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Florian Fischer ist sieben Jahre alt und lebt im Kinderheim von Hope unter der strengen Aufsicht des kaltherzigen Heimleiters Anton Schwefelkopf. Eines Tages trifft ihn die härteste Strafe, die das Kinderheim zu bieten hat: eine Nacht alleine im finsteren Keller. Doch dort bekommt er unerwarteten Besuch von einem Mädchen, das aus dem Nichts erscheint und ihm sechs magische Gaben ankündigt. Nach diesem Tag ist in Florians Leben fast nichts mehr, wie es einmal war.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Im Kinderheim
Die Schule
Der Traum
Der Spendentag
Die erste Gabe
Der Freundschaftsbund
Das Geheimnis der Schildkröte
Eine neue Freundin
Die zweite Gabe
Eine Freundin verschwindet
Die Körperwandler
Wieder Ruhe eingekehrt
Wieder Spendentag
Die Einladung
Anna und Willy
Die dritte Gabe
Abschied
Jennys Geheimnis
Frau Sommer
Das Fest
Besuch
Die vierte Gabe
Ein Verbündeter
Zu Besuch
Die grosse Suche
Die versteckte Welt
Die fünfte Gabe
Der weise Dorfälteste
Leben im Dorf
Der Feuerstier
Ninas Überraschung
Harte Prüfungen
Rückzug
Einsamkeit
Die letzte Gabe
Dunkle Gedanken
Zurück
Der Kampf
Sieg und Abschied
Fata und die Rettung des Baumes
Endlich Frieden?
„Gebt endlich Ruhe - Nichtsnutze! Ich will nichts mehr von euch hören!" dröhnte eine wütende Stimme durch die kalten Gemäuer des trostlosen Kinderheimes von Hope.
Herr Schwefelkopf, der Heimleiter, schrie so laut, dass sein Kopf immer röter und röter wurde, und sein Schnurrbart hüpfte bei jedem Wort auf und ab. „Den Nächsten, der einen Mucks macht, sperre ich in den Keller!" Die Arme in die Hüfte gestützt und voller Empörung nach Luft ringend, stand er im Flur. Von seinen dunkel gelockten, schon leicht ergrauten Haaren tropfte der Schweiss. Bei seiner rundlichen Statur war ihm die Anstrengung noch anzusehen, da er durch die langen Gänge, von Stockwerk zu Stockwerk, gerannt war. Sein kanariengelber, flauschiger Morgenrock reichte ihm fast bis zu seinen grossen Füssen, an denen nur noch ein, ebenfalls kanariengelber, Hausschuh zu sehen war. Den zweiten hatte er wohl verloren. Sein Anblick wäre bestimmt ein Grund zum Lachen gewesen, wenn nicht seine Augen gewesen wären. Diese kleinen, grauen Fischaugen, die in seinem wütenden Gesicht funkelten.
Aber diese Warnung wirkte wie eine Bombe. „Sonst sperre ich euch in den Keller."
Schrecklicherweise hatten dies schon einige der Heimkinder am eigenen Leib erfahren. Wer aber nach einer langen und unheimlichen Nacht aus dem Keller zurückkam, blickte voller Angst umher und zuckte einige Tage bei jedem Geräusch zusammen. Florian war sehr froh, dass er noch nie in den Keller gemusst hatte. Er würde bestimmt keinen Mucks mehr machen. Die Türen zu den Schlafräumen wurden zugeknallt, und damit wurde der letzte Rest Licht, der von den Fluren her einen kleinen, hellen Streifen in die Zimmer gezogen hatte, auch noch ausgesperrt.
Nun lag er da, flach auf dem Rücken, und starrte gegen die Decke. Sein Herz pochte so laut, dass es in seinen Ohren dröhnte. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Florian versuchte im Zimmer etwas zu erkennen. Selbst von Peter, seinem Zimmergefährten, war kein Ton mehr zu hören. Die Angst, dass einer der Aufseher, oder sogar Herr Schwefelkopf, einen Mucks hören könnte, war zu gross. Der Raum war so kalt, dass sich Florian die Decke bis zur Nasenspitze hinaufzog.
Vor einigen Minuten erst war er noch mit ein paar Heimkindern den Flur entlanggerannt und hatte sich über den Scherz gefreut, den sich Thomas, einer der älteren Jungen, mit den Mädchen ausgedacht hatte. Thomas hatte sich zum Badezimmer der Mädchen geschlichen und die Tür leise geöffnet, um mit seiner Hand den Lichtschalter zu ertasten. Als er ihn gefunden hatte, knipste er das Licht aus. Es folgte ein Gekreische und ein heilloses Durcheinander. Die Mädchen kicherten und rannten aufgeregt, im Pyjama oder in riesige Handtücher gehüllt, durch den Flur. Es kam nicht oft vor, dass im Kinderheim von Herrn Anton Schwefelkopf Kinderlachen zu hören war.
Als Herr Schwefelkopf, im Schlepptau einige seiner Aufseher, im Flur erschien, war das Gelächter sehr rasch verstummt.
Florian grübelte noch darüber nach, ob Herr Schwefelkopf wohl herausfinden würde, wer den Streich gespielt hatte. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, was wohl geschehen würde. Hoffentlich würde keines der Heimkinder Thomas verraten, … obwohl …, vielleicht Jenny …, ein rundliches, dunkel gelocktes Mädchen mit grünen Augen, sie hatte schon einige Male die Streiche und Geheimnisse der anderen Kinder an den Heimleiter verraten. Immer wieder versuchte sie sich auf diese Weise beim Schwefelkopf einzuschmeicheln, aus was für einem merkwürdigen Grund auch immer. Noch merkwürdiger war es, wenn man wusste, dass der Schwefelkopf Jenny in keiner Weise bevorzugt behandelte. Es war daher kein Wunder, dass niemand sie mochte. Keines der Heimkinder wollte etwas mit Jenny zu tun haben, im Gegenteil, sie wurde bei jeder Gelegenheit, die sich bot, von den anderen gehänselt.
Als sich Florian etwas beruhigt hatte, dachte er, wie so oft, darüber nach, wie er in dieses Kinderheim gekommen war. Man hatte ihm erzählt, dass er als Vierjähriger, in nichts anderes als in eine Decke eingewickelt, vor dem Kinderheim gefunden worden sei. Lange Zeit habe er mit niemandem auch nur ein einziges Wort gesprochen. Das war immer die Stelle in der Geschichte, in der Herr Schwefelkopf mit einem hinterhältigen Grinsen im Gesicht beifügte: „Florian war halt schon immer ein wenig dumm! Nicht wahr, Florian?" Auf der Decke sei der Name „Florian" aufgestickt gewesen. Da die Polizei keine Vermisstenmeldung bekommen hatte und sich sonst auch niemand gemeldet hatte, kannte man weder seinen Namen noch seinen richtigen Geburtstag. Nach einer geraumen Zeit hatte dann Herr Schwefelkopf verkündet, dass die Eltern von Florian entweder gestorben seien oder dass sie ihn einfach nicht mehr wollten, was Florian jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, sehr traurig machte. Ihm wurde von Herrn Schwefelkopf der Name Florian Fischer gegeben und der Tag, als man ihn fand, der 13. März, wurde zu seinem offiziellen Geburtstag erklärt.
Aber das alles lag nun bereits drei Jahren zurück. Vor zwei Wochen hatte Florian Geburtstag gehabt. Er war nun sieben Jahre alt. Aus besonderen Gründen wurden im Heim keine Geburtstage gefeiert. „Bei so vielen Kindern hätte man ja nur noch das Feiern im Kopf', pflegte Herr Schwefelkopf zu grummeln. Eigentlich war es Florian recht so. Warum hätte wohl ausgerechnet der Tag, als man ihn vor dem Kinderheim gefunden hatte, sein Geburtstag sein sollen. Das einzig Gute an diesem Geburtstag war, dass er nun sieben Jahre alt war und schon bald in die Schule gehen durfte. Darauf hatte er sich seit einer sehr langen Zeit gefreut. Manchmal, so wie in dieser Nacht, lag er in seinem Bett und grübelte darüber nach, warum ihn wohl damals niemand vermisst hatte - und - ob es wohl möglich wäre, dass seine Eltern vielleicht doch noch lebten?
Langsam legte sich die Aufregung im Heim und die Kinder fielen, eines nach dem anderen, in einen tiefen, unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde Florian durch das Klopfen an der Tür geweckt. Es war noch ziemlich früh. Blitzartig erinnerte er sich an den vergangenen Abend und musste bei der Vorstellung, wie die Mädchen aus dem Badezimmer, einige nur mit Handtüchern umwickelt, kreischend und schreiend durch den Flur gerannt waren, übers ganze Gesicht grinsen. Er drehte seinen Kopf, um zum anderen Bett zu spähen. Peter gähnte und drehte sich erst noch einmal um. Peter war sein bester Freund, und auch sein einziger. Vor einigen Monaten waren Peters Eltern, Irene und Paul Bauer, bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Als keine Verwandten von Peter zu finden waren, kam er ins Kinderheim. Dass Peter seine Eltern verloren hatte, tat Florian sehr leid, aber für ihn selbst hatte dies auch etwas Gutes. Endlich war er nicht mehr alleine in seinem Zimmer, wie alle die langen Jahre zuvor, und hatte nun auch noch einen guten Freund gefunden. Peter hatte braunes, gekräuseltes Haar und war für seine ebenfalls sieben Jahre sehr gross und schlaksig. Seine graugrünen Augen blickten normalerweise sehr ruhig und gelassen in die Welt. Anders als bei Florian, der durch sein Temperament schon einige Male Probleme mit den Aufsehern gehabt hatte.
„Florian, Peter - steht endlich auf - es ist Zeit …" Frau Krähenfuss streckte ihren Kopf zur Tür hinein und fügte hinzu: „Los, macht schon, wir haben nicht ewig Zeit!"
Frau Krähenfuss war eine der Aufseherinnen im Kinderheim. Sie war eine dürre, grosse Person mit einem verkniffenen Gesicht. Sie hatte eine Hornbrille und kalte blassgraue Augen. Ihre schwarzen Haare waren wie immer streng nach hinten gekämmt. Wie alle anderen Aufseher und Aufseherinnen war auch sie darauf aus, die Kinder bei einer Regelübertretung sofort Herrn Schwefelkopf zu melden.
Blitzartig sprangen Peter und Florian aus ihren Betten und beeilten sich, ins Badezimmer zu gehen.
„Der Name Krähenfuss passt eigentlich ganz gut", flüsterte Peter noch ein wenig schlaftrunken, „die sieht wirklich fast aus wie eine Krähe."
Florian grinste und wusch sich, putzte sich die Zähne, kämmte sich seine schwarzen, glatten Haare vor dem Spiegel. Im Spiegelbild sah er einen normal gebauten Jungen mit einem ebenmässigen Gesicht und einer sehr weichen, glatten Haut mit einem bronzenen Ton. Seine Augen waren dunkelbraun und mandelförmig und wenn er sich ärgerte, sprühten und funkten sie regelrecht.
„Freust du dich auch auf die Schule?" fragte Peter und riss Florian jäh aus seinen Gedanken. „Ich finde es toll, dass wir dann hier dadurch etwas rauskommen, oder?"
Florian drehte sich zu Peter um und sah diesem zu, wie er den Kopf in den Nacken warf und laut gurgelte. Als er fertig gegurgelt hatte, antwortete Florian: „Freuen?", seine Stimme überschlug sich fast. „Ich falle vor Aufregung fast in Ohnmacht. Weisst du, wie lange ich schon in diesem Heim bin? Ich platze fast vor Neugier und will wissen, was ausserhalb dieser Mauern los ist!"
Als er „diese Mauern" sagte, meinte er das riesige und uralte Gebäude mit den dicken Steinmauern, in dem sich das Kinderheim befand. Es hatte mindestens sechs Stockwerke und unzählige Anbauten, Nebengebäude und Ausläufer. Im Winter war es im Innern bitter kalt und zugig. Aus alten Schriften ging hervor, dass es ursprünglich, vor ungefähr dreihundert Jahren, als Gefängnis gebaut worden war. Einem Gerücht nach waren in diesem Gebäude früher unzählige Menschen gefoltert und getötet worden. Einige der fast endlosen Gänge waren in jüngerer Zeit zugemauert worden. Es hiess, dass die Kosten zu hoch seien, alle Teile des riesigen Anwesens zu unterhalten. Dadurch mussten sich die achtundfünfzig Heimkinder zu zweit oder sogar zu dritt ein Zimmer teilen.
„Alle aus dem dritten Stock zur Treppe", schrillte die Stimme von Frau Krähenfuss durch das Stockwerk, „aber beeilt euch, sonst kriegt ihr kein Frühstück mehr!"
In den Gängen herrschte reges Gedränge und ein Hin-und-her-Huschen. Florian hielt vergeblich nach Thomas Ausschau. Thomas Laren war der vierzehnjährige Junge, der sich den Scherz mit den Mädchen erlaubt hatte. Er war ziemlich gross und kräftig gebaut, hatte blondes, glattes Haar und blaue Augen. Ein richtig netter Kerl. Eine Schwester von Thomas, die elfjährige Monika, ebenfalls blond und blauäugig, war auch im Heim. Ihren Vater kannten die Geschwister nicht, und die Mutter, sehr arm und kränklich, war mit der Erziehung ihrer zwei Kleinsten, des siebenjährigen Sven und der vierjährigen Angela, völlig überfordert. Thomas erzählte oft, dass er so schnell wie möglich eine Arbeit suchen wolle, um sich dann um seine kleineren Geschwister zu kümmern. Seine grösste Sorge war, dass auch die beiden Jüngsten eines Tages noch ins Heim müssten. Die Sorge war nicht ganz unbegründet. Viel zu oft vergass die Larenmutter wichtige Sachen. Erst kürzlich hatte sie vergessen einzukaufen und die Kinder hatten zu Hause kein Essen mehr gehabt. Thomas sagte oft: „Mutter ist zwar etwas vergesslich, aber sie hat uns sehr lieb."
„Hast du Thomas heute schon gesehen?", fragte Florian Peter mit sorgenvoller Stimme.
„Nein, es ist mir aber nicht entgangen, dass er fehlt", murmelte Peter vor sich hin, „vielleicht hat es der Schwefelkopf schon rausgekriegt, wer an dem Scherz gestern schuld war!"
„Vielleicht ist Jenny, die Verräterin, schon zu ihm geeilt!", zischte Florian besorgt und ärgerlich.
In der Zwischenzeit waren sie im Erdgeschoss angelangt und drängelten sich mit den anderen Kindern in den grossen Essensraum.
Ein Getrampel und Getöse erfüllte den Raum, bis sich alle Kinder an ihren Platz gesetzt hatten.
„Florian, schau doch!" Peter deutete entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen in die vordere Hälfte des Raumes.
Florian drehte sich um und begriff sofort, was Peter so entsetzte.
Ganz vorne im Raum war Herr Schwefelkopf und neben ihm - stand Thomas. Das rechte Ohr von Thomas in den Fingern haltend, fing Herr Schwefelkopf, nachdem im Saal unheilvolle Stille eingekehrt war, an zu sprechen: „Guten Morgen, meine lieben Kinder", säuselte er. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, um in ein schadenfrohes Grinsen überzugehen, und seine grauen, kalten Augen waren ohne einen Funken von Mitleid. „Gestern Abend hat wieder einmal ein Kind in meinem Heim gedacht, dass es die Regeln ohne Strafe brechen könnte." Er machte eine kleine, gespannte Pause, wobei er sich genüsslich umsah und in die empörten und gleichzeitig angstvollen Kinderaugen blickte. „Und so freut es mich ausserordentlich, dass mir zugetragen wurde, wer der Übeltäter war. So konnte ich ihn seiner verdienten Strafe aussetzen."
Einige zornige Augenpaare hatten sich bei der Bemerkung „dass mir zugetragen wurde" unheilvoll in Jennys Richtung gedreht. Jenny sass einfach nur da, unfähig, sich zu rühren, und starrte stur auf ihren Teller.
„Und nun gehen wir wieder unseren gewohnten Arbeiten nach", ertönte immer noch die Stimme von Herrn Schwefel- kopf. „Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Sieben- jährigen, die im nächsten Monat in die Schule kommen, sich jeden Tag unverzüglich nach der Schule sofort wieder im Heim melden müssen."
Nun liess er endlich das Ohr von Thomas los und verliess mit einer schadenfrohen Grimasse den Esssaal der Kinder. Die Aufseher und der Heimleiter hatten einen eigenen Raum, in dem sie die üppigsten und herrlichsten Mahlzeiten genossen und es sich richtig gut gehen liessen.
„Ich habe gehört, dass Thomas letzte Nacht in den Keller musste", berichtete Lucy, die ihr Zimmer mit Jenny teilte. „Vielleicht können wir ihm heute ein wenig bei seinen Arbeiten helfen und ihn trösten."
Peter drehte sich zu Lucy um und spöttelte: „Du bist ja genau die Richtige, Lucy. Die Zimmergefährtin der Verräterin, vielleicht müssen wir bei dir auch aufpassen, was wir erzählen." Lucys Gesicht lief tomatenrot an, sie drehte sich abrupt um und beeilte sich, wieder zu ihrem Stuhl zurückzugehen. Es sah fast so aus, als müsste sie ihre Tränen zurückhalten, denn ihre Mundwinkel zuckten verdächtig.
„Glaubst du nicht, dass du ihr Unrecht tust?", sprach Florian etwas beschwichtigend zu Peter, obwohl ihm dieser Gedanke auch schon durch den Kopf gegangen war.
Lucy Berger war eigentlich ein ganz nettes Mädchen, sie war auch schon ziemlich lange im Heim. Es hiess, dass sie ihre Eltern wegen einer Krankheit verloren hatte. Sie war ein schlankes, hübsches Mädchen mit dunkelblonden, leicht rötlichen Haaren und braunen Augen, und eigentlich hatte sie noch nie eines der Heimkinder verraten.
Es wurde noch einmal ganz still im Esssaal, als Thomas, der ganz verstört wirkte, zu seinem Stuhl stolperte. Monika, seine Schwester, war ihm schon entgegengelaufen, um ihn am Arm zu nehmen. Seine Freunde gaben ihm die besten Bissen vom Frühstück ab und überschlugen sich fast dabei, ihn zu bedienen. Dabei mieden es alle, ihm direkt in die Augen zu schauen oder ihn zu fragen, was er denn in dieser Nacht erlebt hatte.
Wie im Flug war der letzte Monat vorbeigegangen. Morgen würde ihr erster Schultag sein. Ganz aufgeregt legten die Kinder ihre Kleider und Schulsachen parat.
„Ich glaube, ich kriege diese Nacht kein Auge zu." Peters Stimme klang ganz ungewohnt aufgeregt. „Hoffentlich kommen wir in dieselbe Klasse!"
„Was!" Florian verschluckte sich fast. Peter schrak zusammen, da dieses „Was!" von Florian fast wie ein Schrei klang. „Jetzt sagst du mir erst, dass das nicht sicher ist?" Florian holte Luft und sprach dann etwas leiser und fast flehend weiter: „Wir kommen doch bestimmt in dieselbe Klasse - oder…?"
„Beruhige dich doch." Peter klopfte Florian auf die Schulter und grinste. „Ich wollte dich nur auf den Arm nehmen. Monika, die ist ja schon in der 5. Klasse, hat mir erzählt, dass sie in der Schule die gleichaltrigen Heimkinder immer in dieselbe Klasse schicken. Der Schwefelkopf wollte das so, damit er immer genau Bescheid weiss, wann wir Schulschluss haben." „Uff, du hast mir einen schönen Schrecken versetzt", stöhnte Florian leise auf. „Aber weisst du auch, was das sonst noch bedeutet?" fragte er mit einem merkwürdigen Glitzern in den Augen.
„Was denn?", fragte Peter neugierig.
„Jenny, die Verräterin, wird auch in unserer Klasse sein", zischte Florian. „Wer weiss, vielleicht können wir ihr mal eins auswischen?"
„Na ja, wir werden sehen", murmelte Peter. „Thomas hat die Nacht im Keller ziemlich gut überstanden, oder?", fragte er nachdenklich.
„Ja, ich denke schon." Florian überlegte kurz. „Er hat aber mit niemandem darüber gesprochen, hat Monika erzählt, nicht mal mit ihr."
„Das hat noch niemand." Peter räusperte sich. „Hast du ge- sehen, wie er noch Tage später bei jedem Geräusch zusammenzuckte?"
„Und hast du gesehen?", ereiferte sich Florian. „Seine Kleider waren ganz zerschlissen nach dieser Nacht - irgendwie sahen die aus wie - angeknabbert?"
„So, nun ist es aber genug." Die aufdringliche und gellende Stimme von Frau Krähenfuss erinnerte sie blitzartig, dass es Zeit war, ins Bett zu hüpfen. Dann fügte sie überraschend sanft hinzu: „Schlaft gut, Kinder, morgen ist ein besonderer Tag für euch." Als sie den Flur entlangging, murmelte sie noch: „Endlich kehrt wieder etwas Ruhe ein, wenn diese Krachbande in der Schule ist." In Wahrheit dachte die harte und verhärmte Frau an ihre bevorstehende Pensionierung. Sie hatte in einem kleinen, lauschigen Städtchen, fernab vom Lärm, in einer Alterssiedlung eine kleine Wohnung in Aussicht. Ihre Nachbarn würden dann alles ältere und ruhige Damen sein, bei denen sie sich die Erholung erhoffte, die sie hier, bei den ihr so verhassten Kindern, nicht erwarten konnte.
In dieser Nacht konnten weder Florian noch Peter vor Aufregung gut einschlafen. Alle paar Minuten fragte wieder einer: „Schläfst du schon?" - „Nein, und du?" und so weiter.
Die Stunden und Minuten krochen langsam und zäh dahin. Irgendwann in dieser Nacht fielen dann auch noch dem aufgeregtesten Kind die Augen zu.
Es wurde Morgen und im ganzen Kinderheim herrschte eine aufgeregte Stimmung. Es wurde geflüstert und getuschelt und in einigen Nischen hörte man Kichern. An diesen besonderen Tag würde sich Florian noch lange erinnern. Die Kinder wurden mit einem besonders ausgiebigen Frühstück überrascht, was in diesem Kinderheim sehr selten vorkam. Es gab Fruchtsäfte, frische Brötchen, frisches Obst, verschiedene Konfitüren und Müesli.
Thomas konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, als er Jenny, über ihre Müeslischale gebeugt, essen sah. Er lief hinter ihrem Stuhl durch und klopfte ihr unerwartet heftig auf die Schultern, wobei er hämisch grinsend sagte: „Oh, schaut mal, da ist Jenny, sie hat heute auch ihren ersten Schultag."
Vor lauter Schreck spuckte Jenny ihr Müesli, das sie bereits im Mund hatte, über den ganzen Tisch. Einige Kinder konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen. Als Jenny nach einem Hustenanfall, mit einem Entschuldigung heischenden Gesicht, das tomatenrot angelaufen war, ihre Essnachbarn anschaute, konnte sich im Speisesaal niemand mehr halten. Einige Kinder brüllten und schüttelten sich vor Lachen und andere kicherten verhalten hinter vorgehaltener Hand. Florian wischte sich die Tränen aus den Augen und spähte zu Peter, der sich vor Lachen den Bauch halten musste.
„Jetzt kann der Tag fast nicht mehr besser werden", seufzte Florian, immer noch grinsend, zu Peter.
Peter deutete zur Tür, die schwungvoll aufgestossen wurde, und Herr Schwefelkopf stolzierte in Begleitung einer Frau hinein. Misstrauisch schaute Anton Schwefelkopf durch den Saal, konnte aber den Grund für das Gelächter, das er eben noch gehört hatte, nicht erkennen.
„Guten Morgen, Kinder", begrüsste Herr Schwefelkopf alle anwesenden Heimkinder, was ein fassungsloses Staunen auslöste. Noch nie waren sie so freundlich vom Schwefelkopf begrüsst worden. Vermutlich musste er der unbekannten Frau einen fürsorglichen Heimleiter vorspielen.
„Ich möchte euch Frau Weiss, eine neue Aufseherin, vorstellen", fuhr er fort. „Sie wird heute die Erstklässler zur Schule begleiten." Er machte eine spannungsgeladene Pause, bevor er weitersprach. „Ich erwarte von euch, dass ihr gehorcht und keinen Kummer macht." Sein Blick suchte im Raum nach einer bestimmten Person. Als er Jenny sah, räusperte er sich kurz und murmelte: „Ich wünsche euch allen einen guten Schulstart." Er drehte sich noch einmal zu Frau Weiss um, flüsterte ihr etwas ins Ohr und verliess den Raum. Florian sah Peter fragend in die Augen, aber der schüttelte auch nur den Kopf. Dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Frau Weiss.
Sie war sehr hübsch und auch noch ziemlich jung, eine schlanke Erscheinung mit brünettem Haar und schönen braunen Augen. Sie sprach mit einer festen, warmen Stimme. „Guten Morgen, Kinder. Mein Name ist Christine Weiss. Ich bin hier neu und würde mich freuen, wenn ihr mir ein wenig helft, mich einzuleben."
Beeindruckt von dieser für die Heimkinder ungewohnt netten Begrüssung, fingen die älteren Kinder an zu klatschen, worauf auch die Kleineren begeistert einfielen.
Beschwichtigend und etwas verlegen fuhr sie mit den Händen durch die Luft, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Als sie weitersprach, musste sie doch etwas lächeln: „Meine erste Aufgabe ist, die Siebenjährigen an ihrem ersten Schultag bis zum Schulhaus zu begleiten. Es sollten sieben Kinder sein. Ich bitte darum, dass ihr aufsteht."
Florian und Peter standen sofort auf. Mit dem Frühstück waren sie längst fertig.
„Kommt bitte zu mir nach vorne, wir gehen als Erste raus, damit ihr euch den Schulweg gut einprägen könnt", ertönte die freundliche Stimme von Frau Weiss.
Florian und Peter bemerkten, dass Lucy verzweifelt versuchte, Jenny nicht in die Augen sehen zu müssen. Sie schien immer noch gegen das Lachen ankämpfen zu müssen, mit der Vorstellung der müeslispuckenden Jenny vor Augen. Jenny hingegen verschoss böse Blicke um sich herum, was aber niemanden besonders kümmerte.
Der Schulweg führte durch einen nahen, weitläufigen Park. Da es Anfang Mai war, sprossen die Blätter der Bäume, die Sträucher und die Blumen leuchteten in ihren kräftigsten Farben. Die Sonne wärmte die Kinder auf ihrem Weg durch den Park. Kleine, flinke Vögel zwitscherten und sangen ihre Lieder fröhlich in den Morgen. Florian starrte mit offenen Augen und offenem Mund auf alles, was in sein Blickfeld geriet. Am Ende des Parks hielt die Gruppe der Siebenjährigen bei einer Busstation an. Frau Weiss zählte noch einmal durch: „Sechs, sieben, alles in Ordnung, alle noch hier. In etwa zwei Minuten sollte der Schulbus hier halten und dann werdet ihr alle schön brav einsteigen und euch setzen."
Florian bemerkte noch ein paar andere Kinder, die auf den Bus warteten. So wie es aussah, wurden die von ihren Müttern begleitet. Einen Augenblick lang versuchte Florian sich vorzustellen, wie das wohl wäre, wenn er eine Mutter hätte, die ihn an seinem ersten Schultag an der Hand halten und ihn zur Schule bringen würde. Erstaunlicherweise schienen die Kinder, die eine Mutter neben sich hatten, nicht so viel Freude daran zu haben, wie Florian sich das immer vorgestellt hatte. Die Mütter zupften ständig an der Kleidung ihrer Kinder herum, putzten ihnen die Nasen und gaben hundert gute Ratschläge auf den Weg. Nun wurde Florian durch einen riesigen gelben Schulbus abgelenkt. Die Bremsen quietschen, und als er stehen blieb, tönte es, als ob der Bus seine Luft laut rauspustete. Florian blickte zu Peter und sah, dass der ebenso beeindruckt von diesem riesigen, gelben Gefährt war. Die Lichter des gelben Riesen sahen wie Augen aus.
Als sie einstiegen, stellte sich der Busfahrer gleich vor: „Guten Morgen, ihr Bambini, ich bin Toni Trapazotti, der beste Busfahrer weit und breit." Toni war ein kleiner, recht fülliger, dunkelhaariger Mann, der vor Fröhlichkeit nur so sprühte. Sobald sich die Kinder gesetzt hatten, schloss Toni vom Fahrerstuhl aus, die Türen und bevor sich der gelbe Riese wieder in Bewegung setzte, ertönte bereits laute italienische Musik aus den Lautsprechern. Die Fahrt war einfach toll und wenn Toni mitsang und einige Töne etwas falsch klangen, war der Schulbus von herzlichem Gelächter erfüllt.
Florian konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es ausserhalb des Kinderheims aussah. Sie fuhren über Strassenkreuzungen, an Häusern vorbei, in denen, so vermutete Florian, glückliche Familien wohnten. Er sah Geschäftshäuser, in die eilig aussehende Menschen schritten, und Marktstände, die soeben aufgebaut wurden. Er konnte sich gar nicht sattsehen.
Dann hielt der Schulbus mit seinen quietschenden Bremsen, die sie bei den Stopps, bei denen andere Kinder einstiegen, schon mehrfach gehört hatten. Das Schulgebäude war ein helles, freundliches Gebäude. Als sie ausstiegen, sah Florian, dass an allen Fenstern bunte Kinderzeichnungen hingen. Neben der grossen Eingangstür waren einige Harassen mit Äpfeln und Brötchen drin aufgestapelt.
Frau Weiss sprach noch mit einem sehr gütig wirkenden Mann mit braunem, glattem Haar und heiteren graublauen Augen. Sie kamen beide zu ihnen.
„Meine Lieben", fing Frau Weiss an, „es freut mich, euch euren Lehrer, Herrn Kemp, vorstellen zu dürfen. Er wird sich von jetzt an um euch kümmern. Denkt daran - seid artig, und sofort nach dem Unterricht kommt ihr mit dem Schulbus wieder ins Heim zurück. Und nun wünsche ich euch alles Gute und lernt viel!" Sie drückte Herrn Kemp kurz die Hand, sagte: „Auf Wiedersehen, Niklaus", errötete kurz und eilte dann, nachdem Herr Kemp gesagt hatte: „Gerne - Auf Wiedersehen, Christine", zum Bus zurück, der sie wieder ins Heim brachte.
Verblüfft blickte Florian zu Peter, der grinsend zugehört hatte, mit den Achseln zuckte und leise spöttelte: „Niklaus und Christine!"
Nun standen sie da, alle sieben Heimkinder an ihrem ersten Schultag, und blickten Herrn Kemp erwartungsvoll an. „Hallo zusammen. Ihr habt es gehört, mein Name ist Herr Kemp. Als Erstes mache ich mit euch eine Führung durch das Schulhaus. Ich zeige euch den Weg zu den Toiletten, zum Speisesaal, zum Pausenraum und dann zu eurem Klassenzimmer. Habt ihr Fragen?" Er blickte sie alle an und ein Lächeln überflog sein Gesicht. „Ihr werdet schon noch auftauen. Kommt nun.
Sie liefen alle ganz brav und so dicht wie möglich hinter Herrn Kemp her. Das Schulhaus hatte riesige Fenster, die sehr viel Licht hineinliessen. Es hatte viele Nischen mit bequemen Sesseln und umfassende Büchergestelle. Überall rannten Kinder mit ihren Schulsachen herum und lachten, und einige Mädchen standen zusammen und tuschelten und kicherten.
„Florian, kneif mich, ich glaube, ich träume." Peter schaute mit weit geöffneten Augen umher. An den Wänden hingen wunderschöne Bilder von fernen Ländern, Blumen, vom Meer und von vielen Tieren, die sie noch nie gesehen hatten.
Florian schluckte, er war nicht fähig, etwas zu sagen. Diese sonnendurchfluteten, hellen Räume und Gänge waren so ein krasser Gegensatz zum düsteren, zugigen Mief im Kinderheim, dass es ihm momentan die Sprache verschlagen hatte.
Der Unterricht verging wie im Flug. Die Lehrer und Lehrerinnen waren alle sehr freundlich. In jeder Pause durften sich die Kinder einen Apfel oder ein Brötchen holen und in den Pausenhof gehen. Dort trafen sich dann alle Kinder. Es hatte viele Bänke, worauf sich die Kinder setzen konnten. Ein riesiger, wunderschöner Baum stand in der Mitte des Hofes und daneben war ein achteckiger Brunnen, der von vier Wasserspeiern ständig mit neuem Wasser versorgt wurde. Das Geplätscher des Wassers wirkte sehr beruhigend. Einige Kinder bespritzten sich mit Wasser, andere beeilten sich, vor der nächsten Stunde noch schnell ein Kapitel in einem Schulbuch nachzulesen.
Das Mittagessen war so üppig, dass Peter und Florian am Nachmittag noch Bauchschmerzen hatten, so viel hatten sie in sich hineingewürgt. Florian merkte bereits am ersten Tag, dass er gar nicht so dumm war, wie Herr Schwefelkopf immer sagte. Er konnte mühelos mit seinen Klassenkameraden mithalten. Jedes Mal, wenn die Pausenglocke ertönte, die ein sehr schönes Lied spielte, lustigerweise immer ein anderes, dachte er bedrückt daran, dass schon wieder eine Stunde näher rückte und sie bald wieder ins Heim zurückkehren mussten.
Ein kleiner Trost war der Gedanke, dass sie von nun an jeden Tag in die Schule durften, ausser am Wochenende. An den Wochenenden mussten sie im Heim arbeiten. Wobei sie dies niemandem sagen durften! Das war streng verboten.
Seit diesem ersten Schultag waren bereits wieder einige Monate verstrichen. Besonders lustig war es in der Zwischenzeit gewesen, mitzuerleben, wie Frau Weiss und Herr Kemp sich manchmal verabredeten, ohne dass die Kinder etwas davon erfahren sollten. Die Kinder taten alle so, als ob sie die versteckten Anspielungen nicht verstanden hätten. Florian und Peter hatten in dieser Zeit grossen Spass an der Schule gehabt und fanden das Leben bereits viel schöner. Sie hatten auch herausgefunden, dass Lucy ganz und gar nicht mit ihrer Zimmergenossin verglichen werden konnte. In der letzten Zeit gab es immer mehr Streit zwischen ihr und Jenny, der Verräterin.
„Hast du dir auch schon überlegt, dass Lucy auch nicht sehr glücklich über ihre Zimmergefährtin ist?" Peter schaute Florian fragend an.
„Ja klar. Mir tut sie ja auch leid", antwortete Florian etwas nachdenklich und fügte mit einem Seufzer hinzu: „Weisst du, was uns im nächsten Monat bevorsteht?"
„Oh, nein! Der Spendentag", jammerte Peter sogleich, der sofort begriffen hatte, worauf Florian anspielte. „Hoffentlich haben wir noch genug Zeit, um unsere Schulaufgaben zu erledigen", fügte er voller Kummer hinzu.
„Lichter löschen", schrillte eine Stimme durch den Gang. Einen Augenblick später war es dunkel im Zimmer von Florian und Peter. Sie unterhielten sich noch kurze Zeit und nicht viel später waren beide eingeschlafen.
Florian sass auf dem Boden und zappelte mit den Armen und Beinen. Er spürte unter sich warmen Sand auf der Haut. Als er sich umblickte, sah er wunderschöne Pflanzen und viele Tiere. Alle Menschen um ihn herum hatten bunte, mit Mustern versehene Kleider an. Sie sprachen alle sehr freundlich miteinander.
Eine Frau erregte ganz besonders seine Aufmerksamkeit. Sie war wunderschön, ihre Bewegungen waren graziös und geschmeidig. Alle Umstehenden sprachen sie mit grossem Respekt an. Plötzlich drehte sie sich um und ihr Gesicht war von einer unglaublichen Ebenmässigkeit und Schönheit. Sie bewegte sich in seine Richtung, kam immer näher, bückte sich und hielt ihn mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Er verspürte ein Gefühl von Glückseligkeit in sich, das ihn fast zu zerreissen drohte. Er jauchzte und schrie seine Freude weit in dieses schöne Land hinaus. Er streckte ihr seine Arme entgegen und fühlte, wie sie ihn zärtlich an sich drückte, er roch den Geruch ihrer Haut, er hörte ihre melodiöse Stimme, sie sprach Worte, die er nicht verstand. Dann strich sie mit ihrer Hand über seinen Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, er hörte etwas, als er sich nach dem Geräusch, das sich wie ein Babywimmern anhörte, umdrehen wollte …
Florian schreckte in dem kalten, muffigen Zimmer im Kinderheim auf, im Bett nebenan schlief Peter friedlich. Dann wischte sich Florian den Schweiss von der Stirn. Jetzt war er hellwach. Dieser Traum verfolgte ihn schon, seit er denken konnte. Immer wieder sagte er sich, dass es bloss seine Wunschvorstellung von einer Mutter wäre. Warum konnte er sich nach dem Traum erinnern, wie ihre Haut roch? War das wirklich normal für einen Traum? Erschöpft und traurig schaute er ins dämmerige Zimmer und versuchte die Einzelheiten seines Traumes immer wieder zu sehen. Aber, wie schon so oft zuvor, wurden sie immer undeutlicher, bis er endlich wieder in einen unruhigen Schlaf fiel.
Im Kinderheim herrschte grosse Aufregung. Alle Kinder mussten hart arbeiten. Die Gänge, Treppen und Zimmer mussten auf Hochglanz poliert sein. In der Küche wurden den ganzen Tag lang Kuchen und kleine Gebäcke hergestellt. Der köstliche Geruch drang in jede Ritze im Kinderheim. Den Kindern knurrte der Magen während der Arbeiten - leider wussten sie nur zu gut, dass die Leckereien nicht für sie waren. Am nächsten Tag war „Spendentag". An diesem sich jährlich wiederholenden Tag war grösster Stress für die Kinder angesagt. Aus der ganzen Stadt kamen Menschen, die Geld oder Spielsachen für die Kinder spenden wollten. Dass sie so viel dafür arbeiten mussten, durften die netten Besucher nicht erfahren. Überall standen die Aufseher, sie passten auf, dass kein Kind zu lange mit einem Fremden sprach. Sie sagten dann immer: „Unsere armen Kleinen sind halt ganz schüchtern, so ohne Eltern, wissen Sie." Nur damit die Leute noch mehr Geld oder Geschenke spendeten. Die Kinder mussten alle ganz herausgeputzt dastehen und sich den ganzen Tag gefallen lassen, dass diese fremden Leute ihnen den Kopf tätschelten. Extra für diesen Tag mussten sie Kleider anziehen, die wohl sauber waren, aber schon sehr abgenutzt aussahen. Wenn der Tag vorbei war, sammelte Herr Schwefelkopf alle Geschenke und Spielsachen ein, das Geld nahm sowieso nur er direkt entgegen, und verschwand im Zimmer der Aufseher. Von diesen Geschenken und Spielsachen sahen die Heimkinder nie etwas. Die älteren Kinder vermuteten hinter vorgehaltener Hand, dass Herr Schwefelkopf diese Sachen verkaufte und das Geld unter den Aufseher verteilte. Thomas, der mittlerweile fünfzehn Jahre alt war, hatte sich schon so oft dem Schwefelkopf widersetzt, dass er den ganzen Tag Küchendienst machen musste, um möglichst nicht mit den Besuchern in Kontakt zu kommen.
Morgens um neun Uhr kamen auch schon die ersten, und nachmittags um sechzehn Uhr gingen die letzten der Besucher. Es sollte auch schon vorgekommen sein, dass sich Besucher nach dem Spendentag bei Herrn Schwefelkopf gemeldet hatten, um ein Kind zu adoptieren. Aber davon wusste Florian nicht viel.
„Hallo, Florian", säuselte eine nett aussehende Dame, die in Begleitung ihres Mannes, so vermutete Florian, an diesem Spendentag gekommen war. Den Namen konnte sie an Florian selber ablesen, da alle Kinder mit einem Namensschild herumlaufen mussten. „Bist du zufrieden hier, geht es dir gut?"
Florian öffnete den Mund und wurde sogleich von einem Aufseher auf die Seite gezogen, wobei er Florians Arm wie ein Schraubstock zusammendrückte. „Er spricht nicht mit Fremden, er ist sehr scheu, entschuldigen Sie bitte", sprach der Aufseher und wollte Florian ganz wegziehen. Zu allem Unglück hatte Florian auch noch den fiesesten Aufseher, Roody Eduard, erwischt. Der war der beste Freund vom Schwefelkopf, sehr dürr und gross mit riesigen braunen Glubschaugen. Im Heim wurde getuschelt, dass er nichts mehr hasste als Kinder.
„Moment noch", sprach die Dame energisch. „Hier, Florian, ein kleines Geschenk, nimm es." Die Dame hielt ein in Geschenkpapier verhülltes Päckchen unter Florians Nase.
Florian griff aber erst zu, als Herr Roody sagte: „Nimm es schon, Florian!"
Die Dame watschelte, sichtlich zufrieden mit sich, dass sie einem armen Heimkind ein Geschenk gemacht hatte, davon. „Nichts da, gib es mir sofort", knirschte Roody und wollte Florian das Paket gleich wieder aus den Armen reissen.
„Nein, ich habe es erhalten", sagte Florian trotzig, „ich gebe es nicht her."
Drohend beugte sich Roody zu Florian hinunter und zischte: „Entweder du gibst es mir - oder ich hole es mir, was ist dir lieber?"
Genau in diesem Augenblick brach in Florian alle Vorsicht zusammen und er schrie, er schrie laut und wollte gar nicht mehr aufhören zu schreien. Es gab einen ziemlichen Menschenauflauf und Herr Schwefelkopf, der so schnell wie möglich herbeigeeilt kam, hatte diesmal grösste Mühe, alles wieder in Ordnung zu bringen. „Er ist nicht gewöhnt, dass fremde Leute hier sind" und „Er war schon immer etwas schwierig." Die Blicke von Schwefelkopf, die dabei Florian trafen, versprachen nichts Gutes.
Florian erblickte Peters entsetzte Miene, hilflos, ihm zu helfen, stand er da und war nicht fähig, sich zu rühren.
Als Herr Schwefelkopf und die Aufseher die fremden Leute mit Mühe dazu gebracht hatten, den Flur zu verlassen, verspürte Florian einen brennenden Schmerz an seinem Ohr. Während Herr Schwefelkopf ihn den Gang entlang zog, schrie er vor Schmerz laut auf. Er musste sich sehr beeilen, mit dem Tempo von Herrn Schwefelkopf mitzuhalten, denn er wollte schliesslich sein Ohr noch behalten. Sie liefen Gänge entlang, Treppen hinunter, öffneten Türen, die Florian noch nie gesehen hatte, und, es kam Florian unendlich lange vor, endlich liess Herr Schwefelkopf Florians Ohr los.
„So, mein Kleiner", die Stimme von Herrn Schwefelkopf klang in Florians Ohren unheilvoll, „nun hast du es erreicht, du bist der Jüngste, der je in den Keller gesperrt wurde."
Florian riss seine Augen weit auf. Sein Herz pochte so wild und laut, dass es eigentlich Herr Schwefelkopf hören müsste. Florian öffnete den Mund, aber kein Ton kam aus seiner Kehle.
„Es ist jetzt vier Uhr am Nachmittag. Morgen früh um sieben Uhr wirst du wieder abgeholt." Herr Schwefelkopf drehte sich weg von Florian und öffnete eine alte, schwere Tür, die in einen noch tiefen gelegenen Raum führte. „Und nun hier hinein." Die Stimme von Herrn Schwefelkopf klang so wütend, dass Florian nichts anderes übrigblieb, als zu gehorchen. Es war dunkel, seine Füsse spürten, dass hinter der Tür eine Treppe war. Seine Hände suchten nach einem Geländer, aber da war keins! Auf der linken Seite der Treppe spürte er die Mauer. Eine feuchte, glitschige, kalte Steinmauer. Er hielt sich daran fest und setzte sich direkt hinter der Tür auf die ebenfalls feuchte und kalte Treppe. Er hörte noch, wie die Tür mit dem Schlüssel geschlossen und versperrt wurde.
Da sass er nun und versuchte sich langsam zu beruhigen. Was hatte sein Temperament wieder angerichtet. Er horchte in das Dunkel des Kellergewölbes hinein, aber eigentlich hoffte er ja, nichts zu hören. Er sass da und