass Alessandras Körper seltsam durchscheinend wirkte, tatsächlich schien sie nur geisterhaft in dieser Welt zu sein. Und nun bemerkte er auch, dass sie nicht nur müde und erschöpft wirkte. Sie war durchscheinend in jeder Hinsicht.

Und ihre Stimme entfernte sich jetzt. »Sie wird dir helfen, meine Welt zu retten!« Die Worte waren kaum noch zu verstehen. Wie von einem Wind aus großer Ferne herangetragen hörten sie sich an. Alessandra hob die Hand und winkte Girolamo zu, im nächsten Moment war sie verschwunden. »Vergiss nicht: Die Zeit, sie verrinnt!«

Nachdenklich kratzte Girolamo sich am Kopf.

 

Piero war gerade dabei, zwei Becher auf den Küchentisch zu stellen, als Girolamo den Raum betrat. »Ah!« Er warf seinem Sohn einen freundlichen Blick zu. »Du bist schon wach! Das ist gut. Ich wollte eben kommen und dich wecken. Das Frühstück ist fast fertig.«

Girolamo setzte sich an den Tisch. Gerade wollte er den Mund aufmachen, um seinem Vater von der unheimlichen Begegnung auf der Treppe zu erzählen, da ertönte eine Stimme in seinem Kopf.

Sag ihm nichts!

Alessandra.

Girolamo klappte den bereits offenen Mund wieder zu.

Der Brei blubberte im Topf, und sein Geruch erfüllte die gesamte Küche. Piero gab zwei Portionen in ihre Schüsseln, dann setzte er sich ebenfalls. Gemeinsam begannen sie zu essen, und es kam Girolamo unwirklich vor, nach dem, was eben auf der Treppe passiert war.

Er fühlte eine Spannung, die in der Luft lag und die Besitz von seinem Körper ergriffen hatte, doch Piero schien nichts davon zu spüren. »Was hast du heute vor?«, fragte er arglos.

Girolamo pustete auf seinen Löffel. So beiläufig wie möglich zuckte er die Achseln. »Weiß ich noch nicht. Vielleicht ein bisschen durch Florenzia streifen.« Seit der Schleier offen war, bewegte er sich wie selbstverständlich von einer Welt in die andere. Er liebte es, durch die Straßen und Gassen der Schimmernden Stadt zu laufen, und er entdeckte dort immer wieder neue Wunder.

Piero nickte zustimmend. »Pass aber gut auf dich auf!«

Girolamo lächelte. »Klar.« Er hatte zweimal dafür gesorgt, dass die Schimmernde Stadt vor dem Untergang gerettet worden war, und das, obwohl er erst zwölf Jahre zählte. Nie im Leben wäre Piero auf die Idee gekommen, ihm seine Streifzüge zu verbieten.

»Vielleicht treffe ich mich nachher mit Nadir und Lil.« Girolamo nahm einen Bissen. Sein Vater hatte den Brei gesüßt, und er schmeckte intensiv nach Honig. Kurz musste Girolamo an Mama Marta, seine Ziehmutter, denken. Sie war eines der ersten Opfer gewesen, als der Kampf gegen Mercurius und sein dunkles Reich Florenturna begonnen hatte.

Girolamo unterdrückte ein Seufzen. Traurigkeit flog ihn an. All die Dinge, die er im letzten Jahr erlebt hatte, geisterten plötzlich durch seinen Kopf, all die Menschen, die gestorben waren. Mama Marta. Matteo. Yon. Der Frater.

Und Irena.

Irena, die ihm kurz vor ihrem Tod noch eine düstere Warnung mit auf den Weg gegeben hatte.

Der wahre Feind macht sich gerade erst bereit zum Kampf.

Girolamos linke Hand glitt in seine Hosentasche. Dort bewahrte er den Kieselstein auf, den Irena ihm gegeben hatte. Die Oberfläche des eiförmigen Steins fühlte sich glatt und ein bisschen warm an.

Noch einmal hörte er Irenas Worte in seinem Geist.

Dieser Stein wird dir eine Hilfe sein, wenn du in der allergrößten Not bist.

Girolamo ließ den Löffel auf die Tischplatte sinken.

Fragend sah Piero ihn an. »Was ist?«

Girolamo stand auf. »Mir ist gerade der Appetit vergangen«, antwortete er. »Ich glaube, ich gehe ein bisschen spazieren.«

II. Tino

Jeder sieht, wie du scheinst.

Nur wenige fühlen, wie du bist.

(Aus: Niccolò Machiavelli, Il principe, Der Fürst)

 

 

Die Sonne stand kaum eine Handbreit über den Hügeln im Osten von Florenz. Der Palazzo Pitti, an dem Arbeiter fleißig bauten, ragte in die kühle Morgenluft wie ein Skelett, zwischen dessen Knochen sich langsam steinernes Fleisch bildete. Die Geräusche von der Baustelle klangen, als kämen sie von weit her.

Wie aus einer anderen Welt!, dachte Girolamo bei sich.

Hinter dem Palazzo war die riesige Kuppel des Doms zu erkennen, und der Campanile daneben, der schmale, aus hellem Stein gebaute Glockenturm, ragte in den blauen Himmel wie ein mahnender Zeigefinger. Aus der Ferne wehte Glockengeläut heran. In den Mauern von Florenz fand immer irgendwo eine Messe statt, auch jetzt noch, da Savonarola, der Mann, der die Menschen der Stadt mit fanatischem Eifer zu einem gottesfürchtigen Leben angehalten hatte, auf dem Scheiterhaufen gestorben war.

Girolamo biss sich auf die Unterlippe. Dann fasste er einen Entschluss. Er hob die Hände vor die Brust, zerteilte den Schleier. Diesmal schaute er nicht nur einfach hindurch. Diesmal machte er einen Schritt nach vorn.

Und fand sich im nächsten Moment in der Schimmernden Stadt wieder.

 

Hier herrschte weitaus mehr Treiben als in dem Stadtviertel, das Girolamo soeben verlassen hatte. Es sah so aus, als müssten die Menschen der Schimmernden Stadt sich beeilen, um all ihre Pflichten noch vor Einbruch der Nacht zu erledigen. Die beiden Sonnen, die Selenes Welt beschienen, waren bereits untergegangen, und das letzte Tageslicht, eine zarte Mischung aus Blau und Gelb, verblasste zusehends.

Männer hasteten durch die Straßen und über Plätze, Frauen zerrten kleine Kinder mit sich und schimpften mit ihnen, wenn sie allzu sehr trödelten. Aber trotz all der Emsigkeit strahlte die Stadt eine Heiterkeit aus, die Girolamo in Florenz niemals empfand. Er hörte Menschen lachen, das Läuten der Glocken klang hier fröhlich und nicht mahnend und getragen wie drüben.

An einer Hausecke stand ein Geschichtenerzähler aus Venedien und ließ aus seinen Worten sferatinas, bunte, schimmernde Kugeln, entstehen, die er an die Vorbeigehenden verschenkte. Eine Weile sah Girolamo zu, wie diese Kugeln aus dem Mund des Mannes drangen und für einen Moment vor seinem Gesicht in der Luft schwebten, bevor er nach ihnen griff und sie dem nächsten Passanten auf der ausgestreckten Hand präsentierte.

Ein Lächeln glitt über Girolamos Lippen, als der Erzähler ihn bemerkte und den Kopf zu einem freundlichen Gruß senkte. Girolamo grüßte zurück und wollte seinen Weg schon fortsetzen, als der Mann ihm eine der Kugeln reichte. »Für die junge Dame, der dein Herz gehört«, sagte er freundlich.

Girolamo nahm die sferatina, und er fühlte, wie seine Ohren heiß wurden und gleich darauf ebenso rot schimmerten wie das glatte, glänzende Gebilde auf seiner Handfläche. Der Geschichtenerzähler lachte leise. Aus klugen, wissenden Augen sah er Girolamo an. »Sag nicht, du hast keine Ahnung, von welcher jungen Dame ich rede!«, rief er aus.

Girolamo grinste verlegen. »Doch, doch.« Er dankte ihm, dann ließ er die Kugel in seine Tasche gleiten, wo sie sich zu Irenas Stein gesellte.

Rasch ging er weiter.

Natürlich wusste er genau, wen der Geschichtenerzähler gemeint hatte. Es gab nur ein Mädchen, an das Girolamo wieder und wieder denken musste und von dem er neuerdings ständig träumte: Lil.

Aber gehörte ihr tatsächlich sein Herz? Er lauschte in sich hinein und ertappte sich dabei, dass er sich wünschte, Lil wäre jetzt hier bei ihm. War das ein Zeichen dafür, dass er sich in sie verliebt hatte?

Achselzuckend beschloss er, nicht weiter über diese Frage nachzudenken.

Ein Andari, ein hochgewachsenes Wesen mit langer schwarzer Zunge, schritt ehrfuchtgebietend langsam an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Und eine Horde Holde überholte Girolamo auf ihrem Weg durch die Dachrinnen laut kreischend. Als sie sechs oder sieben Schritte vor ihm waren, rollten sie sich zu kleinen pelzigen Kugeln zusammen und ließen sich vom Dach fallen, um gleich darauf allesamt auf winzigen nackten Beinchen davonzuhuschen.

Alle. Bis auf einen. Er blieb direkt vor Girolamos Füßen stehen, reckte seinen kleinen Kopf aus dem Pelz und starrte Girolamo mit großen grünschillernden Augen an. Eine kleine Nase in seinem Gesicht zuckte nervös wie die eines Kaninchens.

»Sohn von Alessandra?«, zwitscherte der Knirps fragend.

Girolamo nickte. Viele Menschen und Wesen in Florenzia erkannten ihn, wenn er durch die Straßen ging. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass er die Stadt zweimal vor dem Untergang gerettet hatte. In Florenzia war er so etwas wie ein Volksheld.

Der Holde machte einen Freudensprung, der Girolamo bis fast an den Oberschenkel reichte. »Fein!«, schrillte sein dünnes Stimmchen.

Girolamo sah sich um. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, hier einen Menschenauflauf zu verursachen, doch schon wurden die ersten Passanten auf ihn aufmerksam. Zwei Frauen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt.

Unbehagen erfasste Girolamo. »Ich muss weiter«, sagte er eilig und wollte an dem Holden vorbeihuschen, der ihm trotz seiner geringen Größe mutig den Weg verstellte. Das kleine Pelzwesen kiekste empört.

»Nicht weggehen!«, zwitscherte es und schlug sich mit einer winzigen Faust auf die Stelle, wo bei einem menschlichen Wesen die Brust gewesen wäre. »Tino.«

Girolamo runzelte die Stirn. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die beiden tuschelnden Frauen einen Entschluss fassten und sich in Bewegung setzten. Sie kamen auf ihn zu! In der letzten Zeit war es Girolamo immer häufiger passiert, dass wildfremde Menschen ihn berührt hatten oder versuchten, Stücke von seinen Kleidern oder sogar Büschel seiner Haare zu ergattern. Er wusste zwar, was sie sich davon erhofften, aber die Vorstellung, dass Reliquien daraus gemacht wurden, war ihm überaus unangenehm.

Es schien also höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen.

Die beiden Frauen waren nur noch wenige Schritte entfernt.

Girolamo hob einen Fuß und machte einen weiten, vorsichtigen Schritt direkt über den Holden hinweg, in der Absicht, ihn auf diese Weise loszuwerden. Er hatte sich jedoch falsche Hoffnungen gemacht.

Aus dem Stand heraus hüpfte das Pelzwesen in die Luft, streckte zwei nackte Ärmchen aus und klammerte sich damit an Girolamos Knöchel. »Nicht weggehen!«, schimpfte es mit heller Stimme. »Tino mitnehmen.«

Jetzt erst begriff Girolamo, dass Tino der Name des Wesens sein musste. Vorsichtig, um das kleine Ding nicht aus Versehen zu zerquetschen, setzte er den Fuß zurück auf die Erde. Er hatte gehofft, es würde ihn dann wieder loslassen, aber offenbar hatte es das nicht vor. Es klammerte sich weiterhin an Girolamos Fuß fest, und es tat es mit so viel Kraft, dass Girolamo die kleinen Fingernägel spüren konnte, die sich in seine Haut gruben.

Die beiden Frauen waren stehengeblieben. Sie tuschelten miteinander, und als Girolamo ihnen einen finsteren Blick zuwarf, entschieden sie, dass es besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Sie trollten sich, und Girolamo wandte sich wieder dem Holden auf seinem Fuß zu.

»Warum sollte ich dich mitnehmen?«, fragte er ihn und sah sich nach den Gefährten des kleinen Wesens um. Die waren jedoch inzwischen über alle Berge.

»Tino Freund. Tino warnt, wenn neue Gefahr«, sagte das Wesen mit dem Brustton der Überzeugung. »Und außerdem lässt Tino einfach nicht mehr los!« Seine grünen Augen funkelten Girolamo an.

Der beugte sich hinab. »Neue Gefahr?«, hakte er vorsichtig nach. »Was weißt du von neuer Gefahr?« Misstrauisch betrachtete er den Holden, wie der es sich jetzt auf seinem Fuß bequem machte, allerdings ohne Girolamos Knöchel loszulassen.

»Gefahr. Kommt. So sicher wie die zwei Monde aufgehen«, behauptete Tino.

Girolamo hatte inzwischen genügend Zeit in Florenzia verbracht, um zu wissen, dass auch in den kleinsten Wesen Kräfte stecken konnten, von denen er keine Ahnung hatte. Ihn schauderte.

»Woher weiß ich, dass du mein Freund bist?«, fragte er.

Empört funkelte Tino ihn an. »Alessandra bittet Tino. Soll auf Girolamo aufpassen.« Kurz ließ er Girolamo los und legte eine Hand gegen die eigene Brust, als habe ihm allein diese Frage Herzschmerzen bereitet. Theatralisch streckte er den anderen Arm nach Girolamo aus. »Guter Freund von Sohn von Alessandra.«

Girolamo nickte grimmig. »Davon hatte ich schon ein paar«, sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Holden. Gleichzeitig fragte er sich, warum Alessandra ausgerechnet einen Holden gebeten haben mochte, auf ihn aufzupassen. Ein so winziges Wesen!

Tino nahm die Hand von seinem Herzen, verflocht ihre Finger mit denen der anderen. Jetzt sah er aus, als wolle er ein inbrünstiges Gebet sprechen. »Tino nicht Sándor!«, behauptete er.

Girolamo starrte ihn an. »Du weißt von Sándor?«

Sándor hatte sich als sein Erzfeind entpuppt, obwohl Girolamo ihm lange Zeit vertraut hatte.

Auf einmal hatte Girolamo eine Gänsehaut.

Ernst nickte Tino. »Tino weiß. Und weiß auch von neuen Feinden.« Er streckte eine winzige Hand aus und bedeutete Girolamo, sie zu nehmen.

Girolamo musste sich weit vorbeugen, um das tun zu können, und weil ihm diese Position unbequem war, hockte er sich kurzerhand in den Straßenstaub. Tinos Fingerchen waren kühl, als er sie ergriff.

Im ersten Moment geschah nichts. Doch dann …

… sah Girolamo etwas, das ihm den Atem stocken ließ. Er sah … sich selbst, einen Fußboden, dessen Fliesen zu einem Muster aus feinen Spinnennetzfäden zerborsten waren … Und er sah Nadir, der mit seinem Dolch in der Hand vor ihm stand und ihn wütend anfunkelte. »Nadir!«, hörte er sich sagen. »Nicht!« … Aber Nadir hörte nicht auf ihn. In seinen dunklen Augen stand ein düsteres, rotes Flackern – blanker Hass, der Girolamo mitten ins Gesicht schlug und ihn zurückweichen ließ. Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment zuckte Nadirs Dolch vor, direkt auf Girolamos Kehle zu …

Mit einem Keuchen ließ Girolamo Tinos Hand los, und die Vision endete abrupt.

»Was war das?«, ächzte er.

Tino rieb sich die Stelle, die Girolamo eben noch berührt hatte. »Tino zeigt, was werden wird. Das Alessandras Wunsch.«

Girolamo bekam das Bild nicht aus dem Kopf, Nadir, diese hasserfüllten Augen. »Nicht er!«, flüsterte er. »Du willst mir nicht sagen, dass ich diesmal gegen Nadir kämpfen muss?« Er fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und riss daran. »Ich glaube dir nicht!«, behauptete er. Aber in Wahrheit war er sich nicht ganz sicher, ob das stimmte.

»Tino will nur helfen!«, sagte das kleine Wesen. Es klang ein wenig beleidigt.

Nachdenklich biss Girolamo sich auf die Lippe. »Was mache ich jetzt nur?«

»Tino mitnehmen, wie Alessandra sagt.«

Da fasste Girolamo einen Entschluss. »Gut. Komm also mit. Aber lass meinen Fuß los. Deine Fingernägel tun weh!« Er beugte sich zu dem kleinen Wesen hinunter und hielt ihm die flache Hand hin. Ohne zu zögern ließ Tino seinen Knöchel los und sprang. Seine kleinen Füße fühlten sich kühl an in Girolamos Handfläche, und als er sich an Girolamos Daumen festklammerte, konnte Girolamo sein winziges Herz vor Aufregung pochen fühlen. »Schön das!«, sagte er zufrieden. »Weil: Deine Füße stinken!«

 

»Sag mal, bist du jetzt vielleicht blind geworden, oder was?«

Die Stimmte, die das sagte, klang nicht empört oder gar wütend, sondern schelmisch und neckend.

Girolamo, der sich die ganze Zeit, während er durch Florenzias Gassen geschlendert war, auf Tino und sein unablässiges Gezirpe konzentriert hatte, blieb stehen und sah sich um. An einer Hausecke, die er soeben umrundet hatte, stand ein junges, dunkelhäutiges Mädchen mit einem Wust von dünnen pechschwarzen Zöpfen. Die Lichter einiger Fackeln, die die Bewohner der Stadt inzwischen überall entzündet hatten, leuchteten auf ihren glänzenden Haaren. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf zur Seite geneigt und funkelte Girolamo aus fröhlichen Augen an.

Ein Strahlen glitt über Girolamos Gesicht. »Lil!« Kurz dachte er an den Geschichtenerzähler und die Kugel in seiner Hosentasche, und schon wieder wurden seine Ohren rot.

Zum Glück schien Lil es nicht zu bemerken. Sie trat einen Schritt näher, legte die Hände erst vor dem Leib zusammen, dann hinter ihrem Rücken. »Hallo!«, sagte sie und blickte auf den Boden zwischen ihren Füßen.

Girolamo wünschte sich, sie würde weiterreden, würde etwas sagen, etwas Schlaues vielleicht, das ihn zum Lachen brachte. Aber sie schwieg, und er wusste, jetzt musste er etwas zum Besten geben.

Aber plötzlich fiel ihm absolut nichts ein. »Oh«, machte er. »Hallo.« Und dann, nach einer Pause, die ihm viel zu lang und sehr unangenehm vorkam, fügte er hinzu: »Ich habe dich gar nicht gesehen. Entschuldige!«

Lil wies auf Tino, der noch immer auf Girolamos Handfläche stand und dabei aussah wie ein Seemann, der sich bei stürmischer See am Mast festklammerte. »Wer ist denn das?«

Froh darüber, ein Gesprächsthema zu haben, hob Girolamo seine Hand ein wenig höher. »Den habe ich eben aufgelesen. Er wollte mich unbedingt begleiten.« Kurz spielte er mit dem Gedanken, Lil zu erzählen, was Tino ihm über Nadir enthüllt hatte, aber dann tat er es doch nicht. Lil wusste nichts von Irenas Prophezeiungen und auch nichts von irgendeiner drohenden Gefahr. Girolamo wollte es auch dabei belassen. Sie würde es früh genug erfahren, es gab keinen Grund, sie zu ängstigen, bevor es nicht wirklich notwendig wurde.

Lil musterte den Holden. »Aha.« Sie war schlank und wirkte kräftig und kämpferisch. Girolamo wusste, dass sie täglich trainierte. Sie lief ihre Runden auf der Mauer, die die Schimmernde Stadt umgab, und sie übte auch regelmäßig den Schwertkampf. Als ahne sie bereits, dass etwas Düsteres auf sie alle zukam, dachte Girolamo.

Er wies auf einen schmalen Verband, den sie um ihre Handfläche geschlungen hatte. »Was ist passiert?«, fragte er und hoffte, dass Lil nicht merkte, wie rasch er das Thema gewechselt hatte.

Sie starrte auf die weiße Binde. »Ach das! Nur ein kleiner Unfall beim Üben. Nadir hat stärker zugeschlagen, als ich vermutet hatte.«

Nadir!

Girolamo zuckte zusammen. Er hätte am liebsten nach Lils Hand gegriffen und sich die Wunde angesehen. Plötzlich verspürte er ein starkes Gefühl von Sorge um Lil. Wenn ihr irgendetwas geschehen würde …

Er zwang sich, nicht daran zu denken. »Tut es weh?«

»Nur ein bisschen. Ehrlich, Girolamo! Es ist wirklich nicht der Rede wert.« Wieder wies Lil auf Tino, und diesmal sprach sie das kleine Wesen direkt an: »Was willst du von Girolamo?«

»Tino hilft!« Der Holde reckte seinen kugeligen Bauch vor. »Bei Gef…«

»Er wollte wahrscheinlich einfach ein bisschen in meiner Nähe sein!«, unterbrach Girolamo ihn so rasch es ging, damit Tino nicht in Lils Gegenwart etwas von der kommenden Gefahr faseln konnte.

Spöttisch blickte Lil zu Girolamo auf. »In deiner Nähe?«

Girolamo grinste. »Na ja, wie oft trifft man schon einen Helden?«

Lil streckte die Hand aus und tat, als wolle sie Girolamo boxen. »Eingebildet bist du gar nicht, oder?«, lachte sie.

»Nie!« Girolamo wich ihrem Hieb aus und hätte dabei aus Versehen fast Tino fallenlassen. Bevor er zu Boden plumpste, konnte sich der Holde gerade noch an Girolamos Zeigefinger festklammern.

»He!«, rief er aus.

»Entschuldige!« Girolamo schob die andere Hand unter die winzigen Füße.

Tino ließ den Finger los und schnaubte leise. Sein winziges Gesicht mit der zuckenden Nase sah fast ein bisschen böse aus.

»Stell dich nicht so an!«, lachte Lil. »Du fällst ohne Probleme von den Dachrinnen in die Tiefe. Da wird dir ein Sturz aus der Hand eines kleinen Jungen wohl nichts ausmachen!«

»Kleiner Junge?« Empört starrte Girolamo Lil an, und erst einen Augenblick später erkannte er, dass sie ihn noch immer aufzog. »Warte nur!«, drohte er.

Lil warf den Kopf in den Nacken. Die Zöpfe fielen auf ihren Rücken, und die silbernen Perlen, die in einen von ihnen geflochten waren, klimperten leise. »Worauf soll ich warten, hm?«

Girolamo unterdrückte den Impuls, sie in seine Arme zu ziehen. Wahrscheinlich hätte sie ihm sonst eine saftige Ohrfeige verpasst. »Bis mir eine passende Antwort einfällt!«, erwiderte er.

Und dann musste er auch lachen.

III. Plagegeister

Freunde sind ein kostbares Gut,

wertvoller als edelstes Gold.

Doch wie Messing

den gleichen Glanz aufweist

wie das edle Metall,

so gilt es,

sorgsam die Freunde zu prüfen.

(Aus: Niccolò Machiavelli, Il salvatore. Der Retter)

 

 

Jetzt, da er Lil getroffen hatte, bereute Girolamo es, dass er Tino mitgenommen hatte. Lil schloss sich ihm nämlich an, und Seite an Seite schlenderten sie durch Florenzia. Girolamo wäre dabei gern mit ihr allein gewesen, aber Tino machte keinerlei Anstalten, auf seine versteckten Hinweise zu reagieren und abzuhauen.

Stattdessen hörte er genau zu, was Girolamo und Lil redeten, und immer wieder gab er seine Kommentare dazu ab.

»Alessandras Sohn mag dunkles Mädchen, he?«, fragte er zum Beispiel, als er die Blicke bemerkte, die Girolamo Lil heimlich zuwarf.

Amüsiert betrachtete Lil den Holden und wartete dann auf eine Antwort von Girolamo.

Der wand sich unbehaglich. »Ich …«

Lil grinste gemein. »Pass auf, was du sagst!«, warnte sie.

Aber Girolamo musste gar nicht mehr auf Tinos Frage antworten, denn der Holde selbst befreite ihn aus seiner misslichen Lage. »Girolamo ist Narratore.«

»Ja«, sagte er.

»Girolamo kann Dinge machen und so.«

Aus dem Augenwinkel sah Girolamo Lils Lächeln, und er nickte langsam. Mit seiner seltsamen Sprechweise hatte Tino in wenigen Worten ausgedrückt, was einen Narratore ausmachte: Er besaß die Gabe, kraft seines Willens Dinge zu erschaffen. Und nicht nur Dinge, sondern auch Lebewesen. Als Girolamo seine Fähigkeit entdeckt hatte, hatte er einen blauen Schmetterling zwischen seinen Händen entstehen lassen.

»Girolamo kann Tino eine Frau machen, ja?«

Nun lachte Lil lauthals auf. »Jetzt klar, warum der kleine Kerl mitkommen wollte?«

Girolamo runzelte die Stirn. Holde waren winzig, und eigentlich wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, Tino eine Gefährtin zu erschaffen. Aber etwas in ihm sträubte sich gegen diese Tat. Er hatte zu viele schlimme Erfahrungen mit der Gabe der Narratori gemacht, als dass er sich ihrer leichtfertig bedient hätte.

»Eigentlich ja«, antwortete er darum ausweichend.

Tino strahlte. »Dann los!«, forderte er.

Aber Girolamo schüttelte den Kopf. »Nein!«

»Wieso nicht?«

»Weil ich nicht will!«

»Wieso nicht?«

»Weil …« Girolamo verstummte und kratzte sich am Kopf. »Weil ich nicht will. Basta!« Demonstrativ wandte er sich Lil zu. »Warst du in der letzten Zeit auf der anderen Seite des Schleiers?«, fragte er und bedeutete Tino auf diese Weise, dass ihr Gespräch beendet war.

»Nein«, meinte Lil. Sie spielte mit den Silberperlen in ihrem Haar.

Im Gegensatz zu Nadir, den anderen und ihm selbst vermied Lil es meistens, den Schleier zu durchschreiten und sich in Florenz aufzuhalten. Sie gehörte zu den Kindern der Nacht, und das bedeutete, dass sie in Girolamos Welt unter einer Behinderung litt, während sie diesseits des Schleiers völlig gesund war.

Nadir war in Florenz bei Tag blind, Ursa, seine Freundin, bei Nacht. Und sobald Lil den Schleier durchdrang, alterte sie mit geradezu unheimlicher Geschwindigkeit.

Girolamo hatte keine Ahnung, warum das so war, aber es blieb ihnen allen nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren. Lil tat es, indem sie Ausflügen in die andere Welt so gut wie möglich aus dem Weg ging.

Girolamo nickte. Fieberhaft suchte er nach einem anderen Gesprächsthema, ärgerte sich darüber, wie schwer es ihm fiel, sich etwas Geistreiches einfallen zu lassen. Doch wieder war es Tino, der ihm aus der Patsche half. Der Holde deutete auf die silbernen Perlen in Lils Haaren. »Schlüssel«, sagte er. »Sie trägt ihn noch.«

Lil griff in ihre Zöpfe und zog jenen mit den Perlen daraus hervor. Nachdenklich sah sie ihn an. Girolamos Blick fiel auf den Ohrring mit dem dreifachen Mond, dem Zeichen der Selene, den sie ebenfalls noch im Ohrläppchen trug. »Ja«, sagte Lil, und es klang wehmütig. »Als Erinnerung, sozusagen.« Der Ohrring hatte ihrem Bruder Yon gehört, der im Kampf gegen Mercurius gestorben war.

Girolamo musste einen etwas größeren Schritt machen, weil sich mitten auf dem Weg eine ekelige Pfütze befand. Der Anhänger, den er an einer silbernen Kette um seinen Hals trug, baumelte dabei unter seinem Hemd hin und her und schlug gegen seine Brust. Girolamo unterdrückte den Impuls, nach dem Anhänger zu greifen. Er wollte Tino nicht mit der Nase darauf stoßen, dass auch er unter dem Hemd einen der Schlüssel trug, noch dazu einen besonderen. Er wusste auch ohne hinzusehen genau, wie er aussah: die dreifache silberne Mondsichel, in deren Aussparungen die goldenen Kugeln des siebten Schlüssels steckten.

Strapotenza.

Der eine, der mächtige Schlüssel.

Der, ebenso wie alle anderen, jetzt völlig nutzlos war, seit die Göttin Selene selbst den Schleier zwischen den Welten wieder geöffnet hatte. Früher waren die Schlüssel notwendig gewesen, um den Schleier zu durchdringen. Heute nicht mehr.

Girolamo schob die Gedanken an die Vergangenheit von sich und sah stattdessen zu, wie Lil den perlenverzierten Zopf wieder über ihre Schulter nach hinten warf.

»Ein Schlüssel«, zwitscherte Tino. »Schön! Schöner Schlüssel! Sehr gut!« Und so ging es noch eine ganze Weile weiter, bis Lil von dem ständigen Geplapper völlig entnervt die Augen verdrehte.

»Du hast wirklich ein Talent dafür, dir Plagegeister anzulachen, Girolamo!«, stieß sie hervor.

 

Irgendwann waren sie des Spazierengehens müde, und Lil wollte zu den anderen Kindern der Nacht zurückkehren. Girolamo überlegte, ob er sie begleiten sollte, aber dann besann er sich eines anderen. Lils Hinweis auf die Plagegeister, die er sich anlachte, hatte ihn an jemanden denken lassen, den er schon mehrere Tage lang nicht gesehen hatte.

Aus diesem Grund verabschiedete er sich von Lil – nicht ohne dabei ein leises Bedauern zu verspüren. Er sah ihr zu, wie sie am Ende der Gasse um eine Ecke verschwand. Dann zerteilte er den Schleier.

»Wo willst du hin?«, fragte Tino.

»Irgendwo hin, wo du nicht nervst!« Girolamo grinste den Holden an und kehrte nach Florenz zurück, um sich auf die Suche nach Silvio zu machen. Das Letzte, was er hörte, war ein empörtes Schnaufen des kleinen Wesens, das ihm nicht in die andere Welt folgen konnte.

 

Wie immer, wenn er in Florenzia gewesen war, selbst wenn es dort Nacht gewesen war und in Florenz die Sonne am Himmel schien, kam ihm seine Welt grau und ein wenig düster vor. Die Menschen hier wirkten weniger fröhlich, die Mauern der Häuser ragten dunkler in den Himmel, der darüber hinaus nur von einer und nicht von zwei Sonnen erleuchtet wurde. Der Arno, der breite Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilte, roch ekelhafter als die Flüsse Florenzias. Einzig und allein die Ponte Vecchio, jene Brücke, die mit Häusern aller Arten bebaut war, hatte ein wenig von der Fröhlichkeit und Geschäftigkeit der Schimmernden Stadt.

Und hierhin zog es Girolamo jetzt auch.

Der Hufschmied, der noch vor einigen Tagen auf der Brücke seinen Stand aufgebaut hatte, war verschwunden. An seiner Stelle hockte nun ein Gaukler auf dem ausgetretenen Pflaster und jonglierte mit mehreren Bällen. Girolamo blieb stehen, um ihm zuzusehen, aber je länger er die bunten Kugeln in die Luft fliegen sah, umso mehr erinnerten sie ihn an die sferatinas aus Florenzia, jene Geschichtenkugeln, von denen er selbst eine in der Hosentasche hatte und von denen drei andere ihn erst kürzlich gerettet hatten …

Girolamo seufzte.

Erneut schob er jeden Gedanken an das Vergangene so weit wie möglich von sich und machte sich daran, die Brücke zu überqueren. Er wollte sich gerade an einer Gruppe von Bürgern vorbeizwängen, die sich vor dem Tisch eines Geldwechslers versammelt hatten, als ihm jemand auf die rechte Schulter tippte.

Er wandte sich um.

Da war niemand zu sehen.

»Hallo, Paolo!«, sagte eine wohlbekannte, trompetende Stimme an seinem linken Ohr.

Er fuhr herum. »Silvio!« Er lachte auf. »Dich habe ich gesucht!«

Ein kleiner, sehr magerer Junge stand vor ihm und grinste ihn so breit an, dass seine riesigen Vorderzähne im Licht der Sonne leuchteten. In der einen Hand hielt er zwei dicke, rotbackige Äpfel, von denen er jetzt einen Girolamo reichte.

Girolamo nahm ihn, obwohl er wusste, dass Silvio die Äpfel wahrscheinlich kurz vorher an irgendeinem Marktstand gestohlen hatte. Herzhaft biss er hinein. Der Apfel war süß und so saftig, dass Girolamo sich anschließend das Kinn sauberwischen musste.

Unterdessen wippte Silvio von einem Fuß auf den anderen und kratzte sich unter dem blauen Wams, das er noch immer trug. »Du warst in Florenzia, oder?« Er musterte Girolamo von Kopf bis Fuß.

Girolamo war sich nicht sicher, woran Silvio das erkannte, aber da es der Wahrheit entsprach, nickte er. Er wusste, wie sehr ihn der Freund um die Möglichkeit beneidete, jederzeit in die Schimmernde Stadt zu gehen. Und tatsächlich seufzte Silvio nun auch tief auf. »Ich wäre auch so gerne ein Narratore!«, stieß er hervor und schlug seine Zähne in den ihm verbliebenen Apfel.

Girolamo lächelte ihn an. »Das wäre gut«, sagte er spöttisch, »weil du dann vielleicht auch genug Grips hättest, mich nicht andauernd Paolo zu nennen.«

Immer wieder verfiel Silvio in diese dumme Angewohnheit, und Girolamo hatte bis heute nicht herausbekommen, warum das so war.

Jetzt rümpfte Silvio die Nase. »Pah!«, machte er. »An deinem ach so tollen Grips bin ich nicht interessiert! Ich möchte zurück nach Florenzia, möchte wieder Andari sehen und Holde. Und die Mauern der Schimmernden Stadt berühren, die sich im Licht der beiden Sonnen ganz warm und seidig anfühlen.«

Girolamo lächelte bei diesen Worten. Er wusste, dass Silvio eine unbändige Sehnsucht nach Florenzia verspürte, seit er das letzte Mal dort gewesen war und Girolamo geholfen hatte, die Stadt zu retten. Zwar hatte die Göttin Selene nach dem letzten Kampf gegen das Böse dafür gesorgt, dass der alte Fluch aufgehoben und der Schleier zwischen den Welten wieder durchlässig gemacht wurde. Aber nur Narratori, wie Girolamo einer war, konnten zwischen den beiden Welten hin- und herwechseln. Gewöhnliche Menschen wie Silvio oder auch Wesen aus Selenes Welt, wie zum Beispiel Tino, hatten seither keine Möglichkeit mehr, die andere Seite zu besuchen.

Girolamo überlegte, was er sagen sollte, um Silvio über seine Sehnsucht hinwegzuhelfen, aber ihm wollte nichts Passendes einfallen. Umso erleichterter war er, als er in der Menschenmenge jenseits der Brücke eine vertraute Gestalt entdeckte.

»He!«, rief er. »Schau mal, da ist Fuch!«

Er streckte die Hand aus und wies auf einen Jungen, dessen Haare so flammend rot waren, dass sie aussahen, als brenne auf seinem Kopf ein hell loderndes Feuer. Fuch hatte Girolamo und Silvio ebenfalls entdeckt, und er winkte ihnen eifrig zu.

»Sieht aus, als will er was von uns«, meinte Silvio dumpf. Er war nicht der allerbeste Freund von Fuch, auch wenn er noch vor kurzem alles darangesetzt hatte, in dessen Bande von Bettelkindern aufgenommen zu werden. Girolamo hingegen hatte bei allem, was sie in der letzten Zeit gemeinsam erlebt hatten, gelernt, Fuch zu respektieren und sogar ihn ein wenig zu mögen. Er schaute zu, wie Fuch sich durch die Menschenmenge wühlte und in Schlangenlinien auf sie zusteuerte.

»Gut, dass ich euch treffe!«, sagte Fuch, als er sie endlich erreicht hatte. Er wirkte ein bisschen außer Atem, was vermutlich daran lag, dass er soeben den Ellenbogen eines fetten Kaufmanns in die Rippen bekommen hatte. Girolamo und er begrüßten sich mit Handschlag. Silvio zog es vor, Fuch einfach nur zuzunicken, was dieser mit einem ironischen Grinsen zur Kenntnis nahm.

Dann wandte er sich an Girolamo. »Ich habe dich gesucht. In der Bibliothek ist so ein komischer Vogel aufgetaucht, und ich habe keine Ahnung, was er von uns will.«

»Ein komischer Vogel?«, wiederholte Girolamo.

»So ein junger Kerl, vielleicht gerade mal Mitte zwanzig, würde ich schätzen. Irgendwie sieht er aus wie ein Frettchen, wenn ihr mich fragt.«

Girolamo schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden, der so aussieht.«

»Hieronymus?«, fragte Silvio, doch Fuch schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht der Maler. Wie kommst du auf den?«

Silvio zuckte die Achseln.

Auch Girolamo hatte plötzlich an Hieronymus denken müssen.

Hieronymus Bosch war ein überaus sonderbarer Mensch. Nicht nur, dass er Bilder von Florenturna schuf – diese Bilder bewegten und veränderten sich auch auf magische Weise! Kurz vor dem zweiten Kampf gegen Florenturna war Hieronymus untergetaucht, und obwohl das Gerücht umging, er sei wieder nach Florenz zurückgekehrt, hatte Girolamo keine Ahnung, wo der Mann sich aufhielt.

»Nicht Hieronymus«, wiederholte Fuch. »Niccolò Machiavelli, so hat der Kerl sich vorgestellt.« Er wich einem Karren mit Stoffballen aus, der direkt auf die Kinder zuhielt. Der Fahrer schoss einen wütenden Blick auf sie ab, und Fuch schickte ihm einen Fluch hinterher. »Blödmann!«, meinte er dann leichthin. »Ein bisschen besser aufpassen wäre nett!« Dann wandte er sich wieder Girolamo zu. »Als dieser Machiavelli das erste Mal bei uns auftauchte, hat er nach dir gefragt. Ich habe keine Ahnung, was er von dir will, aber ich habe ihm versprochen, nach dir zu suchen.«

Girolamo überlegte. Er kannte niemanden mit Namen Machiavelli, und er konnte sich nicht vorstellen, was der Mann von ihm wollte.

»Er sieht aus, als gehöre er zur Signoria«, fuhr Fuch fort, und er vergrößerte Girolamos Neugier auf diesen Unbekannten dadurch noch. Die Signoria war der Stadtrat von Florenz. Jemand, der zur Signoria gehörte, hatte Macht und Einfluss. Und oft auch eine Menge Geld.

»Ein Mitglied der Signoria will etwas von mir?« Girolamo verschränkte die Arme vor der Brust.

Fuch nickte. »Du solltest mitkommen und ihn dir selbst ansehen.«

Girolamos Blick schweifte am Ufer des Arno entlang. Der halbfertige Palazzo, der hier ganz in der Nähe in die Höhe wuchs, wirkte im Licht der Wintersonne fahl und wie ein Skelett. »Jetzt gleich?«

Fuch warf einen Blick zum Himmel, um die Tageszeit abzuschätzen. »Er sagte, er komme von nun an jeden Tag gegen Mittag nachsehen, ob wir dich gefunden haben.«

Auch Girolamo blickte in Richtung Sonne. Es war fast Mittag. Er schloss für einen Moment die Augen, um die schwachen Strahlen auf dem Gesicht zu spüren. Dann sah er Fuch an. »Bring mich zu ihm«, bat er.

IV. Machiavelli

Es liegt in der Natur der Dinge,

dass man keinem Übel entgehen kann,

ohne in ein anderes zu geraten;

die Klugheit aber besteht darin,

… das kleinere Übel

als etwas Gutes zu wählen.

(Aus: Niccolò Machiavelli, Il principe. Der Fürst)

 

 

Lorenzos Bibliothek sah noch genauso aus wie beim letzten Mal, als Girolamo hier gewesen war. Da lagen noch immer die Trümmer der Marmorbögen, die aus Selenes Welt nach Florenz hinübergewechselt waren, und auch die Metallstäbe und die Teile von Bücherregalen, die damals durch den Schleier gedrungen waren, bedeckten zerborsten und zu losen Haufen aufgeschichtet den Boden.

»Ihr hättet hier ja mal ein bisschen aufräumen können!«, sagte Girolamo mit Blick auf das Chaos.

Fuch zuckte die Achseln. »Gibt nicht mehr viele von uns«, meinte er gleichgültig.

Fragend sah Girolamo ihn an.

»Die Kinder des Zwielichts, meine ich. Der Frater hat für uns gesorgt«, erklärte Fuch. »Seit er tot ist, sind die meisten aus der Bande abgehauen. Nur Michele ist noch bei mir.«

Girolamo verspürte ein leichtes Bedauern. Zwar hatte er die Mitglieder der Bande von Bettelkindern nur flüchtig kennengelernt, aber jetzt zu hören, dass die Gemeinschaft auseinandergefallen war, stimmte ihn traurig. »Das tut mir leid«, sagte er.

Fuch rümpfte die Nase und wies voran, um Girolamo zum Weitergehen zu bewegen. »Ist halt so.«

Als Girolamo unter das riesige, einem Kirchenschiff ähnelnde Gewölbe hinaustrat, wanderte sein Blick nach oben zu dem metallischen Gebilde, das an der Decke hing. Es bestand aus unzähligen, aus schimmerndem Messing geformten Scheiben und Zahnrädern, an denen mehrere bunte Kugeln befestigt waren. Sie alle drehten sich um eine grüne in der Mitte, die einen schneller, die anderen langsamer. Doch jedes Mal, wenn eine dieser Kugeln auf ihrer regelmäßigen Bahn ein Stück vorrückte, gab es einen leisen, klingenden Ton.

»Fuch!« Eine helle Stimme erklang und ließ den Staub in der Luft tanzen. »Gut, dass du kommst!« Ein sehr dünner Junge mit schief stehenden Vorderzähnen trat vor. Es war Michele, jener einzige Junge, der bei Fuch geblieben war.

Girolamo nickte ihm freundlich zu.

Michele erwiderte seinen Gruß, dann wandte er sich an Fuch. »Der Kerl ist wieder da!« Mit dem Daumen wies er über die Schulter. Dann trat er ein wenig zur Seite, so dass Girolamo einen Blick auf einen Mann werfen konnte, der vor einem Regal stand und eines der Bücher in den Händen hielt. Er war nicht besonders groß, wirkte schmächtig, aber seine Kleidung – eng anliegende Hosen, ein besticktes Wams und ein weiter Mantel mit einem Besatz aus Fuchspelz – schien teuer und elegant. Der Mann las konzentriert einige Sätze, dann jedoch bemerkte er, dass die Jungen ihn ansahen, und blickte auf. Er hatte stechende hellbraune Augen, eine leicht gebogene Nase und ein fliehendes Kinn, das seinem spitzen Gesicht tatsächlich etwas Frettchenhaftes gab.

Einen Augenblick lang musterten Girolamo und er sich, und es kam Girolamo vor, als würde er von oben bis unten mit Blicken abgetastet wie mit klebrigen Fingern. Er lauschte in sich hinein, versuchte zu ergründen, ob der Mann vielleicht ein Narratore war. Aber er spürte nichts, kein Ziehen in seiner Brust, keine Verbindung, wie er sie zu Nadir oder Ursa oder den anderen Narratori empfand.

Noch während Girolamo versuchte, sich klarzuwerden, was er von diesem Mann halten sollte, lächelte der breit. Er hatte ein gewinnendes Lächeln, das sein Gesicht freundlich wirken ließ, gleichzeitig aber auch ein wenig spöttisch oder überheblich aussah. Rund um seine Augen erschienen unzählige feine Falten, die nicht so recht zu seinem noch jungen Aussehen passen mochten.

»Du musst Girolamo sein«, sagte der Mann. Er stellte das Buch zurück ins Regal, wobei er es sehr sorgsam mit dem Rücken an der vorderen Regalkante ausrichtete. Dann trat er einen Schritt auf Girolamo zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich freue mich, dich kennenzulernen. Mein Name ist Niccolò Machiavelli.«

 

Machiavelli war tatsächlich kein Narratore. Zu diesem endgültigen Schluss kam Girolamo, als er die schmale Hand des Mannes ergriff und schüttelte.

»Fuch hat mir gesagt, dass Ihr nach mir sucht«, meinte er. Fuch und Silvio waren inzwischen neugierig näher getreten, und sie grinsten verlegen, als Machiavellis Blick sie streifte. Silvio trat von einem Bein auf das andere. Fuch hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Machiavelli registrierte beides mit einem leichten Stirnrunzeln, kümmerte sich dann jedoch nicht weiter um die beiden, sondern wandte sich wieder Girolamo zu. »Oh. Stimmt. Das habe ich in der Tat.« Wieder lächelte er.

Girolamo atmete tief durch. »Was wollt Ihr von mir?«

»Das ist eine längere Geschichte.« Machiavelli sah sich um. Er entdeckte die Marmortrümmer, machte eine einladende Geste in Girolamos Richtung und ließ sich selbst auf den Trümmern nieder. Seinen weiten Mantel schlang er dabei um sich, als sei ihm kalt.

Girolamo suchte Fuchs Blick. In dem Gesicht des Betteljungen stand eine Mischung aus Neugier und Vorsicht, während Silvio und Michele eher interessiert als wirklich misstrauisch aussahen. Also beschloss Girolamo, dass er sich anhören würde, was dieser Machiavelli zu sagen hatte. Langsam setzte er sich ebenfalls.

Machiavelli wandte sich ihm zu. Kurz ruhte sein Blick direkt auf Girolamos Brust, und Girolamo erschrak. Wusste dieser Mann, was sich unter seinem Hemd befand? Girolamo war versucht, die Hand schützend um strapotenza zu schließen, aber ihm war klar, dass er damit nur verraten hätte, wie wichtig ihm die Kette und ihr Anhänger waren. Also beherrschte er sich.

Allerdings ohne Erfolg.

Mit dem Kinn wies Machiavelli auf Girolamos Brust. »Du trägst einen der Schlüssel um den Hals, oder?«

Girolamo schluckte. Fieberhaft suchte er nach einer passenden Antwort. Machiavelli war kein Narratore, aber dennoch wusste er von der Existenz der Schlüssel, die früher einen Durchgang durch den Schleier ermöglicht hatten. Was hatte das zu bedeuten?

Offenbar konnte man ihm die Gedanken an der Nasenspitze ablesen, denn jetzt warf Machiavelli lachend den Kopf in den Nacken. »Oh! Du musst nicht beunruhigt sein! Wirklich!«

Es war Silvio, der als Erstes eine Gegenfrage stellte. »Was für einen Schlüssel meint Ihr?« Sein Gesicht war ausdruckslos, eine perfekte Maske, und dennoch fiel Machiavelli nicht darauf herein.