Fluch der Venus – Wiener Abgründe - Peter Lorath - E-Book
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Fluch der Venus – Wiener Abgründe E-Book

Peter Lorath

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Beschreibung

Ein historischer Kriminalroman für alle Leser:innen, die es düster mögen. Nominiert für den Leo-Perutz-Preis 2023 »Sie kennen das Geschäft, Sie wissen, wie der Apparat funktioniert und Sie haben Routine. Der perfekte Ermittler. Von ihren Kontakten im Milieu ganz zu schweigen. Ihr Wissen ist unbezahlbar. Eigentlich müsste ich dem bladen Ferdl sogar dankbar sein.« Wien, 1880: Die Stadt verändert sich in rasendem Tempo, Mietenwucher und Arbeiterelend greifen um sich. Die Prostitution blüht und entzieht sich jeglicher behördlichen Kontrolle, Syphilis und Tuberkulose wüten unter Arm und Reich. Der Mord an der Nobelprostituierten Fanni Matzner zwingt den Wiener Polizeipräsidenten Marx zum Einsatz eines geheimen Sonderermittlers. Leopold Kern, ein einstiger Polizeiagent mit hervorragenden Halbweltkontakten, gerät in ein Netzwerk von Intrigen und weiß bald nicht mehr zwischen Freund und Feind zu unterscheiden ...»Sehr gute, sehr interessante und sehr spannende Handlung bis zum Ende des Buches!« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Hier hat sehr vieles gepasst – das historische Setting war interessant und die Ermittlungen spannend: Genauso will ich einen Krimi haben.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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Seitenzahl: 455

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Ulla Mothes

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Melanie Lemahieu/shutterstock.com; Fiammafemme/depositphotos.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1 – Die Hochburg des Todes

Kapitel 2 – Der Sonderermittler

Kapitel 3 – Dienstbotentratsch

Kapitel 4 – Geheime Zeichen

Kapitel 5 – Leibfiaker

Kapitel 6 – Der dürre Toni

Kapitel 7 – Rapport

Kapitel 8 – Café Central

Kapitel 9 – Nächtlicher Besuch

Kapitel 10 – Trauernde Hinterbliebene

Kapitel 11 – Alte Zeiten

Kapitel 12 – Guajak

Kapitel 13 – Modritzky

Kapitel 14 – Nahverhältnis

Kapitel 15 – Überraschungsangriff

Kapitel 16 – Frau Susi

Kapitel 17 – Geburtstagsüberraschung

Kapitel 18 – Erinnerungen

Kapitel 19 – Carlas Alleingang

Kapitel 20 – Abrechnung

Kapitel 21 – Kurze Röcke

Kapitel 22 – Hauptmann Pellegrini

Kapitel 23 – Marx’ Niederlage

Kapitel 24 – Gefangen

Kapitel 25 – Marx’ Triumph

Kapitel 26 – Hinrichtung

Kapitel 27 – Finale

Epilog

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1Die Hochburg des Todes

Pünktlich um halb fünf Uhr nachmittags hielt ein Fiaker vor einer kleinen Holztür, direkt neben der großen Einfahrt zum Pathologisch-Anatomischen Institut des Allgemeinen Krankenhauses. Mit einer tiefen Verbeugung öffnete der Kutscher den Wagenschlag, eine Geste ausgesuchter Höflichkeit und alles andere als eine Selbstverständlichkeit für einen Wiener Fiaker.

Ein mittelgroßer hagerer Mann mit einem buschigen, grauen Backenbart entstieg würdevoll dem Wagen. Er hatte ein langes, hohlwangiges Gesicht mit einer geraden, aristokratischen Nase. Trotz eines dichten Kranzes aus Lachfältchen blickten die blassblauen Augen sorgenvoll unter dem tief in die Stirn gezogenen Zylinder hervor.

Mit seinen fünfundsechzig Jahren wirkte der Wiener Polizeipräsident Wilhelm Marx Ritter von Marxberg wie ein freundlicher älterer Herr. Er trug ein dunkelgrünes Jackett mit schwarzem Samtkragen und Weste, darunter ein weißes Hemd mit einer schwarzen Krawatte. Seine Linke umklammerte einen zierlichen Spazierstock mit fein modelliertem Silbergriff. Er ließ ein paar Münzen in die geöffnete Hand des Kutschers fallen, lüpfte den Hut und tupfte sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn trocken. »1880 wird wohl als heißestes Jahr in die Geschichte eingehen!«

»Dabei haben wir erst Juni«, bestätigte der Kutscher seufzend.

Kaum hatte Marx den »Leichenhof«, wie die Wiener den Vorhof des Pathologieinstituts respektlos nannten, betreten, legte sich die Allgegenwart des Todes wie eine schwarze Gewitterwolke über ihn. Rasch brachte er die kleine Einsegnungskapelle mit Trauergästen hinter sich und betrat das Institut im erdrückenden Schatten des Narrenturms. Er tat das nicht freiwillig.

Stefanie »Fanni« Matzner, eine bekannte Edelprostituierte aus den höchsten Kreisen der Wiener Gesellschaft war zwei Tage zuvor tot aufgefunden worden. Ohne Anzeichen äußerer Gewalt oder einer ansteckenden Krankheit hatte man die Leiche ordnungsgemäß zur Bestattung freigegeben – wäre da nicht der alte Graf Modritzky gewesen, einer ihrer Freier, wie Marx wusste. Seine Erlaucht hatte dem Polizeipräsidenten mit beträchtlichen Schwierigkeiten gedroht, sollte er Fannis Tod ohne Obduktion unter den Tisch kehren – keine leere Drohung aus der Feder eines steinreichen böhmischen Adligen und langjährigen Mitglieds des Herrenhauses mit geradezu märchenhaften Verbindungen. Mit Engelszungen überredete Marx Professor Hofmann, den legendären Vorstand der Wiener Gerichtsmedizin, zur Autopsie einer unauffälligen Leiche ohne Anordnung eines Untersuchungsrichters, was eigentlich illegal war.

Die erfrischende Kühle des Treppenhauses trübte ein scharfer Geruch. Der Gang, den er betrat, endete an einer bis an die Decke reichende Glaswand, von der ein schwacher, süßlich-fauliger Gestank ausging. Was für ein grauenhafter Ort, dachte Marx, als ihm ein großer, dicker Mann in grauer Dienstkleidung entgegenkam und dabei herzhaft von einer Wurstsemmel abbiss. »D’Ehre, der Herr!«, sagte er freundlich mit vollem Mund. »Ich bin die Leichenwache. Zu Diensten?«

»Oh, vielen Dank«, erwiderte der Präsident erleichtert. »Ich soll einer gerichtlichen Obduktion beiwohnen. Wenn Sie mir freundlicherweise …«

»Bei mir brauchen’s net so g’schraubt reden.« Der Mann schluckte und lachte. »Da wo Sie grad sind, gibt’s nur Leichen. Das Parteiwartezimmer ist in der anderen Richtung. Kommen’s.«

Das Parteiwartezimmer 2 war ein kahler Raum mit einer Holzbank und ein paar Stühlen. »Da warten normalerweise die Herren vom Magistrat. Aber heute gibt’s keine Sanitätsleich. Ich meld Sie beim Professor. Der werte Name?« Der Wächter stopfte ein weiteres großes Stück Semmel in den Mund.

»Marx von Marxberg. Polizei«, erteilte der Präsident bescheiden Auskunft.

Kurz darauf erschien Professor Eduard Ritter von Hofmann, ein großgewachsener, breitschultriger Mann mit einem strengen Gesicht. In den dunklen ausdrucksvollen Augen hatte das viele Leid, das sie erblickt hatten, sichtbare Spuren hinterlassen. Die dunklen Haare waren auf der hohen Stirn weit zurückgewichen. Tiefe Falten zogen die Mundwinkel hinab und verschwanden in einem dichten, bis zur Brust reichenden Vollbart.

»Welch seltener Gast in meinen bescheidenen Hallen.« Die tiefe, sonore Stimme des Professors klang angenehm und freundlich. »Na, dann wollen wir mal.« Marx zog den weißen Kittel über, den ihm der Professor reichte. Für ihn begann der Weg zum Schafott.

Aus dem Seziersaal schlug ihnen ein Schwall heißer, stickiger Luft entgegen. Stechende Pfefferminz- und Thymianaromen breiteten einen zähen Film über Augen und Atemwege. Ekelerregender Fäulnisgestank schien sich in Sekundenschnelle in der Kleidung festzusaugen. »Der Geruchssinn ist Gott sei Dank ermüdbar«, beruhigte der Institutsvorstand seinen verstörten Gast.

Zwischen zwei halbkreisförmigen Tribünen verlief ein nach oben offener, finsterer Korridor in die Saalmitte, in die durch zwei große Fenster grelles Sonnenlicht auf einen mächtigen Seziertisch aus Marmor fiel. Davor warteten bereits Hoffmanns Assistent Dr. Riegler und ein Leichenwärter, Beide in weißem Kittel. Auf einem langen, weiß gedeckten Tisch lagen penibel geordnete chirurgische Instrumente, daneben standen leere Gefäße bereit.

Ein quietschendes Geräusch verriet Marx, dass die Tür erneut geöffnet wurde. Stimmen wurden hörbar, dann Schritte und ein schleifendes Geräusch. Zwei Totenträger schoben Fanni Matzners Leichnam auf einer fahrbaren Trage aus dem Dunkel des Ganges. Die ausgeprägte Leichenstarre ließ die Tote wie eine Schaufensterpuppe wirken. Sie trug ein teures Kleid aus feinster, dunkelroter Seide mit dunkelblauen Samtbordüren, Puffärmeln und weißen Seidenmanschetten. Das schleifende Geräusch wurde von dem bis zum Boden herabhängenden Rock verursacht. Auf dem kleinen roten Hütchen leuchteten schillernde Fasanenfedern, ihr Gesicht lag unter einem kurzen, schwarzen Schleier. Für die in diesem Jahr ungewöhnliche Hitze war ihre Kleidung viel zu warm.

»Wird ein Leichnam nicht schon bei der Beschau entkleidet?«, fragte Marx nervös.

»Üblicherweise schon.« Resignation malte sich auf Hofmanns Gesicht. »Ich muss mit dem Kollegen ein ernstes Wort wechseln.«

»Bitte vergessen Sie nicht, dass diese Leichenöffnung auf keinen Fall publik werden darf.«

»Keine Sorge, Herr Präsident.« Hofmann lüftete Matzners Schleier. Der Anblick ihres Gesichts ließ ihn einen kurzen Augenblick mit einem wehmütigen Blick innehalten. »Was für eine bildschöne Frau«, flüsterte er. Marx stimmte ihm in Gedanken zu.

Reste von Schminke zauberten ein leichtes Rouge auf ihre blassen Wangen, und die nachgezogenen, dünnen Augenbrauen bildeten einen dunklen Kontrast zu der bleichen, kalten Haut. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet, das Kinn zurückgesunken, sodass die weißen, regelmäßigen Zähne sichtbar waren. Wäre da nicht der erloschene Blick, die eingetrockneten, toten Augen zwischen den halb geöffneten Lidern gewesen, hätte man meinen können, dass Fanni Matzner jeden Moment aus tiefem Schlaf erwachen und die sie umgebenden Männer erstaunt anblicken würde.

Trotz ihrer unbestreitbaren Schönheit wirkte ihr totes Antlitz auf Marx unnatürlich, beinahe unheimlich. Doch so sehr er sich bemühte, er vermochte nicht zu ergründen, welche subtile Veränderung ihrer ebenmäßigen Züge der Quell seiner Verstörung war.

Nachdem sich die Leichenträger entfernt hatten, trat Hofmann an den Seziertisch, wo Dr. Riegler mit gezücktem Stift und Sektionsprotokoll bereitstand. Ein weiterer Leichendiener erschien. Er und sein Kollege übernahmen zusammen mit Marx die Rolle der Gerichtszeugen. Mit einem flauen Gefühl im Magen stellte sich der Polizeipräsident an das Fußende der Leiche. Er hätte liebend gern eine vertraulichere Vorgangsweise bevorzugt, doch darauf wollte sich Hofmann nicht einlassen.

»Wir haben heute den 16. Juni 1880, die Tote ist Stefanie Matzner, geboren am 23. 8. 1852?«, eröffnete Hofmann die Untersuchung.

»Sie wurde durch persönliche Bekannte identifiziert, unter anderem auch durch meine Wenigkeit«, erwiderte der Polizist. Danach bestätigten noch einmal alle ihre eigenen Personaldaten für das Sektionsprotokoll. Aufgrund des hohen Ranges des institutsfremden Zeugen wurde auf die Vorlage einer Geburtsurkunde verzichtet.

Nach dem Abschluss der Formalitäten inspizierte der Gerichtsmediziner die Tote ausgiebig. In den folgenden dreißig Minuten entkleidete er sie. Jedes Wäschestück wurde zunächst an der Leiche genauestens begutachtet, ob sich vielleicht ein Hinweis auf eine von außen zugefügte Verletzung fand. Dann wurde es mit größter Sorgfalt entfernt, um nicht die Lage darunterliegender Kleidungsstücke zu verändern. Da auch nicht die geringste Gewalt angewendet werden durfte, trennte der Gerichtsmediziner manche Nähte mit dem Skalpell auf. So schälte er Matzners Körper wie ein kostbares Geschenk aus einer aufwendigen Verpackung. Dabei beschrieb Hofmann jedes kleinste Detail ihrer Garderobe: Stoff, Färbung, Schnitt, Abnutzung, Tascheninhalt und andere Kleinigkeiten. Rieglers Stift flog über das sich schnell füllende Formular.

Der Tisch war mit einer eigenen Wasserzufuhr ausgestattet. Als die Tote endlich nackt war, öffnete der Leichendiener den Wasserhahn, sodass ein beständiger Wasserstrom den Leichnam umspülte und die unheimliche Stille, die im Saal herrschte, durch ein zartes Gurgeln und Plätschern bereicherte. Fanni Matzner war von zierlicher Gestalt, hatte üppige Brüste, leicht ausladende Hüften und eine schmale Taille. Selbst jetzt war ihr Körper für die Augen eines Mannes ein erfreulicher Anblick. Nur der Bauch wirkte ungewöhnlich gebläht und aufgetrieben, was im angezogenen Zustand durch ein eng geschnürtes Mieder verhüllt gewesen war. An Schultern, Rücken und Ellbogen hatten sich bereits Totenflecke gebildet. Nach dem Aufenthalt in der Eiskammer war ihre Farbe hellrot. Als Hofmann kurz mit dem Daumen darauf drückte, verschwand die Farbe für eine kurze Zeit. »Totenflecken wegdrückbar«, nahm Riegler zu Protokoll.

Auffällig waren die zahllosen Muttermale und Leberflecken auf der schneeweißen Haut. Brustkorb, Beine und Hals waren zusätzlich mit reiskorngroßen Pünktchen übersät, die in allen Farbnuancen zwischen Rot, Braun und Gelb schimmerten. Nur das Gesicht war ausgespart. Unter dem Rippenbogen mischten sich unter die Male kleine dunkle Knötchen, einige davon mit einer Kruste, einige frisch aufgeplatzt und eingetrocknet. Selbst Hand- und Fußflächen waren nicht verschont geblieben.

Der Gerichtsmediziner diktierte sämtliche Veränderungen und begann danach, Fanni Matzners Geschlechtsteile intensiv zu untersuchen. Irritiert stellte Marx fest, dass er dabei eine Walzermelodie von Johann Strauß Vater summte. Als sich Hofmann nach einigen Minuten mit einem diskreten Kopfschütteln dem Gesicht der Toten zuwandte, hellte sich seine strenge Miene auf. Er war unverkennbar in seinem Element.

Ein eher ungewöhnliches Merkmal an Matzners Frisur waren die bis knapp über die Augen reichenden Stirnfransen, die ihr einen spitzbübischen Ausdruck verliehen. Beinahe zärtlich fuhr Hofmanns Hand in das volle Haar, das kunstvoll gelockt nach oben drapiert war.

»Jesus, Maria und Josef!« Erschrocken stöhnte Marx auf, als der Professor mit einem kaum merklichen Ruck die Perücke abzog und dem Leichendiener überreichte. Ihrer üppigen Haarpracht beraubt, bot die Tote nun das Bild einer keuschen, entsetzlich entstellten Büßerin. Stirn und Kopfhaut waren am Haaransatz – oder was davon übrig war – gespickt mit eitrigen kleinen Pusteln. Wie eine Dornenkrone hatten sie den gesamten Haaransatz von der Stirn bis zum Nacken befallen und sich von dort über die Kopfhaut ausgebreitet. Von ihrem natürlichen Haar war lediglich ein Fleckenteppich aus kahlen Stellen und Inseln kurzgeschnittener Haare übrig, dazwischen sprossen ganze Kolonien junger, Härchen.

»Corona venerea, Alopecia areata«, diktierte der Hofmann lakonisch. »Sie war eine Grabennymphe, sagten Sie?«

»Eine ziemlich erfolgreiche sogar«, erwiderte der Polizeipräsident, der seine Fassung schnell wiedergewonnen hatte.

»Passt. Haben Sie das Gesundheitsbuch der Toten dabei?«

»Ich bedaure, bis jetzt konnten wir es noch nicht finden«, gab Marx ein wenig zu schnell zur Antwort, denn eine unheilvolle Ahnung hatte ihn beschlichen. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber woran hat die Arme gelitten?«

»Syphilis!«, erwiderte Hofmann, als ob diese Diagnose das Natürlichste auf der ganzen Welt war. »Überrascht?«

Marx spürte eine kurze Übelkeit in sich aufsteigen. »Ein wenig«, antwortete er mit heiserer Stimme und begann hektisch Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand aneinander zu reiben, bei ihm ein sicheres Zeichen großer Anspannung und Nervosität. Nur Eingeweihte kannten es. In seinem beruflichen Umfeld hatte er das Geheimnis dieser ungewöhnlichen Geste erfolgreich bewahren können. »Ist sie daran gestorben?«

»An Syphilis stirbt man nicht so schnell. Sie bedeutet eher jahrelanges Siechtum – eine grausame Strafe Gottes. Sie befand sich erst im Sekundärstadium. «

Da Hofmann keinerlei Anstalten machte, die Unterhaltung fortzusetzen, verkniff sich der Polizeipräsident die vielen Fragen, die ihm auf der Zunge lagen. Als der Mediziner das Skalpell zückte, klopfte Marx’ Herz bis zum Hals. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sah er keinen Sinn darin, die wortreichen Berichte der Pathologen auch noch durch direkte Anschauung zu ergänzen, und hatte sich Autopsien bislang erfolgreich entzogen. Dass er nun ausgerechnet am Höhepunkt seiner Karriere diese abscheuliche Premiere über sich ergehen lassen musste, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Sollte er allen Ernstes zusehen, wie der Körper dieser jungen, schönen Frau – wenn auch nach den höchsten Regeln der medizinischen Kunst – zerstückelt wurde? Das bevorstehende Drama sprengte schlicht seine Vorstellungskraft. Und das alles wegen eines überspannten Greises, der sich um seine bezahlte Geliebte gebracht fühlte. Plötzlich verspürte er Angst, er könnte den Anblick nicht ertragen.

Mit zusammengepressten Lippen beobachtete er, wie der Leichenwärter einen Holzklotz unter den Nacken der Toten schob, sodass ihr Hinterkopf frei in der Luft hing. Hofmann trat hinter Matzners Kopf, drehte ihn auf die Seite und führte einen tiefen Schnitt über den Hinterkopf vom linken zum rechten Ohr. Das leise metallische Geräusch, das entstand, als die Klinge den Knochen des Schädels ritzte, ging Marx durch Mark und Bein. Vor Ekel erschauernd sah er zu, wie der Gehilfe mit seinen Fingern die Kopfhaut von der Schädeldecke löste und wie bei einem Hasen nach vorn über Matzners Gesicht stülpte, sodass der blanke Knochen zum Vorschein kam. Hofmann setzte die Bogensäge einen Zentimeter über der Augenhöhle auf den weiß schimmernden Knochen und begann zu sägen.

Mein Gott, dachte Marx, das ist völlig wahnsinnig, was ich hier ansehen muss. Wer tut sich so etwas freiwillig an? Und er wünschte dem Grafen Modritzky alles erdenklich Schlechte an den Hals. Gleichzeitig schwor er feierlich, nie wieder ein derartiges Ereignis zu frequentieren.

Als der Gerichtsmediziner fertig war, hob er vorsichtig die Schädeldecke ab und entnahm das Gehirn. Erneut fühlte Marx Übelkeit in sich aufsteigen. Der Professor zerschnitt das Organ in einen Zentimeter dicke Scheiben und begutachtete jede einzelne. Unentwegt diktierte er seine Beobachtungen mit leiser Stimme, gerade so laut, dass der Assistent mitschreiben konnte. An Marx Ohren drang nur ein leiser Singsang. Schließlich vernahm er: »Gehirn und Schädel unauffällig.«

Der Präsident war froh, am Fußende des Tisches zu stehen, auch wenn ihn das Drama, das sich seinen Augen bot, mittlerweile mindestens ebenso sehr faszinierte wie abstieß. Besonders die Vorstellung, dass in dem entnommenen Gehirn die Erinnerung an all die Menschen gespeichert war, mit denen die Tote sowohl privat als auch beruflich zu tun gehabt hatte, ließ ihn nicht los. Wenn sie tatsächlich ermordet worden war, dann war auch das Gesicht ihres Mörders darin gespeichert. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, die Erinnerung eines Toten aus seinem Gehirn abzurufen … Aber daran wagte er gar nicht erst zu denken. Modritzky durfte nicht recht behalten.

Der Kopf, seiner Schädeldecke beraubt, war weit nach hinten gekippt, das spitze Kinn ragte zur Decke. Der Leichenwärter hatte die Kopfhaut in ihre angestammte Position zurückgeschlagen, sodass das Gesicht wieder sichtbar war. Anstelle der Schädeldecke klaffte eine große Delle, in der sich die Schnittränder des durchsägten Knochens scharf abzeichneten.

Hofmann setzte das Skalpell unter dem Kinn an und führte einen langen Schnitt von der Mitte des Halses über das Brustbein bis knapp über das Geschlecht. Dabei umrundete er den Nabel mit einem eleganten Schwung. Einen kurzen Augenblick betrachtete er voller Zufriedenheit sein Werk, wie ein Maler, dem ein besonders schwieriger Pinselstrich gelungen war. Dann folgte ein zweiter großer Schnitt unterhalb des Nabels. Die Linien bildeten ein großes Kreuz, dessen kurzes Ende zu den Beinen zeigte.

Der Leib einer Jungfrau – zerteilt durch ein auf dem Kopf stehendes Gottessymbol, war Marx’ unmittelbare Assoziation. Wie ein unheimliches satanisches Ritual. Wie konnte ein Mensch eine solche Perversion zu seinem Beruf machen? Hofmann hielt nun kurz inne und wandte sich seinem Gast zu: »Lieber Herr Präsident, bei der äußeren Leichenbeschau ist mit Sicherheit auch Ihnen der aufgetriebene Bauch aufgefallen.«

»In der Tat«, erwiderte Marx nervös.

»Wenn es Ihnen recht ist, wenden wir uns gleich dem Abdomen – also dem Bauch – als Ort der wahrscheinlichsten Pathologie zu. Wenn wir etwas finden, werde ich die Sektion der anderen Organe der Vollständigkeit halber in Ihrer Abwesenheit komplettieren. Sollten Sie darauf bestehen, alles mitzuerleben, dann beginne ich mit Herz und Lungen.«

Die Aussicht auf eine Verkürzung des Dramas ließ den Polizisten dankbar aufatmen. »Ehrlich gesagt bin ich für alles, was Sie mir ersparen, dankbar, Herr Professor.«

Hofmann begann erneut die Melodie des Straußwalzers zu summen und durchtrennte zügig das Fettgewebe der Bauchdecke. Wie ein Schneider ein Stück Stoff schnitt er danach die darunterliegende Muskelfaszie mit der Schere entzwei. Das leise Knirschen, das dabei entstand, ließ Marx neuerlich erschauern. Hofmann drehte das Skalpell um und drängte mit dessen Griff die freiliegenden Fleischfasern auseinander, bis er abermals auf eine derbe Platte stieß, die er nun mit größter Vorsicht eröffnete. Gebannt verfolgte Marx jede Bewegung, die die Hände des Gerichtsmediziners mit schlafwandlerischer Sicherheit vollführten. Wie ein glitschiges, fremdartiges Wesen quoll eine dünne, durchsichtige Haut hervor. Marx bemerkte, dass, was immer sich darunter befand, schwarz verfärbt war, und empfand erneut Ekel. Sah es in seinem Körper genauso aus? »Was ist das für eine Haut?«

»Das Bauchfell«, erwiderte der Gerichtsmediziner, während er die feine Membran vom Brustbein bis zum Becken mit dem Zeigefinger vorsichtig von den darüberliegenden Schichten abschob. Nachdem das Bauchfell freigelegt war, beugte er sich nach vorn, bis seine Nase beinahe die Wundränder berührte. Prüfend sog er die Luft durch die Nase, schnüffelte wie ein Jagdhund, der eine Fährte aufgenommen hatte. Jetzt drehte er den Kopf nach links, gerade so weit, dass er sein Ohr möglichst nahe an den Ort des Geschehens halten und dieses zugleich im Blickfeld behalten konnte. Danach zog er mit der Pinzette einen Zipfel des Bauchfells hoch. »Ich bitte nun um absolute Ruhe.« Der Gehilfe drehte den Wasserhahn zu, und es herrschte Totenstille.

Die dunklen Augen gebannt auf die aufgespannte Membran gerichtet, eröffnete der Professor sie mit einem kurzen Scherenschlag. Mit einem leisen Zischen entwich Luft. Hofmann brummte etwas Unverständliches, richtete sich auf und eröffnete die gesamte Bauchhöhle.

Die beiden langen kreuzförmigen Schnitte hatten die Bauchdecke in vier fleischige Lappen zerteilt, die nun nach außen geschlagen wurden, sodass der Blick auf die Gedärme frei war. Zwischen den Darmschlingen quollen schwarze, zum Teil verklumpte Massen hervor. Während Marx der Eröffnung des Schädels und der Entnahme des Gehirns mit einer Mischung aus Schauder und Nervenkitzel zugesehen hatte, brachte ihn jetzt der intensive Geruch vollends aus der Fassung. Soeben war für ihn ein akademisches Experiment endgültig zum Akt der Barbarei mutiert. Heldenhaft kämpfte er gegen sein aufgewühltes Vegetativum an.

Er hatte Fanni Matzner gekannt. Obwohl glücklich verheiratet, hatte ihr volles Haar ihn angezogen, und der Schock, einer Perücke auf den Leim gegangen zu sein, saß tief. Nun musste er zusehen, wie ihr junger Körper in einer Atmosphäre kühler Rationalität nach einem geradezu kunstvollen Ritual eröffnet, oder profaner ausgedrückt, wie ein geschlachtetes Tier aufgebrochen wurde. Und Hofmann war der Hohepriester, nur dass er statt eines Psalms eine Walzermelodie summte. Was hätte wohl Modritzky empfunden, wäre er an Ort und Stelle gewesen? Obwohl äußerlich vollkommen ruhig, war der Anblick für den Polizeipräsidenten kaum zu ertragen. Einzig sichtbares Zeichen seiner Erregung war das stete Reiben von Daumen und Zeigefinger.

»Es sieht ganz so aus, als ob wir tatsächlich die Ursache für den Tod der jungen Dame im Abdomen finden werden«, verkündete der Gerichtsmediziner, dem solche düsteren Gedanken völlig fremd waren. Vielmehr begann er angesichts des ungewöhnlichen Bildes, das sich ihm bot, buchstäblich aufzublühen. Offenbar konnte er es kaum erwarten, Matzners Tod endlich auf den Grund zu gehen.

»Was ist das schwarze Zeug da?« fragte Marx mit belegter Stimme.

»Koagel! Geronnenes Blut, mit Sicherheit der Grund für Fräulein Matzners Tod. Wie müssen nur noch herausfinden, woher es kommt.«

»Eine natürliche Todesursache?«, fragte der Polizeipräsident hoffnungsvoll und sichtlich bemüht, sachlich zu klingen. Der Befund war schon jetzt schlimm genug.

»Freies Blut in der Bauchhöhle ist bei jungen Menschen selten. Eine Eileiterschwangerschaft wäre möglich. Meist ist es aber eine Verletzungsfolge. Doch dafür gibt es bis jetzt keinen Anhaltspunkt.«

Marx hielt sich sein Taschentuch vor den Mund, um sich vor dem unerträglichen Geruch zu schützen. Seine Position am Fußende des Tisches bot jetzt eine für seinen Geschmack etwas zu gute Sicht auf die eröffnete Bauchhöhle. Überflüssigerweise fühlte sich Hofmann auch noch verpflichtet, seinen Gast in den Genuss einer kurzen Anatomielehrstunde kommen zu lassen.

Marx sah nur Farben, ohne die Worte des Gerichtsmediziners wahrzunehmen. Das satte, leuchtenddunkle Braun des Lebergewebes, das weißgraue Anhängsel der Gallenblase, das helle Braun des Darms, das Blauviolett der Milz. Den rosigen unansehnlichen Magen hatte Hofmann soeben aus der Umgebung gelöst und betrachtete ihn von allen Seiten. »Kein Loch in der Magenwand.«

Die Worte rissen den Präsidenten rüde aus seinen farblichen Betrachtungen. »Warum sollte ein Loch im Magen sein?«

»Bei der Eröffnung des Bauchfells ist Luft entwichen. Vielleicht haben Sie das leise Zischen gehört. Luft oder Gas haben in einem gesunden Bauch nichts verloren. Das kann nur aus dem Magen oder dem Darm stammen. Also muss hier irgendwo ein Loch sein. Das passt auch zu dem Geruch, den ich gleich zu Beginn wahrgenommen habe.«

Nachdem Leber, Milz und Bauchspeicheldrüse keine krankhaften Veränderungen boten, resümierte Hofmann: »Im Oberbauch gibt es keine Blutungsquelle. Am wahrscheinlichsten ist bei einer jungen Frau eine Erkrankung der Eierstöcke.« Marx nickte schicksalsergeben.

Doch als der Gehilfe die Gedärme nach oben schlug, um den Blick auf Becken und Unterleib freizumachen, quollen immer mehr schwarze Blutklumpen hervor. Hofmann war nun sichtlich irritiert. Mit beiden Händen schöpfte er das Blut in einen Metalleimer. Bald hatten sich gut drei Liter angesammelt, und immer neue schwarze Massen stiegen an die Oberfläche. »Allmächtiger, woher kann so viel Blut kommen? So etwas kenne ich nur bei einer Schuss- oder Stichverletzung, aber sie hat keine äußeren Verletzungszeichen.«

»Schauen wir doch einmal nach dem Schlauch, Herr Professor!«, meldete sich nun der Leichenwärter zu Wort.

»Mit dem Schlauch meint er die Hauptschlagader«, erklärte Hofmann resignierend.

»Die Aorte!«, ergänzte der Gehilfe eifrig.

»Aorta, Herr Johann, Aorta«, belehrte ihn der Gerichtsmediziner mit einem gutmütigen Lächeln. Herr Johann hatte ihm bei tausenden Leichenöffnungen zur Seite gestanden, und er respektierte durchaus den großen Erfahrungsschatz des Leichendieners. Trotz der unüberbrückbaren sozialen Kluft hatte sich zwischen den Männern ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, das vorwiegend deswegen funktionierte, weil der Leichendiener seine Grenzen sehr genau kannte und einhielt.

»Aber die zerplatzt doch alleweil bei die Syphilitiker!«

»Erst im Spätstadium, Herr Johann. Die Tote ist viel zu jung.«

»Aber a Syph hat’s doch!«

»Also gut, damit Sie Ruhe geben, sehen wir nach dem Schlauch. Ob jetzt oder später ist ja auch egal. Und im Übrigen heißt es Aorta!«

Beherzt ergriff Herr Johann mit beiden Händen die Gedärme und zog sie – stets darauf bedacht, auch sich selbst ein gutes Sichtfeld zu bewahren – zu sich. Da der Gehilfe mit dem Halten beschäftigt war, bat Hofmann seinen Assistenten, zunächst alles mit Wasser zu spülen und die Blutreste zu entfernen. Zurück blieb ein riesiger dunkelroter Fleck, unter dem sich unscharf die Kontur der Aorta abzeichnete.

»Ist die Farbe normal?«, fragte Marx, der sich langsam an die unwirkliche Atmosphäre gewöhnte und sogar einen leichten Anflug akademischen Interesses zu verspüren begann.

»Oh nein, das ist ein Bluterguss, der sich unter das Bauchfell gewühlt hat. Deswegen sieht man die Aorta so schlecht.« Hofmann zeigte mit der Pinzette auf die Wölbung der Hauptschlagader. »Hier ist eine Haut drauf, eben das Bauchfell und …« Er stockte.

»Herr Professor?«, fragte Marx.

Hektisch wischte Hofmann mit einem Tuch über die kurz zuvor bezeichnete Stelle. Der Gehilfe lugte neugierig über den Berg von Darmschlingen. »Schere!«, befahl der Gerichtsmediziner. Da der Leichenwärter noch immer keine Hand frei hatte, avancierte Dr. Riegler zum Obduktionsgehilfen und begann nervös zu suchen.

»Dort! Links, Herr Doktor!« Herr Johann nickte hilfsbereit in die Richtung.

»Schere, zum Henker!« Hofmann vermochte seine Ungeduld kaum zu zügeln. Endlich wurde der Assistent fündig. Der Professor riss ihm das Instrument förmlich aus der Hand. Marx sah nur, wie er aufgeregt hantierte, schließlich innehielt und betroffen die Luft ausstieß.

»Na Servas!« murmelte Herr Johann mit ernster Miene.

»Aber wie …?«, rief Hofmann und warf in einer ratlosen Geste beide Arme hoch. »Ich habe nichts gesehen! Wie kann so etwas gelingen?«

Marx fühlte Nervosität in sich aufsteigen. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn.

»Loslassen«, befahl Hofmann ungeduldig, und die Gedärme glitten mit einem schmatzenden Geräusch aus den Fingern des Obduktionsgehilfen. Hastig schlug Hofmann die Lappen der Bauchdecke zurück in ihre ursprüngliche Position. Wie besessen untersuchte er jeden Quadratzentimeter der Bauchhaut. Endlose Minuten lang inspizierte er – immer wieder den Kopf schüttelnd und Unverständliches murmelnd – mit der Lupe die zahllosen syphilitischen Male. »Das gibt es doch nicht!«, rief er, und in seiner Stimme schwangen Ratlosigkeit und quälender Zweifel. Dr. Rieglers und Herrn Johanns besorgte Blicke trugen nicht gerade zu Marx’ Beruhigung bei.

Mit jeder Minute ohne Erkenntnisgewinn wuchs Hofmanns Ungeduld. Wieder und wieder untersuchte er Fanni Matzners Bauchdecke. Die Stille im Saal – man hätte eine Stecknadel fallen hören können – verbreitete unerträgliche Spannung. Was hatte er übersehen?

Zum ersten Mal dämmerte in Marx die bittere Erkenntnis, dass die Grabennymphe vielleicht keines natürlichen Todes gestorben war. Doch je länger Hofmann suchte, je ratloser er schien, umso stärker keimte in ihm die Hoffnung, das Fehlen einer schlüssigen Erklärung würde das Urteil von »Mord« auf »Unklare Todesursache« abschwächen und die ganze Sache mangels Beweisen zu den Akten gelegt werden.

Aber Professor Eduard Hofmann wäre kein Pathologe von Weltruf gewesen, wenn er sich mit einem halbherzigen Resultat zufriedengegeben hätte. Vielmehr stachelte ihn die Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen zu nahezu groteskem Eifer an. Nachdem er zum wiederholten Male nichts gefunden hatte, hielt er inne. Er richtete sich auf, straffte sich und atmete tief durch. Kopfschüttelnd blickte er zu Herrn Johann, der seinen Blick ohne Scheu erwiderte und seine eigene Ratlosigkeit durch ein Runzeln der Stirn und ein hilfloses Achselzucken zum Ausdruck brachte. »Was übersehe ich, Herr Johann?«, fragte Hofmann, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel offen, welch hohen Stellenwert er in diesem Moment der Meinung seines Leichendieners zumaß.

Und der wusste offenbar genau, wonach sein Chef suchte. »Kann’s am Rücken sein, Herr Professor?«

»Unmöglich, es muss vorne sein.«

»Weiter unten?« Wieder schüttelte der Professor wortlos den Kopf. »Wenn’s a Orientalin wär, tät ich sagen, unterm Edelstein im Nabel«, bemerkte der Gehilfe trocken.

»Leider handelt es sich um eine Christin …«, erwiderte Hofmann resignierend und … stutzte. Wie das Haupt einer Natter stieß sein Kopf vor, dann hielt er inne. »Der Nabel«, flüsterte er heiser und deutete mit dem Finger auf die einzige Stelle, die er tatsächlich noch nicht ausreichend untersucht zu haben schien: das kleine Grübchen, das er so kunstvoll bei der Leichenöffnung umschnitten hatte, nicht weil es für den korrekten Ablauf einer Obduktion vonnöten war, sondern weil er diesem Detail am Körper einer Frau eine ganz besondere Ästhetik zuschrieb – eine seiner wenigen, von manchen Kollegen mitleidvoll belächelten Marotten. Während andere Gerichtsmediziner den Nabel achtlos durchtrennten, war es Hofmanns Anliegen, ihn unversehrt zu erhalten. Sein Schnitt durch die Bauchhaut wies daher immer einen nahezu künstlerischen Schwung auf, mit dem er diese kleine Höhlung in einem eleganten Bogen umrundete. Dabei hatte er keine Seitenpräferenz, sodass die Schnittführung sowohl in einem nach links als auch nach rechts offenen Halbrund verlaufen konnte. Es war sein Markenzeichen – sofern die obduzierte Leiche weiblich war, denn bei Männern legte der Professor weitaus weniger ästhetische Sorgfalt an den Tag.

Neugierig rückte Marx näher und sah dabei zu, wie Hofmann beinahe zärtlich die winzige Körperregion reinigte und zu untersuchen begann. Erst aus der Nähe erkannte er, dass die Hautveränderungen vor dem Nabel Halt gemacht hatten, ihn viel mehr umschwirrten wie Bakterienkolonien den Tropfen eines Antibiotikums in einer Kultur. Und doch, inmitten der weißen, unversehrten Haut leuchtete ein kleiner dunkler Fleck, kaum einen halben Zentimeter groß.

Hofmann zückte seine Pinzette und begann vorsichtig daran zu kratzen, bis sich ein kleines Krüstchen ablöste. »Lupe!«, zerriss seine dunkle Stimme die bleierne Stille. Mit einem Mal war alle Heiserkeit gewichen, der Klang seiner Worte tief und ruhig. Der Leichendiener, der die feinsten Nuancen in seiner Stimme zu deuten vermochte, wurde nun seinerseits nervös. Er wusste, dass der Gerichtsmediziner eine entscheidende Entdeckung gemacht hatte. Herr Johann, nun selbst vom Jagdfieber gepackt, stolperte beinahe, als er das Vergrößerungsglas zureichte. Hofmann warf damit einen kurzen Blick auf die Stelle und hielt dem Leichendiener, ohne seinen Blick vom Nabel abzuwenden, die offene Hand entgegen. »Sonde!« Ein dünner, etwa zehn Zentimeter langer Metallstab landete auf den ausgestreckten Fingern.

Als Laie nahm Marx nun ein geradezu hilfloses Stochern in Matzners Bauchdecke wahr. Doch Hofmanns Bewegungen waren weder hilflos noch stochernd. Bedächtig legte er die Sonde auf den Seziertisch. »Kanüle und Tinte. Ziehen Sie mir fünf Kubikzentimeter in einer Spritze auf.« Nachdem er das Gewünschte erhalten hatte, setzte er die Kanüle an und begann die Tinte mit sanftem Druck zu injizieren. Entgegen Marx’ Erwartungen verschwand die blaue Flüssigkeit in Fanni Matzners Nabel. Hofmann schlug die Bauchdeckenlappen wieder zur Seite. An der Innenseite des Nabels hatte sich ein großer, dunkelblauer Fleck gebildet. Unter Herrn Johanns sachkundiger Assistenz klemmte der Gerichtsmediziner nun den Dünndarm zwischen Zeige- und Mittelfinger und begann ihn Millimeter für Millimeter zwischen beiden Fingern hindurchzuziehen und dabei die Oberfläche jeder einzelnen Schlinge auf das Genaueste zu untersuchen. Es dauerte weitere endlose zwanzig Minuten, die längsten in Marx’ Leben, bis er eine Stelle mit einer chirurgischen Naht markiert hatte.

Zufrieden richtete er sich auf und blickte alle im Saal Anwesenden triumphierend an. »Ich muss zugeben, das war nicht einfach.« Dann wandte er sich dem Leichendiener zu. »Johann, du bist doch von uns allen hier der ausgefuchsteste Profi! Kompliment! Ich schulde dir eine Flasche.«

»Herr Professor, ich wären Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie mich in die Details Ihrer Untersuchungsergebnisse einweihen würden«, meldete sich endlich der Polizeipräsident zu Wort.

»Natürlich, entschuldigen Sie.« Hofmann sah kurz Herrn Johann an und hielt ihm seine Hände entgegen. Der Gehilfe übergoss sie mit Desinfektionsmittel, und der scharfe Geruch nach Minze und Thymian wurde wieder stärker. Der Professor wusch seine blutbedeckten Unterarme und trocknete sich mit einem Handtuch ab. »Bitte treten Sie näher. Wir haben hier einen wahrlich sehenswerten Befund.«

Nur widerwillig trat Marx an den Tisch. Er hatte das Gefühl, als würde sich eine Lawine auf ihn zubewegen. »Wie Sie sich sicherlich erinnern können, war der Bauch der Toten aufgetrieben. Die Ursache dafür waren drei bis vier Liter Blut.« Wie bei einer Zirkusvorstellung hielt der Leichenwärter den Eimer hoch und deutete mit dem Zeigefinger darauf. »Das Fräulein Matzner hat aber keine Erkrankung, die eine solch schwere Blutung verursachen könnte. Wie Herr Johann richtig bemerkt hatte«, er warf seinem Gehilfen einen anerkennenden Blick zu, »hatte sich der Großteil des Blutes hinter dem Dünndarm angesammelt. Schlägt man die Eingeweide nach oben, bekommt man eine gute Sicht auf die Hauptschlagader.« Herr Johann stellte den Eimer ab, ergriff wieder die Gedärme der Toten und gab dadurch den Blick auf den schwarzblauen Fleck über der Kontur der Schlagader frei. »Die dunkelblaue Verfärbung, die Sie erkennen können, ist ebenfalls geronnenes Blut. Bitte betrachten Sie nun genau das Blutgefäß.«

Marx fühlte sich an die Vorstellung eines Magiers erinnert und wurde ungeduldig. Andererseits wollte er Hofmann, der seinen Auftritt sichtlich genoss, auch nicht desavouieren. Also beugte er sich pflichtschuldig nach vorn und bemerkte, dass das Bauchfell auf einer kleinen Fläche neben der Wirbelsäule von der Schlagader abgezogen worden war. »Da fehlt diese Haut«, bemerkte er mit belegter Stimme. Die ängstliche Erwartung dessen, was folgen würde, hatte ihn in diesem Augenblick all seine Abscheu vergessen lassen.

»Aus Ihnen wäre ein guter Pathologe geworden!«, lobte ihn Hofmann. »Allerdings bin ich selbst der Schuldige, denn ich habe hier das Bauchfell entfernt, um einen besseren Blick auf die Schlagader zu bekommen. Die Gefäßwand ist elastisch und gesund, wie es bei einer jungen Frau zu erwarten ist. Und wenn Sie genau hier das Gefäß näher betrachten …« Er deutete mit der Scherenspitze auf eine kurze, kaum sichtbare dunkle Linie auf der Gefäßwand. »… erkennen Sie ganz deutlich einen quer verlaufenden, etwa ein Zentimeter langen Defekt.« Zur Demonstration führte er die Metallsonde in die kleine Spalte ein. »Dieser Riss ist die Blutungsquelle. Die Ränder sind glatt und verlaufen quer zur Gefäßrichtung.«

»So ein Riss reicht aus, um …«

»Und ob! Die Hauptschlagader pumpt durch dieses Loch bei jedem Herzschlag einen halben Liter Blut in die Bauchhöhle.«

»Wie lange dauert es, bis man tot ist?«

»Bei einer durchschnittlichen Blutmenge von fünf bis sechs Litern? Das kann man leicht ausrechnen. Es geht sehr schnell. Ein gnädiger Tod – immerhin. Bitte treten Sie zurück.«

Herr Johann ließ nach der kurzen Warnung die Eingeweide los und schlug die Bauchdeckenlappen wieder zurück in ihre angestammte natürliche Lage.

»Für den nächsten Befund werden Sie eine Lupe benötigen«. Hofmann wartete, bis der Polizeipräsident entsprechend ausgestattet war, und deutete auf den Nabel der Toten. Marx erkannte mit dem Vergrößerungsglas einen kleinen Kratzer in der Nabelöffnung. »Haben Sie es gesehen?« fragte Hofmann aufgeregt. Seine Augen glänzten wie die eines Kindes, das kaum erwarten konnte, eine bedeutende Entdeckung vorzuführen.

»Meinen Sie den Kratzer?«

»Genau! Der Kratzer, ein winziger Kratzer, so klein, dass er auch dem geübten Auge bei der ersten Untersuchung entgeht. Und selbst wenn man ihn sieht, wird man daran nichts Besonderes oder Ungewöhnliches finden und ihn ignorieren. Ein Kratzer eben.« Hofmann hielt einen Moment inne, um seine Worte wirken zu lassen. Dann holte er tief Luft. Seine Wangen glühten. »Und das war das Problem!«, fuhr er schließlich fort. »Denn dieser Kratzer ist nämlich in Wahrheit die Öffnung eines durchgehenden Wundkanals! Winzig klein, keine fünf Millimeter breit. Ich konnte es zuerst selbst nicht glauben, aber dann ist es mir gelungen, die Wunde zu sondieren, was nicht ganz einfach war, da die Wundränder bereits stark verklebt waren. Um ihre Tiefe und vor allem den Verlauf des Kanals besser darstellen zu können, habe ich Tinte injiziert. Sehen Sie selbst!« Er schlug den Bauchdeckenlappen mit dem Nabel wieder zurück, sodass dessen Innenseite sichtbar wurde. »Hier können wir inmitten dieses blauen Tintenflecks die Austrittsstelle erkennen, ein sicherer Beweis für einen durch die Bauchdecke verlaufenden Kanal. Meine Kollegen schneiden bei der Autopsie direkt durch den Nabel. Sie hätten diese Wunde mit Sicherheit übersehen.« Er verschwieg wohlweislich, dass ihm bei einer männlichen Leiche dasselbe widerfahren wäre. Erneut wurden die Bauchdeckenlappen nach außen geschlagen und der Darm lag frei vor ihnen.

Hofmann ging nun völlig in der Demonstration seiner Untersuchungsergebnisse auf. Er bemerkte gar nicht, wie leichenblass Marx geworden war. »Wie Sie hier erkennen können« – hektisch wühlte er sich durch die Darmschlingen, bis er endlich den Abschnitt fand, den er zuvor mit einer Naht markiert hatte – »gibt es im Darm zwei Löcher.« Mit der Sonde demonstrierte er zwei etwa drei Millimeter große Löcher in der Darmwand. »Diese Wunden sind die Quelle der Luft, die bei Eröffnung des Bauchfells entwichen ist und wohl auch für den Geruch verantwortlich.«

Herr Johann hob nun die Darmschlingen wieder aus der Bauchhöhle. Als Nächstes reinigte Hofmann die freiliegende Wirbelsäule mit Wasser und trocknete sie mit einem Tuch ab. »Zu guter Letzt möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf die Wirbelsäule lenken. In exakt der gleichen Höhe wie die Schlagaderwunde kann man einen quer verlaufenden Kratzer erkennen, der ein kleines Blutgefäß, das direkt auf dem Knochen nach unten verläuft, durchtrennt hat. Das ist im Übrigen nun tatsächlich nur ein Kratzer.« Er musste über seine Bemerkung kurz selbst lachen, und es war unverkennbar, wie sehr er sich buchstäblich in Hitze geredet hatte. »Zusammengefasst müssen wir hier …«

Marx fürchtete nichts mehr, als dass das Unaussprechliche vor allen Anwesenden über Hofmanns Lippen kam, das eine Wort, das seine Bilderbuchkarriere mit einem Schlag beenden konnte. Denn in Wien, der Hauptstadt von Tratsch und Klatsch, galt das Gebot der Schweigepflicht wenig, wenn es um eine gute Geschichte ging, und eine solche lag zweifellos vor, wobei sein Misstrauen den Leichendienern galt, die mit Spannung Hofmanns Ausführungen gefolgt waren. Hastig fiel er dem Gerichtsmediziner ins Wort. »Wir haben also die Blutungsquelle, zwei Löcher im Darm, eine Wunde im Nabel und einen Kratzer an der Wirbelsäule. Reicht das aus, um Frau Matzners Todesursache zu klären?«

»Auf jeden Fall!«

»Können wir dann den Rest bitte in Ihrem Büro besprechen?«

»Aber natürlich, Herr Präsident. Bitte folgen Sie mir. Riegler wird die Obduktion komplettieren.«

Marx konnte die Enttäuschung auf den Gesichtern der Leichendiener ablesen.

Hofmanns Arbeitszimmer lag im ersten Stock. Aufgeheizt von der Hitze des Tages war die Luft stickig und abgestanden. Es roch nach Desinfektionsmittel, Staub und kaltem Zigarrenrauch. Marx fühlte sich bei der Einrichtung – abgesehen von dem Mikroskop und einer Vitrine, in der in Alkohol eingelegte Organteile ausgestellt waren – an die Nüchternheit seines eigenen Büros erinnert, allerdings bereichert durch heillose schöpferische Unordnung. Die vollgestopften Bücherregale, der unter seiner Last ächzende Schreibtisch und die allgegenwärtigen Stöße von Fachzeitschriften deuteten auf einen Mann hin, der seine Ordnungsprinzipien wohl nur selbst zu durchblicken vermochte. Nur der kleine runde Tisch mit den zwei gepolsterten Stühlen, der Zigarrenkiste und dem halbvollen Aschenbecher nährten die Hoffnung, dass sich auch eine Weltkapazität ab und zu eine kleine Verschnaufpause gönnte.

Als der Professor die Fenster öffnete, drang das traurige Läuten der Kapelle an ihre Ohren, ein erlösender kühler Luftzug blieb jedoch aus. Es war einfach zu heiß. Hofmann förderte aus seinem Schreibtisch eine Flasche erstklassigen französischen Cognacs mit zwei Schwenkern zutage. »Ich nehme an, dass Sie einen Schluck vertragen können. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.«

Marx setzte sich, während der Professor einschenkte. Genießerisch führte er das Glas zur Nase und sog das Bouquet ein. »Vive la France!«, sagte er, seine wachsende Verzweiflung überspielend, und prostete dem Gerichtsmediziner zu. Die angebotene Zigarre lehnte er dankend ab.

»Das tut gut am Ende eines anstrengenden Tages.« Zufrieden wischte der Professor seinen buschigen Bart ab und entzündete seine Zigarre mit einem langen, genussvollen Zug. »Also, lieber Herr Präsident. Stellen Sie Ihre Fragen, ich werde mich bemühen, so gut es geht zu antworten.«

»Bitte erläutern Sie mir Ihre Arbeitshypothese über Matzners Tod.«

»Es wurde mit einem spitzen Werkzeug durch Fräulein Matzners Nabel in den Bauch in Richtung Wirbelsäule gestochen. Der Stichkanal wurde durch die Injektion von Tinte in die oberflächliche Nabelwunde bewiesen. Bei dem Stich wurde eine Dünndarmschlinge durchbohrt. Wir konnten Ein- und Austritt des Werkzeugs identifizieren und somit die Stichrichtung weiterverfolgen. Die Spitze drang in den Wirbelkörper ein, wurde ein wenig zurückgezogen und in einer kurzen Seitwärtsbewegung in Richtung Hauptschlagader geführt, wo sie die Gefäßwand ritzte. Der dadurch entstandene Riss führte zu einem schnellen Tod durch Verbluten.«

Marx hatte die Hiobsbotschaft mit geschlossenen Augen vernommen. Die Lawine hatte ihn überrollt und alle Hoffnungen unter sich begraben. »Mord?«, fragte er mit brüchiger Stimme.

»Ja, natürlich Mord! Aber was für einer!«, rief der Mediziner aufgeregt. »Dieser simple Terminus wird der außergewöhnlichen Raffinesse definitiv nicht gerecht.«

»Aber die Hauptschlagader hätte doch auch spontan reißen können. Ihr Gehilfe hatte das bei Syphilitikern als klassische Komplikation angedeutet, wenn ich mich recht erinnere.«

»Bei einem langjährigen Krankheitsverlauf – und wir sprechen hier von zehn bis zwanzig Jahren – kommt es zu einer Entzündung der Gefäßwand. Da ist ein Platzen der Hauptschlagader nicht ungewöhnlich. Aber das Fräulein Matzner stand erst am Beginn ihrer Krankheit, auch eine Heilung war nicht ausgeschlossen. Lieber Herr Präsident, eine gesunde Schlagader reißt nicht einfach so ein. Sie ist für ein ganzes Leben konstruiert, und das hatte Fräulein Matzner rein statistisch noch vor sich! Zudem würde ein natürlicher Riss längs des Gefäßes verlaufen und nicht quer, wie es hier der Fall ist.«

Marx nickte nachdenklich. Mit jedem Wort zog sich die Schlinge enger. »Hätte die Darmverletzung ausgereicht, um das Fräulein Matzner zu töten?«

»Absolut! Darminhalt wäre in die Bauchhöhle gelangt und hätte eine schwere Bauchfellentzündung verursacht. Ein langer, qualvoller Tod über mehrere Tage. Aber das kann nicht das Ziel eines Täters, schon gar nicht DIESES Täters gewesen sein. Bei einem so langen Todeskampf könnte das Opfer viel zu viel verraten. Die Darmverletzung war also mit Sicherheit nicht beabsichtigt, eine Art Kollateralschaden, aus gerichtsmedizinischer Sicht interessant, aber für das Ergebnis irrelevant. Er wollte definitiv die Aorta treffen. «

»Aber er könnte doch auch in der Hitze des Gefechts vom Knochen abgerutscht sein und die Schlagader zufällig verletzt haben?«

Hofmann nickte eifrig, während Marx seine Frage formulierte. »Nun, hier ist zunächst einmal zu erwähnen, dass es kein hitziges Gefecht gab! Der Leichnam zeigt keinerlei Kampfspuren, keine Abwehrverletzungen, wie es in solchen Fällen üblich ist. Selbst im Gesicht der Toten ist keinerlei Angst zu erkennen. Es scheint, als ob sie schliefe. Der Tod war daher eine Sache von wenigen Sekunden! Ich wette darauf, dass sie den Stich nicht einmal gespürt hat. Mit der Lupe erkennt man im Knochen am Ursprung des Kratzers ein kleines Loch an der Einstichstelle, für mich ein sicheres Indiz dafür, dass die Tatwaffe nicht einfach vom Knochen abgerutscht ist, sondern ganz bewusst direkt hineingestoßen wurde. Der Kratzer befindet sich exakt auf der gleichen Höhe wie der Aortenriss – ein eindeutiger Beweis dafür, dass das Werkzeug entlang des Knochens in Richtung Hauptschlagader geführt wurde und diese angeritzt hat. Sehr wahrscheinlich musste er dafür das Messer sogar zuerst mit einem kleinen Ruck aus dem Knochen ziehen, ehe er es in Richtung Aorta bewegt hat.«

»Das klingt ja beinahe nach einem Berufsmörder«, bemerkte Marx resignierend und stieß dabei einen tiefen Seufzer aus.

»Oh ja! Das war ein kraftvoller, entschlossener Stich, keine Angst, kein Zögern, keine Gewissensbisse. Wissen Sie, Herr Präsident, wir obduzieren über dreitausend Leichen im Jahr, darunter eine Menge Selbstmorde und leider auch ganz normale Morde. Aber so etwas ist mir noch nie untergekommen. Jeder Gelegenheitsmörder wäre zu Tode erschrocken, wenn er den unerwarteten Widerstand des Knochens gespürt hätte. Er hätte die Klinge stecken gelassen und wäre davongelaufen. Ein Mörder in Raserei hätte das wahrscheinlich gar nicht bemerkt und ohnehin ein zweites Mal zugestochen, wahrscheinlich sogar ein drittes oder viertes Mal. Manche Opfer sind ja buchstäblich zerfleischt! Aber nicht unser Mann, nein! Kaltblütig zieht er ein paar Millimeter zurück, ohne dabei auch nur ein winziges Stück von seiner Position abzurücken, vollführt eine kurze Seitwärtsbewegung nach rechts und vollendet sein Werk an der Hauptschlagader in exakt der gleichen Höhe. Der Kratzer ist durchgehend, keine Unterbrechung. Er endet genau im Ziel. Diese kleine Bewegung hat er daher sehr routiniert ausgeführt, nach meinem Dafürhalten direkt aus dem Handgelenk. Und bedenken Sie bitte: es gibt nur einen Kratzer, also hat er keinen zweiten Versuch gebraucht.« Hofmanns Augen leuchteten vor Begeisterung.

Marx verstand die Welt nicht mehr. Einer der besten Gerichtsmediziner, den die Welt kannte, zollte einem eiskalten Mörder grenzenlose Bewunderung. »Aber was Sie sagen, klingt unmöglich. All das müsste sich in Sekundenbruchteilen abgespielt haben«.

»Aber genauso muss es gewesen sein. Hier war ein Meister seines Fachs am Werk, ein Mann, der über exakte Anatomiekenntnisse verfügt, zumindest was die Lage der Hauptschlagader betrifft. Und er hat das nicht zum ersten Mal gemacht. So etwas muss man üben, um es in derartiger Perfektion auszuführen. Frau Matzner ist also nicht einfach ermordet worden! Das war eine perfekt ausgeführte Hinrichtung. So etwas habe ich in meiner ganzen Berufslaufbahn noch nicht gesehen«, schwärmte der Professor.

Marx wurde schwindlig. Der verfluchte Modritzky hatte recht behalten, seine schlimmsten Erwartungen waren übertroffen. Schon der Gedanke an Ermittlungen im Kreise des Hochadels und des hohen Militärs jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Es war der berühmte Stich ins Wespen-, nein, ins Hornissennest. Egal was seine Leute herausfanden, es war für jede darin verwickelte Person in höchstem Maße unangenehm, allein die Befragung von Matzners Freiern eine hochnotpeinliche Angelegenheit. Man würde über die Beamten herfallen, Beziehungen spielen lassen, ihre Glaubwürdigkeit untergraben – ein unermesslicher Schaden für die Effizienz der noch jungen zivilen Polizeibehörde, die sich erst vor zehn Jahren aus dem Würgegriff des Militärs befreit hatte. Und die Armee würde genussvoll mauern und dem Scheitern einer zivilen Behörde zusehen. Mochte Gott ihn und seine Beamten davor bewahren. Am liebsten wäre er aufgesprungen und davongelaufen.

Für sein Gegenüber wirkte er dennoch vollkommen ruhig, vielleicht ein wenig starr, wenn man von seinem linken Zeigefinger und Daumen absah, die heftiger aneinander rieben als je zuvor. »Aber wie hat er so genau den Nabel gefunden?«

»Das ist allerdings reiner Zufall, der mir bloß meine Arbeit erleichtert hat. Natürlich konnte er den Nabel nicht durch die Kleidung identifizieren. Hätte er woanders zugestochen, wäre es viel schwieriger geworden, die Stichwunde zu identifizieren, wenn nicht sogar unmöglich. Sie haben ja die Hautveränderungen gesehen. Ebenso gut hätte ich nach einer Stecknadel im Heuhaufen suchen können. Um sein Ziel zu erreichen, muss sein Stich lediglich in der Mittellinie liegen. Der Nabel war also unser Glücksfall, denn dort war die Haut noch jungfräulich.« Er zögerte kurz. »Vielleicht ist dieser Vergleich in Anbetracht des Vorlebens des Opfers etwas geschmacklos.«

»Und das Werkzeug?«, überging der Polizeipräsident die letzte Bemerkung des Gerichtsmediziners.

»Das Werkzeug misst an seiner dicksten Stelle nicht mehr als drei Millimeter. Die Schneide war an beiden Seiten messerscharf und sehr spitz. Ich könnte mir vorstellen, dass sie nur die letzten zwei, drei Zentimeter der Klinge einnahm, wenn überhaupt. Mir ist keine derartige Waffe bekannt. Es muss sich um eine Spezialanfertigung handeln, eine Art Lanzette, sehr filigran, aber extrem hart, nicht zu verbiegen.«

»Fast könnte man meinen, Sie bewundern den Täter ein wenig?«, versetzte der Präsident mit einem humorlosen Lächeln.

»Ich bewundere die technische Perfektion der Tat«, erwiderte Hofmann, zog an seiner Zigarre, schob den Rauch mit der Zunge aus seinem Mund und betrachtete anschließend nachdenklich die Glut. »Ihnen mag das vielleicht seltsam erscheinen, aber bitte gestehen Sie mir eine gewisse Deformation professionelle zu. Natürlich verabscheue ich jede Art Verbrechen. Wenn man aber mit den Resultaten tödlicher Wirtshausschlägereien, Lust- und Affektmorden konfrontiert ist, lernt man eine dermaßen ausgereifte Technik zu schätzen. Das Fräulein Matzner hat zumindest nicht gelitten. Alles ist blitzschnell gegangen. Dieses Glück haben nur die wenigsten Mordopfer. Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, dass dieser Mörder sein Handwerk perfekt beherrscht. Ein Meister eben.«

»Dieser Stich ist ja, wie Sie überzeugend dargelegt haben, nicht ganz so einfach. Aber braucht man dafür wirklich anatomische Grundkenntnisse?«

»Ja und nein«, erwiderte Hofmann unschlüssig nach einer kurzen Denkpause. »Man muss die Wirbelsäule finden und die Hauptschlagader. Dafür müssen Sie Ihrem Opfer ziemlich nahe kommen. Stehen Sie einmal auf, Herr Präsident.«

Verdutzt gehorchte Marx. Hofmann stellte sich direkt vor ihn, sodass ihre Bäuche einander berührten. »So ist es wohl nahe genug«, murmelte der Gerichtsmediziner und legte seinen Arm um Marx. »Um Ihre Wirbelsäule zu finden, muss ich nur meinen Arm um ihren Leib und die Finger auf Ihren Rücken legen, dann weiß ich, dass die Stichrichtung auf meine Finger erfolgen muss. Das kann man wahrscheinlich auch ohne exakte anatomische Kenntnisse.«

»Und die Schlagader?«

»Liegt direkt davor oder ein wenig links davon aus Sicht des Opfers, rechts aus Sicht des Angreifers. Das kann man aber in jedem Anatomiebuch nachlesen.« Er schüttelte kurz den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass man für einen solchen Mord Arzt sein muss. Vielleicht benutzt er ja die Wirbelsäule als eine Art Wegweiser.«

»Aber man muss so etwas geübt haben?«

»Durchaus.«

Marx hatte sich von Hofmann sein Glas ein zweites Mal füllen lassen. »Tut er das aus Lust?«

»Er ist sicher stolz auf das, was er tut, sonst würde er es nicht so gut beherrschen. Vielleicht ist er aber auch nur höchst professionell. Was für mich eine schöne Obduktion bedeutet, bedeutet für ihn ein schöner Mord.« Hofmann zog an seiner Zigarre und behielt den Rauch mit geblähten Backen kurz im Mund, eher er ihn genießerisch in die Luft blies. »Ich weiß es nicht. Meine Profession sind die Toten, nicht die Lebenden.«

»Ein Geisteskranker?«

»Auch Psychotiker sind nicht unbedingt dumm oder rein triebgesteuert.«

»Soll heißen?«, fragte Marx interessiert.

»Nach meiner Überzeugung wurde dieser Mord präzise geplant und mit Ruhe und Überlegung ausgeführt. Professionell eben. Um diesen Stich anzubringen, muss der Mörder seinem Opfer sehr nahe kommen, also hat sie ihn vielleicht gekannt. « Hofmann sog mit einem lauten Zischen die Luft ein. »Ich habe schon viele Mordopfer obduziert. Aber noch nie wurde jemand auf so schnelle und effiziente Weise getötet. Ich kenne keine Leiche, die so unversehrt ausgesehen hat wie diese junge Frau, von Giftmorden natürlich abgesehen.«

»Wann ist Ihr Gutachten fertig?«

»Wir nehmen noch die Sektion der Brust- und der Geschlechtsorgane vor. Alles muss seine Richtigkeit haben. Morgen Mittag können Sie den Bericht haben.«

»Ich möchte Sie bitten, über das Ergebnis strengstes Stillschweigen zu bewahren. Ich hole das Gutachten persönlich ab. Nichts darf an die Presse durchsickern. Diese Angelegenheit betrifft die Interessen der ganzen Monarchie.« Marx zögerte kurz. »Eine Frage noch, Herr Professor. Was hat es mit der syphilitischen Erkrankung auf sich, von der Sie gesprochen hatten?«

»Die Tote hatte Syphilis, so viel steht fest«, Hofmann lächelte. »Aber das ist ja nichts Ungewöhnliches bei einer Prostituierten.«

»Können Sie sagen, wann sie sich angesteckt hat?«

»Ein Jammer, dass das Gesundheitsbuch verloren gegangen ist. Damit könnte man das ziemlich genau eingrenzen. So sind wir auf das Reich der Spekulation angewiesen. Zumal ich keinen Primäraffekt gefunden habe.«

Marx verzog unbewusst das Gesicht. »Herr Professor, können Sie mir Ihren Befund in einfachen Worten erklären? Ich fürchte, ich bin – wie wohl die meisten Bürger – eher theoretisch vorgebildet.« Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Wenn überhaupt.«

»Natürlich. Bitte vergeben Sie mir, manchmal vergesse ich schlicht, dass ich mit Laien zu tun habe. Zwei bis drei Wochen nachdem das syphilitsche Gift eingedrungen ist, bildet sich dort, wo am häufigsten der Kontakt mit einem uns allen wohlbekannten anderen infizierten Organ stattzufinden pflegt, ein erbsengroßes Geschwür, von dem sich die Erkrankung über das Blut im ganzen Organismus ausbreitet. Das ist der Primäraffekt.«

»Woran merkt der Kranke diese Ausbreitung?«

»Im gesamten Körper schwellen die Lymphknoten an. Die Patienten klagen über recht unspezifische Symptome: Unruhe, Schlaflosigkeit, Gereiztheit, Heißhunger, mitunter rheumatische Knochenschmerzen. Während das Geschwür abheilt, treten Hautveränderungen auf. Wir sprechen auch von der konstitutionellen Syphilis.«

Warum konnten Mediziner nie ihre unverständlichen Fachbegriffe weglassen, dachte Marx genervt. »War das bei ihr der Fall?«

»Mit Sicherheit. Frau Matzner hat die typischen Hauterscheinungen, kleine, runde Male in nahezu klassischer Verteilung. Dazwischen Eiterbläschen in allen Stadien.«

»Gibt es nicht andere Hauterkrankungen, die genauso aussehen?«, fragte der Polizeipräsident. »Ich kenne Menschen, die ähnliche Veränderungen haben, aber ganz bestimmt nicht an Syphilis leiden. Und dieses Geschwür haben Sie auch noch nicht gefunden. Ist Ihre Diagnose nicht etwas spekulativ?«

»Auf den ersten Blick mag das so scheinen! Aber die Veränderungen auf der Kopfhaut sind hochspezifisch, der Haarausfall praktisch beweisend. Das Haar ist büschelweise ausgefallen, kahle Flächen zwischen behaarten Stellen, ein typisches Verteilungsmuster der Alopecia areata, wie man es nur bei der Syphilis sieht. Die vielen eingetrockneten Eiterbläschen an den Haarwurzeln liegen wie eine Dornenkrone um den Haaransatz.«

»Sie hatte so merkwürdige Augen, und damit meine ich nicht die unterschiedliche Farbe.«

»Ein hellblaues und ein braunes Auge, eine wahrhaftig reizvolle Laune der Natur«, bemerkte Hofmann versonnen, kehrte aber sofort wieder zu Marx’ Frage zurück. »Nicht merkwürdig, sondern entstellt! Die Syphilis hat auch zum Ausfall der Wimpern und Augenbrauen geführt. Die Brauen hat sie mit einem Schminkstift nachgezogen. Sieht ein bisschen gruselig aus. Aber wenn die konstitutionelle Syphilis abklingt, wachsen die Haare in den meisten Fällen wieder nach.«