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Ulla Mothes

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Beschreibung

Ein unterhaltsamer Gesellschaftsroman über Gemeinschaft, Geheimnisse und Lebensträume  Eine kleine Gemeinschaft vor großen Veränderungen: Die beschauliche Kleingartenkolonie »Flusseck« soll einem großen Mehrfamilienhaus weichen. Bagger und Beton statt Bienensummen? Alteingesessene und neue Pächter, Paare, Singlesund Familien, müssen jetzt zusammenhalten – da taucht plötzlich eine Fremde auf und bezieht eine leerstehende Laube: die Architektin Lu, die jede Menge Insiderwissen hat. Doch bringt diese Frau tatsächlich die Rettung, oder schmiedet sie ganz eigene Pläne?  In der Kolonie rumort es. Nerven liegen blank. Der drohende Verlust ihres Idylls zwingt die Nachbarn, sich Konflikten zu stellen, auch inneren. Denn alle haben ihr kleines persönliches Geheimnis und Sehnsucht nach etwas, was sie sich nicht eingestehen.

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Seitenzahl: 479

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ulla Mothes

Morgenluft

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Eine kleine Gemeinschaft vor großen Veränderungen: Die beschauliche Kleingartenkolonie »Flusseck« soll einem großen Mehrfamilienhaus weichen. Bagger und Beton statt Bienensummen? Alteingesessene und neue Pächter, Paare, Singles und Familien, müssen jetzt zusammenhalten – da taucht plötzlich eine Fremde auf und bezieht eine leerstehende Laube: die Architektin Lu, die jede Menge Insiderwissen hat. Doch bringt diese Frau tatsächlich die Rettung, oder schmiedet sie ganz eigene Pläne?

 

In der Kolonie rumort es. Nerven liegen blank. Der drohende Verlust ihres Idylls zwingt die Nachbarn, sich Konflikten zu stellen, auch inneren. Denn alle haben ihr kleines persönliches Geheimnis und Sehnsucht nach etwas, was sie sich nicht eingestehen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ulla Mothes, 1964 geboren, wuchs in der Mark Brandenburg sowie in Ostberlin auf. Ausreise aus der DDR 1986. Sie begann als Kulturjournalistin zu schreiben und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Ulla Mothes lebt als Lektorin, Autorin und Schreibcoach in Berlin.

 

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Inhalt

[Ich bin] ein [...]

[Karte der Kleingartenkolonie]

1 EINGENISTET

2 UNRUHE

3 STREIT

4 KAMPF

5 TRUGSCHLÜSSE

6 HALTSUCHE

7 ABLÖSUNG

8 AUFBRÜCHE

9 ZUSAMMENHALT

10 ABSCHIED

EPILOG

Quellen

Dank

[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,

Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Johann Wolfang von Goethe,Faust I, 1808

 

Minus geteilt durch Minus ergibt Plus.

Mathematische Regel

1EINGENISTET

Siffig. Muffig. Bittersüß.

Wie sonst soll Aufbruch riechen, machte sich Louise Mut, die soeben beschlossen hatte, sich fortan Lu zu nennen. Ohne das prätentiöse O dazwischen.

Sie stand in der Tür einer Laube. Einer von sechsen der Kolonie Flusseck, die auf einer Restfläche zwischen Bahngleisen und Flussbiegung eingekeilt war wie Unkraut in einer Ritze. Oder wie hartnäckiges Leben, je nach Blickwinkel.

Lu steckte ihren Schlüsselbund mit Wohnungs-, Büro- und Sportwagenschlüssel sowie Dietrich und Pick in die Jackentasche, trat ein und orientierte sich im Mondlicht. Gerätschaften zeichneten sich im Vorraum ab, ein Besen, ein Rasenmäher. Geradeaus ging es in ein Bad, das ungefähr so groß war wie bei ihr zu Hause – Ex-Zuhause – die Dusche. Im lang gestreckten Hauptraum rechts standen zwei Sechziger-Jahre-Sessel mit Tischchen, Zeitungsständer und passendem Sideboard, ansonsten war er vollgestellt mit dem Gartenmobiliar – einem Tisch mit vier Klappstühlen sowie einem Holzdeckchair mit Fußteil. An der hinteren Wand ein Bollerofen, eine Schiebetür zu einer Küche mit Spüle, Propangaskochstelle und kleinem Buffet. Daneben ein Alkoven mit einem kurzen Bett, nur durch einen Vorhang vom Hauptraum getrennt. Perfekt. Besonders dass der Schornstein des Holzofens auch gleich das Bad mitwärmte, wie Lu mit geübtem Blick bemerkte.

Sie stellte ihre Sporttasche auf den Gartentisch, rollte die Yogamatte auf dem Bett aus und dann den Schlafsack, in den sie sich hineinkuschelte.

Ein Güterzug ratterte hinter dem Haus vorbei. Er schien endlos zu sein. Dann war es still. Frische Luft zog herein. Vor dem Fenster dufteten Hyazinthen.

Lu lag mit offenen Augen da, sah jedoch nicht die kieferverschalte Decke des Alkovens vor sich, sondern eine zerknickte 3-D-Ansicht, auf der ein weinroter Lackpumps lag. Der Schuh gehörte der Bürgermeisterin. Die zerknickte Abbildung zeigte den Ort, an dem Lu sich jetzt befand, und war auch von ihr gezeichnet. Hineingesetzt waren allerdings nicht sechs Lauben, sondern ein voluminöser Wohnriegel. Da hatte sie nun gestanden, auf dem schrittschalldämmenden blauen Teppich des Architekturbüros Starcke, die Geräusche eines recht speziellen »Meetings« vernommen und plötzlich begriffen, wie unbedeutend sie war oder vielmehr sich selbst gemacht hatte. So unbedeutend wie ihre meisterlich ausgeführte 3-D-Visualisierung, achtlos für einen strategischen Akt vom Tisch gewischt.

Danach war ihr nicht viel Zeit zum Packen geblieben – als Mädchen für alles im Büro von Tobias Starcke war aber Effizienz ihr zweiter Vorname. Und dem, das gelobte sie sich, ehe sie die Augen im nachtfeuchten Alkoven schloss, würde sie jetzt alle Ehre machen. Allerdings nicht mehr für Tobias, sondern gegen ihn.

»Aus! Bei Fuß!«

Was war denn mit Knorke los, hatte sich da eine Ratte in die leere Laube eingeschlichen? Oder etwa eins von Efkans Hühnern einen Brutplatz in Schulzes Bett gefunden?

Ihr Manchester Terrier, der beim morgendlichen Gassigehen bellend zur Laube gesprungen war, kam leise winselnd zu Kati zurück. Sie lobte ihn, blickte auf und entdeckte das offene Schlafzimmerfenster, das in diesem Moment von einer schlanken Frauenhand mit rot lackierten Nägeln geschlossen wurde.

Kein Huhn, dachte Kati, jedenfalls keins mit Federn. Aber auch keins, was da hingehörte. Und schon gar keins, dessen Wegscheuchen sie ihrem Mann überlassen wollte.

»Bei Fuß«, wies sie den Terrier an ihrer Seite noch einmal an, öffnete das Gartentor und stapfte über den taufeuchten Rasen.

Vor der Tür blieb sie stehen. »Hallo«, sagte sie vernehmlich und ohne ein fragendes Heben der Stimme am Ende.

Drinnen rumste irgendwas, ein zischender Schmerzenslaut folgte. Dann öffnete sich die Tür.

Vor Kati stand eine junge Frau, Mitte dreißig vielleicht. Blondes, langes, verstrubbeltes Haar. Klein, knochig, Schminke von gestern, teure weiße Bluse, knallenge Hüftjeans. Und der Blick aus blauen Augen scheißfreundlich.

»Guten Morgen. Entschuldigen Sie …«, setzte das Persönchen vor ihr an.

»Weiß ich nicht, ob ich das entschuldige«, sagte Kati. »Was machen Sie hier in Schulzes Laube?«

»Obdach suchen. Mein Mann hat mich betrogen. Ich musste raus.«

»Kurz entschlossen?«, fragte Kati interessiert. Die Frau gefiel ihr wider Willen. Knapp, bestimmt, ungeniert.

Die Blonde nickte und hob gleich darauf die Schultern.

»Und wie kommen Sie auf diese Laube?«

»Ich hab gesehen, dass …« Die Frau unterbrach sich und sah Kati dann fest in die Augen. »Ich wusste, dass sie leer steht.«

»Was einen Einbruch nicht rechtfertigt.« Kati legte den Kopf schräg. »Und woher wussten Sie das?«

Die junge Frau reckte den Kopf, schaute zum Gartenzaun und wies dann mit der Hand zu der Front von sechs Zäunen längs des Weges am Fluss. »Ich habe kürzlich auf einem Spaziergang die Banner gesehen. Und den ungemähten Rasen. War klar, dass hier niemand mehr einziehen darf. Ich weiß, wie so was abläuft. Ich bin Architektin. Und ich find’s scheiße.«

Kati hatte das unbestimmte Gefühl, dass die junge Frau vielleicht nicht log, aber irgendwie nicht ganz zufällig hier gelandet war. Der Blick zu den Protestbannern an den Zäunen war suchend gewesen.

Knorke winselte. Er wusste, dass er sein Geschäft nicht in Schulzes Garten machen durfte, und jetzt war es wohl langsam dringend.

»Ich heiße Lu. Ich will hierbleiben«, sagte die Frau in Knorkes Winseln hinein und klang dabei genauso flehentlich wie der Hund. Und nicht minder ehrlich.

Gut, dachte Kati. Vielleicht war das gar nicht so verkehrt. Eine Architektin kannte sich vermutlich mit den ganzen Bestimmungen aus, nach denen sie hier vertrieben werden sollten. Das Huhn nicht gleich zu verscheuchen, sondern lieber zu rupfen, konnte nicht schaden.

»Im Küchenschrank sind bestimmt noch Kaffeebohnen. Die dürften brauchbar sein, Waltraud hat immer frisch gemahlen, und so lange ist sie noch nicht tot. Hauptsicherung ist da«, sie wies in den Vorraum hinein neben Lus Kopf. »Wasser ist bestimmt noch angestellt. Ich geh mit Knorke schnell zum Bahndamm, dann komm ich wieder.«

Die Frau wandte sich ab, und der Hund rannte vor zum Gartentor.

Lu schaute ihr nach. Wanderschuhe, dunkelblaue Stretchjeans, die erstaunlicherweise keine Schwimmringe an den fleischigen Oberschenkeln bildeten, rosa Fleece-Hoodie. Eine große Frau mit birnenförmiger Figur und ungefärbtem Rentnerhaarschnitt, wahrscheinlich Ende sechzig. Sie hatte Biss, das gefiel Lu, war aber auch heikel.

»Ich bin betrogen worden«, hatte sie erzählt. Vielleicht stimmte das nicht einmal. Hatte ihr Tobias je etwas zugesichert? Dass der Zweck nicht alle Mittel heiligte? Hatte er nicht. Sie hatte etwas in ihre Beziehung hineingeträumt, das nicht da gewesen war.

Aber egal, »betrogen« machte sich besser. Und Tobias hatte zumindest ausgenutzt, dass sie sich etwas vorgemacht hatte.

Lu fröstelte und gähnte. Ein paar Gärten weiter hatte in aller Herrgottsfrühe ein Hahn gekräht und gar nicht wieder aufgehört. Die Sonne berührte noch nicht mal die Spitzen der Obstbäume, die gerade Blütenknospen ansetzten.

Lu blickte über das hohe Gras und den Fluss hinüber zur Altstadt dieses beschaulichen norddeutschen Ortes, knipste dann wie angewiesen die Hauptsicherung an und trat ins Bad. Das Wasser kam spritzend und braun aus dem Hahn, aber es kam. Waschtisch, Klo und neben dem Klo – Lu traute ihren Augen kaum – eine schmale Glastür nach draußen. Dahinter in ein Kiesbett gelegte marokkanische Zementfliesen. In der Tür steckte innen ein Schlüssel, sie öffnete, trat hinaus und fand sich in einem Heckengeviert wieder, über sich eine Dusche.

»Ich fass es nicht. Ich hab die Edellaube erwischt«, murmelte Lu, und in ihrem Bauch bildete sich ein Glücksball.

In diesem Moment rauschte ein Regionalzug auf dem Bahndamm vorbei, und Lu konnte den Passagieren trotz Hecke in die Augen blicken. Den Fahrplan sollte sie also kennen.

Fürs Erste begnügte Lu sich mit Katzenwäsche drinnen und frischer Mascara. Dann wuchtete sie den ausladenden Deckchair nach draußen auf die kleine Terrasse vor der Laube, um sich nicht noch einen blauen Fleck am Schienbein zu holen. Sie stellte auch das Fußteil dazu. Ein klares Zeichen für die Frau mit dem Hund, dass sie zu bleiben gedachte. Dann trat sie in die Küche und fand tatsächlich Kaffeebohnen und eine Kaffeemühle im Büfett. Vor allem jedoch eine ganze Sammlung Arzberg Bastdekor. In Grau, Hellblau, Rot … Das Service war auf dem Flohmarkt ein Vermögen wert, ebenso wie die geschwungenen Sessel mit den schräg stehenden Holzbeinchen.

Lu rechnete. Klar, wenn die Vorpächter irgendwas um die achtzig gewesen waren, als sie das Zeitliche gesegnet hatten, stand sie hier vor dem, was sie sich in den frühen Sechzigerjahren als junges Paar angeschafft hatten und was irgendwann in die Laube gewandert war.

Ein Stich durchfuhr sie. Ein Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet hatte sie mit Tobias auch haben wollen. Aber Tobias, das war ihr gestern klar geworden, der wollte geschäftlich sehr hoch hinaus, und seine Partnerin war dem untergeordnet. Und – das musste sie ihm zugestehen – sie hatte diese Rolle angenommen.

Konzentrier dich, ermahnte sie sich, ehe die Tränen kommen konnten.

Energisch füllte sie den Wasserkocher, griff nach dem Porzellanfilter, der neben einer Mokkakanne stand, setzte eine Filtertüte hinein, die sie einem etwas klammen Karton entnahm, und mahlte Bohnen. Als sie das heiße Wasser in den Trichter goss und darüber nachdachte, dass die letzte Hand, die eine Filtertüte aus dem Karton gezogen und das Kästchen der Kaffeemühle hineingeleert hatte, die Hand einer Toten war, ging die Haustür.

Na super, dachte Lu. Das mit der Reviermarkierung musste sie wohl noch verbessern. Fürs Erste war sie ein Geistergast in Schulzes Laube. Und Anklopfen schien hier nicht üblich zu sein.

»Wie ich sehe, haben Sie alles gefunden.« Die Nachbarin war in der Küchentür erschienen.

»Die Laube ist so verlassen worden, als hätte Frau Schulze demnächst wiederkommen wollen, nicht wahr? Es ist irgendwie berührend«, nahm Lu ihren Gedankengang von eben auf.

»Ist das Einbrecherromantik?«, fragte die Frau. Doch dann seufzte sie. »Schulzes waren gebildete Leute, ruhig und bescheiden. Ich stell mal den Gartentisch raus, sonst wird Knorke unleidlich.« Dann wies sie auf ein Tablett mit Korbhenkel, das auf dem Buffetaufsatz stand. »Damit können Sie alles raustragen, wenn der Kaffee durch ist.«

Lu stellte Tassen, Untertassen, die halb gefüllte Zuckerdose und die Mokkakanne auf das Tablett und legte noch einen Löffel dazu, falls die Nachbarin Zucker wollte. Kurz schoss ihr die Vorstellung ihres morgendlichen Latte aus der Luxusespressomaschine zu Hause durch den Kopf. Ex-Zuhause, ermahnte sie sich, zog sich ihre Steppjacke über und trug das Tablett auf die Terrasse, auf der inzwischen der Gartentisch und zwei Stühle standen. Auf einem davon saß die Frau, daneben Knorke. Der Deckchair war auf den Rasen gewandert.

Aha, so war das also bei Schulzes, dachte Lu, setzte sich und goss Kaffee ein.

»Sie sind also zu Hause abgehauen«, sagte die Frau und zog ihren Hoodie über dem Bauch glatt.

»Ich geh auch nicht mehr zurück«, sagte Lu.

»Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen? Das Schloss sah nicht aufgebrochen aus.« Die Frau rührte Zucker in ihren Kaffee.

»Mit einem Pick.«

»Mit was?«

»Einem Einbruchswerkzeug. Frei erhältlich. Mein Denkmalschutzprofessor hat mal gesagt, ein Architekt müsse in alte Gemäuer kommen, und seinen Schlüsselbund dazu hochgehalten. Daran hing ein Dietrich. Die meisten haben gelacht. Ich nicht. Mir ist irgendwie das Herz aufgegangen.« Sie griff nach ihrer Tasse. »Als nach der Veranstaltung alle weg waren, habe ich mich an der Seminarraumtür unterweisen lassen und noch am selben Tag mein Werkzeug bestellt.«

»Und wie oft gebraucht?«

Die Frage kam wie aus der Pistole geschossen. Lu, die gerade ihren ersten Schluck Kaffee trinken wollte, hielt inne.

»Selten. Nur einmal heimlich. Gestern Abend.«

»An krimineller Energie scheint es Ihnen jedenfalls nicht zu fehlen.«

Lu schwieg und trank. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Leute hier würden sie wohl nicht so einfach in der Laube wohnen lassen. Ihr Blick schweifte Richtung Fluss und blieb an den Zäunen hängen. An alle waren irgendwelche Banner geknüpft. Bestimmt mit Aufschriften wie Wir weichen nicht! Kampf der Betonmafia. Gärten sind Seelenfutter.

»Ich kenne mich zumindest ein wenig mit der kriminellen Energie derer aus, die Sie hier vertreiben wollen. Und mit dem Baurecht.«

»Wie gut?«

»Ausreichend vermutlich nicht, aber das kann ja noch werden.«

Das war gelogen, aber eine Lüge war an dieser Stelle klug, fand Lu. Denn die Kolonie hatte, weil sie nur aus sechs Parzellen bestand, nicht die Argumente, die das Entpachten größerer Kolonien erschwerten. Und Tobias, ihr seit gestern Ex-Partner, der hier einen dicken Riegel mit Wohnungen hinsetzen wollte, hatte ein schlagendes Argument, nämlich die Wohnungsnot in der Stadt. Und er hatte beste Beziehungen, allerbeste sogar, wie sie nun wusste. Auch die ausgebuffteste Kenntnis der Lage würde nicht ausreichend sein, um die Kolonie zu erhalten. Das aber wollten die Leute hier vermutlich nicht wahrhaben. Noch nicht jedenfalls. Und in so einer Situation wäre es Selbstmord, die Botin mit der schlechten Nachricht zu sein.

Die Nachbarin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte die Beine aus. Ihr Terrier nahm das offenbar als Anzeichen, dass Freizeit angesagt war, zog los und schnüffelte um die Bäume herum.

»Sie wollen also hier unterschlüpfen und uns im Gegenzug in unserem Kampf gegen das Plattmachen unserer Lauben helfen.«

»Ich wäre blöd, wenn ich das nicht täte.«

»Ich frag die anderen. Heute Abend dürften alle da sein. Ich bin übrigens Kati.«

»Danke, Kati. Das wäre toll.« Lu zog die Steppjacke fröstelnd zusammen und bemerkte bei ihrem Gegenüber so etwas wie den Ansatz eines wohlwollenden Lächelns, das etwas überraschend Mädchenhaftes hatte.

Kati erhob sich. »Mein Mann wartet. Der Laubenschlüssel ist hinten. Klebt an einem Magneten unter der Seifenschale der Dusche.«

Sie rief ihren Terrier und drehte sich kurz vor dem Gartentor noch einmal um. »Rasenmähen könnte nicht schaden für die Entscheidungsfindung. Nicht vor acht. Nicht zwischen eins und drei.« Dann ging sie.

»Korke!«, hörte Kati Lina-Marie rufen, als sie das ehemals Schulze’sche Gartentor schloss. Die kleine Tochter von Jana und Florian huschte mit ihrem Frühstücksrucksack auf den Kiesweg, der vor den Schrebergärten am Fluss entlangführte.

Kati fand es bedenklich, dass eine Dreijährige noch kein »Kn« aussprechen konnte. Glücklicherweise hatten die Kinder von Jana und Florian nie Wurstbrote in ihren Rucksäcken, so dass sie entspannt zusehen konnte, wie ihr Terrier und das kleine blonde Mädchen sich begrüßten.

Jetzt kam auch Jana aus dem Schuppen und schob das klobige Kasten-E-Bike heraus. Der fünfjährige Philipp hing an ihrem Jackenzipfel. Der Junge mit seinen braun glänzenden Locken sah aus wie sein Vater, die weißblonde Lina-Marie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Als ob es bei ihnen keine Vermischung der Gene gegeben hätte.

»Hallo, Kati.« Jana war mittlerweile am Gartentor angekommen. »Magst du mir das Tor aufhalten, Philipp?«, fragte sie ihren Sohn. Und während sie das schwere Gefährt auf den Weg schob: »Wohnt da drüben doch wieder jemand?«

»Eine Architektin. Illegal. Könnte uns nützlich sein. Ich trommle alle zusammen, heute Abend bei uns um sieben«, antwortete Kati.

»Was ist illegal?«, fragte Philipp.

»Die darf da gar nicht sein?«, Jana schaute befremdet hinüber in den Garten, wo Lu gerade den Tisch abräumte und grüßend die Hand hob. Die junge Mutter schreckte zurück.

Philipp drängte sich an ihr Bein. »Mama, ist illegal was Schlimmes?«

Vom übernächsten Grundstück zur anderen Seite hin ertönte ein Pfiff. Knorke warf Lina-Marie um, als er losstürmte. Das Mädchen kreischte begeistert auf.

»He! Also das …« Protestierend erscholl Florians scheppernde Männerstimme vom Schuppen her. Oje, dachte Kati.

»Besprechen wir alles heute Abend«, sagte sie schnell zu Jana. »Florian, heute um sieben eine Runde bei uns, ja?«, rief Kati zu dem jungen Vater, der sie mit seinem affigen Fahrradhelm in der Hand missbilligend ansah. Sein Fünftausendeuro-Bike lehnte an seiner Hüfte. Ihr Mann hatte es gestern bewundern dürfen, als die Familie zum ersten Mal in diesem Jahr für ein paar Tage die Laube bezogen hatte. Es wog angeblich weniger als eine Harke. »Ich muss nach Hause. Maxe wartet.«

Kati dachte gar nicht daran, sich zu entschuldigen, nur weil der kleine Pupswindelpopo auf dem Kies gelandet war. Lina-Marie trug tatsächlich nachts noch Windeln, mit drei! Das wusste Kati vom Müllwegbringen, ihre Tonnen standen auf dem Parkplatz hinter der Brücke.

»Mama, was ist illegal?«, quengelte Philipp.

»Ich will in den Kindi.« Lina-Marie stand neben dem Transportkasten, wollte offenbar hineingehoben werden und in den Kindergarten.

»Bis später dann.« Kati machte sich davon. Die junge Familie war vor einem Jahr nachgerückt, als die Parzelle frei geworden war. Er Tierarzt, sie Restauratorin. Vollblutökos. Wenn sie gewusst hätte, was das hieß, hätte sie auf der Vereinssitzung, in der ihre Aufnahme beschlossen worden war, ihr Veto eingelegt.

»Na endlich«, begrüßte sie ihr Mann an ihrem Gartentor, nachdem sie noch an Rudis Grundstück vorbeigegangen war. Da war alles ruhig. Rudi war Spätaufsteher.

»Wo warst du denn so lange?«

»Ich mach uns Toast, dann erzähle ich es dir.«

Mühsam quälte sich Rudi aus der Waagerechten hoch und blickte Richtung Bahndamm. Ein metallisch schabendes Geräusch hatte ihn geweckt. Seine Augen waren nicht mehr die besten, aber dass sich der stabilisierende Querdraht an seiner Bohnenstützenreihe gelöst hatte, sah sogar er. Um einen neuen Draht zu spannen, würde er seinen Enkel Ole brauchen. Seinen Nachbarn, der sonst gern aushalf, konnte er nicht fragen. Dem war sein Hanf, den die Bohnen im Sommer zum Bahndamm hin halbwegs verbargen, ein Dorn im Auge. Glücklicherweise hatte sein Enkel da keine Berührungsängste.

Rudi schlurfte zur Küchenecke in seinen großen Raum, stellte den Wasserkocher an, schaufelte Kaffee und Zucker in seinen buntgeblümten Pott, goss auf, schnappte sich sein Feuerzeug sowie die Zeitung vom Vortag und legte sich für seinen Morgenjoint noch mal ins Bett. Jana, die ihm die Zeitung abends meistens über den Zaun reichte, hatte im Lokalteil eine Nachricht umkringelt.

Streit um Wohnprojekt am Fluss

Sechzig neue Wohnungen sollen im Zuge der Innenstadtverdichtung auf dem Gelände der Schrebergartenkolonie Flusseck zwischen Bahndamm und Fluss südlich der Altstadt entstehen. »Es sind Wohnungen unterschiedlicher Größe für Familien und kleine Haushalte geplant, im Erdgeschoss behindertengerecht«, berichtet der Projektentwickler Tobias S.

Der Kleingartenverein Flusseck e.V. hat Beschwerde gegen das Bauvorhaben eingelegt. »Die Wohnungen werden viel zu teuer für Durchschnittsfamilien. Statt die grüne Lunge für Luxuswohnungen zu versiegeln, sollten erst einmal die Kriegsbrachen am Südring bebaut werden«, schlägt der Vereinsvorsitzende Max B. vor.

Rudi nahm einen tiefen Zug von seinem Joint und blickte aus dem Fenster zum Foliengewächshaus. Dort standen, geschützt vor den letzten Frösten, die Setzlinge seiner diesjährigen Hanfzucht. Ob die überhaupt noch blühen würden?

Unruhig drückte er seinen Joint aus und schlug die Decke weg. Er musste was tun. Er war der Einzige, der noch kein Protestbanner am Zaun hatte. Dabei hatte er die beste Idee. Maxes Flusseck-First-Plakat war schon ein bisschen peinlich. Dieser entenschopfige US-Expräsident, dem der Slogan entlehnt war, hätte hier ohne mit der Wimper zu zucken ein pompöses Glas-Stahl-Hochhaus hingestellt, für einen Golfplatz war das Gelände schließlich zu klein. Da musste er gegenhalten.

Also holte Rudi seinen Ersatzkopfkissenbezug heraus und legte ihn auf den Tisch am Fenster. An einen halb eingetrockneten orangefarbenen Filzer knotete er ein Stück Schnur, hielt ihr anderes Ende in der Mitte des Kissens mit dem Daumen fest und zog einen schönen großen Kreis. Da hinein schrieb er in fröhlich runden Großbuchstaben zum Ausmalen Flower Power. Die Wörter untereinander, die mittleren Buchstaben jeweils größer, so dass der Slogan den Kreis ausfüllte. Und darunter: Stell dir vor, die Planierraupe steht da, und keiner steigt ein.

Ein bisschen passte das Banner sogar zu Majas, das am letzten Zaun der Reihe ihrer sechs Grundstücke hing:

Wenn Eisschollen schmelzen, verhungern Eisbären.

Wenn unsere Scholle wegmuss, verhungert die Seele.

Die Vorlage würde er heute Nachmittag Jana geben, die sich erboten hatte, die Protestbanner mit Stofffarbe auszugestalten. Wenn Lina-Marie und Philipp die Sache noch mit fröhlichen Blumen verzierten, würde es werden, wie es eigentlich hatte werden sollen, aber nicht geworden war.

Rudi legte den Filzer weg und schaute aus dem Fenster durch seinen Garten zum Fluss. Er hatte Lina-Marie kennengelernt, da war sie so alt gewesen wie seine Tochter Joan, als sie aus seinem Leben verschwunden war, nämlich zwei.

Diesen schwärzesten aller Tage würde er niemals vergessen, aber er wollte auch nicht an ihn denken. Rudi faltete den Kissenbezug zusammen, zog seine verwaschenen Jeans und einen Norwegerpullover an und flüchtete in sein Gewächshaus. Komme, was wolle, er würde jetzt seine Setzlinge gießen.

»Hallo, hier ist Alina. (Husten.) Hab Fieber. (Husten.) Kann heut nicht kommen. (Pause. Husten.) Melde mich.«

Mist, dachte Florian, als er den Anrufbeantworter seiner Kleintierpraxis abhörte. Ohne seine Sprechstundenhilfe war er aufgeschmissen. Alina konnte etwas, das er hätte können müssen. Sie konnte zupacken.

Florian war Tierarzt geworden, weil seine Eltern einen respektablen Beruf von ihm erwartet hatten, er dagegen hatte sich danach gesehnt, gebraucht zu werden. Erwartungsgemäß hatte sein Vater die Nase gerümpft. Wenn es schon ein schnödes Handwerk sein müsse und nicht etwas Geistiges, dann hätte er doch bitte richtige Medizin studieren sollen. Florian hatte sich jedoch wohlweislich schon im Stillen beworben, und sein Vater arrangierte sich schließlich mit dem Satz: »Mein Sohn ist Veterinär.« Stets so wegwerfend geäußert, dass keiner weiter nachfragte.

Florian war empathisch, er merkte den Tieren ihr Leid an, aber er hatte eines nicht bedacht. Die Tiere sahen, dass er mitlitt. Und noch schlimmer, sie spürten, dass er zögerte, ihnen Leid zuzufügen, zum Beispiel in Form einer Impfung oder beim Aufschneiden eines Abszesses. Sie wehrten sich, und Florian brachte es nur unter Mühen fertig, diese Gegenwehr zu durchbrechen. Seine Verzagtheit stand ihm im Weg. Ohne Alina, die beherzt zupackte, ehe ein Tier sich’s versah, war er aufgeschmissen.

Die Handtuchwickeltechnik, mittels derer man eine halbwegs zahme Katze sanft außer Gefecht setzen konnte, war bei der ersten Patientin seine Rettung. Es gelang ihm, der älteren Katzendame ins Ohr zu sehen und ihr Tropfen zu verabreichen. Aber der Rottweiler mit einer eiternden Vorderpfote brachte ihn bereits an seine Grenzen. Sein Frauchen war mit dem Fixiergriff überfordert, der Hund biss zu, Florian musste auch die Besitzerin verarzten und wusste, Hund und Frauchen hatte er das letzte Mal gesehen. Und das alles nur, weil er den Fixiergriff nicht furchtlos hatte vormachen können.

Am frühen Nachmittag hängte er ein Schild Wegen Krankheit geschlossen an die Tür und verließ die Praxis, um einen weiteren Exodus abzuwenden. Alle Termine hatte er verschoben. So verlor er hoffentlich wenigstens nur die Notfallpatienten an die Konkurrenz. Gut, dass morgen Samstag war. Am Montag war Alina bestimmt wieder fit.

Er radelte zu einem Café, das gegenüber ihrer Kolonie am anderen Flussufer lag, und rief einen Kollegen an, der als Großtierarzt einige der Pferde betreute, die regelmäßig auf den Rennbahnen der Umgebung liefen. Er tauschte sich mit ihm aus, sah sich noch ein paar Videos der letzten Rennen an und notierte sich seine Wetten fürs Wochenende. Wenigstens bei seinem heimlichen Nebeneinkommen nützten ihm die Kenntnisse der Körpersignale von Tieren etwas.

Dann schaute er hinüber zu den sechs Gärten auf der anderen Seite der Flussschleife.

Friedlich lagen sie da, mit dem ersten Frühlingsgrün überzogen. Maxes und Efkans Pflaumenbäume blühten schon, die Knupperkirsche bei Maja und Merle auch. Birnen und Äpfel hatten Knospen angesetzt. Nur die Banner an den Zäunen ließen darauf schließen, dass die Idylle in Gefahr war. Kinder brauchen Gärten stand an ihrem Zaun. Es war Janas Idee gewesen. Florian war sich nicht sicher, ob das stimmte, aber eingewendet hatte er nichts. Besonders Philipp wollte lieber mit seinem Freund auf dem Spielplatz jenseits der Bahngleise spielen, als mit seiner kleinen Schwester im Garten buddeln, die gestern mal wieder eines seiner mühsam errichteten Bauwerke mit einem ungeschickten Plumps zerstört hatte.

Sein Handy klingelte. Jana.

»Schatz, würde es dir was ausmachen, noch schnell im Bioladen vorbeizufahren nachher?«

Er sah geradezu vor sich, wie Jana sich ihr helles Haar hinters Ohr strich. Ihre verlegene, an sich selbst zweifelnde Art hatte ihn sofort angezogen. Vielleicht weil er ein Zauderer war und sich bei ihr sicher fühlte: Sie würde ihn nicht überfahren.

»Was soll ich denn holen?«

»Also auf jeden Fall Brot. Die Erdbeeren sind bestimmt aus Spanien eingeflogen, die nimm noch nicht. Aber Rhabarber müsste schon gehen. Tofubratlinge brauchen wir auch. Sojacreme für den Rhabarber. Ansonsten Standard.«

»Gut«, sagte Florian. »Mach ich.«

»Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Jana schon, aber ihre Ansprüche … Denn der »Standard« im Bioladen kostete locker dreimal so viel wie der Standard woanders. Für vier Personen wohlgemerkt. Und Jana schien zu denken, dass sein Tierarzteinkommen dem eines gut gestellten Humanmediziners entsprach. Ihr eigenes war leider vernachlässigbar. Im Moment pinselte sie in irgendeiner Villa Gips in Marmor um. Bloß gut, dass seine Wetten verlässlich liefen und die Saison gerade begann.

Florian warf noch einen letzten Blick auf die Banner. Dann stutzte er. In Schulzes Garten mähte jemand Rasen. Eine zierliche blonde Frau. Wo kam die denn her? Dann erinnerte er sich. Kati hatte was von einer Runde bei ihr heute Abend gesagt. Die junge Frau war irgendwie illegal dort.

Florian seufzte. Er sollte die Zeit nutzen und ebenfalls Rasen mähen. Aber er hatte keine Lust. Zwei Stunden Radtour raus aus der Stadt waren gut und gern noch drin. War sowieso besser. Musste keiner wissen, dass er nicht in der Praxis war. Er zahlte und setzte sich umständlich den Helm auf.

»Die türkischen Tomaten schmecken schon richtig süß und gehen gut weg, davon müssen wir morgen mehr holen.«

Efkan erschien in der Tür des kleinen Kontors hinten in dem Supermarkt seiner Familie, den er mit seinem Bruder Mert führte. Er reichte ihm eine der roten Früchte. Mert biss hinein und schlürfte den Saft. »Hmm. Ich schmecke Omas Tomatensüppchen.«

Efkan lächelte. Er hatte eine Runde durch den Laden gemacht und besprach nun mit seinem Bruder, was er am nächsten Tag in aller Frühe vom Großmarkt holen sollte. Er selbst würde das Geschäft dafür bis spätabends offen halten wie meistens, denn anders als sein Bruder hatte er keine Kinder zu versorgen.

Das war sein größter Kummer. Sara und er konnten keine bekommen.

»Ich weiß nicht, was zwölf durch drei ist«, rief Elif aus, die neben ihrem Vater saß. Und was siebenundzwanzig durch neun ist, auch nicht. Geht das überhaupt?« Entnervt warf sie ihren Gelschreiber auf den Tisch. »Geteilt ist kacke.«

»Elif!«, mahnte Mert.

»Elif hat ›kacke‹ gesagt!«, kreischte ihre jüngere Schwester Leyla, die Wörter mit zwei L in ihr goldenes Schreibheft eintrug. »Leyla hat auch zwei L.«

»Ja, aber nicht hintereinander«, ätzte Elif.

Das Klingelsignal, um die zweite Kasse zu besetzen, ertönte.

»Geh du«, sagte Efkan zu Mert. »Ich mach das hier.« Und während er seine ältere Nichte in die Geheimnisse der Division einführte, nebenbei darauf achtete, dass das goldene Schreibheft der jüngeren sorgfältig geführt wurde, und parallel die Lagerbestände der Milchprodukte sichtete, trauerte er darum, dass ihm dieses Management nur als Onkel beschieden war.

Er und Sara hatten alles versucht, sogar zwei erniedrigende künstliche Befruchtungen, aber es sollte eben nicht sein. Als Sara nach dem ersten Mal gehört hatte, dass er vor Postern hatte wichsen müssen, hatte sie sich beim zweiten Mal mit in die Kabine gequetscht. »Schau mich an«, hatte sie gesagt, seine Hose geöffnet und begonnen, ihn zu massieren. Mit einem Geschick, das ihn erstaunt hatte. Es war ihm geradezu professionell vorgekommen. Aber obwohl er deswegen leicht irritiert gewesen war, hatte er, als er danach wieder denken konnte, gedacht: Wenn es etwas wird, dann ein in Liebe gezeugtes Kind. Es war nichts geworden.

Immerhin hatten sie den Garten und seit letztem Jahr sogar Hühner, deren Eier besonders seine Mutter liebte, die Geflügel noch von ihrer Großmutter aus Ostanatolien kannte. »Es gibt nichts Besseres als ein vier Tage altes Ei von einem gut gefütterten Huhn.« Als sie eines der ersten sachgerecht abgelagerten Eier gegessen hatte, hatte sie Efkan fast so liebevoll angesehen wie Mert, als er ihr erzählt hatte, dass er Vater werden würde. Aber natürlich nur fast, und Efkan hatte die Trauer in ihren Augen gesehen.

Du hast eine wunderschöne Frau, du hast Hühner und du bist für deine Familie da, ermahnte sich Efkan. Sei nicht undankbar.

»Zweiunddreißig durch vier müsste acht sein, stimmt’s?«, fragte Elif hoffnungsvoll.

»Richtig«, sagte Efkan.

Elif sprang auf und rannte in den Supermarkt. »Baba, Baba, ich kann’s!«

Baba, Papa. Das würde nie jemand zu ihm sagen. Efkan wollte auf einmal nur noch weg. Das Gefühl verstörte ihn.

… siebentausendvierhundertfünf. Merle saß auf der Terrasse und ließ die Finger tanzen. Beim Rechnen mit dem Chisanbop, dem koreanischen Fingerabakus, bildeten ihre Stellungen nach einem zweifachen Fünfercode Zahlenwerte ab. Merle faszinierte diese Technik, deren System auch den ersten Computern zugrunde lag. Sie war schneller als ein Taschenrechner, und weil sie beide Gehirnhälften miteinander verband, löste sie Denkblockaden. Zum Beispiel solche, wie sie Merle beim Verfassen ihrer Masterarbeit immer wieder überkamen.

… siebentausendsechshundertvierundachtzig. Achttau… Merle entdeckte Maja auf dem Weg.

Endlich. Sie ließ ihre Hände sinken und klickte den Zahlengenerator auf ihrem Handy weg. Endlich kam Maja. Jetzt konnte sie mit ihr den Tag durchsprechen, und so blass, wie Maja unter ihren feuerroten Haaren wirkte, als sie durch das schief hängende Gartentor trat, war das wohl auch nötig.

Merle selbst hatte seit dem Morgen drei Seiten ihrer unseligen Masterarbeit in Finanzmanagement gelöscht und zwei neue geschrieben. Erleichtert, die Arbeit beenden zu können, stand sie auf und wickelte sich aus der Decke, die sie sich umgeschlagen hatte. In letzter Zeit half das Chisanbop immer weniger. Sie ging ihrer Partnerin über die Rasenfläche entgegen, auf der mehr Löwenzahn als Gras wuchs.

Sie umarmten und küssten sich innig zur Begrüßung. Merle fühlte Majas warmen, lebendigen Leib an ihrem, spürte, wie sich ihre Partnerin nach dem Kuss gesehnt hatte, und es beglückte sie. Hier unter den Kleingärtnern störte sich kein Mensch daran. Sara war libertär und Efkan ein viel zu stilles Wasser, um irgendwelche Lesbensprüche loszulassen. Maxe interessierte nur, dass sie sich an die Kleingartenregeln hielten, und Kati war nichts Weltliches fremd. Rudi hatte den Freigeist der Siebziger im Herzen, und Florian und Jana waren political überkorrekt.

Dagegen waren sie und Maja in ihrem Freundeskreis beim Eintritt in den Verein auf Unverständnis gestoßen – was wollt ihr bei den alten Spießern? Aber die Kleingartenwelt war vor allem eine, in der jeder bei sich auf alle Freiheiten der Welt pochte und sie den anderen zugestand. Hier waren sie einfach M&M – und fertig war die Laube.

»Wie war dein Tag?«, fragte Maja.

Merle winkte ab. »Minus eins.«

»Shit.« Maja strich ihr eine Strähne ihres mausbraunen Haars aus dem Gesicht, die sich aus dem wirren Knoten auf ihrem Kopf gelöst hatte. Ihre Freundin fragte immer, wie sie mit ihrer Masterarbeit vorankam, und Merle berichtete stets, wie viele Seiten sie geschafft hatte. Zum Inhalt schwieg sie lieber und ließ Maja in dem Glauben, die Materie sei für Laien sowieso zu kompliziert.

Merle war in eine altehrwürdige Privatbankiersfamilie hineingeboren worden. Das und ihr mathematisches Talent hatten sie zu ihrem Finanzmanagementstudium geführt. Es schien abgemachte Sache, dass sie den Erfolg ihrer Mutter fortführen würde. Aber seit die berufliche Praxis sich hinter der Theorie hervorschob, schwante Merle, dass es vielleicht nicht reichte zu tun, was sie konnte. Dass sie Position beziehen musste. Nur wie? Kürzlich erst war sie mit Maja auf einer Demo gegen das Gender Gap gewesen – und ihr war der Gedanke gekommen, dass die Vermögen der Frauen, die Merles Mutter in ihrer Bank betreute, höchstens am Rande in Verbindung mit einer eigenen Arbeitsleistung standen. Es war Quatsch, das zusammenzudenken, aber irgendwie …

»Und bei dir?«, fragte Merle zurück, um von ihrem Versagen abzulenken.

»Tod durch den Strang und Mehrfachvergewaltigung.«

»Ich mach uns Tee.« Merle ging zurück über die Bruchsteinterrasse und die große Glasflügeltür in ihre Laube. Gleich rechts am Ostfenster standen an der L-förmigen Verlängerung ihrer Küchenarbeitsplatte zwei Stühle mit Blick nach draußen. Weil ihre Parzelle die letzte in der Reihe war, schauten sie von dort über ihre Beerensträucher hinweg auf eine Gebüschecke. Seitlich kam der Fluss ins Bild, von den Gleisen her, wo vor der Schleife, die ihren Gärten Raum bot, nur Platz für den Weg war, der am Ufer entlangführte.

Gegenüber der Flügeltür, zum Bahndamm hin, war ihre Küchenzeile, und dort bereitete Merle nun einen belebenden weißen Tee zu. Maja hatte glücklicherweise keine Ahnung, wie teuer der war, aber er weckte nach einem anstrengenden Arbeitstag zuverlässig ihre Lebensgeister. Während er zog, machte sich Merle noch schnell mit einer Subtraktion der Preise auf der Tee- und der Frühlingsrollenpackung locker, denn sie ahnte, was kam.

»Vergewaltigung?«, fragte sie, als sie Maja draußen auf einem kissengepolsterten Korbstuhl eine Teeschale in die Hand drückte. Sie selbst setzte sich gegenüber, beide legten ihre Beine auf den Stuhl der anderen, und Merle breitete eine Decke über sie.

Maja nickte. »Eine junge Südsudanesin. Bevor die Schlepper sie in das Boot gelassen haben.«

Merle sog die Luft durch die Zähne ein. Maja arbeitete in einer Kriseninterventionsstelle für Geflüchtete. Sie ratterte ihren Bericht herunter.

»Ich habe sie für eine Traumatherapie angemeldet, aber du weißt ja, die Plätze sind rar. Es kann ewig dauern, bis sie einen bekommt. Außerdem glaube ich, dass sie eigentlich noch ein Kind ist. Sie war zu dünn für eine Frau, die immerhin seit zwei Wochen im Erstaufnahmelager regelmäßig isst und trinkt. Sie ist nicht schwanger geworden. Das kann Glück gewesen sein, Unterernährung, oder … Sie hatte bis aufs Blut abgekaute Nägel, ich hab es mit dem bitteren Zeug zum Aufstreichen probiert, um ihr Vertrauen zu gewinnen und ihr Alter rauszukriegen, denn wenn sie noch ein Kind ist, geht es mit der Therapie schneller …« Maja musste Luft holen und trank dann hastig einen Schluck Tee.

Merle konnte bei dem Runtergeratter kaum folgen, aber sie wusste, dass Maja bei weiblichen Klienten eine Strategie der »Verschwesterung« anwendete. Dazu gehörten kleine Hilfen wie das Nagelfluid, das den Frauen half, wieder ein wenig schöner auszusehen und die äußeren Zeichen des Elends loszuwerden. Solche Sachen kaufte Maja von ihrem ohnehin kärglichen Salär, und Merle liebte sie dafür.

»Trink langsam.«

Aber Maja sprach schon weiter. »Leider hat sie sich nicht geöffnet, ihr richtiges Alter hab ich nicht rausgekriegt. Ich habe sie im Aufnahmelager zu einer Frau mit Säugling stecken können, deren Mann erschossen worden ist. Beide werden nachts von Albträumen gequält und wachen schreiend auf, was in Sammelzimmern immer schwierig ist.«

Maja brach ab, wischte sich über die Stirn und schaute in den Garten.

»Ein Star!« Sie zeigte mit der Linken auf die Rasenfläche. »Und da noch einer. Sie sind wieder da.«

Merle guckte in die Richtung, und tatsächlich, zwei der gepunkteten, schillernden Vögel pickten auf dem Rasen herum. Mit ihren kurzen Schwänzen sahen sie niedlich aus.

Maja war überdreht. Vielleicht wäre Baldriantee besser gewesen. Aber sie mussten am Abend noch zu Maxe, weil sich in Schulzes Laube irgendjemand eingenistet hatte. Da wäre es nicht so gut, wenn ihre Liebste auf dem Gartenstuhl einnicken würde vor Erschöpfung.

Maja seufzte, aber dann richtete sie sich wieder auf. Ihr durchgedrückter Rücken ist königlich, dachte Merle. Schon ging es weiter mit dem Geratter. »Und dann war noch ein Iraner da, dessen Partner wegen seiner Homosexualität hingerichtet wurde. Er selbst hat entwischen können. Heute Morgen wollte er sich selbst erhängen.«

»Echt schlimm.« Merle ergriff Majas Hand. Sie war eiskalt. »Wir haben es so gut hier.« Maja musste unbedingt runterkommen. Sie verstrickte sich immer tiefer in all das Elend, das sie täglich zu hören bekam, und das machte Merle Sorgen.

»Ja«, sagte Maja rau. »Ich hab ihn höflich reingebeten, aber …« Sie zog ihre Hand aus Merles, setzte ihre Füße auf ihren eigenen Stuhl und umfasste ihre Knie. »Ich hab gedacht, hau ab.« Sie riss die Augen auf und sah Merle an. »Ich hab einfach gedacht, hau ab. Und das, obwohl wir es so gut haben.«

Merle setzte ihre Teeschale ab und nahm auch Maja ihre aus der Hand, stellte sie ebenfalls auf den Tisch. Dann beugte sie sich hinüber und umarmte ihre zusammengekauerte Partnerin, die sich Tag für Tag solchen Horrorgeschichten aussetzte. Dieses Geratter. Sie gestand es sich ungern ein, aber ihr Getippe an der Masterarbeit war auch so ein Geratter, nur viel unbedeutender. Merle, da musst du durch, ermahnte sie sich. Während sie ihre Freundin im Arm hielt, meldete sich jedoch eine Frage in ihrem Hinterkopf, die immer öfter auftauchte in letzter Zeit. Musste sie wirklich?

»Kriegst du das Glas auf?«

Kati war mit einem Glas in Knoblauch eingelegter Auberginen auf die Terrasse getreten, wo Maxe gerade die Klappstühle aus dem Schuppen aufstellte.

Ihr Mann fasste mit seinen Schaufelhänden einmal kurz zu, und schon ertönte das leise Knacken, mit dem der Unterdruck sich löste.

Es war ihre eigene Ernte vom letzten Jahr. Also Maxes Ernte und Katis Zubereitung. Das Arrangement ihrer Rentnerehe war so unspektakulär wie funktionell: Maxe schuftete im Garten, er zog alles, was ihre Scholle hergab, und brachte es Kati dar. Kati verwertete es geduldig und routiniert. Jeder war beschäftigt, sie kamen sich nicht in die Quere. Eigentlich alles gut, dachte Kati manchmal, aber eben wenig spannend. Und mühsam. Denn Maxe hatte nicht nur große, kräftige Hände, er hatte auch zwei grüne Daumen, und seine Erträge waren schier nicht zu bewältigen.

Der Toaster warf die Scheiben aus, Kati versenkte die nächsten zwei und gab Auberginenhaschee auf die fertigen. Dann schnitt sie sie in Dreiecke und legte sie auf eine Platte. Bei ihren Vereinsrunden brachte jeder etwas mit. Häppchen hatten sich eingespielt – Fingerfood nannte Merle die –, man konnte einfach zugreifen.

»Ich hol kurz bei Sara noch ein paar Stühle«, rief ihr Mann ins Haus.

»Wieso bringt Efkan die nicht mit?«, fragte Kati alarmiert zurück.

»Der kommt ein bisschen später, ist noch im Laden«, sagte Maxe und ging.

Kati angelte die nächsten Toasts aus dem Schlitz, wiederholte die Prozedur, diesmal mit Kohlrabi-Kerbel-Creme, steckte noch zwei Scheiben in den Toaster und griff dann nach einem Küchenmesser. Damit huschte sie schräg durch den Garten bis zur Südostecke. Dort hatte sie zwischen die Astern Schnittlauch gesät. Maxe gegenüber hatte sie behauptet, er hätte sich allein ausgesät, könne aber bleiben, denn die Astern störe er nicht.

Schnittlauch konnte man fast das ganze Gartenjahr jederzeit unauffällig holen, und von dieser Ecke aus konnte Kati ein Stück um Efkan und Sara Kuzus Laube herumsehen, an deren abgewandter Seite ein Schuppen angebaut war. Maxe und Sara verschwanden gerade dort gerade. Sara in Skinnyjeans und engem mintfarbenem Shirt, beides billig, aber die Frau mit der Sanduhrfigur und den dicken glatten, fast schwarzen Haaren konnte es tragen. Sara war sexy, das ließ sich nicht leugnen. Und wie Kati wusste, nutzte Sara ihre Vorzüge gewinnbringend.

Kati zählte bis zehn und wollte gerade rufen, ob Sara Schnittlauch bräuchte, da kam sie mit einem Klappstuhl in ihr Sichtfeld, dahinter Maxe mit fünfen.

Kati schnitt ein paar Alibihälmchen ab, winkte Sara zu und ging wieder ins Haus.

Wenig später versammelten sich Vertreter aller Parzellen auf ihrer Terrasse.

Auf zusammengeschobenen Tischen lagen neben Katis Toastecken in Schinken gerollte Petersilienkartoffeln von Rudi, mit Hanf umwickelt. Sara hatte einen Teller Sucuk in dicken Scheiben aus Efkans Supermarkt hingestellt, dazu Sesamringe und halbierte Eier. Maja und Merle waren mit einer Glasschale Frühlingsröllchen erschienen, die nach Tiefkühlkost aussahen, aber mit frischen Keimlingen überstreut waren. Florian verteilte dazwischen gerade Rhabarbercreme in essbaren Pappschälchen, die aussahen wie Eierkartonteile. Jana hatte den Rhabarber bestimmt mit irgendeinem widerlichen Sojaschmandersatz angerichtet. Sie würde hinzustoßen, wenn die Kinder im Bett waren.

Kati winkte Lu heran, die pünktlich auf die Minute als Letzte durch das Gartentor kam. Mit einer Flasche Weißwein in der Hand – teurem aus dem französischen Laden in der Altstadt, das sah Kati sofort. Ohne High Heels, dafür mit exklusiven Sneakers, einer Freizeithose sowie einem Pullover einer Luxus-Damensportmarke. Das schnittige Cabrio auf dem Parkplatz hinter den Gleisen, das am Morgen da, am Mittag weg und am Nachmittag wieder da gewesen war, als Kati Knorke ausgeführt hatte, musste ihres sein.

»Knorke, bei Fuß!«, befahl sie dem Terrier, der schon auf dem Weg zum Gartentor gewesen war und aufs Kommando brav wieder abdrehte. »Kommen Sie«, rief sie dann und griff nach der Lehne des Stuhls zu ihrer Rechten. Der Neuen wollte sie auf die Finger sehen.

Das musste Katis Laube sein. Auf der Terrasse waren sieben Leute versammelt. Ein Meeting, bei dem sie umstandslos herausgekickt werden konnte, vielleicht aber auch ein Kick-off-Meeting für ein Projekt, von dem noch keiner der Kleingärtner etwas ahnte.

Als Lu die Klinke des Gartentors niederdrückte, verfluchte sie zum ersten Mal ihren Kleiderschrank, der eine sehr beschränkte Anzahl Teile beherbergte, die alle exklusiv waren. Sie lebte generell nach dem Spruch: Billig ist mir zu teuer. Mit wenigen hochwertigen Kleidungsstücken war sie bis jetzt immer passend angezogen gewesen und sparte Zeit, weil sie weder morgens die Qual der Wahl hatte noch ausgiebige Shopping-Runden absolvieren musste.

Hier kleidete man sich nach der Devise: möglichst bequem und grasfleckenresistent. Bis auf die unscheinbarere der beiden jungen Frauen, die hatte eine Edeljeans an. Die andere, eine Rothaarige mit Sommersprossen und verkniffenem Zug um den Mund, begrüßte Lu mit dem Satz: »Du bist also unsere Obdachlose. Dafür siehst du aber ziemlich betucht aus.«

»Noch.« Lu lächelte freundlich. »Einen Absturz sieht man nicht sofort.«

»Du wirst schon weich fallen.«

»Ich bin für jede Hilfe dankbar.« Lu dachte, was für eine Zicke, und streckte die Hand aus. »Ich bin Lu. Und du?«

»Maja.« Ein kurzer, fester Griff. Immerhin.

Da stellte sich ein kompakter älterer Mann neben Lu. Er trug robuste Jeans, ein kurzärmeliges olivfarbenes T-Shirt und nur eine beige Baumwollweste mit vielen Taschen darüber, obwohl es an diesem Aprilabend höchstens zwölf Grad waren. »Wir sind heute hier, weil diese junge Dame in Schulzes Laube untergekrochen ist.« Er sah Lu an, und nur weil sie nicht wie gewohnt High Heels trug, waren sie nicht auf Augenhöhe. »Ich bin Maxe und der Vereinsvorsitzende unserer Kolonie. Kati«, er wies über den Tisch, »ist meine Frau.« Dann zeigte er auf einen Mann, den Lu so alt schätzte, wie sie selbst war, nämlich Mitte dreißig. »Die Laube neben deiner gehört Florian und Jana. Jana bringt noch die Kinder ins Bett.«

»Hallo.« Florian hatte sattbraune Locken und stand mit eingezogenen Schultern neben dem Ältesten der Runde, auf den Maxe jetzt wies. »Die Laube zwischen Florians Familie und uns gehört Rudi.«

Der große Mann mit vielen Falten und schütterem grauem Zopf hob kurz die Hand und nickte knapp. »’n Abend.« Er war früher bestimmt kräftig gewesen, aber jetzt im Alter schien die Haut eine Nummer zu groß für ihn zu sein.

Maxe wies auf den Garten östlich von seinem. »Dann kommen Efkan und Sara.«

»Ich bin Sara.« Eine Frau mit wunderschönem langem ebenholzfarbenem Haar hob die Hand und lächelte Lu an. »Mein Mann kommt später. Er ist noch arbeiten.«

»Und ganz am Ende unserer Kolonie wohnen M&M, Maja und Merle.« Maxe zeigte auf die beiden jungen Frauen. Die unscheinbarere in der Edeljeans – mausbraunes Haar in einem wirren Knoten auf dem Kopf aufgetürmt, langes, schmales Gesicht, wenig Körperspannung – sagte: »Willkommen, Lu.« Die andere, zickige, sagte natürlich nichts.

»Danke«, antwortete Lu, ehe eine Stille entstehen konnte. Sie stellte die Flasche Wein auf den Tisch. »Ich bin Marie-Louise, aber bitte sagen Sie Lu. Ich bin Architektin und seit heute arbeitslos, denn ich war im Büro meines Lebensgefährten tätig, habe ihn gestern bei einem Seitensprung ertappt und ihn kurz entschlossen verlassen.«

Bei dem Wort Seitensprung spürte Lu, wie Maxe, der dicht bei ihr stand, zusammenzuckte. Im Augenwinkel sah sie, wie sein Blick zu Sara flackerte. Oje, dachte Lu. Das passt ja gar nicht vom Alter her. Dann redete sie weiter.

»Ich habe auf einem Spaziergang am Fluss Ihre Banner gesehen und auch, dass die erste Laube offenbar schon unbewohnt ist. Ich kenne die Pläne, hier einen Betonklotz hinzustellen. Und ich finde sie städteplanerisch absolut von gestern. Na ja, vielleicht kann ich helfen, die Kolonie zu erhalten …« Lu hatte den letzten Satz möglichst bittend und bescheiden ausgesprochen und ließ die Worte im Raum stehen.

»Tja, dann setzen wir uns doch mal«, sagte Kati. »Lu, kommen Sie an meine Seite und greifen Sie zu.«

Lu ging um den Tisch herum und setzte sich neben Kati vor das große Panoramafenster der Laube. Auch die anderen ließen sich nieder, die Rothaarige neben Lu, so dass sie zwischen Kati und der zickigen jungen Frau eingekeilt war. Bierflaschen wurden geöffnet, Lu nahm sich auch eine.

»Und wie stellen Sie sich das mit dem Helfen vor?«, fragte Florian, der Lu gegenübersaß. Nach einem prüfenden Blick hinter sich auf den Weg steckte er sich schnell eine Scheibe Sucuk in den Mund.

»Es wird nicht ganz einfach«, gab Lu zu. »Die Kolonie ist zu klein, um mit dem Argument ›Grüne Lunge‹ zu kommen. Auch als Frischluftschneise ist sie nicht zu deklarieren, da reicht der Fluss völlig aus. Ein Plus ist ihr Nutzen als Überschwemmungsfläche, wenn es Hochwasser gibt. Das klingt natürlich nicht gerade toll, aber darum geht es nicht. Es könnten die entscheidenden Meter sein, die ein Überfluten der Altstadt auf der anderen Flussseite verhindern.«

»Vor dreißig Jahren hatten wir hier Hochwasser«, sagte Rudi. »Ist gerade so nicht in die Lauben geflossen.«

»Und drüben?«, fragte Lu, obwohl sie sich die Höhenkarte mittags im Stadtarchiv schon angesehen hatte.

»Stand es fast bis oben an die Kaimauer.«

»Das ist der Punkt. Die Kolonie ist im Notfall eine Schwemmfläche und damit wichtig für die Stadt.«

»Ach«, machte Sara.

»Echt. Hochwasser?«, fragte Florian und beäugte die Schinken-Petersilien-Kartoffeln.

»Ist dreißig Jahre her. Eure Räder solltest du dann allerdings aus dem Schuppen holen und hinters Haus stellen«, sagte Rudi und legte Florian eine der Schinkenkartoffeln auf den Teller.

Florian blickte erneut zum Weg, langte zu und wollte das Hanfbindeband gerade in seiner Hosentasche verschwinden lassen, als Rudi es ihm aus der Hand nahm und auf seinen Teller legte.

»Wir finden, jedes Grün zählt«, sagte Merle und beugte sich zu Lu vor. Sie saß zwei Stühle weiter auf ihrer Seite.

Maja legte ihren Arm um Merles Stuhllehne. »Eine Stadt ist kein Wohnregal.«

Da sind wir uns einig, dachte Lu.

»Wir bauen hier Obst und Gemüse an«, sagte Maxe. »Die alten Obstbäume sind …« Er unterbrach sich und schaute bekümmert zu einem seiner perfekt geschnittenen Bäume.

Lus Blick wurde in der mitfühlenden Stille, die entstanden war, auf Merles Hände gelenkt. Sie beobachtete ein hastiges Fingerspiel.

»Ihre Tragleistung kann von Juni bis Oktober neben uns allen noch ein bis zwei Menschen komplett mit Obst versorgen. Die darf man nicht fällen«, ergänzte die junge Frau, als sie das Fingerwackeln beendet hatte. »Beerenbüsche nicht eingerechnet.«

Total der Nerd, dachte Lu.

»Und es ist alles bio. Der Boden ist nicht versiegelt, oder jedenfalls nur ein bisschen, wo die Lauben stehen. Das muss doch zählen«, sagte Florian.

»Vielleicht.« Nein, kein bisschen, du Träumer. »Irgendjemand hier hat Hühner, oder?«

»Wir«, sagte Sara, die an der Tischecke Maxe gegenübersaß.

»Legen die auch Eier?«

»Na klar. Und weil wir sie gut füttern, schmecken die viel besser als gekaufte. Probier mal.« Sie reichte Lu den Teller mit halbierten Eiern.

»Danke.« Lu nahm sich eins und biss hinein. »Wirklich gut. Man könnte das im Sachkundeunterricht mal einer Grundschulklasse zeigen und einen Lokaljournalisten dazuholen. Nach dem Motto: naturnaher Sachkundeunterricht oder so.« Sie lächelte Sara an. »Wir erwecken Aufmerksamkeit für ein erhaltenswertes Biotop.«

»Ääh«, machte Maxe und wand sich. Die anderen äußerten sich nicht dazu. Okay, dachte Lu. Die wissen also alle, dass Tierhaltung in Kleingärten verboten ist.

»Jana, meine Liebe. Schlafen die Kleinen?«, grätschte Kati aufgeräumt in das entstandene Schweigen. Sie sah einer im Gegensatz zur gefärbt blonden Lu eindeutig echtblonden Frau entgegen, die durch den Garten kam. Florian stellte sich schnell ein Rhabarbercremetöpfchen auf den Teller.

»Ja.« Jana wedelte mit ihrem Smartphone, setzte sich auf den freien Platz neben Florian und legte das Gerät auf den Tisch.

Offensichtlich fungiert es als Babyfon, dachte Lu. Bestimmt gab es da Apps. »Ich bin Lu«, stellte sie sich kurz vor.

»Jana.« Dann schaute die Frau in die Runde. »Hallo.«

»Wir reden gerade über Möglichkeiten, wie wir unsere Kolonie retten können. Unsere Laubenbesetzerin hier ist Architektin und will helfen«, erklärte Kati.

»Ich weiß, wie die baurechtlichen Abläufe sind und wo man eingreifen muss. Wie weit ist denn das Aufstellungsverfahren für einen Bebauungsplan?«, wandte sie sich an Maxe, obwohl sie es natürlich wusste. Die Nutzungsänderung der Grundstücksfläche der Kleingartenanlage Flusseck zum Zweck des Wohnungsbaus war beschlossene Sache.

»Der Satzungsbeschluss für den Bebauungsplan liegt vor, aber wir haben Klage erhoben.«

»Schon begründet?«, fragte Lu.

»Reichen wir nach«, sagte Maxe.

»Super. Vielleicht kann ich die noch schärfen.«

»Das hört sich jetzt mal gut an«, sagte Kati.

»Wir brauchen so was wie die Kleine Hufeisennase.« Maja zog ihre Jacke fester um sich.

»Die Fledermaus, die den Bau der Waldschlösschenbrücke in Dresden gestoppt hat«, warf Lu ein, um mit Wissen zu punkten. Mist, dachte sie dann.

»Genau«, sagte Merle und rieb kurz den Kopf an der Schulter ihrer Freundin. »Tolle Idee.«

Lu war alles andere als begeistert, denn ein schützenswertes Tier konnte nicht nur den Plan von Tobias, sondern auch ihren eigenen, den sie in der Nacht ausgeheckt hatte, torpedieren. Dann aber erinnerte sie sich an einen erstaunlichen Fakt aus dem Sachkundeunterricht in der Grundschule. »Der Feldhamster steht auf der Roten Liste gefährdeter Arten.«

»Wenn wir hier also einen Feldhamster hätten …«, sagte Rudi langsam, und sein Gesicht fältelte sich neu in Lächelfalten.

»Wenn wir hier einen Feldhamsterbau hätten«, konkretisierte Lu.

»Jaaa?«, machte Rudi.

»Das könnte klappen.«

»Versteh ich nicht«, sagte Sara.

Maja erklärte ihr, wie der Schutz bedrohter Arten Bautätigkeiten verhinderte.

»Ist ja komplett verrückt.« Maxe schüttelte den Kopf. »Wegen so einem Vieh.«

»Aber schlau«, sagte Kati.

»Und subversiv.« Rudi nahm sich von Katis Toasts.

»Und wo kriegen wir einen Feldhamster her?«, fragte Lu und sah an Katis hochgezogenen Augenbrauen, dass ihr taktisches »Wir« nicht unbemerkt geblieben war.

Alle schauten auf Florian.

Der wehrte ab. »Also in meine Praxis kommen höchstens Goldhamster. Feldhamster werden nicht als Haustiere gehalten.«

»Dann kaufen wir irgendwo einen schwarz«, sagte Rudi.

»Oder gleich ein Pärchen, wenn wir einen Bau brauchen«, sagte Sara. »Florian, du musst die ansiedeln.«

»Ja, Flori, das sollten wir wirklich probieren.« Jana lehnte sich an ihren Mann.

»Also ich biete an, Getreide anzubauen«, sagte Lu. »Das ist seine Hauptnahrung.«

»Wir sollten in allen Gärten etwas haben, was er gern frisst«, sagte Merle.

Sara war schon am Googeln. »Rudi, er mag sowohl deine Bohnen als auch Hanfsamen.«

»Soll er haben«, brummte Rudi.

»Gerne alle«, murmelte Kati.

»Ansonsten Getreide, wie Lu schon erwähnt hat, Wildkräuter …«, fuhr Sara fort.

»Wildkräuter säen wir aus«, sagte Jana.

Auf dem Kiesweg am Fluss erschien ein schwarzhaariger Mann mit leicht olivfarbenem Teint. Knorke lief zum Gartentor.

»Efkan kommt«, sagte Merle zu Sara, die mit dem Rücken zum Weg saß.

Sara stand auf und ging ihrem Mann entgegen. Sie trafen sich am Gartentor. Efkan umarmte seine Frau, wobei seine Hand auf ihren runden, in einer engen Jeans steckenden Hintern rutschte, und küsste sie auf den Mund. Dann ließ er sie los und beklopfte Knorke zur Begrüßung. Schwanzwedelnd folgte der Hund den beiden zum Tisch.

»Was hab ich verpasst?«, fragte Efkan und griff nach einer Frühlingsrolle.

Sara erzählte es ihm, und Efkan nickte Lu zu. Er hatte leicht schräg stehende Augen, und sie fand, dass Efkan und seine Frau ein schönes und auch verliebtes Paar waren. Das mit Maxe und Sara musste sie sich eingebildet haben.

»Tja, also was machen wir mit Ihnen?«, fragte Maxe, und sein Blick ruhte auf ihr. Es war ein amtlicher Blick, ein Vereinsvorsitzenderblick.

»Wir stimmen ab«, sagte Rudi.

»Moment. Worüber genau?«, wollte Kati wissen.

»Ob sie hierbleiben kann, auf eigenes Risiko. Über mehr können wir ja nicht abstimmen«, erwiderte ihr Mann.

»Genau«, sagte Florian.

»Nur, wenn Sie unser Bauamtsbollwerk werden«, sagte Kati.

Lu musste sich beherrschen, nicht zu grinsen. Sie halbes Hemd als Bollwerk. »Geht klar.«

»Gut, dann stimmen wir ab. Wer ist dafür, dass Lu auf eigenes Risiko bleibt?« Maxe guckte in die Runde

Neun Arme hoben sich. Selbst Majas, was Lu erstaunte.

»Na dann«, sagte Maxe. »Wir sagen hier übrigens Du.«

»Ich bin berührt.« Das war Lu wirklich. Ihr gefiel diese kleine Gemeinschaft. Und in diesem Augenblick fand sie es ausgesprochen schade, dass sie anders als die Traumtänzer um sie herum keine Chance sah, die Kolonie zu erhalten. »Danke. Darf ich den Wein aufmachen?«

Sie durfte. Und dann wurde mit vier Weingläsern, vier Wassergläsern und zwei Senfgläsern angestoßen. »Hamster gegen Hamstern«, sagte Lu, als die Gläser klirrten. »Das schreibe ich auf mein Banner. Und darunter: Kampf der Baumafia.«

Das Letzte war sogar ehrlich. Halbwegs jedenfalls.

Dann unterhielten sich die Kleingärtner noch über Aroniabeeren, die Jana pflanzen wollte. Kati meinte, sie solle lieber eine Schwarze Johannisbeere nehmen, wenn sie was besonders Aromatisches haben wolle. Aber Maja klärte sie darüber auf, dass Aronia Superfood sei und gegen Grippe, Corona und vorbeugend gegen Krebs helfe. Merle fragte Jana, ob sie nicht mal nach einem Bild aus dem Sommerhaus ihrer Eltern schauen wolle, das müsse restauriert werden. Lu hörte zu. Das Geplauder quer über den Tisch war unbedeutend, und in ihre übliche Verachtung für diese Form der Muße mischte sich Erschöpfung. Sie riss sich zusammen, lobte Katis Kohlrabi-Kerbel-Creme, fragte Rudi, ob er ihr zeigen könne, was in ihren Beeten Unkraut sei und was Blumen. Doch irgendwann fröstelten alle, und man trennte sich.

Lu ging mit Rudi, Florian und Jana in ihre Richtung.

»Wie funktioniert das überhaupt in einem Kleingarten? Kati und Maxe wohnen richtig hier, oder?«

»Ich auch«, sagte Rudi. »Ich sogar im Winter. Kati und Maxe ziehen dann in ihre Wohnung. Die sind erst seit drei Wochen wieder da. Im Winter bin ich hier die Stallwache.«

»Aber man muss irgendwo eine richtige Wohnung haben«, sagte Jana.

»Also zumindest eine Meldeadresse«, sagte Rudi.

»Verstehe.« Lu dachte: Was mach ich dann bloß mit dem Alten?

»Na dann, Nacht«, sagte der, hob die Hand und trat in seinen Garten.

»Wir sind im Sommer halbe-halbe hier«, sagte Jana. »Wir wohnen nicht weit. Wie soll es denn jetzt eigentlich bei dir weitergehen?«

Lu zuckte die Schultern. »Weiß ich noch nicht. In das Büro meines Ex geh ich jedenfalls nicht zurück.«

»Konsequent«, sagte Florian, und es klang bewundernd.

»Wird schon. Gute Nacht«, wünschte Jana und zog ihren Mann in den Garten.

Die letzten Meter bis zu ihrem Grundstück ging Lu allein. Eins zwanzig, bis zu zwei Meter, dachte sie. So weit reichten Feldhamsterbaue in die Erde. Dass ein kleines Tier so tief buddelte, hatte sie im Sachkundeunterricht der vierten Klasse dermaßen beeindruckt, dass es hängen geblieben war. Hier am Fluss war der Grundwasserspiegel hoch. Das würde dem Hamster nicht zusagen. Denn wer wohnte schon gern feucht?

2UNRUHE

»Das mit dem Hamster ist ein Ding, oder? Genial.« Sara saß auf dem Ecksofa und kämmte sich das Haar.

Efkan, der gerade hinter ihr den Ofen anfeuerte, lachte.

»Wenn ich das Mutter erzähle, die glaubt es nicht.« Während Efkan komplett in Deutschland aufgewachsen war, war seine Mutter als Kind oft monatelang in der Türkei bei der Familie gewesen, weil beide Eltern arbeiteten und Geld ins arme Ostanatolien schickten. Seine Mutter fand die Deutschen in vielerlei Hinsicht verrückt, und Efkan konnte es nachvollziehen – jedenfalls was den Hamster betraf.

Sara ließ die Haarbürste in ihren Schoß fallen und griff nach ihrem Handy. »Du, dieses Elbtal wurde wegen der Brücke von der Weltkulturerbeliste gestrichen.«

»Also ist sie doch gebaut worden«, sagte Efkan, schloss die Ofentür und stand auf.

Sara scrollte. »Aber es war eine knappe Sache. Und wegen dieser Fledermaus, dieser Hufeisennase, dürfen die Autos im Sommer nur dreißig fahren.«

Efkan setzte sich neben seine Frau und schob den Arm hinter ihrer Taille durch. Sie trug schon ihr Nachtshirt. Es war zwar langärmelig wegen der kalten Frühjahrsnächte am Fluss, aber weich, und vor allem störte nichts, als er seine Hand daruntergleiten ließ.

»Und wie findest du Lu so?«, fragte sie.

»Diesen Hungerhaken?« Efkans Hand rutschte hoch an den üppigen Busen seiner Frau. Ihre Haut war weich und warm und glatt wie der Hefeteig seiner Großmutter für die sesambestreuten Butterringe.

Sara wand sich aus dem Griff. »Nein, im Ernst.«

»Ich bin ja erst so spät gekommen, weiß nicht«, sagte Efkan und arbeitete sich wieder vor.

»Ich glaube, sie wird tun, was sie kann. Aber irgendwie traue ich ihr nicht.«

Efkans Hand sank herab. Sara war konzentriert. Aber nicht auf sein Streicheln. Sondern wegen etwas, woran er nicht erinnert werden wollte. Deshalb blieb er mit dem, was er sagte, an der Oberfläche. »Wahrscheinlich ist Lu unsere letzte Hoffnung. Ich meine, der Garten, es ist immer so schön sonntags mit der Familie. Und die Hühner …«

»Ich weiß«, sagte Sara und schmiegte sich an ihn. Aber nicht verliebt, sondern tröstend, was Efkan nun ernsthaftes Unbehagen bereitete. Er wollte nicht getröstet werden, weil er gern für die Seinen da war, aber selbst keine Kinder zum Umsorgen hatte. Er wollte stark sein. Aber was war er schon, stark jedenfalls nicht …

Sein Garten war das, was er seiner Familie bieten konnte. Das Einzige, dachte er bitter. Alle kamen sonntags, die Kinder tobten auf dem Rasen, und Mert und er grillten.

»Wollen wir es noch mal mit einer künstlichen Befruchtung versuchen?«, fragte Sara plötzlich.

Efkan schüttelte den Kopf. »Mein Samen ist nicht gut genug. Aber wenn du willst, also …« Er schluckte. »Wenn du willst, versuchen wir es mit einer Samenbank.«