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Der böse Banker und die gute Ehefrau – so einfach ist es selten, und schon gar nicht in dieser Liebesgeschichte. Das Paar ringt um Licht in tiefe Unterströmungen seiner Zweisamkeit und gleichzeitig unserer Gegenwart. In funkelnder Sprache erzählt Ulla Mothes vom Wegschauen und der Ehrlichkeit zu sich selbst. Die Zerrissenheit geht unter die Haut. Unmittelbar vor der Geburt ihres Kindes erhält Stella den Abschiedsbrief ihres Mannes Falk, der sich der Überführung als Betrüger in seinem Job als Investmentbanker entzogen hat. Allein, überfordert mit dem Baby verzweifelt sie an der Frage: Hat er ihre Liebe wirklich verraten? Wie kann das sein? Sie beide, ein Doppelpack seit Kindertagen. Sie meint zu spüren, dass er noch lebt, flüchtet sich in einen Verschwörungsglauben: ihr Mann, abgefischt von Mächtigen, die sein Talent benutzen. Falk hat sich als Fred nach Afrika abgesetzt, um seine Frau und sein Kind vor dem sozialen und finanziellen Absturz zu schützen. Er beschäftigt sich kritisch mit seinem alten Ich als Banker und startet neu. Dann sehen sich die beiden auf Sansibar wieder, aber sie flieht ihn. Das auf der Insel tradierte uralte Wissen der Menschen von überallher bewirkt schließlich, dass beide Versagen und Trauer zulassen. Sie begreifen, was wirklich mit ihnen geschehen ist. Und finden die Kraft, ihre Fluchten aufzugeben und sich einen verantwortungsvollen Umgang miteinander und mit der Welt zu erkämpfen.
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ulla Mothes
Roman
Für Konrad. Der nichts fürs Hadern mit dem Schicksal übrighat und mir den Spruch „Neues Spiel, neues Glück“ einmal im genau richtigen Moment gesagt hat.
Verlust
Flucht
Absturz
Eintreffen
Verschworen
Aktionismus
Aufprall
Trauer
Reue
Vertrauen
Sternenzelt
Dank
Quellen
Frankfurt
Es klingelte. Ich saß breitbeinig auf der Couch und starrte auf den großen runden Polstersitz davor. Dort, wo ich gestern Abend eigentlich meine Beine gechillt hatte hochlagern wollen, lag ein Bogen Papier. Stella, mein Reh … Meinen Blick hatte ich in diese drei Worte gebohrt, um ja nicht noch einmal weiterzulesen.
Es klingelte und klopfte. „Polizei. Bitte öffnen Sie die Tür.“
Ich rührte mich nicht. Ich konnte nicht. Stella, mein Reh …
Meine Unterarme ruhten auf meinen Schenkeln, zwischen den Beinen wölbte sich mein Bauch. Zum ersten Mal kam er mir monströs vor, ein Eindruck, den andere Frauen im Geburtsvorbereitungskurs schon länger von ihren Bäuchen hatten. Ich nicht. Ich hatte meinen immer schön und passend gefunden. Und das lag nicht daran, dass ich eine große Frau mit geraden Schultern war, der ein Babybauch stand. Ich trug dieses Wunder unserer Liebe stolz vor mir her. Aber jetzt war der Bauch da und Falk … nein … nicht …
Schnell spürte ich dem Brennen des Drucks nach, den unser Kind über eine lange stille Nacht hinweg ausgeübt hatte. Ich hörte metallische Geräusche von der Tür her. Gleich würde die Blase platzen, in die ich mich seit dem Vorabend geflüchtet hatte. Schillernd, wabernd wie die Seifenblase eines Gauklers, ein hauchdünnes Trugbild.
Da lag der Bogen. Wertig. Gewichtig. Merkwürdigerweise innerhalb der Blase. Die Zeilen darauf verschwammen leise.
Verzeih mir. Ich kann nicht anders. Ich liebe dich. Meinen Leichnam erspare ich dir.
Die Wohnungstür klackte. Uniformierte quollen ins Zimmer. Ein Getrampel. Ich sah nicht hin, aber es mussten viele sein. Warum? Meinen Leichnam erspare ich dir.
„Frau Schönfeld? Wir haben hier einen Durchsuchungsbeschluss. Können Sie uns sagen, wo Ihr Mann ist?“
Eine Hand griff nach dem Bogen. Die Blase platzte, und mit ihr die, die mein Kind umhüllt hatte.
* * *
Ich sah auf meinen Sohn hinunter, der an meiner Brust saugte. Innendrin fühlte es sich an, wie wenn sich eine Meereswelle nach dem Auslaufen durch den Sand zurückzog. Unwillkürlich gesellte sich ein glückliches Kribbeln im Bauch dazu, und beides zusammen machte mich atemlos. Unser Baby! Eine Wange wie ein polierter Edelstein, ein Stilbit, das Fäustchen in meinen geschwollenen Busen gedrückt: meins.
„Linus“, flüsterte ich, weil sein Name das Erste sein sollte, was er aus meinem Mund vernahm.
Ich saß zugedeckt im Kreißsaal auf der Liege, das Kopfteil war hochgestellt. Ich war mit meinem Baby alleingelassen worden, damit wir beide uns von der Geburt erholen konnten.
Doch das Glück war nicht mehr als ein Nebel des Neuen, darunter lauerte das Entsetzen. Lass es nicht zu, konzentrier dich auf dein Kind. „Linus. Linus.“ Er ließ meine Brust los, schürzte noch ein paarmal die Lippen und schlummerte ein. „Linus.“
Tränen verschleierten meinen Blick.
„Wo bist du, Falk?“, flüsterte ich.
Unser Sohn. Unglaublich klein.
„Falk! Wo bist du?“
Ich wischte die Tränen ab und strich dann schnell über Linus’ Schulter und Arm. Auf dem Köpfchen schimmerte heller Flaum. Vielleicht würde er blond werden wie sein Vater.
Wie sein Vater gewesen war.
Nein, das konnte nicht sein. Es stimmte nicht. Es fühlte sich falsch an.
Eine Schwester trat mit einem Klemmbrett ein. „Wie geht es Ihnen, Frau Schönfeld?“, fragte sie.
„Wunderbar“, log ich.
„Sie sollten hierbleiben, bis jemand Sie abholt. Wenigstens bis morgen.“
„Ich fahre nach Hause, ich will nicht im Krankenhaus bleiben.“ Eine fröhlich summende Wöchnerinnenstation? Vatermutterkind? Auf keinen Fall.
„Allein?“ Die Schwester schaute mich zweifelnd an.
Be smart, Stella, ermahnte ich mich schnell. Du bist Goldschmiedin, kannst Schmuck verkaufen, warum nicht auch eine Notlüge?
Freundlich sagte ich: „Ich bin nicht allein.“ Ich merkte der Schwester an, wie befremdlich sie es fand, dass weder mein Mann noch meine Mutter oder eine Freundin aufgetaucht waren, um mir beizustehen. Aber alles in mir hatte sich gewehrt, jemand anders als Falk um mich zu haben. Den einen Menschen, der mein Herz schon immer schützend umschlossen hatte. Und das Kind musste ich sowieso selbst zur Welt bringen, da konnte nur eine Hebamme helfen.
Während der Geburt hatte ich mein altes Leben gebraucht, zumindest die Vorspiegelung davon. Als Kraftspender, statt irgendwelcher Beileids- und Betroffenheitsbekundungen, die Neugier und Sensationslust nur schlecht verborgen hätten. Das hätte ich nicht ausgehalten. Die Scham! Ich hatte mich in den Stunden des Kreißens über den Zusammenbruch hinwegtäuschen müssen. Nun war Linus geboren, in eine Welt aus Trümmern. Stopp, nicht weinen, Stella. Jetzt nicht. Damit verkaufst du gar nichts. Ich rang mir ein Lächeln ab. Hoffentlich sah es einigermaßen locker aus.
„Halten Sie bitte meinen Sohn, damit ich mich anziehen kann?“
Die Schwester seufzte und legte das Klemmbrett mit irgendwelchen Formularen – wahrscheinlich die zur Aufnahme auf die Wöchnerinnenstation – auf die Arbeitsfläche neben das Babywaschbecken. Sie nahm mir Linus ab, und ich schwang mich von der Liege. Kurz schwindelte mir, aber ich ließ mir nichts anmerken, sondern zog meine Tasche aus der Ecke und entnahm ihr eine Jogginghose, Slip und Still-BH sowie einen kuscheligen Pullover. Sachen, die nur für die Autofahrt mit Falk von Haustür zu Haustür gedacht gewesen waren. Erst als ich angekleidet war, holte ich das Set aus Jäckchen, Strampler und Mützchen aus der Tasche. Dazu Stoffwindeln samt Höschen und unglaublich kleine Söckchen.
„Wo kann ich ihn anziehen?“, fragte ich die Schwester.
Die zeigte auf eine Wickelunterlage auf der anderen Seite des Waschbeckens. „Soll ich helfen?“
„Danke nein.“ Diesmal war mein Lächeln selbstsicher. Ich nahm ihr Linus ab. „Es wäre nett, wenn Sie zuschauen und mir sagen, ob ich etwas falsch mache.“ Aber ich würde nichts falsch machen. Falk und ich hatten an meiner alten Babypuppe geübt, wie wir das Köpfchen halten und die Beine beim Säubern fassen mussten. Wir …
Zähne zusammenbeißen, Stella! Energisch schob ich die bereits zusammengesetzte Stoffwindel unter den kleinen Po und legte los.
* * *
Ich saß auf dem Sofa, das Telefon am Ohr, hatte meiner Mutter berichtet, dass ihr Enkel vor sechs Stunden zur Welt gekommen war und Falk tot. Sie schwieg am anderen Ende der Leitung, schwieg mit mir. Es war tröstlicher als jedes Gerede von Gratulation und Entsetzen, und erlösende Tränen stiegen in mir auf.
„Vielleicht solltest du das Kind zu Uwe geben, da hat er wenigstens eine Aufgabe, und doch noch studieren. Du bist eine Künstlerin.“
Was?! Ich erstarrte schockgefrostet. Ich sollte das Kind zu meinem Schwiegervater geben? Es war also kein tröstliches Schweigen gewesen, sondern ein Marinawelt-Schweigen. Als ich Linus in meinem Arm einen Blick zuwarf, heulte er auf, als hätte auch ihn ein Eisberg gerammt. Schnell schloss ich die Augen, um die Mordlust darin zu verbergen.
Bebend holte ich Luft. „Marina! Unser Baby ist das Letzte, was ich von Falk habe. Wie kannst du nur …“
„Nichts für ungut“, plapperte sie weiter, während Linus sich in meinen Pullover krallte und greinte. „Glücklicherweise ist es nicht das Letzte, was du von Falk hast. Geld hat er dir doch reichlich hinterlassen, oder? Geh trotzdem gleich zum Amt. Und kauf nur das Nötigste ein, du weißt ja, wir können wenig helfen.“
Das war nicht zum Aushalten. „Marina, ich muss auflegen, das Baby …“ Ich hielt das Handy von mir weg, blinzelte und zielte energisch auf den roten Button. Mein Finger zitterte so, dass ich ihn erst beim zweiten Mal traf. Ich hatte mich ausweinen wollen, aber nun taten meine Augen weh, so trocken waren sie vor Zorn. Ich ließ das Telefon aufs Polster fallen und schob es noch ein Stück weiter von mir und dem Baby weg, als könnte ich einen Sicherheitsabstand zwischen Linus und seine toxische Oma legen.
Ich streichelte und wiegte mein Kind – vorsichtshalber wieder mit geschlossenen Lidern, um meine Wut zu verbergen. Linus’ Körperwärme besänftigte mich ein wenig, und das beruhigte offenbar ihn. Sein Fäustchen entspannte sich, das Greinen hörte auf.
Ich rutschte ein Stück auf dem Sofa hinunter und legte den Kopf an die Lehne. Ich hätte es besser wissen müssen. Ein Kind war für meine Eltern etwas, das nebenherlief. Das irgendwie da war, für sich. Wenn man sich immer selbst am wichtigsten war, konnte man auch ein Kind weggeben, wenn das besser passte. Weil man Künstlerin war.
Ich stieß den Atem aus. So sind sie, deine Eltern. Schonungslos konsequent. Früher hatten sie mich den ganzen Sommer lang zu meiner Oma abgeschoben. Sie hielten sich gerade wie jedes Jahr „unabkömmlich“ im süditalienischen Hinterland auf, wo sie in einem verlassenen Gehöft hausten und in einem nahen Badeort selbst gemalte Postkarten verkauften. Als ich mich nach der sechsten Klasse bei ihrer Abreise zu Falk verdrückt hatte, um nicht winken zu müssen, hatte er gesagt: „Sie sind wie ein Kompass, dessen Nadel auf den Pol ihrer Malerei gerichtet ist. Egal wie man ihn dreht, die Nadel bleibt immer da. Eigentlich cool.“
„Ja. Cool. Kalt“, hatte ich gesagt, und er hatte sein Sweatshirt ausgezogen und mir gegeben. „Komm, wir verdünnisieren uns in die Felder, bis sie weg sind.“
Ich seufzte und öffnete die Augen wieder. Weinen konnte ich zwar nicht, aber wenigstens brannten sie nicht mehr. Ich schielte auf Linus hinab, dessen Blick unfokussiert in den Raum gerichtet war. Ganz zart strich ich ihm mit dem Mittelfinger über Stirn und Nase – ein Beruhigungsstreicheln, das hatten wir im Geburtsvorbereitungskurs gelernt. „Es ist besser, dass Oma und Opa uns nicht besuchen“, raunte ich ihm zu.
Mutter und Vater sollten eigentlich nie „Besuch“ sein, ging mir durch den Kopf. Sie sollten dazugehören, wenn sie kamen.
Weggeben! Zu Uwe, der nie was auf die Reihe gekriegt hatte im Leben! Geht’s noch?
Ich ließ meine Hand auf Linus’ Brust sinken. Es war still. Genauso still wie am gestrigen Abend und in der einsamen Nacht. Als ich vor zwei Stunden aus der Klinik zurückgekehrt war, hatten die Beamten die Wohnungsdurchsuchung fast beendet gehabt. Eine ältere, nicht uniformierte Polizistin war eilig angelaufen gekommen, als ich mit dem Baby in der Tür gestanden hatte. Sie hatte mir sanft die Tasche abgenommen und mich in mein eigenes Wohnzimmer geführt. „Setzen Sie sich. Wir bringen das hier in Ordnung. Geben Sie uns eine halbe Stunde.“ Sie hatte ihre Visitenkarte vor mich hingelegt. Und dann hatte sie ihre Kollegen durch die Wohnung gescheucht.
Jetzt war alles wie vorher. Als ob die Horde Beamter nie eingefallen wäre. Nein, das stimmte nicht. Es war zu ordentlich. Es war unpersönlich. Wie in einem Hotel, nachdem der Zimmerservice da gewesen war. Es wirkte nicht wie unser Zuhause. Und das würde es nie wieder sein. Zum ersten Mal ließ ich meine Tränen zu.
„Wie kannst du nur“, flüsterte ich und verbesserte mich gleich darauf: „Wie konntest du nur.“
Was hatte Falk bloß getan? Meine Tränen versiegten wieder. Viel zu schnell. Meinen Leichnam erspare ich dir. Hatte er sich einen Stein ans Bein gebunden und war in den Main gesprungen? Mein Hirn ratterte. Hatte er sich eine Waffe besorgt und sich irgendwo erschossen, wo man ihn nie finden würde? Tabletten genommen? Oder lebte er vielleicht noch und war erst unterwegs zu einem abgelegenen Ort?
Lebte … Unwillkürlich fuhr ich vom Sofa hoch, sodass Linus in meinem Arm aufschreckte und erneut greinte. Es überlief mich eiskalt. Ich stand da, sah gehetzt zur Zimmertür, zu meinem Säugling, zurück zur Tür. Wenn das Letzte stimmte, musste ich Falk retten. Ihn daran hindern, sich umzubringen. Das Gefühl, dass er lebte, war so real! So erfüllend!
Ich hätte doch gleich gestern Abend, als der Bote den Brief … Der Bote! Und ich Idiotin sitze da wie versteinert, die ganze Nacht …
Das Zimmer drehte sich um mich. Ich ächzte. Linus schrie. Sein Protest bohrte sich in meine Gehörgänge und hielt das Zimmer wieder an.
Ich gab das Denken auf. „Ist gut“, tröstete ich meinen Sohn mechanisch. Merkte es – reiß dich zusammen, Stella – und wandte mich ihm zu. „Ist gut. Mama ist da.“
Ich legte ihn mir über die Schulter, wie ich es mit der Babypuppe geübt hatte. Linus schrie weiter. Vermutlich musste er gewickelt werden. Auf einmal fühlte ich mich völlig kraftlos. Ich stand da in meiner wunderschönen Wohnung im Frankfurter Westend, barfuß auf seidig geöltem Parkett, wusste hinter mir das Designersofa, vor mir den großen runden Sitzhocker.
„Mama ist da“, flüsterte ich noch einmal, diesmal als Mahnung für mich. Ich sah um mich. Nahm mein vertrautes Zuhause in mich auf. Links ein langer Esstisch mit sechs modernen Stühlen, gleich neben der hohen Glasschiebetür zur Küche. Rechts von mir das Sideboard mit den Fotos in silbernen Rahmen darauf. Alle waren noch da. Leicht verrückt, das war vermutlich die Polizei gewesen. Es waren Fotos von Falk und mir, von unserem gemeinsamen Leben.
Ich wusste nicht, ob ich mein schreiendes Baby schuckelte oder zitterte, wollte es nicht wissen, sondern trat sehnsüchtig hinzu. Auf meinem Lieblingsbild strahlte Falk mich verliebt an, sodass ich vor Schreck japste. Ich hatte es an einem Strand in der Karibik aufgenommen. Seine blauen Augen leuchteten in dem gebräunten Gesicht unter vom Wind verstrubbelten Haar. Wo bist du? Er trug ein weißes Strandshirt und marineblaue Badeshorts. Seine Schultern und Oberarme wiesen genauso viele Muskeln auf, dass er nicht spillrig wirkte, wie er als Junge gewesen war. Falk! Mann! Wo bist du?
Das Schreien meines Sohnes gellte in mein Ohr, aber die Frage war lauter. Ich nahm das Foto in die Hand. Glücklich sah er aus, nichts trübte seinen verliebten Blick. Ich starrte das Bild an, marterte mein Hirn, aber mir fiel kein Ort ein, den er gewählt haben könnte, um aus dem Leben zu scheiden, einen, den niemand aufsuchen würde, eine Ewigkeit nicht. Falk und ein abgelegener Ort? Er war immer so präsent gewesen, nie laut, aber spürbar anwesend. So sehr ich den Rahmen auch umklammerte. Nichts.
Linus schrie. Er roch. Ich merkte, dass auch meine Vorlage durchgeweicht war. „Es hilft nichts. Ich werde uns beide jetzt trockenlegen.“ Es laut zu sagen löste meine Starre. Ich stellte das Bild zurück. Du hast ein Baby, Stella! Ein süßes, süßes Baby!
Hilflos streichelte ich über Linus’ Rücken, mehr wusste ich nicht zu tun. Die alarmierende Angst um Falk war wie eine Schranke zwischen meinem Kind und mir.
„Leg ihn trocken“, herrschte ich mich an. Meine Beine setzten sich Richtung Badezimmer in Bewegung. Mein Kopf nicht. Meine Gedanken waren bei Falk, der das Bad im letzten Monat hatte umbauen lassen. Statt der zwei Waschbecken gab es jetzt nur noch eins, dafür einen Wickeltisch unter dem Fenster. Hast du deinen Abgang da schon geplant? Misstrauisch starrte ich auf das verbliebene Becken. Wusstest du, dass hier nur noch eine Waschgelegenheit nötig sein würde?
Aber warum? Warum hast du mir das angetan? Eine Frage wie ein Kreischen auf einer Facettenschleifmaschine, wenn der Stein nicht richtig aufliegt.
Falsch. Nein, nicht.
In das innere Kreischen mischte sich Linus’ Gebrüll. Ausdauernd. Mein Blick fiel wieder auf den Wickeltisch. Die Auflage befand sich noch in unserem Schlafzimmerschrank. Mein linkes Ohr gellte, und der Schmerz brachte mich endgültig zu mir. Ich zerrte kurzerhand mein flauschiges Duschhandtuch von der Stange, legte es auf den Boden und mein schreiendes Baby darauf. Eilte ins Schlafzimmer und holte alles, was ich zum Trockenlegen brauchte. Mit fliegenden Händen richtete ich den Wickeltisch her. Es tat gut. Es war einfach und richtig. Ich hob Linus auf, der inzwischen vom Schreien rot angelaufen war.
„Mein Kleiner. Süßer, Mama ist da. Wir bringen das in Ordnung.“
Ich legte Linus sanft auf den Wickeltisch, packte ihn aus und murmelte dabei immer wieder: „Wir bringen das in Ordnung.“ Ein Mantra für ihn und für mich. „Wir bringen das in Ordnung.“
In der nassen Windel fand ich schwarzen Stuhlgang. „Kindspech!“ Und auf einmal überkam mich ein Glücksgefühl. Wie Obsidian! Dass ich das sehen durfte. „Deine Kacke ist schön wie ein Edelstein“, erklärte ich meinem brüllenden Sohn, und es tröstete mich.
Ich nahm einen Waschlappen, feuchtete ihn mit warmem Wasser an, legte ihn unter der Nabelbinde auf den Babybauch und lächelte Linus zu. Er verstummte. Wahrscheinlich eher wegen der Wärme des Lappens als wegen meines Lächelns, aber es war ein Erfolg.
„Linus, wir schaffen das“, verkündete ich ihm. Dann säuberte ich ihn, streichelte über sein Näschen, seine Ärmchen – mein Kind! –, ließ ihn ohne Windel strampeln, sah ihn mir an, umfasste seine Beinchen, küsste ihn über der Nabelbinde auf den Bauch. Er langte mir ins Haar, es ziepte, und das Ziehen, dass unser Sohn nach mir griff, überwältigte mich. Die Tränen kamen, und ich ließ sie eine Weile still fließen, unser Kind mit meinen Unterarmen rechts und links des Leibes wärmend. Mich von ihm wärmen lassen. Sonst nichts. Irgendwann tauchte ich auf, wischte seinen Bauch trocken und deckte ihn nur mit einem Moltontuch zu.
Ich wusch mich rasch selbst und griff nach dem zweiten Handtuch auf der Stange vor dem Heizkörper – Falks. Ich hielt inne, schloss die Augen und versenkte das Gesicht darin. Es roch nach ihm. Ich verharrte, atmete tief ein und vorsichtig aus, um den Duft nicht zu vertreiben, ein und aus, ein und aus.
„Warum?“, fragte ich das Handtuch. „Wie konntest du uns nur alleinlassen?“ Das Handtuch duftete stumm. „Ich brauche dich doch. Wir brauchen dich.“ Es zu sagen fühlte sich an wie ein Nachhall der Tränen. Ich setzte mich mit dem Handtuch an die Badewanne gelehnt auf den Boden und vergegenwärtigte mir den letzten Abend mit ihm. Hatte sich irgendetwas angekündigt?
Falk hatte gekocht, ich auf dem Sofa gesessen, die Füße auf dem Samthocker hochgelegt wie mittlerweile meistens. Ich ließ mich in die Erinnerung fallen, sah ihn vor mir, wie er sich das zu lang gewordene blonde Haar aus der Stirn strich, und krallte mich ins Handtuch. Mir gefiel er kurz vor dem Friseurbesuch am besten, aber diesmal hatte er länger als sonst gewartet.
„Essen ist fertig“, rief er mir zu und lächelte mich fahrig an, wie öfter in letzter Zeit.
Ich erhob mich, ging hinüber in die Küche und stellte mich neben ihn. „Du hast viel um die Ohren momentan, oder?“
„Ich will so viel wegschaffen, wie ich kann, bevor das Kind kommt. Ich tu auf.“
Ich verspürte ein Ziehen und spreizte die Finger auf meinem Kugelbauch. „Ich glaube, es kommt bald. Es ziept immer wieder mal.“
Er verhielt in der Bewegung, Prinzessbohnen schwebten in der Luft, tropften auf die Arbeitsplatte. „Aber nicht heute, oder?“
Es klang erschrocken, und sein Blick war gehetzt. Und das, obwohl in vier Tagen mein Termin war, es konnte jederzeit so weit sein. Und sonst tropfte ihm nie was auf die Arbeitsplatte, dazu hatte er in allem viel zu viel Schwung …
Abrupt tauchte ich aus dem Handtuch auf. Er wollte sich umbringen, bevor das Kind da ist! Deshalb ist er zittrig gewesen. Deswegen hat er Angst gehabt, dass es kommt. Mich überlief es eiskalt. Ich war eine tickende Zeitbombe gewesen, meine fortschreitende Schwangerschaft der Zeiger. Mir wurde übel, und ich schluckte gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals gebildet hatte.
Linus begann wieder zu greinen. Da schluckte ich ein letztes Mal, murmelte „Du Idiot!“, meinte mich und irgendwie auch Falk, hängte das Handtuch zurück, holte ein neues für mich und trat zu meinem Sohn, um ihn anzuziehen. Zuerst aber küsste ich ihn zum Trost auf die Nasenspitze.
„Wenn er Vater gewesen wäre, hätte er es nicht mehr gekonnt“, flüsterte ich beim Wickeln. Aber als Ehemann konnte er es, und er konnte dich auch alleinlassen als Mutter, raunte mir ein böses Stimmchen zu. Ich ratschte es mit dem Zuziehen des Stramplerreißverschlusses weg.
„Du bist hier, mit deinem Kind. Du hast ein Kind, du musst für es sorgen. Du hast ein Kind“, flüsterte ich mantraartig, um dem Entsetzen zu entfliehen. Ich nahm Linus hoch und trat aus dem Bad. Der Blick durch unseren vertrauten Flur mit den einladend offenstehenden Türen half mir ins Jetzt und Hier. Er war tröstlich. „Komm, Linus, ich zeig dir jetzt dein Zuhause.“ Ich schmiegte meine Wange an die pralle unseres Babys und saugte so viel Zuversicht aus diesem Gefühl seiner Haut auf meiner, wie ich konnte.
Die alte Villa, in der wir lebten, beherbergte drei Wohnungen, jede zog sich über ein ganzes Stockwerk, unseres war das mittlere. Vom Bad an der Stirnseite des Flurs aus gesehen gingen rechter Hand Küche und Wohnzimmer ab, links führte hinter der Eingangstür ein Gang in den Querflügel, denn ab unserer Etage war der Grundriss L-förmig, im fehlenden Eck hatten wir eine Terrasse. In dem Schenkel zur Gartenseite hin befand sich ein Zimmer mit eigenem Bad – das sollte unser Kind irgendwann bekommen, wenn es älter war, so hatten wir es geplant. Eine Überlegung, die mir auf einmal unendlich weit weg zu sein schien wie die, beim Einsetzen des ersten Steins in einen Memoire-Ring schon an den dritten Jahre später zu denken. Wie hochmütig wir gewesen waren, so weit vorauszudenken, als könne uns nie etwas passieren.
Ich schob den Gedanken zur Seite und marschierte entschlossen los, um Linus sein Bettchen zu zeigen, das gegenüber am anderen Ende des Flurs im Schlafzimmer bereitstand. Doch dann stockte mir der Schritt. Die Wohnung! Der Kredit!
Falk hatte ihn bedient, mit meinem Verdienst als Angestellte in einer Goldschmiede brauchte ich gar nicht anzufangen damit. Wie viel war das monatlich eigentlich genau? O Gott! Statt ins Schlafzimmer zu gehen, eilte ich nach links in das Zimmer neben dem schmalen Durchgang in den hinteren Flügel. Dort war unser Rückzugsraum mit Büchern, Dokumenten, einem Schreibtisch und einem Lesesessel. Hektisch überflog ich die Borde über dem Tisch.
Ich zog den Kreditordner heraus. Er wäre mir beinahe weggerutscht. Dinge einhändig zu verrichten, musst du üben, schoss mir durch den Kopf, und ich lachte trocken auf über den banalen Gedanken. Ich blätterte fahrig zu den Kontoauszügen und erstarrte. Drei Einzahlungen in den vergangenen drei Monaten. Alle hoch fünfstellig, die letzte ein krummer Betrag, centgenau. Wie drei Asse stachen sie aus den anderen Ziffern heraus. Ich sank auf den Schreibtischstuhl.
Drei Monate. Mindestens. Falk hatte seinen Suizid drei Monate vorgeplant, während sein Kind in meinem Bauch herangewachsen war. Wieder sprang mich kalt das Entsetzen an, aber dann überschwemmte mich etwas süß wie heiße, sahnige Schokolade von innen heraus. Mein Mann hatte für uns beide gesorgt! Die Summe der Einzahlungen war garantiert genau die, die für die Wohnung noch offen war, den ungefähren Betrag unserer Verbindlichkeit kannte ich.
„Falk“, hauchte ich, und fassungslose Dankbarkeit ließ mich zusammensacken. Im letzten Moment fing ich Linus’ Kopf ab, der dabei nach hinten kippte. Mein Sohn war eingeschlafen, wahrscheinlich vor Erschöpfung vom Schreien und Wickeln, er zuckte nur mit den Ärmchen und schlummerte weiter.
Ich saß da und nahm die Stille in mich auf. Es war stickig, der Junitag war heiß gewesen. Jetzt, gegen Abend, wurde es sicher kühler. Aber ich wollte kein Fenster öffnen. Ich mochte auch nicht über meine Entdeckung nachdenken, über den Aspekt der Dankbarkeit hinaus. Ich wollte mich einhüllen in die Luft, die Falk noch geatmet hatte. Und in seine Liebe.
Die Stille war anders als die der letzten Nacht. Friedlicher. Ich sah auf die fünfstelligen Zahlen und erkannte Falk, die gezielten Handgriffe, wenn er beim Skat bei einem guten Blatt die letzten Karten aufdecken ließ, ausspielte und aus denen der anderen flugs die zog, die sie spielen mussten, und seine Stiche einfach auf dem Tisch liegenließ. Zack, zack, zack, bringen wir es schmerzlos zu Ende. „Nächstes Spiel?“
Ich spürte ihm nach. Dabei wurde mein Blick auf mein Perlenarmband aus Edelsteinen in weichen Farben gelenkt, die mit den Brauntönen meines glatten langen Haars und meiner Augen harmonierten. Unter dem Karneol fühlte sich meine Haut warm an. Er war aus dem gleichen Stein wie der in Falks Armband geschnitten, das er nicht abgelegt hatte, seit ich es ihm geschenkt hatte.
Er ist nicht tot. Nein! Er lebt. Er lebt. Mein Herz klopfte. Ich fühlte ihn, so wie ich ihn mein ganzes Leben lang, seit ich denken konnte, an meiner Seite gewusst hatte. Seine Wärme. Unter dem Karneol.
Jetzt dachte ich doch nach. Etwas aus taktischen Gründen drei Monate geheim halten, das brächte Falk mühelos fertig. Aber ein Vierteljahr kaltblütig auf einen Selbstmord hinarbeiten? Darauf, dass es kein nächstes Spiel mehr gab? Neues Spiel, neues Glück, das war immer seine Devise gewesen.
Die Stille tickte. Ich spürte Linus’ zarten Atem an meinem Hals. Wenn ich mich jetzt mit Falk über jemand anderen beraten hätte, hätte er auf die Fakten verwiesen. Den Abschiedsbrief. Die Durchsuchung. Eine sachliche Betrachtung wäre für ihn ausschlaggebend gewesen. Für mich war es mein Gespür, dass er an meiner Seite war. Mit einer rationalen Einschätzung konnte man falschliegen, aber mit dem Gefühl?
Ich hatte eine super Intuition! Mein Sinn dafür, wie inneren Kräfte in Menschen wirkten, was sie stärkte, ließ mich passende Edelsteine für sie auswählen, deshalb liebten unsere Kundinnen in der Goldschmiede meinen Schmuck und kamen immer wieder. Täuschte mich meine Wahrnehmung, dass Falks innere Kraft nicht erloschen war? Ich hatte das Gefühl, dass seine Energie nach wie vor mit meiner verbunden war. Aber vielleicht auch nur, weil ich es so sehr wollte?
* * *
„Schönfeld.“
Falks Vater meldete sich vom Tonfall her mit einem Punkt am Ende. Nicht fragend, offen für das, was ein Anrufer ihm würde sagen wollen. Nein, es war lediglich eine trockene Namensnennung. Ich saß an diesem ersten Morgen mit meinem Baby auf der Couch und verdrehte die Augen bei der Erinnerung daran, wie Falk wieder und wieder versucht hatte, Uwe beizubringen, dass ein solcher Tonfall nicht geschäftsfördernd sei. Der Mann war resistent wie ein Putzerfisch in einem seiner Aquarien, der stur seine Wege über das Glas zog.
„Hier ist Stella“, sagte ich und zögerte. Ermattet vom gestrigen Tag und einer Nacht mit mehreren Stillunterbrechungen hatte ich fruchtlos hin und her überlegt, welche Nachricht ich bei diesem Telefonat als Erstes ansprechen sollte, die vom Tod des Sohnes oder die von der Geburt des Enkels. Ich wusste es immer noch nicht. Während sich am Telefon Stille ausbreitete, starrte ich auf das Parkett, das die Morgensonne golden färbte. So schön. Draußen brummte ein satt-leiser Motor durch die ruhige Westendstraße. Durchs Telefon kam ein böses Grunzen.
„Die Polizei war da. Gestern in aller Früh. Du hättest dich wenigstens melden können.“
Also waren sie zeitgleich mit der Durchsuchung bei mir auch bei Falks Vater und wahrscheinlich ebenso bei seiner Mutter erschienen. Hätte ich mir vielleicht denken können. Hatte ich aber nicht. Des Nachts hatte gnädiges Dunkel über den wachen Phasen gewabert, ich hatte Linus angelegt und dem Gefühl des Sogs sich zurückziehender Meereswellen durch Sand in meiner Brust nachgespürt. Nur das. Nichts sonst. Jetzt war alles wieder da, schlug mit der ärgerlichen Stimme meines Schwiegervaters über mir zusammen.
„In goldenen Sonnenschein glotzen hilft nicht“, flüsterte ich, zurückkatapultiert ins blanke Entsetzen.
„Wie bitte?“, kam es durchs Telefon.
Reiß dich zusammen, Stella. „Ich versteh das nicht.“
„Aber dass er das wegen dir gemacht hat, verstehst du schon, oder?“ Ein Tonfall, der von Sarkasmus troff.
„Was haben sie dir denn gesagt?“ Ich bemerkte mit einem Tag Verspätung, dass ich gar nicht gefragt hatte, warum genau unsere Wohnung durchsucht worden war. Warumwarumwarum fräste der Facettenschleifer prompt mit seinem falschen Kreischen in mein Rippenfell.
„Krumme Aktiengeschäfte? Betrug? Insiderhandel? Davon willst du nichts mitbekommen haben? So wie Falk an dir geklebt hat?“
Ich wehrte mich innerlich gegen den bösen Klang des „geklebt“, kniff die Lippen zusammen. Ja, dachte ich, und es war ein bittersüßer Gedanke, wir waren schon als Kinder ein Doppelpack gewesen. Hatten zusammengehalten, unzertrennlich.
„Nein“, flüsterte ich und meinte das unzertrennlich, das sich als falsch erwiesen hatte. Aber es fühlte sich nicht so an, als hätte Falk sich unwiderruflich von mir getrennt. Es schien, als sei er bei mir. Ich spürte ihn doch! Hilflos blickte ich neben mich auf das Sofa, wo Linus die Beweglichkeit seiner Glieder testete. Vielleicht lag es daran, dass unser Sohn da war. Der Gedanke war schön und schrecklich zugleich. Und passte irgendwie nicht. Uwe hatte meine Äußerung offenbar auf das eben Gesagte bezogen. „Nein? Hast du Herzchen nichts mitbekommen? Hast du dich wenigstens gefragt, warum ein mittlerer Angestellter wie Falk ins Fadenkreuz der Polizei geraten ist? Vermutlich nicht, wäre ja unbequem. Ich will dir mal was sagen: Falk wollte schon immer was Besseres sein. Wegen dir. Deinen eingebildeten Künstlereltern. Da hat ihn wohl die Gier geritten. Und du? Dich kümmert das nicht. Du Prinzesschen verdirbst dir doch den Tag nicht mit den Problemen deines Mannes. Könnte ja unangenehm für dich werden. Nicht mal Barbara war so schlimm wie du. Eine Frau sollte zu ihrem Mann stehen, sie sollte ihn halten. Aber nein …“
Jetzt würde die Leier über seine Ex-Frau folgen, Falks Mutter, die ihn verlassen hatte, weil er geschäftlich nie auf einen grünen Zweig gekommen war, bis heute nicht. Seinen Aquaristikladen in der Kreisstadt hatte er schließen müssen und betrieb mittlerweile einen Online-Shop aus seiner Garage heraus, der ihn kaum ernährte. Das hatte ihn noch eigenbrötlerischer werden lassen, als er vorher schon gewesen war.
„Uwe, ich weiß tatsächlich nicht, was da gelaufen ist“, unterbrach ich ihn. „Ich will es aber wissen. Ich versuche, es herauszubekommen“, sagte ich tapfer. Die Anschuldigungen, das war nur sein Schmerz. Bestimmt. Das Wundgeschliffensein in meinem Innern sprach allerdings für etwas anderes.
Krumme Aktiengeschäfte. Betrug. Insiderhandel. Er hatte mich doch geliebt. Er konnte doch nicht solche Verbrechen … Ich bekam es nicht zu fassen. Es war zu viel.
Ich holte Luft. „Aber was ich dir sagen wollte: Ich habe dich gestern nicht angerufen, weil ich unseren Sohn geboren habe. Du hast ein Enkelkind. Linus.“
„Ich habe ein Enkelkind?“
Ich wollte gerade „Ja“ sagen, mit einem Anflug von Glück im Bauch, da redete er weiter. „Glaub ich nicht. Seit gestern nicht mehr. Wenn das Kind von Falk wäre, hätte er sich wohl kaum das Leben genommen.“ Er schnaubte.
Ich saß mit dem Telefon am Ohr da und konnte es nicht fassen. Seine Feindseligkeit durchrieselte mich. Erst nach einem Weilchen nahm ich den Arm hinunter und schaute auf das schwarz gewordene Display. Er hatte den Anruf beendet. Ob er einen Sündenbock brauchte? Wahrscheinlich.
Während ich noch darüber nachdachte, ob seine Reaktion bösartig oder hilflos gewesen war und dass die Polizisten sich offenbar während der Durchsuchungen untereinander verständigt und so die Todesnachricht ihren Weg gefunden hatte, klingelte mein Handy. Linus’ Ärmchen zuckten vor Schreck. Ich strich ihm über den Leib und nahm das Gespräch an.
„Du hast ihn getrieben. Ich habe es schon immer gewusst.“ Barbaras Stimme klang brüchig. „Du schickst mir Falks Konfirmationsuhr, hörst du?“ Damit war auch diese Verbindung beendet.
Kleinbürger. Verbiestert, dachte ich und spürte, wie mir vor Wut und Verlassenheit die Tränen kommen wollten. Es war damit zu rechnen gewesen, dass Uwe Barbara gleich anrief. Nach der Trennung und ein paar Jahren Funkstille hatten die beiden wieder mehr Kontakt. Jetzt schoben sie es auf mich, hielten sich vielleicht aneinander fest. Ein Stich durchfuhr mich. Immerhin hatten sie einander, um damit fertig zu werden. Ich blickte wieder zu Linus, der sein Mündchen verzog, vermutlich sah ich furchterregend aus. Schnell entspannte ich meine Züge. „Ja, Falk wollte etwas Besseres“, sagte ich ihm. „Das vertragen deine Großeltern einfach nicht. Haben sie nie.“
Es war tröstlich, unglaublich lindernd, das meinem Sohn zu sagen. Die konnten mich mal. Sie hatten vielleicht sich. Aber ich hatte Linus. Ich rutschte neben ihn auf die Ottomane, legte mich mit angezogenen Knien auf die Seite, barg sein Köpfchen in meiner Achselhöhle und kitzelte mit der anderen Hand zart seinen Bauch. „Vielleicht ist es gut so, dass sie nichts von uns wissen wollen. Jedenfalls besser als Anschuldigungen, die die Luft verpesten. Du bist den zweiten Tag auf der Welt, und ich muss ein neues Leben anfangen. Und die Konfirmationsuhr deines Vaters ist grottenhässlich, die willst du gar nicht sehen.“
Linus gab einen leisen Summton von sich, der das Schleifgeräusch in mir zum Verstummen brachte, und ich webte aus dem Faden dieses einträchtigen Moments einen Kokon um mich und mein Kind und mein neues Leben.
* * *
„Ich bin nicht Stiller!“ Ich starrte auf diesen ersten Satz in Max Frischs Roman Stiller, den Falks Mutter ihm zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ein Tag war vergangen, und ich hatte im Rückzugsraum aufgehäuft, was Falk von seinen Eltern bekommen hatte, um es zurückzuschicken. Es war nicht viel. Ich saß im Schneidersitz da, Linus auf meinen gekreuzten Beinen, und um mich herum gruppierten sich die Konfirmationsuhr, eine hässliche Kristallschale von seiner Mutter, ein viel zu schwerer Mantel, ebenfalls von Barbara. Zwei Bücher über Tropenfische von seinem Vater. Eins davon hatten wir auf die Malediven mitgenommen, wo wir schnorcheln gewesen waren.
Und diese Ausgabe von Stiller. Wir hatten damals darüber nachgegrübelt, ob Barbara damit hatte erklären wollen, warum sie ein neues Leben begonnen hatte.
„Nee, glaub ich nicht. ‚Ich bin nicht Stiller!‘“ Falk hatte auf den ersten Satz des Buches gezeigt und den Kopf geschüttelt. „‚Ich bin nicht Barbara‘ hätte meine Mutter nie gesagt. Die wollte immer sie selbst sein, sich verwirklichen, während Stiller sich entfliehen wollte.“ Dann hatte er das Buch weggelegt.
Und Falk? War er gegangen, weil er nicht mehr sein konnte, was er sein wollte? Oder weil er sich selbst entfliehen wollte? Wahrscheinlich beides, dachte ich bestürzt. Und ich habe ihn nicht gehalten. Prinzesschen. Versagen und Schuld knisterten heiß wie wildgewordenes flüssiges Silberlot durch mich hindurch. Ich schnappte nach Luft. Nein. Warte. Denk nach.
Verzeih mir. Ich kann nicht anders. Ich liebe dich. Das hatte im Abschiedsbrief gestanden. „Ich kann nicht anders“, flüsterte ich und hörte dem nach. Es klang klar und einleuchtend und doch viel zu einfach. Als ob Falk es sich leicht gemacht hatte. Es sich Leichtmachen passte zu ihm. Ein Satz, den er mir vor die Füße geworfen hatte wie einem Hund einen Brocken Fleisch. Friss.
Blödsinn, schalt ich mich. Sich das Leben zu nehmen war alles andere als leicht. Mir schauderte es. Dahin konnte ich irgendwie noch nicht denken. Also wieder zurück. Ich kann nicht anders. Er hatte es müde, verzweifelt, im Angesicht einer Ausweglosigkeit geschrieben. Ohne Kraft für viele Worte. Ja, so musste es gewesen sein.
Aber auch ohne Erklärungsbedarf, stieß mir bitter auf. Hatten wir nicht immer gemeinsam Lösungen gefunden, wenn es schlecht aussah? Wobei, die Lösungen gewählt hatte jeder für sich. Falk meistens verwegene, ich sichere. Verabredet hatten wir höchstens, wie wir etwas unauffällig und ohne anzuecken bewerkstelligen konnten. „Unter dem Radar fliegen“, wie Falk es genannt hatte. Darin waren wir Meister gewesen.
Meinen Leichnam erspare ich dir. Unter dem Radar.
„Warum hast du mich nicht zurate gezogen? Dich mir nicht anvertraut?“ Warumwarumwarum? Aufsteigende Tränen schnürten mir die Stimme ab. Wie hatte er mich nur so zurücksetzen können. Leise knisterte das Silberlot in mir nach: Prinzesschen, Versagen, Schuld … War ich schuld daran, dass er sich mir nicht geöffnet hatte?
Linus fuchtelte mit den Ärmchen und zog eine Schnute. Meine Brust spannte. Inzwischen schoss die Milch kräftig ein.
Ich streichelte kurz seinen Bauch und beugte mich über ihn. Versagen und Schuld? Heiß wie Silberlot? Davon musste ich ihn fernhalten. Er war so klein, so süß! Während sein noch in der Welt umherirrender Blick über mein Gesicht glitt, öffnete ich meine Bluse und den Still-BH. Ich muss einkaufen gehen, fiel mir plötzlich ein. Ich hatte erst einmal nur den einen BH, weil ich mir mit der Größe unsicher gewesen war. Behutsam hob ich Linus hoch, setzte mich auf den Lesesessel und legte ihn an. Mit einem niedlichen kleinen Summen und einem Schmatzer begann er zu saugen.
Ich musste unwillkürlich lächeln, und während ich auf das Köpfchen an meiner Brust hinabblickte, dachte ich: Linus ist wichtig. Nicht was du nicht mehr ändern kannst. Als ich sah, wie angestrengt er saugte, tat, was getan werden musste, hörte das heiße Knistern nach und nach auf. Nach einer Weile wagte ich, den Blick von Linus zu lösen. Vorhin hatte ich die Tür auf die Terrasse hinaus geöffnet. Vogelgezwitscher war aus dem Baum im Garten zu hören. Dieser Platz, diese Wohnung ist ein Geschenk von Falk, sagte ich mir. Das zählt. Und tatsächlich gab es mir Kraft.
„Wir beide gehen nach dem Wickeln einkaufen.“ Leise Freude regte sich bei dem Gedanken, meinen Sohn auszufahren, das erste Mal. Ich würde die Sonne genießen und nur etwas zu essen für mich selbst kaufen, ein zweiter Still-BH konnte noch warten.
„Und zur Post gehen wir“, sagte ich, als ich die Brust wechselte. Ich sah auf den Sachenhaufen auf dem Boden. „Aber weißt du was? Das eine Buch über die Tropenfische behalten wir.“ Ich musste mich räuspern, das mit der Kraft war relativ. Doch ich redete weiter, damit Linus meine Stimme kennenlernte. „Wenn du größer bist, fliegen wir in den Süden und gehen schnorcheln, und dann erzähle ich dir von deinem Vater.“
Irgendwann wirst du ihm alles erzählen müssen. Also steck den Kopf nicht in den Sand.
* * *
„Guten Tag, Frau Brenner. Kommen Sie herein. Sie können schon mal ins Wohnzimmer vorgehen. Sie wissen ja, wo das ist. Ich muss nur schnell meinen Sohn fertigwickeln.“
Ha! Das hatte ich doch schon mal gefasst vorgebracht. Sogar mit einer kleinen Spitze.
Die Kommissarin, die in meiner Tür stand, verzog den Mund, stieß den Atem durch die Nase aus und zeigte mit dem Finger auf die halb offene Wohnzimmertür, ehe sie sich dort hinwandte. Ich verschwand im Bad, zog Linus flugs seinen Strampler an und folgte dann der älteren Frau. Es war die Polizistin, die die Wohnungsdurchsuchung geleitet hatte und auch die Ermittlungen gegen Falk führte. Ich hatte sie angerufen und ihr erklärt, dass ich wissen wolle, was eigentlich los sei. Was Falk vorgeworfen würde.
Sie hatte leise und tief gelacht. „Frau Schönfeld, vor allem müssen wir Sie befragen. Das haben wir in Anbetracht dessen, dass Sie gerade Mutter geworden sind, verschoben, aber …“ Dann hatte sie eine Pause gemacht und gesagt: „Wir könnten das bei Ihnen zu Hause erledigen, wenn Sie mit dem Neugeborenen nicht ins Präsidium wollen.“
Darauf war ich gern eingegangen, und deshalb stand die Kommissarin Anja Brenner nun an der Balkontür und schaute auf die Straße, als ich eintrat. Sie trug Stretchjeans, eine unspektakuläre hellblaue Sommerbluse und schicke senffarbene Verlourpumps. Sie drehte sich um. „Na, schon gewachsen, würde ich sagen. Wie heißt er denn?“
„Linus.“
„Alles Gute für Sie und das Kind, Frau Schönfeld.“ Anja Brenners Stimme war tief und weich wie ihr Lachen. Sie strich sich ihre wilden graumelierten Locken zurück. „Darf ich das Aufnahmegerät hier hinstellen?“ Sie wies auf den Esstisch.
Ich nickte. „Das ist das Beste, oder? Da können wir uns gegenübersitzen. Ich hoffe, es stört nicht, dass Linus dabei ist. Aber auf meinem Arm ist er am ruhigsten.“
„Wir werden darauf verzichten, ihn seine Angaben bei der Nennung der Anwesenden persönlich bestätigen zu lassen.“ Die Polizistin lächelte.
Sie macht das gut, dachte ich. Schafft Vertrauen, eine lockere Stimmung. In diesem Augenblick erinnerte sie mich an Falk.
Mit geübten Griffen stellte Frau Brenner ein Mikrofon auf, das sie mit einem altmodischen Aufnahmegerät verband. Sie nannte meinen und ihren Namen, Tag und Zeit, dann holte sie Atem. Das nutzte ich, um ihr zuvorzukommen.
„Was ist eigentlich passiert? Was genau wird meinem Mann vorgeworfen?“
Die Kommissarin ließ den Atem ausfließen und holte noch einmal welchen. „Das wissen Sie nicht?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie wollen mir sagen, Sie sind kalt erwischt worden?“
Ich zuckte mit den Schultern, Anja Brenner wies auf das Mikrofon.
„Bin ich.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, sagen wir im letzten Jahr? Hat er sich verändert?“
„Wenn Sie mir sagen würden, was ihm vorgeworfen wird, fällt mir vielleicht was ein.“
Anja Brenner hielt den Kopf schräg. „Grob gesagt ungedeckte Leerverkäufe, Insiderhandel, Verstoß gegen das Wertpapierhandelsgesetz, Paragrafen 14, 38 und andere, sowie gegen die Marktmissbrauchsverordnung.“
Insiderhandel, das hatte ich schon von Falks Vater gehört. Und was auch immer ungedeckte Leerverkäufe waren, das würde ich später googeln.
„Insiderhandel. Das heißt, mein Mann soll für den Aktienhandel Informationen genutzt haben, die er nicht hätte haben dürfen?“ Ich formulierte es wohlweislich als Frage. Es ließ mein Herz klopfen, mich auf Falks Seite zu schlagen, zu ihm zu halten, wie seit ich denken konnte. Es war vertraut, es verlieh mir Stärke und Sicherheit. Hübsches Trugbild, ätzte eine Stimme in meinem Hinterkopf. Beinahe hätte ich „Klappe“ gesagt, konnte mich geradeso zurückhalten. Ich wurde wohl langsam echt wunderlich mit meinen Selbstgesprächen.
„Genutzt und beschafft“, konkretisierte die Ermittlerin. „Kennen Sie Daniel Berg?“
„Daniel … Falks Studienfreund.“ Die beiden hatten schon als Studenten getradet, und zwar erfolgreich, wie ich wusste. Falks Eltern hatten ihn kaum unterstützt, und in Frankfurt war mit BAföG kein Blumenpott zu gewinnen. Ich als Lehrling hatte wenig beisteuern können, aber Falk hatte immer Geld gehabt, sogar für unsere ersten weiten Reisen.
„Was wissen Sie über die beiden?“
„Sie haben zusammen gelernt.“ Ich überlegte, wie zurückhaltend und wie offen ich sein sollte. Aus meinen Gedanken heraus fügte ich hinzu: „Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum Sie überhaupt noch ermitteln, mein Mann ist doch tot. Warum wollen Sie ihn in den Schmutz ziehen? Davon hat niemand was, aber für unser Kind ist das schlecht. Warum stellen Sie das Verfahren nicht ein?“
„Einesteils, weil Ihr Mann zwar verschwunden ist, wir ihn aber bisher nicht gefunden haben. Verzeihen Sie, das ist vermutlich schwer für Sie zu hören. Solange wir keine Leiche haben, gilt er nicht als tot.“
Ich spürte wieder die leichte Wärme unter dem Karneol an meinem Armband. Ich hängte mir Linus über die Schulter und fühlte mit der anderen Hand nach. Als ich außen über die geschliffenen Steine strich, waren sie alle kühl. Mit meinem feinen Sinn erfasste ich nur die unterschiedliche Härte in der Verschlossenheit der Oberflächen.
„Zudem hat er vermutlich nicht allein gehandelt“, fuhr die Kommissarin fort. „Wissen Sie, wo Herr Berg jetzt arbeitet?“
„In den USA, da ist er gleich nach dem Studium hingegangen.“ Diese Information hatte die Polizei mit Sicherheit sowieso.
Anja Brenner lächelte nachsichtig. „Wissen Sie es auch genauer?“
„Westküste. San Francisco. Nein, irgendwo weiter im Inland.“ Das war jetzt schon die dritte Frage zu Daniel. Er musste mit drinhängen.
„Ich meine, bei welcher Firma er arbeitet.“
Ich schüttelte den Kopf. „Irgendwas mit Finanzen, vermutlich, wenn Sie mich nach ihm ausfragen. Genau wie Falk. Sie hatten sich beide auf Finanzwirtschaft spezialisiert.“ Ich beschloss, deutlicher zu machen, dass mir das Verhör nicht gefiel. „Warum fragen Sie mich das? Das wissen Sie doch vermutlich alles besser als ich.“
„Kennen Sie Harald Grothe?“
„Nein“, log ich und legte Ärger in meine Stimme. Grothe, der gehörte irgendwie zu Daniels Familie. Und er war Bankvorstand. Ein unangenehmer Mann. Den musste ich wirklich nicht kennen.
„Ich komme noch einmal zu meiner Frage vom Anfang zurück. Ist Ihnen im Laufe des letzten Jahres irgendetwas an Ihrem Mann aufgefallen? Dass er anders war?“
Betroffen erinnerte ich mich an etwas, aber es war schon länger her und betraf eher Falk und mich selbst. Den Teufel würde ich tun und es erzählen. Ich stand auf. „Ich muss einen Schluck Wasser trinken. Wollen Sie auch?“
Anja Brenner nickte. „Soll ich helfen?“
„Danke, ich bin schon geübt mit einem Arm.“ Ich füllte in der Küche zwei Gläser mit Mineralwasser, die Kommissarin kam mir nach und nahm beide mit ins Wohnzimmer. Ich selbst musste außer Linus nichts tragen. Zum ersten Mal wurde ich entlastet. Ich hätte fast geheult deswegen. Reiß dich zusammen!
Am Tisch trank ich mehrere Schlucke, um Zeit zu gewinnen, mich zu sammeln, dann sagte ich: „Mir ist nichts aufgefallen. Falk war manchmal k.o., wenn er von der Arbeit kam. Er meinte, er müsse hoch konzentriert sein und oft schnell entscheiden. Er ist aufgestiegen, hat mehr Verantwortung bekommen, na ja … ich kann mich an nichts erinnern, was irgendwie herausgestochen hätte.“
„Hat er oft über seine Arbeit gesprochen?“
„Gegenfrage: Was sind ungedeckelte Leerverkäufe?“
Ein Mundwinkel der Kommissarin zuckte. „Ungedeckte Leerverkäufe. Wenn jemand eine Aktie verkauft, die er zunächst nur geliehen hatte, ist das ein Leerverkauf. Er spekuliert auf das Sinken der Aktie zwischen Leihen und Verkauf. Ungedeckt ist der Leerverkauf dann, wenn sich der Verkäufer zum Zeitpunkt des Verkaufs noch kein Eigentum an der Aktie verschafft hat.“
„Und das soll Falk gemacht haben?“ Ich zog möglichst ungläubig die Augenbrauen zusammen.
„Sieht so aus. Kombiniert mit dem Wissen, dass die Aktien fallen würden, US-amerikanische vor allem.“
„Ah, da kommt also Daniel ins Spiel in Ihrer Theorie. Stimmt’s?“
„Ihr Mann war die Verbindung zwischen Daniel Berg und Harald Grothe, dessen Unterschrift er nach unseren Kenntnissen gefälscht hat.“
„Mein Mann war nicht …“ Stopp, warnte ich mich und kniff Linus schnell in den Oberschenkel. Der schrie auf und zappelte. „Was ist denn? Ist ja gut“, gurrte ich. Ich hoffte, den Abbruch des Satzes damit tarnen zu können, dass ich ihn beruhigte. Ich stand auf und wiegte ihn. Ob ich Falk irgendwie raushauen konnte?
„Warten Sie mal, Harald Grothe, jetzt fällt mir was ein. Ich kenne den Mann vielleicht doch. Jedenfalls einen Herrn Grothe. Eher klein und älter, das weiß ich noch.“ Ich tat so, als würde ich nachdenken.
Anja Brenner sah mich aufmerksam an.
„Also wenn er das ist, ist er ein Verwandter von Daniel. Ich habe ihn auf Daniels dreißigstem Geburtstag kennengelernt. Er war betrunken und hat mir sein halbes Glas übers Kleid geschüttet. Und sich dann mit einem Hunni für die Reinigung entschuldigt. Unangenehmer Mann. Und den soll Falk gekannt haben?“
„Er ist im Vorstand der Bank.“
„Na dann hat er doch nicht mit Falk zu tun gehabt.“ Ich schüttelte möglichst ungläubig den Kopf.
„Daniel Berg und Harald Grothe sind verwandt?“
„Jedenfalls gehört irgendein Herr Grothe zur Familie, er hing auf der Party mit Daniels Eltern rum. Vielleicht sind sie auch nur befreundet.“
„Sie wollen mir sagen, dass Ihr Mann nicht das Bindeglied zwischen Berg und Grothe ist.“
Genau das will ich. Aber noch mehr wollte ich, dass du selbst draufkommst. Ich schwieg und wechselte Linus in Bauchlage auf meinen Unterarm. Das konnte er nicht besonders leiden, und ich lagerte ihn normalerweise nur kurz so, wenn ein wenig Druck auf den Bauch nötig war, um die mitgeschluckte Luft als Bäuerchen zu entlassen.
„Auf dieser Geburtstagsparty – haben sich Ihr Mann und Harald Grothe da unterhalten?“
O ja, hatten sie. Und das war genau der Moment gewesen, an den ich mich zu Beginn des Gesprächs schon einmal erinnert hatte.
„Nicht dass ich wüsste. Aber ich war eine Zeit lang im Bad, um mein Kleid zu säubern.“
Linus fing erwartungsgemäß an zu greinen. Ich schuckelte ihn, was ihm noch weniger gefiel. Er schrie los. Schnell nahm ich ihn hoch, quälen wollte ich ihn nicht. Das hast du nicht verdient, Falk, dass ich unseren Sohn für dich quäle, dachte ich bitter. Laut sagte ich: „Es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt um Linus kümmern. Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, erst mal nicht. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“
Anja Brenner wollte das Aufnahmegerät ausschalten, aber ich beugte mich noch einmal zu dem Mikrofon.
„Nur fürs Protokoll. Mein Mann würde niemals eine Unterschrift fälschen. Das glaube ich nicht. Nie und nimmer.“ Ich richtete mich wieder auf. „So, jetzt können Sie ausschalten.“
Aber Anja Brenner zögerte. „Würde niemals? Gegenwart? Frau Schönfeld, lebt Ihr Mann?“
Mir blieb die Luft weg. Beinahe hätte ich Linus fallen lassen. Ja, es entsprach meinem Gefühl, dass Falk lebte. Aber das war das Letzte, was ich der Kommissarin vermitteln wollte. Ich ging zum Sofa und kauerte mich dort zusammen. Dabei geriet Linus erneut in eine Lage, die ihm nicht gefiel, diesmal unbeabsichtigt. Er weinte wieder.
„Gehen Sie“, sagte ich leise und merkte, wie mir die Tränen kamen. „Und entschuldigen Sie vielmals, dass ich mich noch nicht an Falks Tod gewöhnt habe.“
Ich musste hier weg. Oder vielmehr musste die Beamtin verschwinden, raus aus unserer Wohnung. Unserem Schutzraum. „Gehen Sie“, sagte ich noch einmal. „Sie finden ja allein raus.“ Damit stand ich gehetzt wieder auf, flüchtete ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich lehnte mich daran, tröstete mein weinendes Baby, wobei sich meine und seine Tränen an meiner Wange vermischten. Unser ganzes Elend seit Falks Verschwinden floss zusammen, und irgendwie war das tröstlich.
Nach einer Weile hörte ich, wie die Wohnungstür sanft ins Schloss gedrückt wurde.
„Entschuldige Linus, bitte entschuldige, dass ich dich gekniffen habe. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich musste deinen Vater verteidigen“, raunte ich meinem Sohn schluchzend zu. Dann dachte ich an ein – im Gegensatz zu der Geschichte mit dem vollgekleckerten Kleid – wahres Erlebnis an Daniels dreißigstem Geburtstag.
Musste ich wirklich?
Daniel war ein Dreivierteljahr älter als wir. Er feierte seinen dreißigsten Geburtstag im Sommer 2019 in Königstein bei seiner Familie mit einer Gartenparty, und natürlich war Falk, sein bester Freund aus Studienzeiten, samt Frau eingeladen.
Die beiden prahlten einander was vor, Daniel bewegte bei „seinem“ Pensionsfonds in Kalifornien gefühlt Milliarden, Falk setzte bei seinen HNWIs hier und da ganz umkompliziert mal schnell zwischendurch Millionen um. Mit diesen High Net Worth Individuals – Kunden, die stets mindestens eine Million Franken zum Spielen freihaben, wie er mir erklärt hatte – arbeitete er noch nicht lange, und er war stolz darauf.
Dieses Spielchen, wer den Längsten hat – echt überflüssig. Jungs eben. Bei einem Blick über den Rasen entdeckte ich Ute und Thomas und verdünnisierte mich. Irgendwann winkte mich Falk wieder hinüber, inzwischen stand ein kleiner älterer Mann bei Daniel und ihm. Das Geburtstagskind stellte uns einander vor: Harald Grothe war sein Patenonkel, Vorstand bei Falks Bank. Ich erinnerte mich. Falk hatte mir von ihm erzählt. Der Mann hatte ihn gleich auf der Examensfeier abgefischt.
„Ihnen hat Falk seinen Job zu verdanken“, sagte ich höflich.
„Ihn einzustellen habe ich nie bereut“, sagte er. „Ihr Mann ist ehrgeizig und hungrig. Sind Sie beruflich auch eingebunden?“
Die Frage in einem Tonfall, als ob das abwegig wäre. Und überhaupt: Färbte der Mann sich dunkle Strähnen in sein Weiß, damit er jünger wirkte? Eindeutig. Na warte, du Macho.
„Ich bin nicht blond, ich bin nicht siebzehn, und ich bin seine erste Frau, also ja. Ich bin Goldschmiedin.“ Ich sagte es mit einem Lachen, aber Falk sah trotzdem erschrocken aus und warf mir einen warnenden Blick zu.
Grothe lachte. „Na, das passt doch. Ihre Frau hat Humor, Herr Schönfeld. Dann wissen Sie ja mit Werten was anzufangen“, wendete er sich wieder an mich.
Ich zuckte die Schultern. Was sollte das heißen?
Er griff nach meiner Hand, und ich hatte Mühe, dem Impuls zu widerstehen, sie ihm zu entziehen. An meinem Finger blitzte ein sündhaft exklusiver Brillant. Meine Chefin Gunda hatte ihn mir gegeben. „Wedel auf der Feier damit herum, bei einem Gartenfest in einer Königsteiner Villa sind meistens potenzielle Kundinnen zugegen.“
„Apropos Werte. Ein Erbstück?“
„Nein, Werbung“, sagte ich.
Er seufzte gespielt. „Fünfstellig? Sechsstellig?“
„Sechsstellig.“
„Er steht Ihnen. Hätten Sie ihn gern?“
O Mann. Geht’s noch? Ich würde niemals privat so teuren Schmuck tragen, aber das durfte ich natürlich nicht sagen.
„Reflexion, Lichtbrechung, Lichtstreuung, alles perfekt. Ein meisterlicher Schliff“, fachsimpelte ich stattdessen.
„Wissen Sie, Frau Schönfeld“, er machte eine Kunstpause, als müsse er nachdenken. „Ihr Mann ist risikobereit, wie es ein guter Banker sein muss. Er hat es nicht mehr weit dahin, Ihnen einen solchen Ring zu kaufen, jedenfalls nicht, wenn Sie ihm einen leichten und glücklichen Hintergrund verschaffen. Ihm den Rücken freihalten. Das braucht er nämlich. Rückendeckung zu Hause ersetzt die fehlende bei interessanten Geschäften.“
Du bist hier echt im falschen Film. Aber ehe mir etwas nicht Moralinsaures zu Gleichberechtigung und Emanzipation einfiel, hielt Grothe meine Hand hoch und fragte Falk: „Sie wollen Ihrer Frau doch was bieten, oder?“
„Klar“, sagte Falk, und ich hielt still, obwohl ich am liebsten ausgeholt hätte, um diesem Kerl eine Ohrfeige zu verpassen. Lächelte brav, um meinem Mann seine Karriere nicht zu verderben.
Da erscholl ein Sommerhit aus den Boxen, und Falk nahm meine Hand aus der Harald Grothes und zog mich weg. Er tanzte mit mir, ließ mich vor sich kreisen, fing mich ein und küsste mich. Er sah glücklich aus. But every touch is ooh-la-la-la. It’s true, la-la-la. Ooh, I should be runnin’
Ich brachte es nicht übers Herz, mit ihm darüber zu reden, dass ich ein ganz schlechtes Gefühl hatte. Das Gefühl, dass wir diesen Grothe zwischen uns gelassen hatten. Den Eindruck, dass Falk zu glücklich darüber war, auf der Erfolgsspur zu sein. Aber wer war ich, ihm das madigzumachen?
Ooh, you should be runnin’.
Ich stand an der Schlafzimmertür, und mein Unterleib begann zu brennen. Linus war eingeschlummert. Langes Stehen mit ihm auf dem Arm tat mir noch nicht gut. Um mich hinzulegen, war ich allerdings zu unruhig. War ich mit schuld? Was hatte dieser Grothe damals im Schilde geführt?
Ich öffnete die Tür mit dem Ellbogen und ging durch die Wohnung. Das alte Parkett knarrte leise. Die Kommissarin hatte die beiden Wassergläser in der Küche auf die Arbeitsplatte gestellt. Zwei Gläser, so wie früher, als ob Falk noch da wäre. Mir kamen die Tränen, mein Bauch brannte wie Feuer. Es half nichts, ich musste mich hinlegen. Vorher fasste ich jedoch einen Entschluss. Vielleicht hatte Uwe mit dem Prinzesschen nicht ganz unrecht gehabt. Wie auch immer. Ohne Prinz kein Prinzesschen.
* * *
„Ich habe einen Termin bei Harald Grothe.“
Die superschlanke Frau am Empfangstresen im Hochhaus der Bank schaute erstaunt auf meinen Kinderwagen. „Setzen Sie sich doch bitte einen Moment. Sie werden gleich abgeholt.“ Sie griff nach dem Telefon, ich fuhr inzwischen mit dem Kinderwagen in der Lobby herum. Sie war groß genug, um drei Babys auf einmal auszufahren.
Wenig später trat eine noch schlankere Frau aus dem Fahrstuhl und kam auf mich zu. Sie musste wie ich ungefähr Mitte dreißig sein, wirkte aber in Bleistiftrock, Blüschen und streng zurückgenommenen Haaren zehn Jahre älter. Sie trug eine Kette einer Luxusschmuckmarke, ein Klassiker und preislich ein Modell, das definitiv nicht zu ihrer Gehaltsklasse passte. „Frau Schönfeld?“
„Die bin ich.“
„Kommen Sie. Ich bringe Sie zu Herrn Grothe.“
Schweigend fuhren wir ins oberste Geschoss. Linus gefiel der Aufzug nicht, er fing an zu nörgeln. Ich strich ihm sanft über Stirn und Augen, wollte nicht, dass er richtig wach wurde.
„Hier entlang bitte.“ Sie wies mich durch einen Gang mit einem schallschluckenden Teppichboden, der den eigenen Schritt unhörbar machte. Moderne Kunst an den Wänden. Originale. Während die Frau über den Teppichboden schwebte, buckelte ich in den Kinderwagen hineingebeugt hinterher. Aber ich schaffte es, dass Linus wieder einschlief. Es ging durch ein Vorzimmer, und dann in ein filmreifes Chefbüro. Fensterfront, Blick in die Skyline, großer Schreibtisch mit nichts drauf. Aus dem lederbezogenen Bürostuhl dahinter erhob sich Harald Grothe und wies auf einen kleinen Besprechungstisch mit Sesseln im vorderen Bereich des Raums. Als wolle er mich gar nicht bis zu seinem Schreibtisch lassen.
Mich befiel ein unerklärlicher Fluchtreflex. Aber ich blieb stehen, reckte mich. Mit meinen Heels war ich deutlich größer als er, auch ohne hätte ich ihn überragt. Er färbte immer noch Pfeffer in seine salzweißen Haare.
„Frau Schönfeld.“ Ein angedeuteter Diener, als sei ich eine Prinzessin. „Es tut mir so leid.“
Der Mann ehrerbietig? Nie und nimmer. Das war eine Masche.
„Wollen Sie sich setzen?“
Wollte ich nicht. „Ja, gern.“
Ich schob einen Sessel ein Stück vom Tisch weg, sodass ich in den Kinderwagen sehen konnte, den ich neben mich gestellt hatte. Dann fixierte ich Grothe, der mir gegenüber Platz genommen hatte. „Ich glaube nicht, dass Falk tot ist.“
Der Banker zog leicht die Augenbrauen hoch und sagte nichts.
„Ich glaube auch nicht, dass er Ihre Unterschrift gefälscht hat.“
Grothe machte ein Gesicht, als ob er auf eine Chilischote gebissen hätte, und sog hörbar die Luft ein.
Ich legte die Hände auf den Tisch und beugte mich leicht vor. „Ich glaube, dass hier etwas vorn und hinten nicht stimmt.“
Grothes Züge rutschten wieder in die Ausgangsposition, dann ein Nicken. „Ich verstehe. Das ist schwer für Sie. Sie sind gerade Mutter geworden, nicht wahr?“
Nicht ablenken lassen, Stella. Ich hob nur kurz die Hände vom Tisch.
„Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte für das, was Sie gerade gesagt haben?“
„Ich kenne meinen Mann seit frühester Kindheit. Ich …“ Meine Stimme verlor sich. Ich hatte keine Anhaltspunkte. Nur ein Gefühl. Greif an, Stella! Sonst bekommst du nie was raus. „Ich würde gern wissen, wie Sie dazu stehen, dass solche Dinge, wie sie meinem Mann zur Last gelegt werden, in Ihrem Bankhaus überhaupt vorkommen können.“
Er fixierte mich mit mattgrünen Augen. Wie helle Jade. Viel zu schön für ihn. Aber auch passend. Jade vertrug keine Wärme, und Grothe war ein kalter Fisch.
„Gut“, sagte er nach einem Weilchen. „Ich will offen sprechen. Ihr Mann war ehrgeizig. Vor allem aber hatte er Spaß an seinem Beruf. Deshalb haben wir – also seine Chefs – offenbar etwas übersehen, was uns nicht hätte entgehen dürfen. Im Investmentbanking sind viele getrieben. Die Konkurrenz ist hart, das Geschäft schnell. Der Pulsschlag, nun ja, vielleicht könnte man sagen fiebrig. Normalerweise wirken Getriebene deshalb fieberhaft, das war bei Ihrem Mann nicht der Fall.“
„Er war kein Getriebener.“ Oder?
Grothe ging nicht auf meinen Einwurf ein. Er redete einfach weiter. „Er wirkte, als agiere er mit leichter Hand. Aber der Schein trog. So herausragende Bilanzen wie er bringen nur wenige, und die haben gewöhnlich ein absehbares Verfallsdatum, weil sie ausbrennen. Ihr Mann war gut, sehr gut sogar. Aber kein Ausnahmetalent.“ Er beugte sich vor. Sein Blick wurde hart wie der Edelstein, dessen Farbe seine Augen aufwiesen.
„Soweit ich weiß, haben Sie eine Eigentumswohnung im Westend. Mit Mitte dreißig. Dieser Kinderwagen da neben Ihnen, ist das ein Luxusmodell?“
Ich hielt den Atem an.
„Es ist auch Ihr Lebensstandard, für den er betrogen hat.“
Mein Atem stockte immer noch. Ich konnte einfach keine Luft holen, so starr war ich. Linus fing wieder an zu nörgeln.
„Frau Schönfeld, es tut mir leid …“
Die Starre löste sich, ich konnte den Atem ausstoßen, weil ich eines wusste, tief in meinem Herzen. Mit dem Luftstrom kamen meine nächsten Worte heraus. „Sie lügen. Es tut Ihnen nicht leid. Sie sind ein Lügner, Herr Grothe. Und das werde ich Ihnen nachweisen. Das Geld dafür habe ich ja, wie Sie wissen.“
Linus schlug die Augen auf und weinte los.
Ich kickte den Stuhl zurück, wendete den Kinderwagen und hastete an der Assistentin, die sich erschrocken halb hinter ihrem Schreibtisch erhob, vorbei in den Flur mit dem Trittschall, aber nicht Babyweinen schluckenden Teppichboden zum Aufzug. Dort hob ich Linus aus dem Wagen. Während ich mit meinem Sohn auf dem Arm nach unten fuhr – er klammerte sich an mich, verstummte jedoch –, spürte ich meinem Gefühl nach. Hast du mich lediglich loswerden wollen, weil verlassene Frauen anstrengend sind? Mein Rumstochern unbequem? Oder weil du tatsächlich was zu verbergen hast?
Ich hatte keine Anhaltspunkte. Das war leider wahr. Aber warum hat er dich überhaupt nach Anhaltspunkten gefragt? Weil er weiß, dass es welche gibt. Warum sonst. Oder? Dafür, dass Falk lebte? Oder dass er die Unterschrift nicht gefälscht hatte? Nein, das war Haarspalterei.
Als wir draußen aus dem Schatten des Bankturms in die Sonne traten und ich einen Augenblick stehen blieb, löste sich der verkrampfte Griff meines Babys. Ich hob Linus ein Stück höher, schmuste mit ihm, strich mit meiner Wange über seine pralle, feuchte. Streichelte seine Tränen weg. Er ließ sich sogar wieder in den Wagen legen, verfolgte das Mobile aus hauchdünnen Amethyst- Rosenquarz- und Bergkristallplättchen, das ich angefertigt hatte, mit dem Blick. Wenn es das Sonnenlicht einfing, konnte selbst ich die Augen kaum davon lassen. Besonders der Bergkristall, der Linus ein sicheres Bauchgefühl vermitteln sollte, war durchzogen von Flächen, die wie leichte Sommerwölkchen wirkten. Die echten verdichteten sich gerade am Himmel.
Auf dem Rückweg – Falks täglicher Arbeitsweg, wie mir schmerzlich bewusst wurde – dachte ich an meinen letzten Satz: Das Geld dafür habe ich ja. Wie viel hatte ich eigentlich?
Was war mit Falks Konto? Mein Herz machte einen Satz. Ob es dort Bewegungen gab? Überraschung und Erwartungsfreude höhlten mich aus, und ich achtete beim Überqueren einer Straße nicht auf die Bordsteinkante. Der Kinderwagen stieß dagegen, ich rammte mir den Griff in den Bauch. Linus greinte. Durch den Stoß entwich die Erwartungsfreude, die mir gezeigt hatte, wie tief ich innerlich überzeugt war, dass Falk noch lebte.
Ernüchtert machte ich, dass ich nach Hause kam. Zum Stillen setzte ich mich im Rückzugsraum an den Schreibtisch. Ich holte mir Falks Konto auf den Bildschirm und klickte auf Umsätze. Guthaben derzeit: knapp über fünftausend. Dann scrollte ich zurück. Seit er weg war nichts. Ich horchte in mich hinein. Es berührte mich weniger als gedacht. Und eigentlich war es klar. Die Ermittler kamen garantiert auch an seine Kontodaten, und wenn sie Umsätze gefunden hätten, hätte Anja Brenner Fragen gestellt.
Ich lehnte mich zurück, blickte auf Linus’ Köpfchen. Er saugte eifrig. Ich strich über seinen blonden Flaum. Ein Blick auf die Terrasse offenbarte, dass es zu nieseln begonnen hatte. Der steinerne Boden war feucht und trauergrau.