Flüchtling - Franz Alt - E-Book

Flüchtling E-Book

Franz Alt

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Beschreibung

Aus aktuellem Anlass – das neue Buch von Bestsellerautor Franz Alt

Die Geschichte der Menschheit ist eine Flüchtlingsgeschichte. Jeder Flüchtling aber ist mehr als eine zusätzliche Arbeitskraft, mehr als ein weiterer Steuerzahler und Finanzier der Renten. Er bereichert uns kulturell und spirituell. Schon vor 2.000 Jahren überlebte der Emigrant aus Nazareth nur, weil seine Eltern mit ihm vor dem Kindermörder Herodes nach Ägypten geflohen sind. Sein Leben und seine Lehre wurden eine Bereicherung für die ganze Welt. Zu unserer Zeit ist der charismatische Religionsführer Dalai Lama zum »spirituellen Lehrer der Welt und zum großen Vorbild für Toleranz« (Barack Obama) geworden, nachdem er 1959 aus Tibet nach Indien geflohen war. Wir dürfen unser christliches und humanistisches Gedächtnis nicht verlieren.

  • Flüchtlinge als kulturelle und spirituelle Bereicherung
  • Ein Appell für internationale Solidarität statt nationalistischer Interessen
  • Werben für ein Land, das durch die Zuwanderer toleranter, weltoffener und bunter wird

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Seitenzahl: 169

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Franz Alt

Flüchtling

Jesus, der Dalai Lamaund andere Vertriebene

Wie Heimatlose unser Land bereichern

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © plainpicture/Kniel Synnatzschke

ISBN 978-3-641-19392-8V002

www.gtvh.de

Für Angela Merkel,

die mit ihrer Flüchtlingspolitik die CDU an das »C«

im Parteinamen erinnert.

Und für alle freiwilligen Helfer!

»Was sind FLÜCHTLINGE?«, fragt eine Lehrerin

in Nordrhein-Westfalen ihre Schüler.

Die Antwort eines achtjährigen Mädchens:

»MENSCHEN«.

Inhalt

1. Ist Integration möglich?

»Ich wünschte, ich wäre tot«

Die größte Herausforderung

Das nächste deutsche Wirtschaftswunder

Helles Deutschland – dunkles Deutschland

Die Bürger von Baden-Baden und die 1.000 Flüchtlinge

»Wir wollen jetzt erst recht Flüchtlinge«

Der Traum vom Leben und das Trauma der Flucht

Viele Deutsche fliehen vor der Wahrheit

9. November 1938, 1989 und 2015

Die Flüchtlingskanzlerin – Traumfrau oder Traumtänzerin?

Deutschland zwischen Mitgefühl und Angst

7. November 2015: Passau Hauptbahnhof

11. November 2015: »Offener Brief« an Horst Seehofer

2. Ist der Dritte Weltkrieg ausgebrochen?

13. November 2015 – Paris

Wir sind in atomarer Geiselhaft

8. Dezember 2015 – Der millionste Flüchtende in Deutschland

Heimatvertriebene, Gastarbeiter, Flüchtlinge

3. Integration ist möglich!

Theresia aus Budapest – die erste heimliche Liebe

Jasmin aus Iran – vom Flüchtling zur Geschäftsfrau

Der Flüchtling aus Bethlehem

Franziskus: das Kind von Auswanderern aus Buenos Aires

Der Dalai Lama – Flüchtling vom Dach der Welt

Steve Jobs – das zur Adoption freigegebene Kind eines Syrers

Carl Schurz – vom badischen Revolutionär zum Minister in den USA

Meine Erfahrungen mit über 11.000 geretteten Boat People aus Vietnam

Deutsche Gastfreundschaft hat Tradition

Was tun?

4. Selig sind, die Flüchtlingen helfen

Literatur

1.

Ist Integration möglich?

»Ich wünschte, ich wäre tot«

Was haben Jesus und der Dalai Lama, ein Flüchtlingsmädchen aus dem Iran, die prominente US-amerikanische Computerlegende Steve Jobs, Theresia aus Ungarn, Helene Fischer und Peter Maffay, was haben gerettete Boat People aus Vietnam und Gastarbeiter in Deutschland, der badische Revolutionär Carl Schurz und Papst Franziskus gemeinsam? Sie alle sind (oder waren) Flüchtlinge oder Kinder von Heimatvertriebenen oder Auswanderern. Hier sind ihre besonderen Schicksale und Lebensgeschichten. Wichtig ist auch das Schicksal ganzer Gruppen: Die 11.340 Boat People, die wir vor 35 Jahren in Deutschland aufgenommen haben, leisten in diesen Monaten besonders engagiert Willkommensarbeit für die jetzt ankommenden Flüchtlinge. Aus Hilfe suchenden Vietnamesen sind gute Deutsche geworden.

Täglich verdursten in der Sahara Flüchtlinge, viele ertrinken im Mittelmeer oder ersticken in einem mit 71 Menschen vollgestopften LKW in Österreich. Sie erleben seit Jahren Bombenhagel in Syrien oder im Irak. Frauen werden vergewaltigt. Kinder kommen ohne Eltern nach Deutschland. Familien werden auseinandergerissen. Babies weinen neben ihren verzweifelten Eltern, die vor geschlossenen Grenzen nicht weiterkommen und zusammenbrechen. Mitten in Europa. 2015 und 2016. Viele Menschen haben es einfach satt, immer hungrig ins Bett zu gehen. Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, haben ein Trauma, aber auch einen Traum vom Leben. Bisweilen einen Traum vom Paradies in Europa. Und was tun wir Europäer für die Schmuddelkinder unserer Zeit?

Was haben sie erlebt, diese Schmuddelkinder, bevor sie zu uns kommen? Dem Nahostkorrespondenten Karim El-Gawhary erzählt die Syrerin Soha von ihrer Flucht mit vier Kindern über das Mittelmeer: Ihr Boot war mit 160 Flüchtlingen an Bord gesunken. Soha trug als einzige eine Schwimmweste. »Ihre vier Töchter im Alter zwischen drei und elf Jahren klammerten sich panisch an die Mutter. Die Gruppe drohte unterzugehen, weil die Schwimmweste das Gewicht von fünf Menschen nicht über Wasser halten konnte. Soha war in einer Lage, die sich keine Mutter der Welt vorstellen will. Damit sie nicht alle ertranken, musste sie entscheiden, welches ihrer Kinder sie loslässt. Doch Soha wollte und konnte sich nicht entscheiden, strampelte, um über Wasser zu bleiben, und wartete ab, was als Nächstes geschehen würde. Als erstes ließ die dreijährige Haya sie los, die für immer in den Fluten abtauchte. Dann folgten Sama und Julia in die Tiefe des nächtlichen Meeres. Sechs Stunden später wurde Soha mit ihrer ältesten Tochter Sarah von der ägyptischen Küstenwache aus dem Wasser geborgen. So kam es, dass sie diese Geschichte überhaupt noch erzählen konnte.« Der Journalist Karim El-Gawhary fügt diesem erschütternden Schicksal noch diesen Satz an: »Es gibt viele Sohas, von denen wir nie hören werden.«

Man hört als Journalist solche Geschichten, und ertappt sich beim Gedanken, dass das für ein menschliches Herz und für einen menschlichen Verstand alles zu viel ist. Als ich nach dem zweiten Weihnachtstag 2004 am Indischen Ozean für die ARD über die 230.000 Opfer des Tsunami berichtete, ging es mir genauso. Ich interviewte einen Bischof, der während unseres Gesprächs erfuhr, dass kein einziger aus seiner großen Verwandtschaft den Tsunami überlebt hatte. Es war die Hölle. So auch jetzt.

Viele Flüchtlingsfrauen, die zu uns kommen, wurden zuvor verschleppt, verkauft und vergewaltigt. Dem Reporter El-Gawhary erzählt eine jesidische Frau, die von IS-Schergen traktiert und traumatisiert wurde: »Ich wünschte, ich wäre tot.« Amscha war eine der wenigen Jesidinnen im Irak, die den IS-Terror wenigstens überlebt hatte. Aber wie?

»Mein Kind, und die Tatsache, dass ich ein weiteres im Bauch habe, sind der einzige Grund, warum ich mich noch nicht aufgehängt habe, denn ohne mich könnten die Kinder nicht weiterleben.« Total traumatisiert und nahezu gefühllos erzählt die Mutter über die Islamisten: »Sie haben die Männer, die über 14 Jahre alt waren, vom Rest der Gruppe getrennt und haben ihnen einem nach dem anderen vor unseren Augen in den Kopf geschossen, darunter auch meinem Mann, meinem Bruder, unserem Vater und dem Onkel. Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, aber ich erinnere mich an das Bild, als sie alle in ihrer Blutlache auf dem Boden lagen.«

Amscha, ihre Tochter, ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin galten anschließend als legitime Beute der Dschihadisten in ihrem »Kampf gegen die Ungläubigen«. Sie wurden wie Vieh auf dem Markt feilgeboten und je nach Alter und Schönheit für sechs bis zwölf Euro verkauft. Auf abenteuerliche Weise und mit Hilfe eines mutigen alten Mannes gelang Amscha die Flucht aus der IS-Gefangenschaft. Und wieder frage ich mich, ob sich neonazistische Ausländerfeinde in Deutschland für solche Schicksale überhaupt interessieren.

Erster November 2015: Allerheiligentag. In Berlin treffen sich die Spitzenpolitiker der Großen Koalition, Angela Merkel, Sigmar Gabriel, Horst Seehofer, und ihre engsten Mitarbeiter zum Flüchtlingsgipfel. Selbst wenn in dieser Runde alle Heilige wären, würde es ihnen an diesem Allerheiligenfest schwerfallen, eine befriedigende Einigung zu finden.

Jeden Tag kommen im Herbst 2015 10.000 neue Flüchtlinge über die deutschen Grenzen. Wie viele kommen noch? Wie lange geht das so weiter? Wie sollen wir sie unterbringen oder gar integrieren? Setzen wir weiterhin auf Willkommenskultur? Aufnahme oder Abwehr? Wie viel Abwehr? Wie viel Aufnahme? Obergrenzen oder Kontingente? Transitzonen an den Grenzen, wie die Union es fordert, oder doch Einreisezentren innerhalb des Landes, wie sie die SPD vorschlägt, und was ist der tatsächliche Unterschied? Vier Tage später einigen sich die Koalitionäre in einem typisch politischen Kompromiss und nennen die Sammelstellen für die Registrierung von Flüchtlingen mit geringen Bleibechancen jetzt »Registrierzentren«.

© Aggeliki Koronaiou/Demotix/Corbis

Die größte Herausforderung

Die Flüchtlingskrise, so schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, »ist eine Herausforderung, wie sie Deutschland seit der Wiedervereinigung nicht mehr zu bestehen hatte. Vielleicht ist die Herausforderung noch größer, weil sie noch mehr Ungewissheiten in sich birgt; es gibt kein Vorbild dafür, wie man es machen könnte, und es gibt, anders als damals, nicht nur einen Streit über den richtigen Weg, sondern einen über das richtige Ziel. Es gibt aber immerhin eine Kanzlerin, die bisher in der Flüchtlingskrise fast so fest steht wie Helmut Kohl im Jahr 1989.«

Vor diesem Gipfel hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel gesagt, Deutschland nähere sich »mit rasanter Geschwindigkeit den Grenzen seiner Möglichkeiten«. Die radikalste Abwehrsprache innerhalb der Großen Koalition spricht seit Wochen der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Er propagiert «Grenzzäune«, »Notmaßnahmen« und »Obergrenzen« – obwohl all diese Vorschläge dem Buchstaben und erst recht dem Geist unseres Grundgesetzes widersprechen. Wieder einmal übersetzt der CSU-Chef das C im Namen seiner Partei mit »konservativ« anstatt mit »christlich«. Aber er erhält bei Umfragen mehr Zuspruch als die Kanzlerin mit ihrem Leitspruch: »Wir schaffen das.«

In entscheidenden Krisen hatte Deutschland nach 1945 Glück mit seinem politischen Spitzenpersonal: mit Konrad Adenauer und seiner Westpolitik in den Fünfzigern, mit Ludwig Erhardt als Wirtschaftsminister beim Neubeginn, mit Willy Brandt und seiner Ostpolitik in den Siebzigern, mit Helmut Kohl und seiner Wiedervereinigungs- und Europapolitik in den Neunzigern und nun mit Angela Merkel und ihrer humanen Flüchtlingspolitik 2015.

Klartext spricht an diesem Allerheiligentag ein namhafter Ökonom: Marcel Fratzscher als Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin: »Wenn man die letzten 70 Jahre zurückschaut, könnte es eigentlich keinen besseren Zeitpunkt geben, um mit der Herausforderung der Flüchtlingskrise umzugehen.«

Die öffentlichen Haushalte haben riesige Reserven wie noch nie. Fratzscher: »Wir rechnen mit 15 Milliarden Euro Überschüssen für 2016, obwohl dort schon knapp 15 Milliarden für Flüchtlinge berücksichtigt sind. Finanzminister Wolfgang Schäuble wird sowohl 2015 wie auch 2016 die schwarze Null schaffen.« Schäuble hatte schon zuvor voll menschlicher Empathie erklärt: »Was soll das Ziel einer schwarzen Null, wenn gleichzeitig Flüchtlingskinder verhungern?«

DIW-Chef Marcel Fratzscher wirft Teilen der Politik vor, mit den Ängsten der Menschen um einen Verteilungskampf zu spielen. So zum Beispiel, wenn behauptet werde, wegen der Ausgaben für Flüchtlinge müssten die Renten oder andere Sozialleistungen gekürzt werden. Richtig sei das Gegenteil: 2016 werden die Renten um circa fünf Prozent steigen, so stark wie schon lange nicht mehr. Mitte November 2015 prognostiziert die Bundesregierung eine Steigerung der Renten bis 2029 um 39 Prozent. Dabei steigen die Ost-Renten höher als die West-Renten.

Die Ausgaben für Flüchtlinge seien »Investitionen in eine gute Zukunft für uns alle«, sagt Marcel Fratzscher – ähnlich wie zum Beispiel Investitionen in frühkindliche Bildung. Das Geld komme Jahre später wieder zurück, wenn die Kinder berufstätig sind und über die Steuern mehr als die Summe der früheren Aufwendungen zurückbezahlten.

Auch das Argument, dass Flüchtlinge den Deutschen Jobs wegnehmen, sei falsch: »Der Arbeitsmarkt in Deutschland läuft hervorragend.« Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. »Wir haben 600.000 offene Stellen, und das sind nur die, welche ausgeschrieben sind.« Es gibt also nicht zu wenig Arbeitsplätze. Es geht vielmehr darum, Menschen mit den passenden Arbeitsplätzen zusammenzubringen. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Oktober 2015 auf den niedrigsten Stand seit 24 Jahren gesunken. Fratzscher: »Gelingt die Integration, ist dies ein Gewinn für alle.«

Für eine gelingende Integration ist es entscheidend, wie gut und wie rasch Flüchtlinge in den hiesigen Arbeitsmarkt integriert werden können. Dafür sind das Erlernen unserer Sprache, Bildung und Ausbildung entscheidende Voraussetzungen. Hier liegt der eigentliche Kraftakt.

Fratzscher sagt auch: »Wenn man sich manche Unternehmen mit tausenden Mitarbeitern anschaut, die uns sagen, dass sie 20 Flüchtlinge angestellt haben, dann ist das etwas kläglich.« Die typisch deutschen Bedenkenträger stellen hauptsächlich die Kosten der Integration in Rechnungen, von den langfristigen Wohlstandsgewinnen ist kaum die Rede. Der Ökonom kann auf positive Beispiele in der ganzen Welt hinweisen wie New York, Hongkong, London oder Singapur. In diesen Städten ist der Bevölkerungsanteil der Migranten besonders hoch, und sie profitieren wirtschaftlich stark von der wechselseitigen Verbundenheit von Menschen und Kulturen aus aller Welt. Die genannten Weltstädte sind innovativ, kreativ, dynamisch, kosmopolitisch und relativ reich im Gegensatz zu einigen ostdeutschen Städten, in denen die Angst vor Fremden, die es dort gar nicht gibt, vorherrscht. Vielfalt zahlt sich aus. Und der »Jugendüberhang« der Flüchtlinge ist ein großer Vorteil für eine der ältesten Gesellschaften auf diesem Globus.

Aber leider sind zur Zeit viele Veröffentlichungen zur »Flüchtlingskrise« eher alarmierend als informierend, eher Angst verbreitend als Aufklärung stiftend. Die Vielfalt und Komplexität von Emigration und Immigration, ihre Herausforderungen, aber auch ihre Chancen werden häufig zu vereinfacht dargestellt, um zu vernünftigen und konstruktiven Diskussionen anzuregen. Dabei sind die Probleme der internationalen Migration heute viel besser und umfassender erforscht als noch vor 20 Jahren. Ein Beispiel: 2014 war der gesamten Weltgemeinschaft die Rettung von Menschen vor Ort – zum Beispiel in Flüchtlingslagern der UNO – gerade einmal 24,5 Milliarden Dollar wert. Das musste reichen für die Opfer von Erdbeben, Kriegen und Naturkatastrophen.

Ein lächerlich bescheidener Betrag, so hoch wie die Kosten für einen Wolkenkratzer in New York. Wenn das notwendige Geld nicht zu den Flüchtlingen kommt, dann kommen die Flüchtlinge eben zu uns, zum Geld. Und dieses Problem wird dauern. Millionen Menschen fliehen heute vor Kriegen und Hungersnöten, und morgen werden sie vor dem Klimawandel fliehen, den wir (und nicht sie) zu verantworten haben. Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Flüchtlinge. Das Internationale Rote Kreuz schätzt, dass im Laufe unseres Jahrhunderts 500 Millionen Menschen aus ökologisch labilen Regionen fliehen müssen, allesamt Klimaflüchtlinge und Umweltflüchtlinge. Die UNO geht von 200 Millionen aus. Die Hauptursachen: Die Ausbreitung der Wüsten, die Versalzung und Versteppung, Überschwemmung und Verschmutzung wachsen von Jahr zu Jahr. Ebenso steigt der Meeresspiegel durch den Klimawandel, und etwa ein Drittel der Menscheit wohnt in unmittelbarer Nähe zu den Meeren. Die so genannte Flüchtlingskrise ist mehr als eine Krise der Jahre 2015 und 2016. Immer mehr Menschen akzeptieren es nicht mehr, auf ewig zu den Verdammten dieser Erde zu gehören. Ihr brutales, neues Motto heißt: »Europa oder Tod!« Sie sind bereit, für ihre Flucht alles zu opfern und zu verlassen. Für ein möglicherweise besseres Leben setzen sie alles aufs Spiel.

Gibt es auch eine Chance in dieser Krise? Die fünf Wirtschaftsweisen der Bundesregierung kommen in ihrem Herbstgutachten 2015 zum Schluss, dass die Flüchtlingskrise zum Erfolg der deutschen Wirtschaft beitragen könne. Entscheidend sei allerdings, dass es gelingt, die Flüchtlinge beruflich zu qualifizieren.

Zu demselben Ergebnis kommt auch der Internationale Währungsfonds: Flüchtlinge bereichern Deutschland. Zuwanderung ist auf lange Sicht der stärkste Hebel, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze wird 2016 in Deutschland einen neuen Rekordwert erreichen: 46,2 Millionen. Dank der Flüchtlinge und Zuwanderer. Und davon hängt die Stärke einer Volkswirtschaft ab. Dies sei freilich kein Selbstläufer. Große Investitionen seien notwendig, damit Zuwanderung zum Gewinn für alle wird.

Das nächste deutsche Wirtschaftswunder

Die Gründe für die Massenflucht sind meist schrecklich. Doch aus deutscher Sicht ist die derzeitige Einwanderung die demografische Basis für das nächste deutsche Wirtschaftswunder. Zumal in den nächsten Jahren aus Ost- und Südeuropa weniger Menschen hier einwandern werden. Die jetzige Einwanderungswelle ist für Deutschland eine vorteilhafte Fügung. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat zum Jahresende 2015 errechnet, dass Deutschland bis 2050 jedes Jahr 500.000 Zuwanderer braucht, um die Wirtschaft stabil zu halten. So ließen sich Alterung und Schrumpfung der deutschen Bevölkerung aufhalten. Ohne Zuwanderung fehlen in den nächsten 20 Jahren zehn Millionen Arbeitskräfte.

Zunächst einmal haben Flüchtlinge ein humanitäres Grundrecht auf Hilfe. Gastarbeiter, Flüchtlinge und Migranten haben in den letzten Jahrzehnten aber auch jedes Jahr Milliarden Euro an ihre Angehörigen zu Hause überwiesen. Die beste Entwicklungshilfe, die denkbar ist.

Noch ist nicht sicher, wie viele Flüchtlinge in den nächsten Jahren kommen werden. Sicher aber ist: Ihre Integration wird Kommunen, Länder und den Bund einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten. Die Neudeutschen brauchen eine Wohnung, sie müssen sozial und ökonomisch integriert werden, ihre Kinder brauchen Kitas und Schulplätze.

Aber: Auch Flüchtlinge brauchen, gerade wenn sie von ländlichen Regionen in die Städte müssen, ein besser als heute funktionierendes öffentliches Verkehrssystem – und das kommt allen zugute. Viele deutsche Schulgebäude müssen ohnehin flottgemacht werden, und unsere Kitas benötigen mehr und besser qualifizierte Betreuer. Das alles ist ein Investitionsprogramm für die deutsche Bauwirtschaft, für Verkehrsbetriebe und für mehr Bildung. Und das lohnt sich für alle. So könnte Deutschland in vielleicht zwei Jahrzehnten ein für alle attraktiveres Land sein. Solche Investitionen stärken unsere Gesellschaft und die Stabilität unseres Landes.

Vielleicht hilft in dieser Situation der Rat des wohl prominentesten Flüchtlings aller Zeiten weiter: »Seid klug wie die Schlangen und aufrichtig wie die Tauben« (Jesus, Matthäus 10,16).

Dieser Flüchtling aus Bethlehem wurde zum einzigartigsten Menschen der Geschichte. Er hat uns gelehrt, dass es keine Ausländer gibt, sondern nur Brüder und Schwestern unter der einen Sonne des gemeinsamen Vaters im Himmel. Dieser lässt für uns alle dieselbe Sonne scheinen, den fruchtbaren Regen fallen und seinen Segen auf uns alle wirken. Wir meinen noch immer: Religion, Sprache, Hautfarbe, Kultur und Landesgrenzen trennen uns. Dieser prominente Flüchtling lehrte jedoch etwas ganz anderes: dass nichts uns trennt, sondern dass die nie genug zu preisende Liebe alle eint. Und dass es einen globalen moralischen Flüchtlingsimperativ gibt: Behandle Flüchtlinge, so wie du selbst behandelt werden möchtest.

In allen großen Gefühlen sind wir Menschen uns ähnlich: in der Liebe wie in der Trauer um einen geliebten Toten, in der Freude über unsere Kinder wie in der Angst um deren Zukunft, in der Sorge um unsere alten Eltern wie in den Fragen: »Was kommt nach dem Tod? Kommt überhaupt etwas?«

Bei all diesen Fragen spielt es keine Rolle, ob wir eine weiße, schwarze, gelbe oder schokoladenbraune Hautfarbe haben. Ob wir deutsch, türkisch, chinesisch, englisch oder suaheli sprechen. Ob wir arm, reich oder der Mittelschicht angehören, ob arbeitslos oder arbeitsversessen, ob Mann oder Frau.

Jeder Flüchtende ist mehr als eine Arbeitskraft, mehr als ein weiterer Steuerzahler und Finanzier unserer Renten. Flüchtlinge bereichern uns kulturell und spirituell. Die Flucht des Emigranten aus Bethlehem, die sein Leben und seine Lehre erst möglich machte, wurde für die gesamte Menschheit zu einer Bereicherung. In unserer Zeit ist der charismatische Religionsführer Dalai Lama zum »spirituellen Lehrer der Welt und zum großen Vorbild für Toleranz« (Barack Obama) geworden, nachdem er aus Tibet nach Indien geflohen war und dort eine neue Heimat fand. Wir dürfen unser christliches und humanistisches Gedächtnis nicht verlieren. Der Umgang mit Flüchtenden zeigt, was unsere Werte wirklich wert sind. Es besteht die große Chance, dass unser Land durch Zuwanderung toleranter, weltoffener und bunter wird. Heimatlose können Deutschland bereichern. Das will ich in diesem Buch aufzeigen.

Der neue Flüchtlingskommissar der UNO, Filippo Grandi, sagte im Angesicht eines sterbenden Flüchtlingskindes: »Auf schieres Leid gibt es nur eine Antwort: Solidarität.« Aber man müsse auch schlau und trickreich sein. Er hat wohl zur Zeit einen der schwierigsten Jobs der Welt inne – bei 60 Millionen Flüchtlingen im Jahr 2015.

»Klug wie die Schlangen und aufrichtig wie die Tauben« muss dieser Mann vor allem dann sein, wenn er bei Regierungen um Geld bettelt. Sieben Milliarden Dollar benötigte das UNO-Flüchtlingskommissariat 2015, um die Menschen, die vor Kriegen, Bürgerkriegen, Naturkatastrophen oder dem Klimawandel fliehen, mit dem Nötigsten zu versorgen. 9.300 Mitarbeiter in 123 Ländern hat das Kommissariat. Es geht dabei um alles: um Nahrung, Unterkunft, Schulen, Häuserbau, Sprachkurse, Rechtshilfe, Rückkehrhilfe. Muss man in diesem Flüchtlingsjahrhundert bei dieser Aufgabe nicht verzweifeln? Filippo Grandi: »Es gibt immer Hoffnung. Es lohnt die Mühe, weiterzumachen.«

Wenn wir in dieser Krisensituation klug handeln und in der Krise die Chance erkennen, wie dies unsere Eltern und Großeltern bei viel größeren Flüchtlingskrisen und Gastarbeiterkrisen auch getan haben, dann helfen wir den Flüchtlingen, sorgen aber zugleich für unsere Zukunft und die unserer Kinder. Wenn wir nicht klug sind, kann es aber auch ganz anders kommen. Ein positives Beispiel ist hier Spanien. Das Land hat seine ökonomische Krise der letzten zehn Jahre überwunden und dabei über zwei Millionen Immigranten integriert – ohne rechten Hass wie in Deutschland, Italien oder Frankreich. Voraussetzung dafür war in erster Linie die sprichwörtliche spanische Gastfreundschaft, von der ja auch 60 Millionen Touristen jedes Jahr profitieren. Die Spanier, die schaffen das!

Helles Deutschland – dunkles Deutschland