Flüchtiges Glück - Ulla Mothes - E-Book + Hörbuch

Flüchtiges Glück Hörbuch

Ulla Mothes

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Beschreibung

Der Roman zum Ende der Nachwendezeit - über Enttäuschungen, Wagnisse und Vertrauen


Geliebt und behütet ist Milla in Berlin bei ihrer Mutter aufgewachsen. Ihren Vater hat sie nie vermisst. Nun aber ist Milla schwanger, und ihr Freund Navid drängt sie, ihren Wurzeln nachzuspüren. Verschwiegenes sickert in Generationen ein wie Gift, sagt er. Doch sein Ansinnen sorgt für Zwist: Millas Mutter will den Schmerz aus ihrer DDR-Vergangenheit nicht aufwühlen. Und die Großeltern weichen aus. Als dann noch ein betrunkener alter Mann Milla und Navid angeht und behauptet, Millas Oma sei bei der Stasi gewesen und habe seine Frau auf dem Gewissen, erkennt Milla, dass sie in ein Wespennest gestochen hat. Was geschah damals wirklich?


Einfühlsam und authentisch schreibt Ulla Mothes über das Leben in der DDR, über Freundschaft und Verrat, Licht und Schatten. Ein Roman, der nachdenklich macht und nachhallt.

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Zeit:15 Std. 29 min

Veröffentlichungsjahr: 2022

Sprecher:Sabine Fischer

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMotto123456789EpilogQuellenLiteraturFilmeMusikDank

Über das Buch

Der Roman zum Ende der Nachwendezeit – über Enttäuschungen, Wagnisse und Vertrauen Geliebt und behütet ist Milla in Berlin bei ihrer Mutter aufgewachsen. Ihren Vater hat sie nie vermisst. Nun aber ist Milla schwanger, und ihr Freund Navid drängt sie, ihren Wurzeln nachzuspüren. Verschwiegenes sickert in Generationen ein wie Gift, sagt er. Doch sein Ansinnen sorgt für Zwist: Millas Mutter will den Schmerz aus ihrer DDR-Vergangenheit nicht aufwühlen. Und die Großeltern weichen aus. Als dann noch ein betrunkener alter Mann Milla und Navid angeht und behauptet, Millas Oma sei bei der Stasi gewesen und habe seine Frau auf dem Gewissen, erkennt Milla, dass sie in ein Wespennest gestochen hat. Was geschah damals wirklich? Einfühlsam und authentisch schreibt Ulla Mothes über das Leben in der DDR, über Freundschaft und Verrat, Licht und Schatten. Ein Roman, der nachdenklich macht und nachhallt.

Über die Autorin

Ulla Mothes, 1964 geboren, wuchs in der Mark Brandenburg sowie in Ostberlin auf. Als Studentin stellte sie einen Ausreiseantrag, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder mit einem Maulkorb aufwachsen müssen. Es folgten Exmatrikulation, Arbeit als Garderobenfrau, Ausreise 1986. Heute lebt Ulla Mothes als Lektorin, Autorin und Schreibcoach in Berlin. Ihre zwei erwachsenen Kinder dürfen bis heute sagen, was sie wollen.

ULLA MOTHES

FLÜCHTIGES

GLÜCK

ROMAN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Originalausgabe

  

Copyright © 2022/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

  

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com und alamy.de

Umschlagmotive: © stock.adobe.com: Volodymyr (Vladimir) Nikulin | dieter76 | pikselstock | daboost/© ClassicStock Alamy Stock Photo

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-1039-8

luebbe.de

lesejury.de

 

All jenen, die schwimmen, wenn sie ins Wasser geworfen werden.

 

Die persönliche Freiheit ist nicht die Freiheit des Einzelnen.

Mechthild Katzorke

1

Berlin, April

»Willst du meine Frau werden?«, fragte Navid.

Milla sog scharf die laue Abendluft ein. Es war einer der ersten Frühlingstage, und Navid war mit ihr auf den Teufelsberg gestiegen. Er stand hinter ihr und umfasste ihre Hände mit seinen großen feingliedrigen. Milla wiederum hielt die Schnur des Drachens, der hoch über ihnen schwebte. Wofür Navid sorgte, indem er ihre Bewegungen im Wind leitete.

»Willst du meine Frau werden und mit mir unter diesem unendlichen Himmel tanzen wie unser Drachen? Willst du mit mir durchs Leben fliegen? Willst du dich mir anvertrauen, wie wir unseren Drachen in den Wind stellen, der ihn trägt?«

Navid überließ die Schnur ihren Händen und trat vor sie, um sie anzuschauen. Zwischen ihren erhobenen Armen sah sie sein Gesicht: Seine dunkelbraunen Augen, deren warme Farbe jetzt einem harten Ebenholzton gewichen war, der von seiner Anspannung zeugte. Seinen dunklen Teint, seine schwarzbraunen Haare, die vom Wind verwuschelt einen weichen Kontrast zu seinem markanten Gesicht bildeten. Und seine geschwungenen Lippen. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst: hellbraunes Haar, im Sommer eher blond, Sommersprossen auf blasser Haut, einen Herzmund und ein spitzes Kinn. Und sie stellte sich eine Mischung von beidem vor.

»Ich bin schwanger«, platzte Milla heraus, und weil sie über diese Antwort selbst erschrak, hätte sie beinahe die Schnur losgelassen.

Im letzten Augenblick griff Navid wieder nach ihren Händen und umschloss sie. So standen sie sich gegenüber, mit zum Himmel erhobenen Armen, Hand in Hand, Brust an Brust, Aug in Aug, und der Drachen tanzte über ihnen im Wind.

»Wirklich?«, fragte Navid, und seine Augenfarbe wechselte wieder zu dem weichen Braun, das für Milla zur Farbe der Liebe geworden war.

»Ja«, sagte sie und verspürte Erleichterung, dass es ihr herausgerutscht war und sie nicht im Stillen für sich entschieden hatte, ob sie das Kind zur Welt bringen würde oder nicht. Die Erleichterung zeigte ihr, dass es richtig war, sich Navid anzuvertrauen. Deshalb sagte sie noch einmal, bestimmter: »Ja.«

Er ließ ihre Hände los, umfasste ihre Taille, wirbelte sie jubelnd herum, und der Drachen trudelte in einem halsbrecherischen Kreis am Himmel um sie, bis Navid Milla wieder auf dem Boden absetzte und ihn einholte.

»Es ist ein bisschen früh«, sagte Milla, nachdem sie den Drachen weggelegt hatten und aneinandergelehnt auf ihrer Picknickdecke saßen.

»Für mich nicht«, sagte Navid schlicht.

Milla glaubte es ihm. Navid war vor sechseinhalb Jahren als Fünfzehnjähriger aus Kundus geflüchtet. In der Woche davor waren seine Eltern und seine drei Geschwister von den Taliban hingemetzelt worden, dazu die Familie seines Onkels und die Großeltern. Navid war als Einziger davongekommen, weil er nicht zu Hause gewesen war und sich verstecken konnte. Er hatte die geschändeten, abgestochenen, enthaupteten oder von Kugeln durchsiebten Verwandten begraben und war losgezogen. Navid hatte so viele Tote zu beklagen, dass ein neu entstehendes Leben für ihn der Himmel auf Erden sein musste. Auch wenn sie beide erst einundzwanzig waren, Navid fast zweiundzwanzig. Er hatte gerade seine Ausbildung zum Physiotherapeuten beendet und in diesem Monat seine erste Stelle in einer kleinen Praxis angetreten.

Für ihn ist alles ganz einfach, dachte Milla. Geld verdienen, Frau, Kind, fertig. Sie dagegen machte sich tausend Sorgen, seit sie am Vorabend einen Schwangerschaftstest gemacht hatte, weil ihre Periode ausgeblieben war. Er war ihre erste richtige Liebe – und sie seine. Konnte das gutgehen? Waren sie nicht viel zu jung? Sie studierte Siedlungswasserwirtschaft, und weil es ein duales Studium war, arbeitete sie gleichzeitig bei den Berliner Wasserbetrieben. Und dann ihre Mutter, die nicht müde wurde zu sagen, dass die erste Liebe nun mal schiefgehe, die sei viel zu romantikbeladen. Sie wartete nur darauf, dass Milla Navid den Laufpass gab. Wie sollte da ein Baby reinpassen?

»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?« Navid zog sie enger an sich.

»Was wird aus meinem Studium?«, fragte Milla.

»Ich arbeite nur fünf Tage die Woche«, sagte Navid. »Die in der Praxis freuen sich riesig, wenn ich die Spätschichten übernehme und keine einzige frühe will, weil du dann in der Hochschule bist oder bei den Wasserbetrieben.«

»Und meine Mutter …«

»Ja«, sagte Navid und schaute in die untergehende Sonne. »Das müssen wir in Angriff nehmen.« Er zeigte auf den roten Ball, der im Westen den Horizont berührte, und streifte mit seinen Lippen genauso zart Millas Schläfe. »Ein Kind braucht eine glückliche Familie, um zu gedeihen. Deine Familie ist nicht glücklich. Jedenfalls nicht deine Mutter.« Er wandte sich ihr nun ganz zu. »Ich wünsche mir eine glückliche Familie. Nichts mehr als das.«

Wieso sollte ihre Mutter nicht glücklich sein? Merkwürdig, dachte Milla. Aber egal. Gedeihen. Lieber spürte sie diesem schönen altmodischen Wort nach. Navids Sprachlehrer nach seiner Ankunft in Deutschland war ein älterer Universitätsdozent gewesen, und Navids Deutsch wirkte deshalb manchmal etwas gestelzt. Ja, ihr Kind sollte gedeihen, unbedingt. Die Sonne küsste den Horizont nun heftiger, und Milla presste ihre Lippen ebenso auf Navids.

»Ich weiß, dass deine Mutter mich nicht will«, sagte Navid, als sie sich zwei Tage später nach Kreuzberg aufmachten, um mit Millas Mutter Jola zu Abend zu essen und ihr die Neuigkeit persönlich zu verkünden.

Milla ließ die Haltestange der U-Bahn los und strich ihm über den Arm. »Nimm es nicht persönlich. Sie meint es nicht so. Ich glaube, sie hat nichts gegen dich, nur gegen …« Die Bahn ruckelte, weil sie in eine Kurve fuhr, und Milla fiel an Navids Brust.

Er legte schützend den Arm um sie. »Gegen uns.«

»›Liebe ist Opium für das Volk‹ ist ihr Spruch. Frei nach Karl Marx.«

Navid schnaubte. »Na, das passt ja! Ich komme aus einem der Länder, die das feinste Opium überhaupt herstellen.«

Milla sah das Blitzen in seinen Augen und seufzte theatralisch. »Jaaa«, sagte sie so verrucht wie möglich. Dass es wohl nicht besonders sündig geklungen hatte, sah sie an dem Lächeln, das über Navids Gesicht huschte.

Er wurde gleich wieder ernst und strich gedankenverloren über ihren Rücken. »Wie auch immer deine Mutter zu so einer traurigen Erkenntnis gelangt ist – die ist für eine Familie giftiger als Opium.«

»Ich habe es gut gehabt«, widersprach Milla. »Mama ist einfach unromantisch.« Sie überlegte, wollte es nicht so negativ ausdrücken. »Pragmatisch eben.«

Navid sagte trocken: »Da habe ich ja Glück, dass ich meine Ausbildung fertiggemacht habe.«

Milla hob den Zeigefinger. »Und einen Job hast, vor allem.«

»Damit ich dich und das Kind ernähren kann.«

»Nee.« Milla schüttelte energisch den Kopf. »Meine Mutter tickt anders. Damit du mir nicht auf dem Sofa in der Quere sitzt, würde sie sagen.«

»Das gefällt mir«, sagte Navid, gab ihr einen Kuss und schob die Hand unter ihre abgeschabte Lederjacke und das Shirt mit den Kräuselsäumen. Milla liebte romantische Klamotten und freute sich schon darauf, im Sommer Blümchenkleider zu tragen. Die Schwangerschaft würde man vermutlich erst im Herbst richtig sehen, und ihre zwei Lieblingskleider fielen locker. Um in ihnen nicht zu niedlich zu wirken, trug sie meistens ihre uralte »Kreuzbergjacke« darüber. Die dunkelbraune Lederjacke besaß sie bereits seit ihrer Schulzeit. Auch klobige Schuhe mit dicken Plateausohlen trug sie. Mit ihnen war sie genauso groß wie Navid, nämlich knapp eins achtzig. Das war beim Küssen perfekt. Was sie auch gleich noch mal ausprobierte.

Als Navid ihre nackte Haut in der Taille kitzelte, biss sie ihn sanft in die Unterlippe und kniff ihn beherzt in den Hintern, was keiner sehen konnte, weil Navid an einer Trennwand lehnte. Sie beendete den Kuss, schaute an ihm vorbei mit gelangweiltem Blick zu einem Bildschirm, auf dem das Berliner Fenster irgendwelche Fußballergebnisse bekanntgab, und ließ ihre Hand wandern. Das war ihr U-Bahn-Sport: übergriffig sein, ohne dass es auffiel.

Navid sog zischend die Luft ein und ließ auch seine Hand wandern, aber da mussten sie aussteigen.

»Ich hatte es richtig gut«, knüpfte Milla auf dem Weg zu Jolas Wohnung an das Gespräch in der U-Bahn an. »Es gab nie Elternkrach. Wenn Toni und Dirk sich gezofft haben, war Mama nicht beteiligt. Deshalb ging das an mir vorbei. Anders als bei meinen Freundinnen.«

Wider Erwarten lächelte Navid nicht. »Ich hätte deiner Mutter mal einen richtigen Streit gewünscht«, sagte er. »Wegen der Versöhnung.« Er kniff die Augen zusammen und blickte in den Himmel, so wie er manchmal einen seiner selbstgebauten Drachen ansah. Milla nannte es seinen Heimwehblick. Als sei die Drachenschnur so lang, dass sie um die Erde herum viereinhalbtausend Kilometer bis nach Kundus reichte. »Wenn ein Paar sich versöhnt, na ja … dann gewinnt es irgendwie seine Liebe zurück«, sagte er stockend. »Meine Eltern wussten das, und so wie sie sich angeschaut haben, wenn sie sich nach einem Krach versöhnt haben, das war …« Navids Stimme brach.

Milla schob ihre Hand in seine. Navids Eltern mussten sich sehr geliebt haben. »Das verstehe ich, glaube ich zumindest«, sagte sie sanft. »Und ich werde daran denken.«

»Hat deine Mutter denn die ganzen Jahre keinen Partner gehabt?«

Milla schürzte die Lippen. »Es ist irgendwie nie etwas draus geworden. Sie hatte hin und wieder mal einen Freund, hat aber nie einen mit nach Hause genommen. Sie pennte dann ein paar Wochen öfter aushäusig und war viel unterwegs. Toni hat es immer ihre ›wilden Wochen‹ genannt. Ich hab diese Freunde höchstens beim Badengehen oder Eisessen kennengelernt. Zwei, drei waren dabei, die mochte ich gern, und einer war sogar ganz vernarrt in mich. Aber den hat Mama recht schnell abserviert.«

»Dabei ist deine Mutter wirklich eine schöne Frau. Du hast ihr dichtes Haar geerbt. Es ist genau wie deins, nur rötlicher.« Er zog zärtlich daran, und als Milla nachgab und den Kopf nach hinten legte, mussten sie einander gleich wieder küssen.

Milla machte sich jedoch schnell los. »Komm, sie wartet bestimmt schon.«

Jola wohnte seit mehr als zwanzig Jahren am Chamissoplatz in einer Wohngemeinschaft mit Toni und Dirk, einem schwulen Pärchen. Sie teilten sich eine riesige Gründerzeitwohnung mit knarrendem Parkett, Balkon und Erker. In dem stand Jola und schaute in Erwartung ihrer Tochter und deren Freund hinunter. Ihr Blick schweifte über den Spielplatz, auf dem viel los war. Milla hatte schon als kleines Mädchen, wann immer sie wollte, dort spielen gehen dürfen, weil Jola ihr Umsicht auf der Straße zutraute wie ihre Eltern in ihrer Wolfener Wohnsiedlung seinerzeit ihr selbst.

Allerdings war Milla damals praktisch das einzige Kind gewesen, dessen Mutter nicht am Rand des Spielplatzes herumsaß, und auch heute hockten dort fast genauso viele Mütter, wie Kinder auf dem Platz tobten. Jola war Lebensmittelchemikerin und arbeitete ganztags in einem Labor, in dem die Zulassung neuer Produkte geprüft wurde. Wenn Milla aus der Schule gekommen war, waren entweder Toni oder Dirk da gewesen, die gemeinsam ein Steuerbüro betrieben und sich bis zu Millas Teenageralter nachmittags dort abgewechselt hatten. Jola hatte die beiden bei der Wohnungssuche kennengelernt, und sie hatten sich auf Anhieb verstanden und aus der Zwei-bis-drei-Zimmer-Wohnung, die das Pärchen und die schwangere Jola jeweils suchten, die aber Ende der Neunziger kaum zu bekommen gewesen war, eine Fünfzimmerwohnung gemacht.

Eine solche ergatterten sie am Chamissoplatz. Eine Win-win-win-Situation, wie Dirk immer sagte. Sie hatten Platz, und zwar bezahlbar. Toni und Dirk bekamen ein Kind und Jola gleich zwei Väter, die auf ihre Tochter aufpassten, wenn sie studieren und später arbeiten war. Im Kreuzberger Kinderladen störte sich kein Mensch daran, dass Milla im Wechsel von zwei schwulen Vätern und ihrer Mutter abgeholt wurde.

Jetzt sah Jola ihre Tochter mit ihrem Freund um die Ecke biegen. Er griff ihr ins Haar, und sie küssten sich. Das gab Jola einen Stich. Genauso hatte Raik damals ihre Haare … Stopp, befahl sie sich, ging in die Küche und kippte die Salatsauce über den Rucola, dass es spritzte. Aber es half nicht.

* * *

Leipzig, September 1989

»Wir sind das Volk!« Jola sah Raik an, der an ihrer Seite lief, und holte mit ihm zusammen tief Atem. »Wir sind das Volk!«, riefen sie mit allen anderen auf der Montagsdemo, blickten sich dabei in die Augen und rempelten aus Versehen die vor ihnen Laufenden an.

»Entschuldigung«, sagte Raik.

Jola kicherte.

Sie waren mit Raiks Vater Matthias nach Leipzig gefahren, zum Ärger von Jolas Mutter. Der geht jetzt die Muffe, dachte Jola kurz. Wenn die Leute hier wüssten, was meine Mutter macht, die würden mich lynchen. Aber es war ihr egal. Sie war dreizehn, genau wie Raik. Eigentlich war ihr auch die Montagsdemo egal. Nicht egal war ihr Raik.

Der Demonstrationszug stockte. Aus dem Augenwinkel sah Jola, wie aus einer Seitenstraße Polizisten gerannt kamen.

Raik griff nach ihrer Hand. »Weg!«, zischte er. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass sie immer ganz am Rand des Zuges liefen, damit sie gegebenenfalls abhauen konnten. Im entstehenden Knäuel verloren sie Raiks Vater, aber Raik hielt Jolas Hand fest und entwischte mit ihr in eine andere Seitenstraße. Als ihnen auch dort Polizei entgegenkam, zog Raik Jola in einen Hauseingang, in den Flur, die Treppe hinauf bis ganz oben. Zwischen den Dachbodentüren ließen sie sich auf den Absatz plumpsen.

»Scheiße«, flüsterte Jola und horchte angstvoll.

»Finde ich nicht«, sagte Raik.

Sie sah ihn an, und selbst im Halbdunkel entdeckte sie die Grübchen, die immer erschienen, wenn er lächelte.

»Finde ich überhaupt nicht«, bekräftigte Raik, schob seine Hand in ihr Haar, wartete einen Augenblick.

Jola rührte sich nicht.

Da küsste Raik sie. Ganz zart. Lippen auf Lippen.

Jola rührte sich immer noch nicht. Mein erster Kuss, dachte sie überwältigt. Endlich.

Raiks Mund hatte sich nur Millimeter von ihrem entfernt. Er wartete. Sie reckte den Kopf vor, und ihre Lippen trafen sich erneut.

An diesem Abend in einem feuchtkalten Leipziger Treppenhaus brachten die beiden Teenager einander das Küssen bei. So ausgiebig, dass Raiks Vater, als sie endlich am Auto erschienen, wie es für den Notfall verabredet war, schimpfte und beim Einsteigen zitterte.

»Meine Mutter hätte uns schon rausgeholt«, sagte Jola, als sie zurück in ihre Siedlung fuhren.

»Dich bestimmt«, sagte Raiks Vater, holte Luft und schwieg dann.

»Raik auch.« Jola griff nach dessen Hand.

Matthias schnaubte nur. »Hunger?«, fragte er und reichte gleichzeitig Käsebrote nach hinten.

Jola fand das nicht ganz fair, denn Matthias’ neues Auto war ein Trabant, der von Bekannten, die sich in die Prager Botschaft der BRD abgesetzt hatten, einfach stehen gelassen worden war. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass er wegen des fingierten Kaufs keinen Ärger bekam, aus alter Freundschaft mit seiner Frau. Aber Jola sagte nichts, sie wollte Matthias nicht noch mehr gegen ihre Mutter aufbringen, auf die er seit Renates Tod nicht gut zu sprechen war.

Vier Tage später, als Jola nach der Schule und einem Abstecher in die Fuhneaue zwecks weiteren Kusstrainings nach Hause kam, standen drei Rucksäcke im Flur.

Ihre Mutter trat aus der Küche. Statt wie sonst Kostüm und Hauslatschen hatte sie eine sportliche Hose und Schnürschuhe an. »Zieh dich um«, sagte Agnes. »Liegt alles oben. Wir gehen in den Westen.«

»Wie bitte?«, rief Jola, aber da kam auch ihr Vater Franz aus der Küche.

»Diskussion im Auto. Ab jetzt.«

Jola stand da und konnte es nicht fassen. Ihre Mutter, die Personifizierung von »Schild und Schwert der Partei«, wollte abhauen. Es musste richtig schlimm stehen mit der DDR. Viel schlimmer als gedacht. Sie schaute ihrer Mutter in die Augen und sah Angst darin. Viel mehr Angst, als am Montagabend in den Augen von Raiks Vater gestanden hatte. Und diese Angst sorgte dafür, dass ihr die Widerworte im Hals steckenblieben.

Die Familie flüchtete über die grüne Grenze in Ungarn. Das Auto ließen sie an einem Feldrand stehen wie so viele andere vor ihnen auch. Herzklopfen, feuchte Hosenbeine vom Tau und ein paar Kratzer vom Huschen durch Brombeerhecken im Morgengrauen, dann kamen sie auf einer österreichischen Landstraße heraus.

Franz hatte eine Großtante in Berlin-Zehlendorf, die kinderlos und verwitwet war, ein Haus besaß und ihren Großneffen samt Familie aufnahm. Dort landete Jola mit ihren Eltern an einem regnerischen Abend Anfang Oktober. Sie bekam ein eigenes Zimmer, das die alte Hertha für sie hergerichtet hatte. »Willkommen in der freien Welt«, sagte sie, bevor sie Jola dort zum Auspacken allein ließ.

Aber Jola fühlte sich weggesperrt. Weggesperrt von Raik. Sie wusste, dass sie ihm nicht schreiben durfte. Das sei viel zu gefährlich für ihn, sagte ihre Mutter.

»Wir fangen jetzt ein neues Leben an. Denk nicht zu viel an das alte. Sonst fehlt dir die Kraft«, sagte Jolas Vater an einem der nächsten Abende beim Gutenachtsagen. »Sonst blutet dir das Herz aus.«

Dann umarmte er sie ganz fest, und Jola spürte, wie sein Herz blutete. Vielleicht hat er recht, dachte sie.

Die Kinder in ihrer neuen Zehlendorfer Schulklasse waren ganz anders als ihre Schulkameraden in Wolfen. Braver und gleichzeitig unbesonnener, irgendwie leichtherzig ging es zu. Wenn sie mit ihnen mithalten wollte, musste sie sich ganz und gar darauf einlassen. Ein Sonderling wollte sie nicht werden, ihr Anhaltisch war schon schlimm genug. Wie ihren Dialekt musste sie sich Wolfen abtrainieren und auch Raik. Sie hätte sich sonst teilen müssen in Ost und West, und das hätte sie nicht geschafft.

Hertha brachte Jolas Eltern im Zehlendorfer Schützenverein unter, in dem auch ihr Mann gewesen war. Franz und Agnes waren gute Schützen, er hatte das Schießen als Mitglied der Betriebskampfgruppe der Filmfabrik gelernt, sie in ihrer Ausbildung an der Hochschule für Staatssicherheit. Der gesellige Franz lebte sofort auf.

An dem Abend, als Jolas Eltern das zweite Mal im Verein waren und Jola verdrossen aus dem Küchenfenster starrte, trat Hertha zu ihr. Die alte Dame mit den wöchentlich frisch gelegten weißen Locken, reichlich Schmuck und stets manikürten Fingernägeln erzählte ihr von den Emigranten der Nazizeit, die sich umbrachten, obwohl sie es geschafft hatten zu fliehen. Klaus Mann, der aus dem alten Deutschland kam und im neuen nicht Fuß fassen konnte, Walter Benjamin, der schon in Spanien angekommen war. Stefan Zweig in Brasilien und Kurt Tucholsky in Schweden. Sie waren in Depressionen verfallen. »Man muss sich ganz auf das Neue einlassen«, sagte Hertha, »sich neu erfinden. Wir änderten nach 1945 die Dirndl der NS-Frauenschaft, färbten die Braunhemden. Wir trennten die Nazizeit von uns ab wie die Embleme von der Kleidung und wurden Demokraten. Alles halb so schlimm, wenn man nach vorn gucken kann. Und das kannst du.«

Jola nickte. Sie wollte nicht in Traurigkeit versinken. Sie sah aus dem Fenster auf das rote Dach gegenüber – rote Dächer waren früher das Zeichen für sie gewesen, dass es in die Ferien ging, denn in Wolfen und Umgebung waren sie rußschwarz – und schnitt ihre Vergangenheit ab. Bereits Ende Oktober hörte man ihr Anhaltisch kaum noch, und im Schutz einer Zehlendorfer Hecke küsste sie Torsten aus der Klasse über ihr im Bemühen, die Küsse des Ostens zu überdecken. Das gelang mehr schlecht als recht, aber Raik zu schreiben, schloss die Dreizehnjährige in einem letzten heftigen Anflug von romantischer Scham aus. Den Mauerfall zehn Tage später verbrachte sie konsequent hinter den Zehlendorfer Hecken.

* * *

Berlin, April

Es gab ein großes Hallo, als Milla den Crémant ablehnte, den Toni als Aperitif aus dem Kühlschrank der WG-Küche holte. »Unsere Sprotte kriegt ein Spröttchen!«, grölte Dirk wie immer eine Spur zu laut los. Aber die Zartheit, mit der er Milla in den Arm nahm, sprach eine andere Sprache, das sah Navid sofort. Dirk vergötterte seine Ziehtochter, genau wie Toni.

»Eine Sprotte ist sie dann wohl endgültig nicht mehr«, sagte Jola heiser, und in diesem Augenblick war Navid froh, dass Toni und Dirk da waren und sie ihr die Nachricht von dem Baby nicht allein überbringen mussten.

Er holte tief Luft. »Ich habe Milla gebeten, mich zu heiraten, und sie hat Ja gesagt.«

»Ihr müsst wegen dem Baby nicht heiraten«, sagte Jola zu Milla, und es klang in Navids Ohren wie: Heiratet bloß nicht wegen des Babys.

»Navid hat mich vorher gefragt«, sagte Milla schnell. »Er hat es noch gar nicht gewusst.«

Jola zog die Augenbrauen hoch und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch in diesem Augenblick knallte der Korken, und Dirk rief: »Gläser, schnell!«

Toni hielt das erste unter die sprudelnde Flasche.

»Findest du es zu früh?«, fragte Milla Jola, und Navid sah die Unsicherheit in ihren Augen. Es tat ihm weh.

Über Jolas Gesicht breitete sich angesichts der Pein ihrer Tochter ein mütterliches Lächeln aus. »Wenn du es willst, kriegen wir das Baby auf jeden Fall durch.«

Navid fiel auf, dass sie die Hochzeit ignorierte.

»Klar kriegen wir das durch«, sagte Dirk. »Wir arbeiten wieder halbtags im Wechsel, stimmt’s, Toni?«

Toni nickte und reichte Milla ein Glas. »Komm, einen Schluck zum Anstoßen.«

»Deinen alten Kinderladen gibt es auch immer noch«, sagte Dirk. »Wir müssen hier um die Ecke eine Wohnung für euch suchen.«

Navid kam sich ein wenig vor wie zu Hause. In Afghanistan hatten die Alten genauso über das Leben ihrer erwachsenen Kinder entschieden, und er hatte eigentlich gedacht, dass er das in Deutschland hinter sich gelassen hätte. Aber da hatte er mit Toni und Dirk die Falschen erwischt. Die beiden waren die reinsten Glucken. Er sollte wohl lieber die Klappe halten und nicht erwähnen, dass Milla zwischen ihrer Fachhochschule in Potsdam und verschiedenen Standorten der Berliner Wasserbetriebe pendelte. Sollten sie eine größere Wohnung suchen, dann im Süden Berlins, in der Nähe der S-Bahn nach Potsdam.

Jola hatte sich umgedreht und die Lammkoteletts in der Pfanne gewendet, während Toni auch Dirk und Navid ein Glas Crémant reichte. Jetzt wischte sich Jola die Hände an der Küchenschürze ab und griff nach dem letzten Glas. Sie nahm Milla in den Arm, schaute in die Runde und sagte feierlich: »Auf das neue Leben!«

»Auf das junge Paar, die glücklichen werdenden Eltern«, sagte Toni, und Navid fing dankbar seinen Blick auf. Dass Toni ihn einbezog, tat ihm gut.

Dann setzten sie sich zu Tisch. Es schmeckte, wie immer bei Jola. »Eine Lebensmittelchemikerin weiß, was zusammenpasst«, hatte sie irgendwann einmal gesagt, als Navid die geschmackliche Ausgewogenheit ihrer Gerichte aufgefallen war. Jolas Kreationen waren beinahe zu ausgewogen, fand er, dafür immer verlässlich und bekömmlich. Heute gab es Rucolasalat mit Orangensauce, Backkartöffelchen und Lammkotelett.

»Jola hat übrigens auch Kotelett gemacht, als wir uns getroffen haben, um zu gucken, ob wir als WG zusammenpassen«, erzählte Toni.

»Genau«, tönte Dirk mit vollem Mund. »Und da war die Sache eigentlich geritzt.«

»Das hast du von Oma gelernt, oder?«, fragte Milla.

»Ja«, sagte Jola. »Schweinekotelett war in meiner Kindheit ein gängiges Sonntagsessen. Omas Trick war damals eine Kunsthonig-Kräuter-Mischung, in der sie das Fleisch zwei Stunden mariniert hat. Der Kunsthonig sorgt für ein leichtes Karamellisieren. Dadurch wird die Kruste schön kross, und der Saft bleibt im Fleisch.«

»Kunsthonig? Was ist das?«, fragte Navid, damit Jola mit ihrem lebensmittelchemischen Wissen glänzen konnte.

»Das ist eine Saccharoselösung, die mit einer Säure aufgespalten wird, zum Beispiel Milchsäure. Dann kommt noch Stärkesirup dazu und als Aroma ein bisschen echter Bienenhonig.«

»Iiih«, machte Milla und verzog den Mund.

»Ich hab Ahornsirup genommen, keine Sorge«, sagte Jola. »Ich weiß gar nicht, ob es Kunsthonig noch gibt. Das war in der DDR der Honigersatz.«

»Wieso hattet ihr denn keinen echten Honig? Bienen muss es doch gegeben haben«, sagte Milla.

»Ging in den Westen.« Jola zuckte mit den Schultern.

Nach dem Kotelett verabschiedeten sich Toni und Dirk ins Kreuzberger Nachtleben, und Navid fragte Jola nach Familienfotos.

»Das alte Zeug«, sagte Jola.

»Mama!«, widersprach Milla. »Wir werden Navids neue Familie.«

»Wenn ihr unbedingt wollt …«

»Wollen wir«, sagte Milla. »Vor allem aus deiner Kindheit.«

Also holte Jola einen großen Karton, in dem sich unter vielen unsortierten Fotos ein weinrotes Kunstlederfotoalbum mit Kinderfotos von Jola samt Bildunterschriften in der gestochenen Schrift ihrer Mutter Agnes befand.

Milla griff nach dem Album und schlug es auf. Gartenfest zu Vatis 10-jährigem Jubiläum bei der Werkfeuerwehr 1980: Vati, Matthias, Jola, Sandra, Raik. Auf der Farbfotografie leuchteten Jolas rote Zöpfe. Sie backte mit einem lockigen, spindeldürren Jungen, der nur von hinten zu sehen war, im Buddelkasten Sandkuchen, während ein ebenfalls bezopftes Mädchen traurig und vergessen von den beiden zusah.

»Da war ich vier.« Jola lächelte.

Milla legte das Album weg und zog einen Stapel Fotografien aus der Kiste, auf denen Jola im Studentenalter war.

»Wer ist das?«, fragte Navid und tippte auf einen jungen Mann, der ein klappriges Rad mit schiefhängendem Vorderlicht an eine Mauer stellte. Sie war übersät mit Löchern von Granatsplittern, was Navid daran erinnerte, dass die Deutschen auch einen Krieg vom Zaun gebrochen hatten. Aber das geisterte nur am Rande durch sein Hirn. Der Grund dafür, dass er das Bild aus dem Stapel herausgezogen hatte, war eine überraschende Entdeckung gewesen. Das Lächeln des jungen Mannes: die Augen wie Halbmonde und Grübchen in den Mundwinkeln. Solche Grübchen hatte Milla ebenfalls, wenn auch nur ansatzweise, aber diese Halbmondaugen, der Blick … Navid zog das Foto ganz aus dem Stapel. Milla hatte solche Halbmondaugen, wenn sie ihn verliebt anlächelte.

Der Blick des jungen Mannes auf dem Foto fiel auf Jola, die im Vordergrund stand und dem Fotografen oder der Fotografin eine Grimasse zog.

Jola nahm Navid das Bild aus der Hand und schob es unter den Stapel. »Raik Hader«, sagte sie. »Gehörte eine Weile zur Clique an der Uni. Will jemand Eis?«

»Ist das derselbe Raik wie der auf den Wolfener Gartenfotos?«, fragte Milla.

»Ja, er hat später auch in Berlin studiert.« Jola schob den Stapel zusammen und ging zum Gefrierschrank. »Wer will denn nun Eis?«

»Ich«, sagte Milla.

»Ich auch. Danke.« Navid zog das Foto wieder unter dem Stapel hervor und reichte es ihr. »Ich finde, du siehst dem total ähnlich.«

Milla beugte sich über das Bild und schürzte die Lippen. »Mama, kann das mein Papa sein?«

Jola schob die Fotos erneut zur Seite und stellte dafür Untertassen mit kleinen Eishörnchen vor Milla und Navid. »Ach, du weißt doch, ich habe damals sehr frei gelebt. Ich werde jetzt nicht anfangen, Spekulationen anzustellen. Du hast zwei Väter, was willst du mehr.«

Dann biss sie ein dermaßen großes Stück von ihrem Eishörnchen ab, dass Navid unwillkürlich die Luft anhielt. So viel Kälte auf einmal im Mund musste doch wehtun.

Prompt machte Jola »Öööh!« und fächelte sich warme Umgebungsluft in den Mund. »Jetzt war ich wohl zu gierig. Wie du als Kind immer, weißt du noch?« Sie sah ihre Tochter mit aufgerissenen Augen an.

Milla lachte und klärte Navid darüber auf, welch ein Drama das Eisessen mit ihr als Kleinkind gewesen war. »Ich mochte Eis und verstand einfach nicht, dass ich nur lecken durfte.«

»Es gab jedes Mal Tränen. Aber sobald es im Mund wärmer und süß wurde, schmatzte sie und wollte mehr. Und zwar viel mehr, und dann ging es von vorne los«, erklärte Jola. Und weil sie einmal dabei waren, redeten sie weiter über Millas Kindheit.

Obwohl Navid sich freute, dass Jola ihm von seiner künftigen Frau erzählte, wurde er das Gefühl nicht los, dass der Biss ins Eis ein Ablenkungsmanöver gewesen war.

»Aufstehen, meine Süße. Wenn wir noch frühstücken wollen, wird es Zeit.«

Mit diesen Worten weckte Navid Milla am Samstag darauf. Er strich mit der Nase über ihre Wange und schnupperte.

Sie knurrte. »Wir wollen nicht frühstücken. Opa sitzt garantiert Punkt zehn gestriegelt und geschniegelt und nach Rasierwasser stinkend hinterm Lenkrad, und auf dem Rücksitz steht ein so riesiger Picknickkorb, dass wir platzen werden.«

»Wenn wir was runterkriegen bei all dem Rasierwasser.«

»Ach, lass mal, das Auto riecht dann ganz schnell nach Jagdwurst.« Milla öffnete die Lider. Wenn sie ehrlich war, liebte sie die Ausflüge mit ihren Großeltern, Agnes’ altmodische Thermoskanne und Franz’ Spieltrieb, der auch im Rentenalter noch nicht erloschen war.

Sie schob einen Fuß unter der Decke hervor und kitzelte Navid mit den Zehen zwischen den Beinen. Navids Augen wurden sofort dunkler, er rächte sich süß, und als Milla endlich ausgehfertig war, war definitiv keine Zeit mehr fürs Frühstück.

Vierzig Minuten später fanden sie die Großeltern genauso vor wie vorhergesagt: Franz saß hinterm Lenkrad des hochgelegten weißen Golfs, den er für seine Frau gekauft hatte. Die fünf Jahre ältere Agnes, die jetzt mit großer Sonnenbrille neben ihm wartete, war in letzter Zeit ein wenig steif geworden. Sie freute sich darüber, nicht zu tief in einen Sitz sinken zu müssen.

»Sie hatte eigentlich nie Probleme beim Einsteigen«, hatte Franz Milla zugeraunt, als das Auto neu war. »Aber es ging nicht mehr so elegant, und wenn Agnes nicht elegant sein kann, leidet sie.«

Kaum waren sie losgefahren, wühlte Navid schon im Picknickkorb. Der Junge hat einfach immer Hunger, dachte Agnes. Dabei war er schlank wie ein Vierzehnjähriger. »Tatsächlich. Jagdwurst«, sagte er und biss herzhaft in das Mischbrot. »Noch jemand?«

Franz wollte, und Milla auch, und so duftete das Auto wenig später nach den Leckereien des Zehlendorfer Traditionsfleischers.

Agnes machte es sich zufrieden auf dem Beifahrersitz bequem. So mochte sie es. Ihre Lieben putzten vergnügt weg, was sie vorbereitet hatte. Ein Glück, dass Navid erklärt hatte, er sei nicht besonders religiös und esse alles. Das machte die Sache unkompliziert.

Sie waren unterwegs nach Wolfen. Franz hatte darauf bestanden, seinem Schwiegerenkel in spe zu zeigen, wo die Familie seiner Braut herkam: »Aus einem Landstrich, in dem der Boden fruchtbar ist und es immer viel Handel gab und Industrie. Anders als in dieser Arme-Leute-Gegend hier weiter nördlich. Das prägt die Menschen.«

»Na ja, der Boden ist zwar vielleicht fruchtbar, aber das Grundwasser …« Milla ließ den Satz in der Luft hängen.

»Kind«, sagte Agnes zur Windschutzscheibe hin.

»Könnten wir bitte an diesem Silbersee vorbeifahren?«, bat Milla. Sie scherte sich nicht um den pikierten Einwurf ihrer Großmutter. »Ich schreibe eine Seminararbeit über Schwermetallablagerungen und würde dort gern Bodenproben nehmen.«

»Na, da kommt wenigstens was raus, wenn du die analysierst«, sagte Franz. »Machen wir. Ist nur ein kleiner Abstecher.«

»Silbersee?«, fragte Navid.

Agnes drehte sich um. »Das ist eine Sondermülldeponie. So viel zur Romantik deiner Braut.«

»Hast du deshalb die Gummistiefel mitgenommen?«, fragte Navid.

Milla nickte.

»Und wir anderen müssen Schmiere stehen«, informierte Franz und zwinkerte seiner Frau zu. »Ist nämlich verboten, da rumzulaufen.«

Agnes schwieg. Sie dachte an die Zeit, in der die Giftbrühe der Filmfabrik Wolfen tankweise in die alte Grube Johannes gepumpt wurde, die im Volksmund deshalb nach wie vor »Silbersee« hieß. Noch viel giftigere Abfälle waren in die Grube Antonie oder »Freiheit III« gelassen worden. Und sie dachte, wie immer in solchen Momenten, an Renate.

* * *

Wolfen, Sommer 1978

Am späten Nachmittag tauchte Renate mit ihrem Sohn Raik an der Hand bei Agnes auf. Sie hatten sich kennengelernt, als ihre Kinder zugleich in die Krippe gekommen waren, und dabei hatte sich herausgestellt, dass ihre Männer schon die eine oder andere Havarie in der Filmfabrik zusammen durchgestanden hatten: Agnes’ Mann Franz bei der Werkfeuerwehr, Renates Matthias als Anlagentechniker.

Renate war gleich in den Garten durchgegangen. Das war eigentlich nichts Besonderes, denn die Frauen, deren Häuser kaum hundert Meter voneinander entfernt lagen, besuchten einander häufig, und Renate hatte wie die meisten kein Telefon, um sich vorher anzukündigen. An den ausholenden Schritten der Ärztin merkte Agnes jedoch, dass sie aufgewühlt war. Das war ungewöhnlich für Renate; sie war eine besonnene Person, die so leicht nichts vom Hocker warf, was Agnes sehr an ihr schätzte.

Sie selbst war vor einer Viertelstunde von ihrer Hallenser Arbeitsstelle nach Hause gekommen und saß mit einem Krug, einem Keramikbecher und einer Zeitschrift am Gartentisch. »Hallo, Renate. Der Tee ist noch heiß.«

Raik machte sich los und rannte auf seinen kurzen Beinchen auf Agnes’ Tochter Jola zu, die vertieft in ihre ersten Sandkuchenversuche im Buddelkasten saß.

»Setz dich«, sagte Agnes zu Renate und wies auf den Gartenstuhl ihr gegenüber. Sie trug ein marineblaues Kostüm. Anders als viele Wolfener Frauen, die zu Hause in Kittelschürzen herumliefen, zog sie sich nie um, wenn sie von der Arbeit kam. Agnes war immer elegant, auch im Garten. Sie schob die Pramo zur Seite, die sie sich gerade angeschaut hatte.

»Ist ein schöner Schnitt drin?«, fragte Renate, während sie sich niederließ. Agnes nähte ihre Kostüme selbst, oft nach Schnitten aus dieser Modezeitschrift.

»Nee.« Agnes schüttelte den Kopf, verschwand kurz im Haus und kam mit einem zweiten Keramikbecher, einem Löffel und der Zuckerdose für Renate zurück. Sie goss ihr Pfefferminztee ein.

»Der kleine Thomas ist gestorben«, platzte Renate heraus.

»Der Weißblonde aus der Krippe?«

»Zwei Jahre! Er hatte es von Anfang an mit den Bronchien. Tja, und dann Pseudokrupp. Genauso alt wie Raik und Jola.« Renate sah hinüber zum Buddelkasten, in dem nun auch Raik Sandkuchen buk. Agnes beobachtete Renate und bemerkte Angst, ja, Entsetzen in ihrem Blick.

Renate wandte sich wieder zu Agnes. »Heute war sein Vater bei mir.«

»Werner Hübner«, warf Agnes ein, weil sie trainiert darauf war, sich Namen einzuprägen.

»Ja«, sagte Renate. »Der in der Spinnerei arbeitet. Er hockte völlig ausgemergelt und zusammengesunken da. Hat grottige Leberwerte und heftigen Tremor.«

Agnes merkte auf. Renate war viel zu professionell, um unbedacht Diagnosen auszuplaudern. Offenbar hatte der Tod des Jungen sie besonders mitgenommen. Sie lehnte sich zurück. Sie kannte Werner Hübner vom Sehen. Er war schon Mitte vierzig, sehr spät Vater geworden. Seine erste Frau war 1968 bei dem großen Bitterfelder Chemieunfall mit über vierzig Todesopfern umgekommen. Meistens hatte er Thomas aus der Krippe abgeholt, weil dessen hübsche junge Mutter Verkäuferin war und abends länger arbeitete. Seine Haut war ganz grau und in den Mundwinkeln eingerissen, das weißblonde Haar dünn, strähnig und stumpf. Seine Hände waren zittrig wie bei manchen, die schon lange in der Faser arbeiteten, wie die schadstoffreiche Kunstfaserproduktion des Werks von allen genannt wurde. Thomas war ein spillriger Junge gewesen, recht klein für sein Alter wie viele Wolfener und Bitterfelder Kinder. Die Familie wohnte unweit der Grube Antonie, jenseits der Bahngleise, auf denen die Züge mit den Tankwagen hielten, deren stinkender Inhalt in die Grube geleitet wurde.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn aufgrund seiner Urin- und Blutwerte für einen Schonarbeitsplatz vorsehe«, fuhr Renate fort. »›Wieso das denn?‹, hat er mich gefragt. ›Ich will hier sein. In meinem Kollektiv. In meiner Hausgemeinschaft. Das tut mir gut. Ich gehör hierhin‹, hat er gemeint. ›Hier finde ich Trost, und mir ist scheißegal, was mit meinem Urin ist. Ich hab mir hier was aufgebaut. Ich brauch meine Zulage.‹«

Renate rührte Zucker in den Tee. »Ich habe ihm erklärt, in den zwei Jahren, die er seine Zulage noch kriegt, kann er sich weiterbilden. Er wäre mir fast an die Gurgel gesprungen. Erst sein Kind tot, und jetzt solle er auch noch rausgerissen werden aus allem, was ihn hält.« Sie schnaubte und rührte weiter. »Weißt du, auch ich gehöre hierhin. Ich verstehe den Hübner. Ich würde auch nicht woanders sein wollen. Aber es geht so nicht. Unsere Reihenuntersuchungen sind gut, ich kann Maßnahmen verordnen, von der Kur bis zur Versetzung, auch an andere Orte in der Republik. Aber es darf nicht so viel geben, was die Leute krank macht. Wir müssen was tun. Damit langjährig Beschäftigte in der Faser oder Handwerker, die überall rumkrauchen, nicht so gefährdet sind. Damit es weniger Lungenkrankheiten gibt. Damit Raik und Jola gesund bleiben.«

Oje, dachte Agnes. Ihr war der Wechsel von »ich« auf »wir« nicht entgangen. Und natürlich auch nicht der Appell, der im Nennen ihrer Tochter versteckt war. Die Ärztin hatte leider einen wunden Punkt getroffen. Der war allerdings nicht direkt Jola, sondern etwas anderes.

Renate drehte ihren Becher auf dem Tisch hin und her. »Ich muss dich was fragen.«

»Schieß los«, sagte Agnes und warf nun ihrerseits einen Blick zum Buddelkasten, in dem Jola und Raik inzwischen fröhlich herummatschten, weil Raik die Regentonne entdeckt hatte.

»Matthias hat mir erzählt, dass ihr überall Inoffizielle Mitarbeiter habt, die über die Zustände im Kombinat berichten.«

Agnes setzte sich gerade hin. Renate gehörte zu den wenigen, die wussten, dass sie bei der Staatssicherheit arbeitete.

»Die berichten doch bestimmt auch über den Zustand der Anlagen, über die Lecks, über den Gestank und den giftigen Staub und dass bei Nebel die Filter in den Schornsteinen umgedreht und durchgepustet werden, weil es dann nicht auffällt …« Renate schwang die Hand durch die Luft.

Agnes zuckte mit den Schultern.

»Es werden einfach zu viele krank. Lunge, Leber, Nieren, Schwermut. Und eben Atemwegserkrankungen wie bei Thomas«, erklärte Renate.

»Thomas war erst zwei. Er hat nicht in der Chemie gearbeitet«, sagte Agnes.

Renate wischte mit dem Zeigefinger über eine Leiste an ihrem Stuhl und hielt ihn Agnes hin. Er war schwarz von Ruß. »Mensch, der war genauso alt wie Raik und Jola!«

Agnes trank einen großen Schluck Pfefferminztee und gab sich einen Ruck. Die Arbeitsmedizin in Wolfen war vorbildlich. Nur leider stützten sich die menschlichen Kleingeister, die die Macht im Staat hatten, nicht auf dieses verlässliche System. Sie waren zu feige. »Du sprichst mein größtes Problem an«, sagte sie und lächelte schmerzlich. »Wir sind über die Zustände informiert und leiten das mit entsprechenden Empfehlungen nach Berlin weiter. Aber … tja.«

»Wie – tja.« Renate verstand nicht.

»Wir finden kein Gehör«, sagte Agnes. »Solange in der Bevölkerung alles ruhig ist … oder relativ ruhig ist –«

»Ausgemergelte Gestalten wie der Hübner können auch nicht viel Lärm machen, der Mann hatte kaum Kraft genug, um aus dem Arztzimmer zu wanken«, warf Renate patzig ein.

»Du willst jetzt aber nicht deine Patienten aufhetzen, oder?«, fragte Agnes.

Renate sah abrupt auf, und Agnes versteckte ihren prüfenden Blickschnell hinter einem vagen Lächeln.

»Nein. Ich hetze keine Patienten auf. Ich heile sie. Wenn ich kann.«

Agnes goss sich Tee nach. Renates Becher war noch fast voll. »Unsere Chemie ist Grundlage für praktisch die ganze industrielle Produktion der DDR. Fast in allen Produkten steckt etwas aus Wolfen oder Bitterfeld. Wenn wir hier runterfahren und sanieren, ist Ende Gelände. So einfach ist das, Renate.«

Renate schnaubte.

»Den meisten geht es doch gut«, beschwichtigte Agnes. »Und die Löhne hier sind höher als anderswo.«

»Schmerzensgeld«, sagte Renate.

»Immerhin«, erwiderte Agnes.

»Vati!«, rief Jola und kletterte aus dem Buddelkasten. Um die Hausecke kam Franz in hellen Stoffhosen, Nietengürtel und kariertem Hemd, was ihn nicht daran hinderte, die sandige Jola aufzufangen und durch die Luft zu schwenken.

Renate lächelte, was Agnes nicht entging. Es war Renates erstes Lächeln heute.

Franz sah gut aus, durchtrainiert. Die junge Ärztin mochte den lebensfrohen Mann, das war kein Geheimnis.

Franz ließ seine Tochter hinunter und trat an den Gartentisch. »Na, meine Hübschen?«

Während er seine Frau küsste, sah er zu Renate hinüber. Agnes bemerkte es, weil sie die Augen nicht ganz geschlossen hatte, sondern zwischen den Wimpern hindurchlugte.

»Ich schaue mal nach Raik«, sagte Renate schnell.

Braves Mädchen, dachte Agnes.

* * *

Wolfen, April

Puh, das stinkt aber, dachte Milla, als sie mit dem langen Löffel, den sie bei ihrer Lieblingseisdiele geborgt hatte, im Schlamm des Silbersees herummatschte. Ihr war schlecht, und langsam ahnte sie, dass das nicht von den Wurstbroten im Auto kam.

Sie richtete sich auf und ging ein paar Schritte weiter. Hier waren rötlich braune Ablagerungen. Sie bückte sich erneut und schraubte den Deckel des nächsten ausgewaschenen Kaperngläschens auf. Gut, dass Navid Kapern liebte. Diese kleinen Gläschen eigneten sich perfekt zum Probennehmen. Tief tunkte sie den Löffel in den stechend riechenden Schlamm. Eine Windböe lief über die Wasserfläche und die Mondlandschaft drum herum und brachte den Geruch von faulen Eiern mit. Wo ihr Gummistiefel ein Stück eingesunken war, blubberte es gelblich.

Die Übelkeit wurde schlimmer, und Milla konnte sich gerade noch mit den Händen auf den Knien abstützen, ehe sie sich übergab und einen Matsch aus Brötchen und Wurst in den schwefligen Schlamm spuckte. Aber es wurde nicht besser wie sonst nach dem Erbrechen. Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich setzen. Mitten in den stinkenden Modder. Oma lässt mich garantiert nicht mehr ins Auto einsteigen, dachte sie, dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Als Milla wieder zu sich kam, lag sie oben an der Böschung im Gestrüpp am Zaun und schaute in den Aprilhimmel, über den die Wolken nur so flogen.

»Milla!«, rief Navid, der neben ihr hockte und stank. Offenbar hatte er sie aus dem Schlamm gezerrt. Gut, dass er es sich nicht hatte nehmen lassen, mit ihr über den Zaun zu steigen und sie zumindest die Böschung hinunterzubegleiten. Er sah so ängstlich aus, wie Milla sich fühlte.

»Ich habe geträumt«, sagte sie. »Mein Fruchtwasser war trüb.«

»Gottlob gibt es im ersten Monat noch so gut wie kein Fruchtwasser«, bemerkte Agnes vom Wendehammer auf der anderen Seite des Zauns aus.

Navid sagte nichts, aber Milla las an seinen zusammengepressten Lippen ab, dass er sie verstand. Er half ihr hoch und stützte sie beim Zurückklettern über den Zaun.

»Wir sollten vorsichtshalber ins Krankenhaus«, sagte Franz, als Milla sich erschöpft auf dem Schotter auf der anderen Seite niederließ.

»Wir sollten sie vor allem mit dem nächstbesten Gartenschlauch abspritzen.« Agnes zog Milla sanft und gleichzeitig so geschickt mit spitzen Fingern die Gummistiefel aus, dass sie sich die Hände nicht schmutzig machte. Dann warf sie diese kurzerhand in hohem Bogen über den Zaun. Danach bekam Milla einen Becher Pfefferminztee, um sich den Mund auszuspülen, und sowohl ihre als auch Navids Hände wurden mit in Tee getunkter Küchenrolle gereinigt.

Franz holte die Rettungsdecke aus dem Erste-Hilfe-Kasten, legte damit die Rückbank aus, und dann ging es mit offenen Fenstern ins Bitterfelder Krankenhaus.

An diesem sonnigen Samstagvormittag war in der Notaufnahme nichts los. Milla durfte gleich in ein Behandlungszimmer durchgehen. Ein weißhaariger Arzt trat ein und stutzte noch in der Tür. Milla sah, wie seine Knöchel weiß wurden, als er die Klinke umklammerte. »Renate«, flüsterte er.

»Wie bitte? Ich heiße Milla. Milla Reinhoff.«

Der Arzt war ganz blass.

»Ist etwas? Stinke ich wirklich so sehr?«

»Dr. Kröpfer. Guten Tag.« Er hatte sich offenbar gefangen. »Sie müffeln nur ein bisschen. Lassen Sie mich raten: Sie haben sich irgendwo aufgehalten, wo Sie nichts zu suchen hatten«, fügte er aufgeräumt hinzu, wohl um den merkwürdigen ersten Moment zu überspielen.

»Ja«, sagte Milla. »Und offenbar ein bisschen zu lange. Ich bin ohnmächtig geworden. Außerdem bin ich schwanger. Deshalb wollte meine Familie, dass ich das abklären lasse.«

»Wo waren Sie denn?«

»Am Silbersee. Ich studiere Siedlungswasserwirtschaft und habe Bodenproben genommen. Ich hab einfach nicht daran gedacht, dass da auch giftige Dämpfe … Ist das gefährlich für das Baby?« Milla biss sich auf die Unterlippe.

Der Arzt schluckte und schwieg. Dann nahm er einen Plastikbecher aus einem Schrank, füllte ihn mit Leitungswasser, reichte ihn Milla und setzte sich zu ihr. »Trinken Sie das. Und am besten gleich noch einen Becher. Ich messe Ihren Blutdruck.«

Milla trank brav, er legte ihr die Manschette an und pumpte.

»Hundertfünfzehn zu sechsundsiebzig. Ist bestens. Wie lange haben Sie denn da rumgebuddelt?«

»Höchstens zehn Minuten«, sagte Milla.

»So kurz nur! Dann machen Sie sich mal keine Sorgen. Sie können sich in der Apotheke Klettentee holen, aus der Wurzel der großen Klette. Oder Brennnesseltee. Die entgiften. Das bisschen schlechte Luft stecken Sie aber auch so weg. In welchem Monat sind Sie denn?«

»Noch im ersten.«

Er winkte lächelnd ab, füllte Millas Becher nach und gab ihn ihr wieder. »Unser Trinkwasser kommt von weither. Das wird auch noch ewig so bleiben. Unser Grundwasser …« Er stockte.

»Das Zeug aus den Giftdeponien sickert ein, oder?«

Dr. Kröpfer nickte.

»Da muss man doch was machen!«, sagte Milla.

Er sah auf. »Sie erinnern mich an jemanden.«

»Eine Renate?«, fragte Milla.

Er nickte. »Eine Kollegin. Ist schon lange tot. Sie hat zu DDR-Zeiten die Umweltzerstörung angeprangert und sich dabei zu weit aus dem Fenster gelehnt. Es hat tödlich geendet.«

»Was?«, fragte Milla entsetzt.

Dr. Kröpfer schnaubte. »Mittlerweile lagern die schlimmsten Altlasten tief unter der Erde. Aber sie treffen den, der gräbt. Das ist heute nicht anders als damals. Die wirtschaftlichen Interessen haben sich nicht geändert. Hier unbefugt Proben zu nehmen ist noch niemandem gut bekommen. Wenn Sie meinen Rat wollen«, er deutete auf Millas Tasche, aus der ein Schlammgläschen herauslugte, »werfen Sie sie weg, und tauchen Sie hier nicht wieder auf.«

Er nahm ihr den Becher ab, erhob sich und öffnete ihr die Tür. »Kommen Sie. Waschen Sie sich vorn im Besucher-WC noch den Dreck von der Haut. Das sollte reichen.« Er wies den Gang zurück Richtung Warteraum. »Alles Gute für Sie und Ihr Kind.«

Milla hatte das Gefühl, hinausgeworfen zu werden, und sah dem weißhaarigen Arzt nach, als der vor sich hin murmelnd mit großen Schritten in die andere Richtung davonging.

Im Wartezimmer stand Navid. Er war schon auf dem Besucher-WC gewesen und sah wieder einigermaßen zivil aus.

»Und?« Er kam ihr entgegen. »Alles gut mit dir und dem Baby?«

»Ist nichts«, sagte sie und ließ das Geborgenheitsgefühl seiner Umarmung kurz in sich einsinken. Sie merkte, dass er in diesem Moment bewusst sie und ihr gemeinsames Baby umschlang, und das machte sie glücklich. »Der Arzt hat mich angesehen, als sei ich eine Wiedergängerin«, fuhr sie dann fort. »Ich habe ihn an eine Kollegin erinnert, die während der DDR-Zeit in dieser ganzen Umweltverschmutzung hier rumgestochert und das mit dem Leben bezahlt hat.« Sie schauderte. »War irgendwie gruselig.«

Navid schaute sie aufmerksam an. »Hat er gesagt, wie sie hieß?«

»Also wirklich!«, mischte sich Agnes ein, die hinzugetreten war. »Wenn der zu DDR-Zeiten schon hier gearbeitet hat, ist er wahrscheinlich senil. Komm, geh dich waschen. Ich gucke währenddessen, ob ich die Schlammkrusten wenigstens ein bisschen aus deinen Sachen rauskriege.« Sie nahm Milla am Arm und schob sie Richtung Besucher-WC. »In unsere Siedlung und zu den Muldeauen fahren wir ein andermal. Eure Klamotten stinken, dass es Gott erbarm, und du brauchst eine Zahnbürste und eine Dusche und solltest dich auch erst mal ausruhen.«

* * *

Berlin, April

»Hallo!«, rief Milla zwei Tage später von der Tür ihrer kleinen Wohnung aus. Sie klang atemlos. »Ich war heute im Labor. Der Hammer!«

Navid trat aus dem Wohnzimmer, wo er sich über Wirbelsäulenverschiebungen in Spätschwangerschaften informiert hatte, über die Gefahr eingeklemmter Nerven und Möglichkeiten, Betroffenen per Massage sowie Dehnübungen Erleichterung zu verschaffen.

Millas Wangen waren gerötet, von der frischen Luft und der Aufregung. Navid wurde von einer Glückswelle überschwemmt, als er sie im Flur stehen sah. Ihre wasserblauen Augen leuchteten unternehmungslustig. Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und küsste sie zur Begrüßung. Und dann noch ein bisschen mehr.

Sie machte sich frei. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was da alles drin war.«

»Im Schlamm vom Silbersee.« Navid wollte sichergehen, obwohl er es sich schon dachte.

»Genau.« Milla warf ihre Plateauschuhe von sich, dass es rumpelte.

»Du hast hoffentlich mit Handschuhen und Mundschutz gearbeitet«, sagte er und folgte ihr in die Küche.

Milla strebte sofort zum Brotkorb und schnitt sich eine dicke Scheibe Vollkorn-Sonne ab. »Klar«, sagte sie. »Jedenfalls mit Handschuhen. War doch nicht viel drin in den Gläschen. Hat aber gereicht. Mein Professor hat sich gar nicht wieder eingekriegt. Ich habe nach jedem Schwermetall, das in Bodenproben drin sein kann, gefahndet, und es gab einen Treffer nach dem anderen.«

Sie nahm vegetarischen Aufstrich und Käse aus dem Kühlschrank. Das kam aufs Brot, und als sie abbiss, flutschte der Aufstrich heraus, sodass sie ihn mit dem Finger auffangen musste. »Für die Seminararbeit reicht, dass ich die richtigen Tests kenne, um die Giftstoffe und Schwermetalle nachzuweisen, aber …«

Sie zuckte mit den Schultern, und Navid sah, wie widerstreitende Gefühle über ihr Gesicht huschten. Er umschlang ihre Taille, gab sie jedoch gleich wieder frei, weil er spürte, wie steif sie war.

»Iss erst mal dein Brot«, sagte er. »Tee dazu?«

Sie nickte, biss ein weiteres Mal ab und kaute lange. Erst als sie aufgegessen hatte und sich mit dem Tee, den Navid ihr reichte, an das alte abgeschliffene Küchenbüfett lehnte, redete sie weiter. »Normalerweise machen wir alles Praktische bei den Berliner Wasserwerken. Aber in der Region Bitterfeld-Wolfen ist es besonders interessant zu sehen, was im Grundwasser landet, denn solche Deponien sind eigentlich nie dicht. Untersuchungen von Grundwasserkontamination durch Fließgewässerproben sind im übernächsten Semester dran, und angesichts der Konzentrationen im Silbersee und in den anderen Deponien finde ich garantiert was im Flusswasser der Mulde. Da wäre anhand geologischer Karten sehr leicht etwas nachzuweisen. Ich könnte schon mal vorarbeiten, weil doch dann das Kind kommt. Und ich habe einen Hinweis darauf bekommen, dass das Grundwasser dort verseucht ist.« Sie schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Einen sehr komischen Hinweis.«

Sie schaute Navid an, und er strich ihr eine Strähne ihres dicken hellbraunen Haars hinters Ohr.

»Na ja, es war eher eine Warnung.«

»Von dem Arzt, oder? Der meinte, dass du ihn an eine ehemalige Kollegin erinnert hast.«

Milla nickte. »Aus der DDR-Zeit. Die in dem Schlamm rumgestochert hat wie ich und das mit dem Leben bezahlt hat.«

Navid goss sich selbst Tee ein, trank einen Schluck und wartete. In solchen Augenblicken ließ er ihr Zeit. Je weniger er selbst sagte, desto mehr fühlte sie sich in Zugzwang.

»Er war ziemlich eindringlich. Bloß die DDR gibt es doch schon ewig nicht mehr.«

»Nein«, sagte Navid. »Aber die Menschen.«

»Die sind doch jetzt alle uralt«, sagte Milla.

»Umso mehr hängen sie an dem, was sie sich aufgebaut haben.«

»Hatten. Ist doch alles weg.«

»Aber nicht in ihren Köpfen und Herzen.«

Milla trank ihren Tee. Sie wirkte nachdenklich. »Oma und Opa reden nie über ihre Zeit in Wolfen. Na ja, Opa manchmal. Von den Gartenfesten. Die müssen legendär gewesen sein. Viel lustiger als in Zehlendorf.«

Navid fiel ein, wie Agnes gesagt hatte, der alte Arzt müsse senil sein, wenn er damals schon in der Klinik gearbeitet hätte. Dann müsste aber auch Agnes selbst senil sein, und die war glasklar im Kopf.

»Also, ich hätte schon Lust, ein bisschen Wasser aus der Mulde und den anderen kleinen Flüsschen in der Gegend zu nehmen, wenn wir den Ausflug zu Omas und Opas Siedlung nachholen.« Millas Augen begannen wieder zu leuchten wie bei ihrer Ankunft vorhin.

Navids Herz klopfte. Er fand es sexy, wenn sie so begeistert von ihrem Studium war.

»Du bist eine scharfe Braut«, sagte er, hob sie hoch und trug sie zum Bett. Agnes hatte bestimmt einfach nur weggewollt. Dreck und Gestank waren der eleganten Frau ein Graus, das sah man ihrem Haus an, in dem nirgendwo ein Stäubchen war.

Glücklicherweise war ihre Enkelin nicht so penibel, schon gar nicht im Bett. Da, fand Navid, war sie herrlich ausgelassen.

Wie viel Wolfener Chemiedreck wohl inzwischen im Berliner Grundwasser gelandet war? Agnes musste unwillkürlich lächeln bei diesem Gedanken, der sie ihrer Enkelin nahe sein ließ. Sie legte gerade die Fußmatten zurück ins Auto, auf die ausreichend Silberseeschlamm getropft war, um den Innenraum zu verpesten. Franz hatte die Sitze glücklicherweise abgedeckt, aber die hinteren Fußmatten hatte sie im Garten kräftig abspritzen und später mit Teppichschaum bearbeiten müssen.

Vor das Bild ihrer Enkelin, die mit Probengläschen durch den Uferbereich der Deponie stakste, schob sich ein anderes. Eines, das sie nie gesehen hatte, das ihr aber trotzdem vor Augen stand. Das Bild einer Ärztin, die ebenfalls Proben nahm. Die Blut abnahm, Uringläschen beschriftete und ins Labor gab. Wobei ihre blonden Locken schwungvoll gewippt haben dürften.

Agnes verzog unwillig die Lippen, schob eine der Rücksitzmatten zurecht und glättete sie säuberlich.

Sie wurde wohl langsam sentimental, sodass diese nutzlosen Erinnerungen in ihre Gegenwart einsickerten. Doch die Gedanken an einen Abend vor vielen, vielen Jahren ließen sich nicht vertreiben.

* * *

Wolfen, Spätsommer 1978

»Tschüss!« Renate drehte sich noch einmal um und winkte. »Denk dran!«

Agnes winkte zurück, ohne dass ihre zwei schmalen Armreifen dabei klimperten. Sie sah dem ungleichen Paar nach, das sich den kurzen Weg zu Fuß bis zu seinem Haus entfernte. Der große schlaksige Matthias umgriff seine viel kleinere rundliche und beschwipste Frau und hielt die Nase in ihre blonden Locken. Raik, der im Sportwagen unter seiner Gardine gegen Flugasche eingeschlafen war, schob er mit der anderen Hand vor sich her.

»Woran sollst du denken?«, fragte Franz, der mit Agnes am Gartentor stand, ohne den Blick von Renates drallem Hintern zu wenden.

»Ach, nichts«, sagte Agnes und wünschte sich, von Franz auch einmal so angepackt zu werden, wie Matthias seine Renate hielt. Aber seit sie Jola abgestillt hatte, war ihr schöner Apfelbusen – oder vielmehr Äpfelchenbusen – dahin. Auf den hatte Franz immer am meisten gestanden. Wie der Schwerenöter jetzt auf Renates Rundungen blickte … Matthias merkte natürlich nichts. Der war verliebt in seine Frau und sein Verstand irgendwie rein technisch. Verheiratet zu sein war für ihn wie eine Zahnradeinstellung. Eingehakt, festgestellt, fertig. Dreht sich für immer im Gleichklang. Langweiler.

Sie stieß Franz an. »Komm, wir kegeln darum, wer heute Nacht bestimmen darf.«

Dafür war Franz sofort zu haben. »Drei Runden.«

Sie stellten die leeren Flaschen der Abendeinladung auf dem Rasen auf und nahmen Jolas kleinen Ball. Agnes kämpfte hart, aber Franz gewann klar fünfzehn zu neun.

Als ihr Mann eine Stunde später tief und fest schlief, stand Agnes leise auf und ging in die Küche hinunter. Sie nahm sich des Tellerstapels und der Töpfe an, schaute in den nächtlichen Vorgarten.

Renate hatte ihre Ankündigung wahrgemacht und angefangen, sämtliche Patientenakten aus ihrem Werksambulatorium auszuwerten. Die ersten Ergebnisse hatte sie Agnes heute mitgebracht, und sie hatte sie gebeten, sie über ihre »Kanäle« nach Berlin zu leiten. In ihnen zeichnete sich schwarz auf weiß ab, was jeder wusste: Die maroden Anlagen der Chemie in Bitterfeld und Wolfen forderten ihren Tribut. Die Leute waren hier kränker als anderswo.

Agnes’ Chef in der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, der nach Berlin zu berichten hatte, was die von ihr geführten Inoffiziellen Mitarbeiter zusammentrugen, würde alles andere als begeistert sein. Denn es war wie immer im Leben: Der Bote mit den schlechten Nachrichten musste dran glauben. Und Renate war nicht einmal eine Inoffizielle Mitarbeiterin. Sie hatte sich nicht werben lassen.

»Spinnst du?«, hatte Renate gesagt, als Agnes es versucht hatte.

Agnes hatte geschwiegen.

»Nichts für ungut«, hatte Renate eingelenkt und war rot geworden. »Aber das kommt nicht infrage.«

»Wieso hast du dich dann an mich gewendet?«, hatte Agnes gefragt. »Weil ich dir dafür gut genug bin, aber der Staatssicherheitsdienst ansonsten unter deiner Würde?«

»Weil ich Ärztin bin und weil ich als Ärztin Geheimnisse habe, die mit einer Verpflichtung für die Staatssicherheit unvereinbar sind«, hatte Renate begütigend gesagt.

Natürlich war das eine Ausrede gewesen. Agnes hatte es dabei bewenden lassen. Sie mochte Renate, deren Frische, deren Unvoreingenommenheit. Außer vielleicht gegenüber ihrem Ministerium. Das kannte Agnes schon. Dass ein Staat ohne einen Sicherheitsdienst, der ihn sauber hielt, nicht existieren konnte, wollte so mancher nicht sehen.

Agnes hatte nicht viele Freundinnen. Sie arbeitete in Halle und war meistens erst spät zu Hause. Sie war immer eine der Letzten, die ihr Kind abholte, wenn Franz das nicht übernahm, weil er seine fünf durchgehenden Tage auf der Wache hatte. Alle anderen Kontakte, die Agnes in Wolfen hatte, liefen über ihn. Und die Frauen der Werkfeuerwehrleute waren herzlich, aber einfach. Eine Mischung, die Agnes im Geheimen verachtete.

Sie nahm das Geschirrtuch und trocknete die Gläser ab. Der Vorgarten war in Mondlicht getaucht, aber es war nicht silbern wie in Halle, sondern krankenwagenbeige von dem Dunst, der über der Stadt lag.

Sollte sie sich wegen Renate unbeliebt machen? Ihre Freundin hatte ja recht. Was Agnes alle paar Tage an Asche von der Vortreppe fegte, war eine Schande. Und Jola war noch so klein und zart. Sie würde Renates Aufstellungen nach Halle mitnehmen und auf eine günstige Gelegenheit warten.

Agnes wischte über die Arbeitsflächen und schaute sich um. Nichts störte mehr, keine Gerüche von kalter Grillwurst und vollen Aschenbechern. Wenn sie morgen früh aufstand, würde sie mit ihrer verschlafenen Tochter auf dem Arm in eine saubere Küche kommen und als Erstes Kaffee und Grießbrei kochen. Diese Duftmischung von Kleinkind, warmer Milch und Bohnenkaffee aus der Kaufhalle ihrer Dienststelle in Halle war das Schönste überhaupt.

»Ich bin eine glückliche Frau«, flüsterte sie dem schlafenden Franz zu, als sie wieder ins Bett schlüpfte.

2

Berlin, Mai

Schade, dachte Navid, als Agnes ihnen eröffnete, dass Franz im Schützenhaus war. Milla und er waren zum Abendessen bei den Großeltern eingeladen, schon lange, und das Vorstandstreffen des Zehlendorfer Schützenvereins war kurzfristig anberaumt worden.

»Der Verein ist Franz’ Ein und Alles. Wisst ihr doch. Seit er in Rente ist, noch mehr«, entschuldigte Agnes ihren Mann.

Navid konnte das gut verstehen. Der Schützenverein war für den geselligen Franz ein Lebenselixier. Trotzdem bedauerte er es, dass Millas Großvater nicht da war, denn der einfache, warmherzige Mann erinnerte ihn sehr an seinen Onkel, den er in Kundus begraben hatte.

»Irgendwie braucht er das«, meinte Milla, als sie Navids enttäuschte Miene sah.

»Ja«, sagte Agnes. »Es geht dort sehr ungezwungen zu. In Wolfen war die Werkfeuerwehr wie eine Familie, wie die Kollektive eigentlich überall. Da trennte man nicht so zwischen beruflich und privat. Diese Einbettung hat ihm hier immer gefehlt, obwohl die Werkfeuerwehr von Schering auch eine gute Truppe war.«

Der Abend war warm, und Agnes führte die beiden auf die Terrasse. Bei Millas Großeltern fand immer alles im Garten statt, wenn es irgend ging. Navid mochte das, denn der Duft von frischem, saftigem Grün betörte ihn. Vielleicht, dachte er, kommt das daher, dass ich im fruchtbaren Tal des Kundus gewohnt habe. Der Fluss hatte seiner Stadt auch den Namen gegeben, und das saftige Grün des Frühlings hielt sich an seinen Ufern viel länger als in anderen Gegenden Afghanistans.

»Den Grill habe ich nicht angeworfen«, entschuldigte sich Agnes. »Aber die Bockwürste und Knacker von unserem Fleischer sind auch gut. Müssten gleich warm sein.«

Der große runde Terrassentisch mit dem weißen, leicht schnörkeligen Metallgestell war gedeckt, mit Agnes’ so schlichtem wie gutem Kartoffelsalat, einer Porzellansenfdose, einem Tellerchen mit Paprika, Gurke und Cocktailtomaten sowie der unvermeidlichen Teekanne, daneben standen Bier- und Saftflaschen in einem Eimer mit kaltem Wasser.

Navid legte afghanisches Fladenbrot dazu, das er gebacken hatte. Es war das Einzige, was er von früher wirklich konnte. Er hatte versucht, die afghanischen Gerichte zu kochen, die seine Mutter zubereitet hatte, aber es hatte einfach nicht nach Zuhause geschmeckt, und da hatte er es aufgegeben. Dass er es nicht so hinbekam wie seine Mutter, ließ seinen Schmerz nur neu aufleben. Milla und er aßen trotzdem viel Reis, Bohnen und sonstiges Gemüse. Gegen den Zehlendorfer Fleischer hatte Navid allerdings noch nie etwas einzuwenden gehabt.

»Die sind aber schön!«, sagte Milla und zeigte auf die zarten Blüten der Anemonen, die sich in einem der Beete wiegten, die die große Rasenfläche umgaben.

Agnes nahm sie bei der Hand, sie gingen die Natursteinstufen von der Terrasse hinunter und traten zu dem Beet. »Riech mal an der hier.« Sie zeigte auf eine andere Blüte dazwischen. »Ist die letzte.«

Milla hielt die Nase daran, und Navid, der den beiden gefolgt war, tat es ihr nach.

»Riecht nach Jolas Parfum«, sagte er überrascht.

»Ja«, sagte Agnes. »Irisduft ist ein sehr beliebter Bestandteil von Parfums.«

»Mama hat uns neulich Fotos gezeigt, aus Wolfen, als sie noch ein Kind war«, sagte Milla.

»Ach«, machte Agnes. »Wie kamt ihr denn darauf?«

»Hat sich Navid gewünscht.«

Agnes’ Blick wanderte zu Navid.