Flucht nach Ägypten - Stephanie Meier - E-Book

Flucht nach Ägypten E-Book

Stephanie Meier

0,0

Beschreibung

Die Heilige Familie flieht vor Herodes nach Ägypten

Das E-Book Flucht nach Ägypten wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Ägypten, Heilige Familie, Palästina, Christus, Weihnachten

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Flüchtlingsschicksal teilen Mariam, Jossef und Jeschua mit vielen Menschen in der heutigen Welt. Dieses Buch ist deshalb allen Flüchtenden gewidmet.

Comadre de suburbio

In Bethlehem gab es keinen Platz, in Ägypten gab es keinen Platz; und auch in Madrid gibt es keinen Platz für dich. Josef wird für viele Tage in die Arbeitslosigkeit gezwungen … Der Nil wird deine Haut und die Schönheit deiner anonymen Hände täglich verderben … Und das Kind wird aufwachsen, ohne eine andere Schulung als die der Sonne und deiner Worte zu erhalten.

Pedro Casaldáliga, brasilianischer Befreiungstheologe, 1965

Umschlagillustration Vorderseite: Wandbild um 1474 in der Kirche St. Nikolaus, Oltingen BL, Schweiz: Flucht nach Ägypten Foto: Bettina Weber-Müller, Oltingen

Umschlagbild Rückseite (Boot): mit freundlicher Genehmigung von Orpheus Books Ltd., Witney, England

Im Jahr 2018 schrieb ich eine Erzählung über den Besuch Mariams bei ihrer Tante Elischewa (Matthäus 1, 18ff und Lukas 1). Drei Jahre später habe ich nun die Geschichte aus dem Neuen Testament weitergeschrieben.

Mariam und Jossef sind inzwischen verheiratet und müssen nach Bethlehem aufbrechen, um sich für den Zensus in Jossefs Heimatort eintragen zu lassen.

Wie bei der ersten Geschichte habe ich mich an die biblische Erzählung gehalten – sowohl an die aus dem Matthäus-Evangelium als auch an die etwas andere aus dem Lukas-Evangelium. Hier musste ich Kompromisse eingehen, denn die beiden Berichte stimmen nicht überein. Zum Beispiel hätte der Bericht des Lukas über die Darstellung Jesu im Tempel zu Jerusalem vierzig Tage nach der Geburt in Bethlehem keinen Sinn ergeben, wenn die Heilige Familie gemäss Matthäus eilig zur Flucht aufgebrochen war.

Diesmal habe ich die Geschichte mit viel mehr fiktiven Elementen ausgeschmückt als bei meiner Erzählung ‘Die Zeit mit Elischewa’, da das Evangelium die Flucht nach Ägypten nur kurz erwähnt (Matthäus 2, 13-15). Ausserdem habe ich Motive aus der koptisch-christlichen Tradition Ägyptens eingeflochten. Mit den Wundergeschichten über das Jesuskind blieb ich jedoch zurückhaltend.

Stephanie Meier, St. Gallen, 17. April 2021

Inhaltsverzeichnis

TEIL I Die Weihnachtsgeschichte

TEIL II In Aschkelon

TEIL III Die Flucht nach Ägypten

TEIL IV Beim Töpfer am Mittelmeer

TEIL V Pessach in Babylon

TEIL VI Die Schlinge zieht sich zu

TEIL VII Bei Mosche in den Bergen

TEIL VIII Nach Hause

Personenliste

Bibliografie

Karte Ägyptens

Nachwort

TEIL I:

Die Weihnachtsgeschichte

I

Wieder unterwegs! Die Nachmittagssonne strahlte erbarmungslos aus einem wolkenlosen Himmel. Hier gab es kaum Schatten. Die Esel liessen die Köpfe hängen und staksten über die Ebene hinter Mariam und Jossef her. Schon seit zwei Tagen waren sie unterwegs. Sie hatten am Morgen die wimmelnde Grossstadt Skythopolis verlassen, waren über die Jordanbrücke gegangen und wanderten jetzt auf Pella zu.

Diese Reise war völlig anders als jene vor neun Monaten. Damals reiste Mariam mit Sara und Schimon nach Bethanien, um ihre Tante Elischewa zu besuchen. Schwanger war sie jetzt noch immer, aber diesmal begleitete sie ihr liebevoller Ehemann Jossef und sorgte sich um sie. Nun waren wegen des Zensus auch viel mehr Menschen unterwegs. Bisher war Mariam neben Jossef hergegangen und hatte die Eselin geführt. Jossef hatte aus Rücksicht auf seine hochschwangere Frau ein langsames Marschtempo angeschlagen. Trotzdem fühlte sich Mariam müde und bat um eine Rast.

«Schaffst du es noch bis zu den Dattelpalmen dort hinten?» fragte Jossef. «Darunter haben wir ein wenig Schatten.» Mariam nickte. Sie gingen ungefähr hundert Schritte weiter bis zu den Palmen, wo Jossef eine Decke auf das würzige Gras legte. Mariam liess sich mit Jossefs Hilfe mühsam darauf nieder. Jossef reichte ihr den Wasserschlauch, der sich gefährlich schnell leerte. Mariam nahm einen Schluck und bewegte das Wasser im trockenen Mund.

«Uff!» stöhnte sie. «Das Gehen wird mit meinem dicken Bauch mühsam. Mich schmerzt auch der Rücken!» Sie legte sich auf die Seite und zog die Beine an, um den Rücken zu entlasten.

«Willst du von nun an auf der Eselin reiten?» fragte Jossef nach einer Weile.

Mariam nickte und stieg mit Jossefs Hilfe schwerfällig auf ihre Eselin. In etwas schnellerem Tempo ging es nun weiter nach Pella, und Mariam liess ihre Gedanken schweifen.

Ungefähr hier vor Pella hatte sie damals, unterwegs mit ihren Freunden Sara und Schimon, die erste Übelkeit ihrer Schwangerschaft gespürt, war sich aber selbst noch gar nicht sicher gewesen, ob sie wirklich bereits schwanger war. Bald aber war es klar geworden, dass sich das Kind in ihrem Leib befand. Mariam erinnerte sich, wie schwierig es gewesen war, die damalige Entdeckung nicht mit Sara teilen zu können. Es lag nicht in Mariams Charakter, Tatsachen zu vertuschen, und so hatte sie entsetzlich gelitten, bis sie endlich den Mut aufgebracht hatte, ihre Schwangerschaft gegenüber Sara einzugestehen.

Dann kamen die Geständnisse gegenüber ihrer Mutter und, noch viel schlimmer, gegenüber Jossef. Sie hatte befürchtet, ihn dadurch verloren zu haben. Letzten Endes aber, nachdem er mit der Unterstützung einer Engelserscheinung seine schwangere Verlobte wieder angenommen hatte, stärkte und kittete dieses gemeinsame Erlebnis ihre Beziehung. Seither wussten sie, wieviel sie einander wirklich bedeuteten. Und – noch viel wichtiger – beide wussten von der Bedeutung des Kindes in Mariams Leib, und auch von seinem Namen, Jeschua, der ihnen durch den Engel bekanntgegeben worden war.

Bald danach war Mariam in einem schönen Wollkleid in Begleitung ihrer Freundinnen und Verwandten für die Hochzeit zu Jossef gezogen. Die Freundinnen hatten während des ganzen Weges mit einer hohen, trillernden Ululation mit Zungenschlag lautstark gejubelt. Wie zu Zeiten der Väter wurden Mariam und Jossef unter einem Ziegenhaarzelt vor Jossefs Haus getraut. Beide nahmen den gesegneten Weinbecher entgegen. Dann überreichte Jossef seiner Mariam den Ehevertrag. Danach wurde bis in die Morgenstunden ausgelassen gefeiert.

Jossef hatte ein schönes neues Haus für sie beide gebaut. Mariam fühlte sich wohl und war stolz auf ihren geschickten Ehemann. Gerade hatte sich eine behagliche Gewöhnung in ihrem Leben eingespielt, als der Erlass des Kaisers Augustus erging, alle müssten in ihre Heimatstadt reisen, um sich für einen Zensus eintragen zu lassen – für Jossef und seine hochschwangere Frau gar keine günstige Zeit, aber es liess sich daran nichts ändern. Sie mussten wohl oder übel Vorräte für die Reise auf ihre beiden Esel packen, ihr schönes neues Haus verlassen und losziehen.

Mariams Mutter, Hannah, hatte dem Ehepaar vorgeschlagen, bei der Ankunft in Bethlehem Mariams Halbschwester Salome aufzusuchen.

«Erinnerst du dich an sie, Mariam?» hatte Hannah gefragt. «Sie ist das jüngste Kind meines lieben Joachim – Gott hab ihn selig – mit seiner ersten Frau Schoschana. Du hast Salome erst zweimal gesehen, du warst aber noch sehr jung. Sie ist Hebamme und zog vor einigen Jahren mit ihrem Mann Zebedäus nach Bethlehem. Vielleicht kann sie euch helfen.»

Mariam hatte versprochen, Salome bei Bedarf aufzusuchen. Der Weggang war schwer gewesen. Sie hatte Hannah umarmt, geweint und sich auf die Zeit gefreut, da sie endlich wieder zu Hause sein würden.

Vorerst waren sie noch auf der Hinreise und froh, Pella schon erreicht zu haben, als die Abendsonne das Wasser des Jordans rötlich färbte und die Palmen wie schwarze Schatten gegen den Himmel aufragten. Die Stadt wimmelte von Menschen, wie sie unterwegs, um sich in ihren Heimatstädten eintragen zu lassen. Mariam und Jossef mussten mit einem kargen Schlag als Unterkunft vorliebnehmen.

Zwei weitere Tage gingen sie am Ostufer des Jordans nach Süden, froh um die Nähe des Wassers und die relative Kühle des Tales. Sie wollten von Jericho her zuerst nach Bethanien, um dort bei Elischewa und Zecharijas vorbeizuschauen. Vielleicht würden sie auch Sara und Schimon besuchen. Kurz nach Jerusalem lag im Süden der Höhenzug Bethlehems. Sie hatten also noch eine weitere Reisewoche vor sich, bis sie ihr Ziel erreichten.

Als sie den Aufstieg von Jericho nach Bethanien in Angriff nahmen, spürte Mariam ein Ziehen im Unterleib, dann gab ihr Jeschua einen heftigen Tritt. Auch auf dem Rücken der Eselin war der Weg für sie beschwerlich. Sie bat wieder um eine Rast. Jossef half seiner Frau herunter, machte es ihr auf der Decke bequem, streichelte ihren Kopf und legte seine Hand auf ihren Bauch.

«Wird unserem Jeschua das Holpern nicht zu viel?» fragte er. Seine beruhigende Gegenwart half Mariam. Sie atmete jetzt tief und ruhig, lehnte sich an ihren Mann und meinte, sie wäre froh, wenn sie endlich oben in Bethanien ankämen. Von dort war es nicht mehr weit bis Jerusalem.

Sobald sich Mariam dazu in der Lage fühlte, nahmen sie die letzte Meile in Angriff. Auch die beiden Esel waren sehr froh, als sie das Ziel erreicht hatten. Elischewa kam ihnen freudestrahlend entgegen, den kleinen Jochanan auf dem Arm.

«Mariam, meine Liebe! Und Jossef, dein Ehemann! Seid herzlich willkommen! Kommt herein. Ihr bleibt einige Tage bei uns, ja?»

«Ja gerne, Elischewa! Ich bin so müde von der Reise. Es war für mich beschwerlich, obwohl mein Mann viel, viel Rücksicht auf mich genommen hat!»

Sie gingen ins Haus, das für Mariam mit so vielen guten Erinnerungen verbunden war. Jossef machte sich gleich wieder auf, um die Esel zu versorgen. Der kleine Jochanan griff nach Mariams Bauch und legte seine kleine Hand behutsam darauf.

«Ja, Schatz, dort liegt dein kleiner Vetter Jeschua!» sagte Elischewa mit einem breiten Lächeln. «Siehst du, Mariam? Er weiss es noch!»

Die beiden Frauen schwiegen behaglich, während Elischewa einen starken, gesüssten Tee zubereitete. Dann bat sie Mariam, ihr alles zu erzählen, was seit ihrem Besuch geschehen war. Auch Jossef und Zecharijas gesellten sich bald dazu, während Mariam weitererzählte. Elischewa und Zecharijas wollten wissen, wie es Rivka und Mordechai mit ihrem Olivenhain in Nazareth erging, und Mariam richtete Grüsse von ihnen aus. Inzwischen hatte Elischewa die Öllampen angezündet. Mariams Augen fielen von selbst zu.

«So, ab ins Bett mit euch! Das war für heute genug; jetzt braucht vor allem Mariam ihren Schlaf. Wir lassen euch morgen ausschlafen. Am Morgen werde ich zu Sara und Schimon gehen und ihnen erzählen, dass ihr da seid. Ihr könnt sie am Nachmittag besuchen. Dann schlaft nochmals zwei Nächte hier, denn übermorgen ist Schabbat. Wenn ihr wollt, könnt ihr danach Zecharijas nach Jerusalem begleiten, wenn er zum Tempeldienst geht.»

2

Sogar das kleine Dorf Bethanien war voller Menschen, als sich Mariam und Jossef nach dem Mittagsmahl aufmachten, Sara, Schimon und die Kinder zu besuchen. Sie hatten im behaglichen Haus ihrer Verwandten hervorragend geschlafen. Mariam fühlte sich wieder frisch und unternehmungslustig.

Sara fiel Mariam um den Hals. Jossef stellte sich Mariams Freunden vor. Schimon begrüsste Jossef mit einem breiten Lächeln, dann gingen sie ins Haus. Dort spielten inzwischen drei Kinder!

«Aha!» bemerkte Mariam, «das ist eure Kleinste – wie heisst sie?»

«Sie heisst Mariam, nach dir!» sagte Sara freudig. «Sie ist auch so ein aufgewecktes Wesen wie du!»

Mariam strahlte vor Stolz und ging auf die Kinder zu.

«Marta, du bist in diesem halben Jahr gewachsen! Du auch Elazar! Und die kleine Mariam sieht sehr gesund aus.»

Marta hob die kleine Mariam auf und herzte sie wie ein Mütterchen. Dann reichte sie den Winzling an die grosse Mariam, die sie voll Staunen in die Arme nahm.

«Mein Kind wird auch bald zur Welt kommen», sagte Mariam.

«Ja, du hast schon einen grossen Bauch! Was für ein Zeitpunkt, eine solche Reise auf euch nehmen zu müssen!» bemerkte Sara.

«Allerdings!» antwortete Mariam. «Na, das haben wir davon, dass Jossef aus dem Stamm Davids ist!»

Die kleine Mariam verlangte lautstark nach Nahrung. Sara nahm sie ihrer Freundin ab und setzte sich hin, um sie zu stillen. Mariam und Jossef liessen sich ganz in die familiäre Atmosphäre ein und genossen einen gemütlichen Tag. Auch Jossef hatte das Gefühl, Sara und Schimon schon lange zu kennen, als sie sich am Abend verabschiedeten und zurück zu Elischewas Haus gingen.

Eine zweite erholsame Nacht und die ruhige Stimmung des Schabbats gab den beiden neue Kraft für den Weg nach Bethlehem, das sie noch am Abend des nächsten Tages erreichen würden. Sie machten sich bei Tagesanbruch bereit und zogen nach der Waschung und dem Morgengebet mit Zecharijas los, die zwei Esel hinter sich herführend. Zecharijas verabschiedete sich bei der Tempelpforte, wünschte dem Paar eine gute Weiterreise und segnete sie.

Mariam und Jossef stiegen vom Tempelberg hinunter und nahmen die Strasse nach Hebron. Sie staunten über die unglaubliche Menschenmenge, die hier unterwegs war. Schon vor Bethanien waren die Scharen der Reisenden beeindruckend gewesen, jetzt aber wurden sie direkt erdrückend! Der Lärmpegel stieg stetig an, so dass Mariam bald Kopfschmerzen bekam. Auch wurde sie mehrmals heftig angerempelt. Sie entschied sich deshalb, wieder auf die Eselin zu steigen. Nach einer kurzen Pause am Strassenrand, in der Jossef das Gepäck der Esel umlud und Mariam einen Schluck Wasser trank, zogen sie mit der Menge weiter.

Zum Glück war der Weg bis Rahels Grab1 nicht allzu weit. Dort machten sie wie alle anderen dem Grab ihre Ehrerbietung. Danach bestieg Mariam wieder schwerfällig die Eselin. In der Nähe verkaufte ein alter Mann Feigen. Jossef holte einige davon als Wegzehrung und kam mit dem Mann ins Gespräch.

«Du machst wohl gute Geschäfte heute, bei dem Menschenauflauf, wie?» fragte Jossef.

«Doch, schon, es ist wunderbar fürs Geschäft!» antwortete der Mann. «Aber es ist keine gute Zeit für euch, unterwegs in dieser Menge zu sein, mit deiner Frau in anderen Umständen.»

«Das ist allerdings wahr!» sagte Jossef. «Wir sind zwar noch nicht weit gegangen und müssen nur bis Bethlehem. Aber dieser Lärm und die Rempelei machen ziemlich müde, auch wenn man nicht in Erwartung ist.»

«Wisst ihr was? Ihr könnt die nächste Abzweigung dort nach dem Grab links nehmen», riet ihnen der Alte und zeigte mit dem Finger darauf. «Wie ihr seht, geht dort niemand durch. Der Weg ist etwas länger – ihr kommt hinter Bet Sahur nahe der Wüste heraus – aber dafür habt ihr eure Ruhe! Danach müsst ihr nur noch den nächsten Weg nach rechts nehmen. Ihr kommt durch den Weiler Bet Sahur sehr bald nach Bethlehem. Zudem gelangt ihr direkt beim Gästehaus in die Stadt.»

«Oh, herzlichen Dank!» rief Jossef erfreut, «Das ist ein wertvoller Rat!»

Jossef ging zu Mariam und fragte, ob sie mit diesem Umweg einverstanden sei. Sie befürwortete den Rat des Alten, drehte sich zu ihm hin, legte ihre Hand aufs Herz und verneigte sich in einer Dankesgeste.

Dem Feigenverkäufer winkten sie zum Abschied; die Esel gingen bergab in einen kurzen Trab über, dann erreichten sie die Abzweigung dort, wo das Land wieder eben wurde. Danach folgte der Weg dem sanften Berghang. Eine Gruppe von Hirten ging mit ihren Schafen und Ziegen weit vor ihnen auf demselben Weg; sonst nahm niemand diesen Pfad. Die Hirten kamen nach ungefähr einer halben Stunde bei ihren kargen Feldern an. Die Tiere verteilten sich und fingen an, in der mageren, steinigen Wiese zu grasen. Die Männer winkten und riefen Mariam und Jossef einen Gruss zu. Diese blieben bereitwillig zu einer Plauderei mit den Hirten am Feldrand stehen und erzählten, dass sie von Bethanien über Jerusalem herkämen und nach Bethlehem weiterwollten. Die Hirten erklärten, wo die Abzweigung durch Bet Sahur zu finden war, und Mariam und Jossef zogen weiter. In Bet Sahur, eine Ansammlung von ungefähr zehn kleinen Häusern, konnten sie ihre Wasserschläuche am Brunnen füllen, bevor sie die letzte Strecke nach Bethlehem in Angriff nahmen.

Tatsächlich war der Weg, obwohl etwas länger, wesentlich weniger belastend gewesen. Trotzdem war Mariam unendlich froh, als die ersten Häuser der Stadt am Horizont erschienen. Es fehlte noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang. Am Stadtrand war es ruhig, aber sie hörten schon von weitem den Lärm der Stadtmitte. Ein Mann mit einem bis auf einige Kohlblätter leeren Karren ging an ihnen vorüber – anscheinend war auch noch Markttag, was wohl die unglaubliche Menschenmenge erklärte. Sie mussten also nur noch dem Lärm folgen, dann kamen sie von selbst zum Gästehaus, aus dem gerade einige Leute mit enttäuschten Gesichtern heraustraten.

«Das verspricht nichts Gutes!» sagte Mariam. «Aber versuchen können wir es trotzdem, denn ich kann nicht mehr weit gehen!»

Sie gingen hinein, und der Wirt schaute sie mit strenger Miene an.

«Bedaure! Kein Platz hier!» rief er über die lärmenden Gäste und Abgewiesenen.

Sie gingen enttäuscht wieder nach draussen und standen ratlos in der immer dunkler werdenden Gasse.

«Was machen wir jetzt?» fragte Mariam.

Jossef runzelte die Stirn. Er wusste es auch nicht. Sie gingen mit den Eseln wieder ein wenig stadtauswärts, nur schon des Lärmes wegen. Bethlehem war eine kleine Stadt und hatte nur dieses eine Gästehaus, das wussten sie.

Während sie dort standen und um sich schauten, brach plötzlich bei Mariam das Fruchtwasser!

«Oh, Jossef!» rief sie verzweifelt, «Jetzt geht es bald los! Das Kind kommt!»

Jossef riss erschrocken die Augen auf und war augenblicklich aktiv und entschlossen. Er hämmerte an die Tür des nächsten Hauses, aber es war niemand zu Hause. Beim nächsten Haus – dasselbe! Verzweifelt klopfte er an allen Türen, bis endlich ein junger Mann öffnete.

«Meine Frau bekommt gerade ein Kind!» rief Jossef. Der junge Mann riss Mund und Augen weit auf, dann verschwand er wieder ins Haus. Er hatte aber die Tür offengelassen, was ein wenig Hoffnung machte. Tatsächlich kam bald eine Frau im mittleren Alter heraus und schaute die beiden an.

«Mein Sohn sagt mir, eure Frau bekommt ein Kind, ist das richtig?» fragte sie Jossef.

«Ja, oh bitte, schnell, habt ihr Platz für uns?»

«Das Einzige, was ich euch anbieten kann, ist, dass ihr bei uns im Stall unterkommen könnt. Ich werde gleich frisches Stroh hinstreuen, damit die Arme dort gebären kann.»

Jossef war ausser sich, weil er die Verzweiflung seiner Frau spürte. Aber es gab keine Zeit mehr, etwas anderes zu suchen.

«Gut, dann zeig uns bitte den Weg zum Stall», stöhnte Jossef, «und vielen herzlichen Dank auch!» schickte er hinterher.

Der Stall war zum Glück gleich hinter dem Haus. Während Jossef Mariam stützte, die schwer atmete und ein wenig schwankte, fegte die Gastgeberin zuerst gründlich den Boden und streute dann eine dicke Schicht frischen Strohs darauf. Im Stall roch es warm und heimelig nach Stroh und Dung. Mariam liess sich mit Jossefs Hilfe und einem grossen Seufzer aufs Stroh nieder.

«So, jetzt gehe ich eine Hebamme holen!» sagte die Frau. «Das machst du ganz gut, atme weiterhin so tief wie möglich!»

Jossef hielt Mariams Hand und wischte ihr den Schweiss von der Stirn.

«Ach, Schatz, dass es gerade jetzt losgeht!» stöhnte Mariam durch die zusammengebissenen Zähne.

«Sag mir bitte, was ich machen muss, Mariam», bat Jossef.

«Ja, Jossef, geh schnell zum Haus und hole Wasser und Tücher, danach such bitte meine Halbschwester Salome!» befahl Mariam, und Jossef ging, froh, irgendwie behilflich sein zu können.

Eine erste Wehe durchschüttelte Mariam. Zum Glück war sie bei Elischewa bei der Geburt dabei gewesen und wusste genau, wie sie sich zu verhalten hatte. Bald kamen die Wehen in immer kürzeren Abständen. Mariam wusste, dass das Kind jetzt kommen wollte. Sie stützte sich auf einen Heuballen auf und presste mit ganzer Kraft.

Jossef traf mit Wasserschale und Tüchern gleichzeitig mit der Wirtin und der Hebamme ein. Er stellte die Sachen hin und ging auf die Suche nach Salome.

«Das machst du ganz richtig! Weiter so, ja? Fest pressen!» ermunterte die Hebamme Mariam, während sie sie in eine bessere Lage für die Geburt brachte.

Stunden vergingen. Mariam kämpfte, sie litt; die Hebamme half mit Stimme und mit Händen.

Als Jossef mit Salome eintraf, ermüdete Mariam schon sichtlich. Salome trat zu ihrer Halbschwester, strich ihr übers schweissnasse Haar und machte ihr Mut, während Jossef mit weissem Gesicht hinten im Stall bei den Tieren stand. Seine Frau so leiden zu sehen, ging ihm ans Lebendige. Er holte die beiden Esel in den Stall, um sich ein wenig abzulenken.

Die Hebamme bemerkte gegenüber ihrer Berufskollegin, dass Mariam erstaunlicherweise noch Jungfrau zu sein schien. Überrascht bestätigte Salome diese Tatsache. Trotz der Schmerzen zeigte Mariam kurz ein geheimnisvolles Lächeln, dann presste sie weiter.

Schliesslich war die Geburt geschafft. Jeschua trug seinen Teil dazu bei, und bald war sein erster Schrei zu hören. Nachdem die Nabelschnur abgebunden und Mariam gesäubert worden war, reichte Salome das Kind seiner Mutter, die sich seufzend aufs Stroh fallen liess und mit einem seligen Lächeln ihr Kind herzte. Tief berührt atmete sie den Duft ihres winzigen Sohnes ein. Es war das reinste aller Glücksgefühle, diesen wundersamen Geruch wahrzunehmen.

Jossef schaute voll Staunen auf das kleine Kind und streckte ihm einen Finger entgegen. Der kleine Jeschua schaute seinen Vater mit grossen dunklen Augen an. Jossef nahm seine Frau in die Arme. Sie lehnte sich erschöpft und selig an ihren Mann. Gott hatte ihnen wahrlich ein grossartiges Geschenk gegeben.

So kam der Herr in seine Welt, eine arme Welt ohne Bequemlichkeiten, aber mit liebenden Eltern, die ihr kleines Kind stundenlang betrachteten. Salome blieb bei der Familie und zeigte Mariam, wie sie ihr Kind zu stillen hatte. Erst im Morgengrauen, nachdem Jeschua vom Stillen satt war, fanden sie ein wenig Schlaf.

Hin und wieder stampften die Esel mit ihren kleinen Hufen auf dem hölzernen Stallboden; kurz meckerte eine Ziege. Sonst war nichts zu hören. Am südlichen Stadtrand von Bethlehem war alles still. Aber für diejenigen, die es hören konnten, machte sich der Geist Gottes mit den leisen Geräuschen von Flügelschlagen und Windesrauschen bemerkbar.

1 Das Grab der Matriarchin Rahel, zweite Frau Jakobs und Mutter von Joseph und Benjamin, die nahe bei Bethlehem starb

3

Die Hirten auf dem Feld vor Bet Sahur waren am selben Tag auch in Jerusalem gewesen, um einige Opfertiere feilzubieten. Es hatte kaum ein Durchkommen gegeben. Wie Mariam und Jossef waren sie froh gewesen, als sie die Ruhe der Abzweigung hinter Rahels Grab erreicht hatten. Nachdem Mariam und Jossef in Richtung Bethlehem weitergezogen waren, sprachen die Hirten über dieses merkwürdige Paar.

«Verrückt, so etwas! Mit einer hochschwangeren Frau eine solche Reise zu unternehmen!» meinte der Älteste der Hirten.

«Sie sind wohl wegen des Zensus dazu gezwungen worden», antwortete ein junger Bursche, seine Kenntnisse der Gründe für den Volksaufmarsch zeigend. «Unglaublich viele Leute sind unterwegs zurzeit!»

«Meint ihr denn, die finden irgendwo eine Unterkunft?» fragte der Alte.

«Nein! Wohl kaum!» antworteten alle zusammen. Danach herrschte bedächtiges Schweigen.

Sie trieben ihre Tiere in den Trockenmauerpferch, wickelten sich in warme Mäntel und legten sich aufs Feld zum Schlafen hin.

Mitten in der Nacht hörte der junge Bursche ein Geräusch wie Flügelschlagen und Windesrauschen. Er setzte sich auf und schaute umher, ob irgendwo ein Schwarm Vögel unterwegs sei, konnte aber nichts entdecken. Nur ein sehr heller Stern winkte im Südwesten. Das Geräusch schwoll zu einem richtigen Sirren an. Er weckte die anderen Hirten auf, dass sie das Sirren auch hörten.

Auf einmal umgab sie ein gleissendes Licht, heller als der Tag! Die Männer blieben vor Schreck zitternd liegen. Es kam ihnen allen unabhängig voneinander das Bild des Ehepaares wieder in den Sinn, und in jedem von ihnen sprach eine innere Stimme, sie sollten sich auf die Suche nach diesem Paar machen, denn da wäre etwas ganz Besonderes!

Eine grosse Freude erfasste sie, und ihre Herzen machten Luftsprünge; sie spürten alle einen grossen Jubel, als wenn sie schöne Musik hören würden. Langsam verschwand das Licht wieder, und das Sirren liess nach, bis nur noch ein sehr leises Flügelschlagen und Windesrauschen zu hören war, dann nichts mehr.

Die Männer, allesamt bodenständige, praktische Kerle, schauten einander verblüfft an. Dann blickten sie zum Pferch, aber die Tiere hatten weder auf die Geräusche noch auf das Licht reagiert. Alles war ruhig, als ob nichts geschehen wäre. Mit einer Selbstverständlichkeit, wie wenn die inneren Stimmen laut ausgesprochen worden wären, sagten sie:

«Wir müssen sie suchen!»

«Auf jeden Fall! Das ist ein ernstzunehmendes Zeichen. Da ist etwas!»

Sie machten unter sich aus, wer von ihnen bei den Schafen bleiben sollte. Sobald es tagte, wollten die anderen gleich nach Bethlehem aufbrechen. Niemand konnte aber mehr schlafen. Ein jeder lag wach und dachte über die unglaubliche Erfahrung nach.

Bei Tageslicht ging die Hirtengruppe zuerst zum Gästehaus. Sie hatte aber keine grosse Hoffnung, das Ehepaar dort zu finden. Der Wirt erinnerte sich nicht an eine hochschwangere Frau; es war so viel Trubel gewesen, dass er sich überhaupt nicht an einzelne Menschen erinnern konnte. Auf jeden Fall waren sie aber nicht bei ihm zu Gast.

Nun kam den Hirten ihre eigene Begeisterung schon ein wenig seltsam vor. Waren sie einem Hirngespinst aufgesessen? Sie gingen ziellos in den Gassen am Stadtrand umher und wussten gar nicht, wie sie ihre Suche gestalten sollten.

Gerade standen sie vor einem Wohnhaus, als sie die lautstarken Schreie eines Kleinkindes vernahmen. Sie schauten einander an. Na, das konnte irgendein Kind sein. Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau just in dieser Nacht ihr Kind zur Welt gebracht hätte?

Die Schreie kamen von der Rückseite des Hauses. Die anderen Hirten waren skeptisch, aber der junge Bursche schlich vorsichtig zum Stall, immer dem Schreien nach.

Als er die Quelle des Lärms fand, klopfte er sachte an, öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte herein – ja, tatsächlich! Das war das besondere Paar von gestern, das ihm jetzt freundlich zulächelte. Er ging kurz zurück zur Strasse und winkte die anderen Hirten aufgeregt zu sich. Alle kamen und schauten zur Stalltür herein. Mariam deutete ihnen, der Futterkrippe näherzutreten, wo sie Jeschua hineingelegt hatte.

Dann hörten alle wieder das leise Flügelschlagen und Windesrauschen. Die Hirten fielen auf die Knie und nahmen ihre Kopfbedeckungen ab in Ehrfurcht vor diesem kleinen Kind, das Licht auszustrahlen schien.

Der alte Hirte erzählte Jossef und Mariam, dass sie wegen einer Erscheinung hergekommen waren. Keiner verstand, warum gerade sie, einfache Hirten, das besondere Kind zu sehen bekamen. Irgendwie spürten sie aber, dass das richtig und wichtig war.

«Wollt ihr ein Lamm?» fragte der junge Bursche. «Wir können euch gerne ein schönes einjähriges Tier bringen.»

«Danke», antwortete Jossef, «aber ich weiss nicht recht, wo wir es hier braten könnten. Allerdings würde uns ein wenig Fleisch guttun, besonders meiner Frau. Sie muss jetzt zu Kräften kommen.»

«Vielleicht, wenn ihr auf der Heimreise seid?» meinte einer der Hirten.

Die Hirten waren so versessen darauf, ein Lamm zu bringen, dass Jossef höflich annahm. Sie machten ab, dass der junge Bursche das Tier gleich vorbeibringen würde. Bald machten sich die Hirten wieder auf den Weg zurück zu ihren Schafen auf dem Feld nahe Bet Sahur.

4

Weit, weit weg in Persien betrachtete eine Gruppe von Sterndeutern ihre Zeichnung der derzeitigen Konstellationen. Es würde sich bald ein einzigartiger Aspekt ergeben: Die Konjunktion von Jupiter und Saturn kam nur alle zwanzig Jahre vor. Ein neuer, hell leuchtender Stern war erschienen, der mit dieser Konjunktion und mit Mars ein Trigon bildete. Sie waren sich einig, dass Jupiter die königliche Würde und Saturn im Sternzeichen Fische das Volk der Juden symbolisierten. Dies deutete auf einen neuen jüdischen König hin. Sie hatten gehört, dass der gegenwärtige König, Herodes der Grosse, durch die Gnade des römischen Kaisers herrschte, jedoch im Volk recht unbeliebt war. Zeichnete sich da eine wichtige Änderung ab? Nach langen Diskussionen entschieden sie sich, nach Judäa aufzubrechen, um beim jetzigen König eine Audienz zu verlangen. Vielleicht liess sich auf diesem Weg etwas darüber erfahren.

Der Weg in den Süden würde sie oft durch Wüstenlandschaften führen. Sie liessen ihre Zeichnungen, einige Schriften, Proviant sowie Geschenke für den neuen König, falls sie ihn finden sollten, von ihrem Lehrling, Aftab, auf die Kamele laden.

Die weiteren Konstellationen zeigten, dass dieser König von religiöser Bedeutung sein würde, möglicherweise noch ganz jung war, wie der damalige König David von Israel in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen würde und einen leidvollen und frühen Tod sterben sollte. Deshalb wählten sie als Geschenke Weihrauch für die Würde, Myrrhe zur Salbung des Todgeweihten und Gold als Königsgeschenk.

Das Navigieren war für die Sternkundigen kein Problem, und sie kamen auf ihren prächtigen Tieren gut voran, der Hitze wegen hauptsächlich frühmorgens und spätabends. Nach zwei Wochen auf den üblichen Handelswegen waren sie schon in Syrien, überschritten die Grenze zur nördlichen Provinz Gaulanitis und peilten Tiberias in Galiläa an, wo sie übernachten und von der lokalen Bevölkerung erste Eindrücke von Herodes’ Ruf einholen wollten.

Tiberias war die neue Hauptstadt der Tetrarchie Galiläa und Peräa. Die Strassen in dieser Stadt waren von Menschen überfüllt. Die Sterndeuter gingen zum Hafen hinunter, denn am Hafen traf man meist allerlei Leute an, die zu einem Gespräch bereit waren.

Sie fanden einen Händler, der mit einigen Tuchballen offenbar auf ein ankommendes Boot wartete und froh war, im Gespräch mit den Fremden die Zeit zu vertreiben. Der Mann war ein lebhafter Erzähler, der auch mit den Händen sprach. Zuerst schwärmte er vom Vater des jetzigen Tetrarchen, Herodes Antipater, der mit seinem Mut und mit diplomatischem Geschick das Wohlwollen und die Unterstützung höchster römischer Kreise erworben hatte.

«Offenbar hat er auch euer Wohlwollen erworben!» warf Makahn, der älteste der drei Sterndeuter, ein. «Sein Ruf ist sogar bis zu uns nach Persien gedrungen. Allerdings hören wir auch anderes über ihn. Aber von seinem Sohn, dem jetzigen Tetrarchen, Herodes dem Grossen, wissen wir noch wenig. Was habt ihr für einen Eindruck von ihm?»

«Na, am Anfang hat er unser Land von den störenden Aufständischen befreit, die immer so viel Unruhe ins Leben bringen. Das war gut, und dafür wurde er auch geschätzt. Aber er ist brutal. Er geht buchstäblich über Leichen, sogar in der eigenen Familie! Er kennt nichts, wenn es um die Förderung seiner eigenen Pläne geht!»

«Ein böser Kerl also!» unterbrach ihn Behnam in seiner herausfordernden Art. «So etwas führt aber mit der Zeit doch zum Aufstand!»

«Kann sein, ja – aber ich bin ein friedvoller Mensch und lasse mich nicht in Aufstände verwickeln», sagte der Tuchhändler schnell. Man wusste schliesslich nie, mit wem man sprach.

«Das wollte ich damit nicht andeuten», fügte Behnam mit erhobenen Händen an. «Aber es ist doch möglich, dass ein solcher Herrscher eine allgemeine Angststimmung hervorrufen kann.»

«Ja-a, das kann man schon sagen», gab der Händler zu, «man muss unter Herodes schon mit allem rechnen! Man ist eher vorsichtig.»

«Sehr vernünftig!» pflichtete ihm Makahn bei und zwinkerte den beiden Kollegen zu, die schmunzelten ob der plötzlichen Vorsicht des Mannes. Sie merkten, dass er jetzt auf der Hut war. So beendeten sie langsam das Gespräch und suchten einen anderen Gesprächspartner, der vielleicht mutiger zu seiner Meinung stehen würde. Nachdem zwei weitere Männer mit ihrer wahren Meinung noch vorsichtiger zu sein schienen, gaben sie es auf und suchten sich eine Bleibe für die Nacht.

Die Stadt war prächtig. Nach dem Bezug ihres Quartiers schlenderten die Sterndeuter durch die noch immer belebten Strassen zwischen Palästen im römisch-griechischen Stil, am Forum und am Theater vorbei, dann gingen sie ins Bad und genossen die wohltuende Wärme des Thermalwassers. In einer nahen Schenke kamen sie später ins Gespräch mit einem römischen Beamten, den sie auch im Bad gesehen hatten.

Der Beamte meinte über Herodes: «Für uns ist er ein zuverlässiger Bundesgenosse, er erstickt ja jeden Aufstand im Keim.»

«Wir hören aber auch, dass er moralisch nicht über alle Zweifel erhaben ist. Hat er nicht eigene Familienmitglieder umbringen lassen?» fragte Makahn mit einem Seitenblick zu seinem jüngeren Kollegen, Kamran.

«Nun, was er mit seiner Familie anstellt, ist nicht unser Problem! Da mischen wir uns nicht ein. Wenn ich ehrlich bin, gibt es viele Römer, die Herodes verachten; nichtsdestotrotz können wir seine Macht für unsere Zwecke nutzen. Und er ist wenigstens allen gegenüber gleich brutal, da gibt es keine Bevorzugung!» sagte der Beamte und lachte laut.

Die drei Sterndeuter verabschiedeten sich von ihrem Trinkgenossen. Langsam bekamen sie doch ein Bild von diesem Gewaltherrscher Herodes. Das Volk zitterte, und das nützte den Römern. So blieb es ruhig im Reich.

Sie beschlossen, nach Jerusalem weiterzureisen und um eine Audienz mit Herodes zu bitten. Das konnte wohl interessant werden.

Zwei Tage später standen sie vor dem weitläufigen Königspalast in Jerusalem und baten den Torbeamten um einen Termin. Dieser verschwand und besprach Herodes’ Zeitplanung mit einem Sekretär.

«Ihr habt Glück!» sagte er, als er zurückkam. «Ich habe euch einen Termin für morgen um die neunte Stunde2 vereinbaren können. Meldet euch an der Ostpforte.»

Die Sterndeuter besprachen am Mittag ihr Vorgehen für das morgige Gespräch mit Herodes. Danach besichtigten sie die berühmte Stadt. Den Tempel konnten sie als Nichtjuden nur von aussen anschauen, aber sie mussten zugeben: Was auch immer Herodes verbrochen hatte, er hatte wundervolle Gebäude bauen lassen!

Am nächsten Tag erschienen sie pünktlich zur neunten Stunde vor der Ostpforte. Sie wurden zu Herodes’ Amtssaal gebracht, wo der etwas fette Herrscher in reich geschmückten Kleidern auf seinem erhöhten goldenen Thron sass und sie mit stolzer Miene erwartete.

Ehrerbietig traten sie vor, verneigten sich vor Herodes und sprachen die notwendigen Formeln, um seiner selbstverliebten Persönlichkeit zu schmeicheln. Während sich Herodes’ Mund zu einem Lächeln verzog, blieben seine kleinen Schweineaugen streng und kalt. Er bat die Gäste nicht, Platz zu nehmen, sondern liess sie stehen und bedeutete dem Bediensteten, er solle ihm, Herodes, und den Sterndeutern einen Becher Wein bringen.

«Hoheit, wir sind sternkundige Gelehrte aus Persien», sagte Makahn. «Eine gewisse momentane Konstellation deutet darauf hin, dass hier in Judäa Erstaunliches im Gange ist, und zwar im Zusammenhang mit dem Königshaus. Deshalb sind wir hierhergereist, um mehr über diese Sache herauszufinden.

Falls Eure Hoheit uns mehr dazu sagen kann, sind wir daran sehr interessiert. Anderenfalls, wenn Eure Hoheit es wünscht, können wir Euch auch weitere Ausführungen über unsere Sterndeutungen geben.»

Herodes kratzte sich am kahlrasierten Kinn und sagte eine Zeitlang nichts. Solches hatte er nicht erwartet. Die drei Gelehrten liessen ihm Zeit. Nur mit der Ruhe!

Endlich sagte Herodes: «Doch, erzählt von euren Sterndeutungen. Es ist mir zwar wohl schon alles bekannt, aber: Was seht ihr denn genau?»

«Dürfen wir unsere Zeichnungen ausrollen, Eure Hoheit?» fragte Kamran mit einer leichten Verneigung des Kopfes.

«Ja ja», antwortete Herodes, «zeigt sie her, wenn das hilft. Aber macht schnell, denn ich habe viel zu tun!»

Behnam trat vor und rollte die Zeichnung der Sterne vor Herodes aus. Nun trat der schöne, junge Kamran vor und zeigte mit seinem wohlgeformten Finger auf die Konjunktion von Jupiter und Saturn am Südwesthimmel. Herodes sah ihn mit durchbohrendem Blick an, aber Kamran liess sich nicht verunsichern und sprach mit ruhiger, selbstsicherer Stimme: «Hier verbinden sich die zwei Planeten Jupiter und Saturn. Jupiter ist Sinnbild der Königswürde», Kamran neigte bei diesem Wort den Kopf vor Herodes, «und Saturn ist Sinnbild für das Volk der Juden. Die weiteren Konstellationen zeigen, dass ein König von religiöser Bedeutung kommen wird», hier zeigte Kamran auf einen anderen Planeten, «möglicherweise erst noch ganz jung», wieder zeigte er einen Planetenaspekt auf, «und wie der damalige König David von Israel wird er in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen. Man sieht auch, dass er einen leidvollen, frühen Tod sterben wird.» Hier zeigte er mit besorgter Miene auf einen weiteren Planetenaspekt.

Die drei hatten beschlossen, vorerst nichts Weiteres zu sagen, sondern es Herodes zu überlassen, wie er das Gespräch weiterführen würde. Denn es waren brandheisse Themen, die sie da angesprochen hatten.

Herodes strich sich wieder übers Kinn. Die Stille im Raum war spannungsgeladen. Endlich sagte er: «Ihr könnt wieder gehen. Ich werde die Sache vorerst einmal mit meinen Schriftgelehrten besprechen. Danach werde ich euch allenfalls wieder zu mir rufen lassen.»

Sich vor Herodes verneigend, gingen Kamran, Makahn und Behnam rückwärts zur Tür und entschwanden aus dem Saal. Sie sprachen noch nicht miteinander, solange sie im Palast weilten. Wieder draussen auf der Strasse, liessen sie die Luft durch die Lippen entweichen.

«Puh!» meinte Behnam, «was für ein aufgeblasener Kerl!»

«Ja, und ein gefährlicher, denke ich. Es ist gut, dass wir uns zur Vorsicht entschieden haben. Vielleicht haben wir schon zu viel gesagt. Jetzt müssen wir der Sache einfach ihren Lauf lassen.»

«Ich bin gespannt, ob er uns tatsächlich nochmals zu sich ruft, und wenn ja, wie das Gespräch dann weitergeht.»

Es vergingen zwei weitere Tage, bis die Sterndeuter wieder zu Herodes gerufen wurden.

«Diesmal kannst du mitkommen, Aftab», schlug Makahn vor, «damit du siehst, wie man mit einem aufgeblasenen, selbstverliebten Herrscher umgeht!»

Der siebzehnjährige Lehrling lächelte erfreut, denn er wollte auf dieser Reise jede Gelegenheit zum Lernen nutzen, nicht nur die Kamele pflegen und beladen. Er nickte begeistert.

Herodes hatte für die zweite Audienz zwei Schriftgelehrte mit eingeladen, ein Zeichen der Wichtigkeit, die er diesem Gespräch beimass. Den drei Sterndeutern fiel auf, dass beide Schriftgelehrte sehr ernst dreinblickten und eine unangenehme Angespanntheit ausstrahlten. Alle Teilnehmer am Gespräch waren auf der Hut. Es ging um viel. Hier könnte der Messias gemeint sein.

Herodes leitete das Gespräch ein: «Meine Hohenpriester und Schriftgelehrten sind der Meinung, dass dieser von euch angedeutete, sogenannte ‘König’ wohl in Bethlehem in Judäa geboren werden soll. Wir werden jetzt die Stelle aus unseren Schriften vorlesen, die das Ereignis ankündigen könnte.» Er betonte das Wort ‘könnte’.

Er machte ein Handzeichen in Richtung der Schriftgelehrten. Einer stand auf und las vor: «So steht es beim Propheten Micha geschrieben:

Du, Bethlehem, im Land Juda, zu klein, um zu den Tausendschaften von Juda zu zählen; aus dir wird er für mich hervorgehen, um Herrscher zu sein über Israel. Und seine Ursprünge liegen in der Vorzeit, in längst vergangenen Tagen. Darum gibt er sie hin bis zu der Zeit, da jene, die gebären soll, geboren hat. Dann wird der Rest seiner Brüder zurückkehren zu den Israeliten. Und er wird auftreten, und mit der Kraft des Herrn wird er sie weiden, mit der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Dann werden sie wohnen bleiben, denn nun wird er gross sein bis an die Enden der Erde.3»

Der Schriftgelehrte hatte mit viel Pathos gesprochen. Jetzt nahm er wieder Platz.

«Gut, das ist genug!» befahl Herodes überflüssigerweise. Die Sterndeuter sahen einander mit lächelnden Augen an.

«Mit Verlaub, eure Hoheit, das scheint weitgehend unsere Deutungen zu bestätigen», sagte Makahn.

«Jawohl, das könnte durchaus sein. Deshalb will auch ich diesen neuen ‘König’ besuchen. Man kann nicht früh genug mit zukünftigen Herrschern Bekanntschaft machen. Vor allem dann, wenn sie von unseren Propheten angekündigt werden, sind sie wichtig für unser Volk. Deshalb schlage ich vor, dass ihr jetzt nach Bethlehem aufbrecht und diesen jungen Menschen, gemäss den Schriften vielleicht sogar ein neugeborenes Kind, aufsucht. Stellt Nachforschungen an. Findet es! Wenn ihr das Kind gefunden habt, dann will ich, dass ihr wieder hierherkommt und mir den genauen Ort meldet, damit auch ich hingehen und ihm huldigen kann. Ist das klar?»

«Ja, eure Hoheit!» riefen die Sterndeuter gehorsam. Die Schriftgelehrten schienen aufzuatmen. Alles war so gegangen, wie Herodes es gewollt hatte.

Sich verneigend, verliessen die Sterndeuter den Saal und danach den Palast. Sie wurden diesmal von den Schriftgelehrten bis zur Pforte begleitet. Dort riefen diese nach einem gewissen Enosch, und es gab eine ziemliche Aufregung. Die Sterndeuter taten so, als ob sie das laute Gespräch nicht interessierte, nahmen aber alles wahr, was vor sich ging. Die Schriftgelehrten redeten eindringlich auf den Beamten Enosch ein und erteilten ihm offensichtlich einen Auftrag.

Lange verweilen konnten die Sterndeuter nicht, das wäre zu auffällig gewesen. Auf dem Weg zurück zu ihrem Gästehaus fragten sie sich, was denn die Aufgabe dieses Beamten sein könnte. Sie hatten sich seine Gestalt gut eingeprägt und machten auch Aftab auf das Verhalten der Schriftgelehrten aufmerksam.

«Die führen eindeutig etwas im Schilde, Aftab. Hast du das auch gemerkt?» sagte Makahn. «Wir werden achtsam bleiben, brauchen aber keine besonderen Vorkehrungen zu treffen. Warten wir’s ab!» Aftab nickte eifrig.

2 Die neunte Stunde war in der antiken Zeitrechnung etwa 15 - 16 Uhr

3 Micha 5, 1-3

5

Nach der Audienz verliessen die Sternkundigen ihr Gästehaus. Während Aftab die Kamele sattelte, sah er, wie der an Herodes’ Pforte von den Schriftgelehrten angesprochene Beamte aus demselben Gästehaus kam und in eine Seitengasse verschwand. Er erzählte seine Beobachtung seinen Lehrmeistern. Danach brachen sie auf. Die vier Kamele schritten mit anmutigem, schaukelndem Gang gegen Süden.

Nach einer Weile sagte Kamran zu Makahn: «Hast du gemerkt, dass dieser Beamte von vorhin uns mit grossem Abstand folgt?»

Makahn nickte. «Er macht seine Sache eigentlich gar nicht so schlecht, aber er rechnet nicht mit unserer scharfen Beobachtungsgabe!»

«Ein Beschatter, den man kennt, ist keine Gefahr», meinte auch Behnam.

Aftab schaute nach hinten, um den Verfolger zu suchen.

«Nicht zurückschauen!» befahl Behnam. «Wir wollen die Ahnungslosen mimen!»

Bei Rahels Grab war fast kein Durchkommen. Die Strasse nach Hebron war von einer dichten Menschenmenge gefüllt. Die Sterndeuter kauften sich Feigen, kamen mit dem Verkäufer ins Gespräch, bekamen denselben Rat wie Jossef und beschlossen auch, den Umweg zu nehmen.

Kurz vor Bet Sahur sahen sie auf der Wiese zu linker Hand eine Schafherde beim Grasen und eine kleine Gruppe von Hirten, die freudig aufgeregt zu sein schien. Sonst war das Hirtenvolk doch eher träge und wortkarg, aber jetzt kamen sie von sich aus auf die grossen Tiere zu und grüssten die Sterndeuter.

«Friede mit euch, ihr Hirten!» rief Makahn von seinem Kamel herunter. «Habt ihr Grund zu feiern? Was macht euch so lustig?»

Die Hirten erzählten bereitwillig von dem, was sie erlebt hatten: Das helle Licht, die Familie und das besondere Kind im Stall, das ihre Herzen so sehr berührt hatte.

«Ganz klein, aber irgendwie gross!» sagte der junge Bursche unbeholfen.

Kamran nickte. «Ich glaube, ich verstehe schon, was du meinst, Junge. Und wisst ihr was? Ich habe das Gefühl, dass wir genau diese Familie suchen!»

«Ihr sucht diese einfache Familie?» fragte der älteste Hirte. «Was wollt ihr mit ihr?»

«Es ist eine lange Geschichte, aber das Kind ist wohl wirklich besonders, noch mehr als ihr es euch denken könnt! Seid dankbar, dass ihr es gesehen habt!» sagte Makahn.

«Könnt ihr uns zur Familie führen?» fragte Behnam.

Jetzt schauten die Hirten etwas misstrauisch drein. Auch Aftab wurde bei dieser Frage unruhig und schaute zurück, ob der Beschatter auf dem Weg hinter ihnen schon aufgetaucht sei. Er konnte aber auf Sichtdistanz niemanden entdecken.

«Wir wissen nichts über euch. Und wenn ihr der Familie Böses wollt?» sagte der alte Hirte.

«Ihr habt recht, misstrauisch zu sein. Wenn noch ein Mann, der weit hinter uns reitet, nach der Familie fragt, dem dürft ihr auf keinen Fall Auskunft geben, denn er meint es nicht gut mit ihr. Wir aber schon. Ihr könnt uns vertrauen. Der andere hingegen kommt von Herodes!»

«Von Herodes!» sagte der junge Hirte. «Also, ihm sagen wir ganz sicher nichts!»

Die Hirten sprachen kurz unter sich. Dann trat der junge Bursche wieder zu den Kamelen heran.

«Wisst ihr was? Wir haben der Familie sowieso ein Lamm versprochen. Das bringe ich gleich hin. Ihr könnt mitkommen! Wir vertrauen euch.»

«Gut, abgemacht, vielen Dank! Aber wir müssen bald los, damit unser ‘Schatten’ uns nicht einholt!» mahnte Kamran.

Der junge Bursche lief zum Pferch, holte ein schönes, einjähriges Lamm und ging mit dem Tier neben den Kamelen her Richtung Bethlehem.

***

Der ‘Schatten’, Enosch, hatte grosses Pech gehabt. Bei Rahels Grab war er von seinem Pferd gestiegen, um etwas mehr Entfernung zwischen sich und den Sterndeutern zu lassen. Er nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch. Dann drehte er sich wieder um und wollte auf sein Pferd steigen, um den Überblick über die Umgebung zu bekommen, als eine Gruppe junger Männer in einen lautstarken Streit miteinander geriet. Direkt neben Enosch ging einer laut rufend mit dem Stock auf einen anderen Mann los. Enoschs Pferd scheute, trat rückwärts über eine Böschung und stürzte.

Enosch fluchte laut und fuhr die beiden Männer wütend an, aber sie waren nur an ihrem eigenen Streit interessiert und beachteten ihn nicht. Er half seinem Pferd behutsam wieder auf die Beine und liess es am Rand der Menschenmenge langsam auf und ab gehen. Das durfte nicht wahr sein! Es lahmte mit dem rechten Vorderbein. Er stieg aufs Pferd, um zu schauen, ob er die Sterndeuter auf dem Weg vor sich noch entdecken konnte, aber er sah sie schon nicht mehr. Verdammt! Er stieg wieder ab. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Pferd nach Bethlehem zu führen. Dort wollte er versuchen, dem Pferdebein mit einem Umschlag Linderung zu verschaffen. Dann musste er herausfinden, wo sich seine Zielgruppe aufhielt. Dieses kleine Missgeschick konnte ihn den Erfolg seines Unternehmens kosten und ihn bei Herodes in Gefahr bringen, der solche Fehler auch schon mit dem Tod bestraft hatte. Wäre er bloss nicht vom Pferd gestiegen!

***

Als die kleine Gruppe beim Haus in Bethlehem ankam, ging der junge Hirte den Sterndeutern voraus und schaute vorsichtig in den Stall. Die Eltern sassen ruhig beim Kind und sprachen leise miteinander. Der Hirte bedeutete den vier Männern, ihm in den Stall zu folgen.

«Friede mit euch!» sagte er leise zu Mariam und Jossef. «Ich habe hier für euch wie versprochen ein schönes Lamm. Zudem habe ich euch Besucher mitgebracht; Männer, die es gut meinen.»

Jossef schaute etwas misstrauisch drein, bedankte sich aber für das Lamm, das der Hirte auf sein Zeichen hin Salome übergab. Sie stellte es hinten im Stall neben zwei Ziegen hin. Es gab ein wenig Gemecker, dann wurde es wieder ruhig. Der junge Hirte machte sich auf den Weg zurück zum Feld.

Die drei weisen Männer traten vor. Aftab blieb bei der Tür und beobachtete das Geschehen.

«Friede sei mit euch!» sagte Makahn mit seiner melodiösen, weichen Baritonstimme.

«Friede auch mit euch!» antworteten Jossef und Mariam.

Makahn fuhr fort: «Als sternkundige Männer haben wir anhand von Planetenaspekten gesehen, dass ein König von religiöser Bedeutung für Judäa erscheinen wird, möglicherweise erst noch ganz jung. Wie der damalige König David von Israel wird er in ärmlichen Verhältnissen leben.»

«Was hat das mit uns zu tun, ehrwürdige Sternkundige?» fragte Jossef.

«Die Konjunktion von Jupiter und Saturn hat uns nach Judäa gebracht. Aber um Genaueres zu erfahren, haben wir mit König Herodes gesprochen.»

Mariams Augen weiteten sich. Konnte man diesen Männern wirklich trauen? Meinten sie es tatsächlich gut?

«Die Schriftgelehrten des Herodes haben eure jüdischen Schriften zitiert, wonach der neue König der Juden in Bethlehem geboren wird», sagte Kamran. Er zitierte die genaue Schriftstelle in ihrer Ganzheit, denn er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

«Der Prophet Micha!» sagte Mariam leise und ehrfurchtsvoll. «Wollt ihr sagen, dass damit auf uns hingedeutet wird?»

«Erscheint euch das so unmöglich?» fragte Makahn sanft.

«Es ist für mich zwar immer noch schwierig zu fassen», antwortete Mariam, «aber tatsächlich wurde dieses Kind auf besonderer Art gezeugt. Und damals haben sowohl ich als auch mein Mann, Jossef, eine Botschaft erhalten. Wir nannten dies ‘den Besuch des Engels’.»

Die drei Sterndeuter nickten ehrfürchtig. Die Vorstellung eines Engels war für einen persischen Gelehrten nichts Abwegiges.

«Was war diese Botschaft, ehrwürdige Mutter?» fragte Kamran.

«Ich sah ein sanftes, liebendes Antlitz vor mir, und ich wusste: Ich werde ein Kind gebären. Als nächstes hörte ich in mir drin den Namen ‘Jeschua’, und ich wusste: Das Kind muss so heissen. Ich spürte dann: Das Kind Jeschua wird gross sein und wichtig für das Volk Israel, für das Haus Jakob. Da wusste ich: Das Heilige, das gezeugt wird, wird Sohn Gottes genannt werden!»

Als Mariam diese Worte sprach, hörten alle im Raum das leise Flügelschlagen und Windesrauschen um sie herum.

«Dieses Geräusch!» sagte Jossef, «Das hörten wir jedes Mal, wenn wir vom Engel besucht wurden.»

«Schwingung!» sprach Makahn, «Alles ist Schwingung! Das Metaphysische verdichtet sich. Wir hören die Wellen geistiger Wesen, die uns helfen wollen. Wir sehen verdichteten Geist! Überall herrscht ein Zusammenspiel von Energien. Überall spiegelt sich eins im anderen; die Abläufe von Werden und Vergehen, von Welt und Kosmos. Was für unsere sichtbare Welt gilt, gilt ebenso für die unsichtbare, die in unserer sichtbaren am Werk ist.»

Mariam schaute zu Jossef hinüber und hob eine Augenbraue. Jossef lächelte. Sie verstanden sich ohne Worte. Man konnte alles zerreden, aber diese Worte halfen nicht weiter. Im Gegenteil: Solch hochgestochene Erklärungen entfernten die Erlebnisse ein wenig, machten sie zu einem Gegenstand der Wissenschaft, anstatt dass sie erfahrbar blieben.

Trotzdem waren die Männer in ihrer Suche nach der Wahrheit offenbar aufrecht, sonst hätten sie die Geräusche gar nicht erst hören können.

Makahn, Kamran und Behnam hoben ihre drei Geschenke empor. Als erstes sank Makahn vor dem Kind auf die Knie, nahm Weihrauch und räucherte drei Mal im Kreis um das Kind, das zu husten anfing. Mariam lachte leise.

Makahn sprach: «Dein Leben sei deinem Volke geweiht, zukünftiger König der Juden.»

Als nächstes kniete Kamran vor das Kind in der Krippe. Er öffnete einen Beutel, nahm zwei Aurei4 heraus und legte sie auf den Rand der Krippe. Dann sprach er: «Dieses Gold verleiht dir die Königswürde, gesegnetes Kind!»

Dann kniete Behnam vor das Kind, salbte dessen Stirn und Handflächen mit Myrrhe und sprach: «Gesegnet seist du, König, auch dann, wenn du einst ins Totenreich hinübertrittst.»

Die drei Männer blieben eine Zeitlang vor dem Kind auf den Knien. Dann standen sie auf und wandten sich wieder seinen Eltern zu. Das Geräusch vom Flügelschlagen und Windesrauschen hörte abrupt auf. Mariam und Jossef sahen den Ernst in den Gesichtern der drei Männer und erschraken.

«Wir müssen euch leider auch warnen», sagte Makahn, «denn Herodes hat uns gebeten, ihm zu berichten, wo ihr seid. Er sagte, er wolle dem neuen König huldigen. Er sagte es aber nicht mit aufrichtiger Stimme. In seinen Augen lag Berechnung. Wir trauen ihm nicht.»

«Ja», ergänzte Behnam, «er ist nicht ehrlich. Er will euch schädigen, damit er seine Machtposition behalten kann. Wir glauben auch, dass er einen Beschatter hinter uns hergeschickt hat.»

«Weiss dieser Beschatter denn, wo wir sind?» fragte Jossef besorgt.

«Aftab!» rief Behnam laut, «Hast du unseren Schatten wiedergesehen? Ist er uns auf den Fersen?»

«Nein», antwortete Aftab, «seltsamerweise nicht! Ich habe ihn letztmals kurz vor Rahels Grab gesehen, seither nicht mehr.»

«Dann weiss er nicht, wo ihr seid», sagte Makahn zu Mariam und Jossef. «Aftab hat ein gutes Auge für Gefahr. Trotzdem solltet ihr wohl auf der Hut sein.»

«Nun wollen wir wieder in unser Heimatland zurückkehren. Ihr könnt aber sicher sein, dass auch wir vorsichtig sein und nicht wieder in die Nähe von Herodes kommen werden», sagte Kamran.

«Friede sei mit euch und Segen dem Kinde!» riefen alle vier Sternkundigen, während sie sich zur Stalltür wandten.

«Friede auch mit euch!» antworteten Mariam und Jossef. «Gute Heimreise, und danke für die Geschenke und eure wohlwollenden Worte, auch für eure Warnung!»

4 Römische Goldmünzen, ein Aureus entsprach dem Monatslohn eines Handwerkers

6

«Glaubst du wirklich, dass wir jetzt in Gefahr sind, Jossef?» fragte Mariam einige Tage später.

«Vorläufig denke ich nicht, dass wir Grund zur Sorge haben», antwortete Jossef. «Schliesslich ist Bethlehem überfüllt mit Menschen. Wenn der Beschatter die Männer nicht verfolgen konnte, kann er uns in diesem Gewühl unmöglich finden. Er weiss nichts über uns und hat uns nie gesehen.»

Mariam entspannte sich. «Stimmt!» sagte sie erleichtert. «Mir wäre es recht, wenn wir noch einige Tage hierbleiben könnten, bevor wir den Heimweg antreten. Schliesslich haben wir uns noch immer nicht eintragen lassen.»

«Ich habe gedacht, wir könnten das morgen in Angriff nehmen, sofern du dich dazu schon stark genug fühlst», schlug Jossef vor.

«Ja, ich denke, jetzt habe ich mich genügend erholt und bin wieder bei Kräften. Machen wir das», willigte Mariam ein. «Morgen sind wir bereits fünf Tage hier, und übermorgen ist Schabbat. Wenn wir drei Tage bleiben, könnten wir die Beschneidung gleich hier machen.»

«Du hast recht, das müssen wir wohl! Wo habe ich meine Gedanken?» rief Jossef.

Bevor sie am nächsten Tag zum Zensus gingen, bat Jossef, dass Mariam die zwei Aurei in den Saum seines Gewandes einnähe.

«Unser Notgroschen für die Heimreise», sagte er fröhlich. Beide freuten sich, wieder nach Nazareth in ihr schönes Haus zurückzukehren.

Vorerst aber machten sie sich auf den Weg zu einem der Stände, die am Marktplatz von Bethlehem für die Eintragung aufgestellt worden waren. Mariam band Jeschua mit einem Wickeltuch fest an ihren Körper, damit ihm im Gedränge nichts geschähe.

Die Stadt war laut. Überall riefen und lärmten die Menschen. Karren holperten über die Steine der römischen Strasse nach Hebron, und hier und dort erhob ein Esel seine Stimme in der allgemeinen Geräuschkulisse.

Die Eintragung war schnell erledigt. Jossef gab wie aufgefordert seine und Mariams volle Namen, die Namen ihrer Väter, Jeschuas vollen Namen, Alter, sowie Herkunftsort, Beruf, Vermögen und Landbesitz an.

Sie überlegten sich dann, wie sie den Beschneider finden könnten.

«Fragen wir doch die Frau im Haus, die Frau, der unser Stall gehört», schlug Jossef vor. «Sie wird das vermutlich wissen.»

Sie holten sich auf dem Rückweg zum Stall frische Früchte und Oliven. Dann klopften sie bei der Frau an. Tatsächlich wusste sie Rat. Sie beschrieb für Jossef, wo der Beschneider zu finden war und bot den beiden Tee an.

«Ich heisse Tabitha», sagte sie.

«Ich bin Mariam, und dies ist Jossef, mein Ehemann», antwortete Mariam. «Vielen Dank, Tabitha, dass ich bei dir im Stall entbinden durfte! Wir sind dir sehr dankbar.»

«Und wie geht’s dem Kleinen?» fragte Tabitha. «Mein Sohn hat gesehen, dass ihr einige Besucher hattet. Habt ihr denn Bekannte hier?»